tom clancy im sturm
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tom clancy im sturm
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2<br />
TOM<br />
CLANCY<br />
IM STURM<br />
R O M A N<br />
Aus dem Amerikanischen<br />
von Hardo Wichmann<br />
GOLDMANN VERLAG
Nischnewartowsk, UdSSR,<br />
Träge Lunte<br />
Sie gingen rasch, lautlos, zielstrebig vor; über ihnen leuchtete kristallklar<br />
der Sternenh<strong>im</strong>mel Westsibiriens. Sie waren Moslems, was<br />
man ihnen kaum anmerkte; sie sprachen russisch mit dem singenden<br />
Tonfall der Aserbeidschaner. Die drei hatten gerade auf dem<br />
Lkw-Parkplatz und an den Bahngleisen eine komplizierte Aufgabe<br />
erledigt, nämlich das Öffnen Hunderter von Füllventilen. Ibrah<strong>im</strong><br />
Tolkase war ihr Anführer. An der Spitze ging jedoch Rasul, ein<br />
Schrank von einem Mann, ehemals Feldwebel be<strong>im</strong> MVD; er hatte<br />
in dieser kalten Nacht bereits sechs Männer getötet - drei mit der<br />
Pistole, drei mit bloßen Händen. Niemand hatte etwas gehört, denn<br />
in einer Erdölraffinerie herrscht viel Lärm. Die Leichen waren <strong>im</strong><br />
Dunkel zurückgelassen worden, und die drei Männer bestiegen nun<br />
Tolkases Wagen, um die nächste Phase in Angriff zu nehmen.<br />
Das Kontrollzentrum befand sich in einem modernen zweistöckigen<br />
Bau in der Mitte des Komplexes. Mindestens fünf Kilometer<br />
weit in alle Richtungen erstreckten sich die Destillations- und katalytischen<br />
Anlagen, Tanklager und vor allem das kilometerlange<br />
Röhrengeflecht, das Nischnewartowsk zu einer der größten Raffinerien<br />
der Welt machte. In unregelmäßigen Abständen erhellten<br />
Flammen den H<strong>im</strong>mel, wo Gase abgefackelt wurden, und es stank<br />
nach Rohöldestillaten: Kerosin, Benzin, Diesel, Stickstofftetraoxid<br />
für Interkontinentalraketen, nach Schmierölen und allen möglichen<br />
anderen petrochemischen Verbindungen.<br />
Der Ingenieur Tolkase steuerte seinen privaten Lada auf das<br />
fensterlose Backsteingebäude zu, hielt auf dem für ihn reservierten<br />
Parkplatz und ging zum Eingang. Seine Kameraden warteten geduckt<br />
<strong>im</strong> Fond.<br />
Hinter der Glastür begrüßte Ibrah<strong>im</strong> den Mann vom Werkschutz,<br />
der zurücklächelte und die Hand nach Tolkases Ausweis<br />
ausstreckte. Der Wächter hatte getrunken; einziger Trost in diesem<br />
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auhen, kalten Land. Sein Blick war verschwommen, sein Lächeln<br />
zu starr. Tolkase händigte ungeschickt seinen Ausweis aus, ließ<br />
ihn fallen, und der Wächter bückte sich wankend, um ihn aufzuheben.<br />
Tolkases Pistolenmündung war das letzte, was der Mann<br />
spürte. Er starb, ohne zu wissen wie oder warum. Ibrah<strong>im</strong> hob die<br />
Leiche auf, setzte sie vorn übergesunken an den Tisch - es verpennte<br />
mal wieder einer die Spätschicht - und winkte dann seine<br />
Kameraden heran. Rasul und Mohammed sprinteten auf den Eingang<br />
zu.<br />
»Brüder, es ist soweit.« Tolkase reichte seinem hünenhaften<br />
Freund die Kalaschnikow AK-47 und einen Patronengurt.<br />
Rasul wog die Waffe kurz in der Hand, überzeugte sich, dass sie<br />
geladen und entsichert war. Dann warf er sich den Patronengurt<br />
über die Schulter, pflanzte das Bajonett auf und sagte zum ersten<br />
Mal in dieser Nacht etwas: »Das Paradies erwartet uns.«<br />
Tolkase klemmte sich den Sicherheitsausweis an den weißen<br />
Kittel. Dann führte er seine Kameraden die Treppe hinauf.<br />
Normalerweise durfte das Kontrollzentrum nur betreten, wer<br />
einem der dort Beschäftigten persönlich bekannt war. Nikolaj<br />
Barsow wirkte überrascht, als er Tolkase durch das winzige Fenster<br />
in der Tür erblickte. »Sie haben doch heute frei, Ischa.«<br />
»Heute Nachmittag versagte ein Ventil, und ich vergaß, vor<br />
Schichtende nach dem Fortgang der Reparaturarbeiten zu sehen.<br />
Sie wissen ja, welches ich meine - das Hilfsspeiseventil für Kerosinlager<br />
acht. Wenn es bis morgen nicht instand gesetzt ist, müssen<br />
wir umleiten, und Sie können sich vorstellen, was das bedeutet.«<br />
Barsow grunzte zust<strong>im</strong>mend. »Allerdings, Ischa. Treten Sie zurück,<br />
damit ich aufmachen kann.«<br />
Die schwere Stahltür öffnete sich nach außen. Rasul und Mohammed<br />
waren Barsow verborgen geblieben. Er hatte keine Zeit<br />
mehr, sie wahrzunehmen. Drei Geschosse vom Kaliber 7,62. mm<br />
bohrten sich in seine Brust.<br />
Die Kontrollzentrale, in der zwanzig Mann Dienst taten, ähnelte<br />
einem Stellwerk oder der Schaltzentrale eines Kraftwerks.<br />
Schematische Darstellungen des Pipeline-Systems bedeckten die<br />
hohen Wände, übersät mit Hunderten von Leuchten, die die Funktion<br />
der einzelnen Steuerventile anzeigten. Doch dies war nur das<br />
Haupt-Display. Einzelne Teile des Systems wurden über separate<br />
Rückmeldeanlagen gesteuert, größtenteils durch Computer, aber<br />
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auch von der Hälfte der Diensttuenden Ingenieure überwacht. Das<br />
Personal konnte die drei Schüsse nicht überhören.<br />
Doch niemand war bewaffnet.<br />
Gelassen, fast elegant begann sich Rasul vorzuarbeiten, setzte<br />
seine Kalaschnikow meisterhaft ein, gab jedem Ingenieur nur eine<br />
Kugel. Anfangs versuchten sie zu fliehen - bis sie erkannten, dass<br />
Rasul sie wie Vieh in eine Ecke trieb. Zwei Männer griffen tapfer<br />
nach den Telefonen, um die Sicherheitseinheiten des KGB zu alarmieren.<br />
Einen erschoss Rasul auf seinem Posten, der andere aber<br />
ging hinter den Schaltpulten in Deckung und rannte zur Tür, wo<br />
Tolkase stand. Es war Boris, wie Tolkase sah, der Favorit der Partei<br />
und Chef des Kollektivs, ein Mann, der mit ihm »Freundschaft«<br />
geschlossen hatte. Ibrah<strong>im</strong>, der nicht vergessen hatte, wie gönnerhaft<br />
er von diesem Russen behandelt worden war, hob seine Pistole.<br />
»Ischa!« schrie der Mann entsetzt. Ibrah<strong>im</strong> schoss ihm in den<br />
Mund und hoffte nur, dass Boris noch lange genug lebte, um sein<br />
verächtliches Giaur! zu hören. Es freute ihn, dass Rasul diesen<br />
Mann nicht erwischt hatte. Alle anderen überließ er seinem wortkargen<br />
Freund gern.<br />
Die anderen Ingenieure brüllten und warfen mit Tassen, Stühlen<br />
und Handbüchern, doch es gab nirgends Zuflucht, nichts führte an<br />
dem dunkelhäutigen, baumlangen Mann vorbei. Manche hoben<br />
flehend die Hände, andere beteten sogar laut. Der Lärm legte sich,<br />
als Rasul lächelnd den letzten erschoss. Dieser schwitzende ungläubige<br />
Hund würde ihm <strong>im</strong> Paradies dienen. Rasul lud sein Sturmgewehr<br />
nach, ging zurück in die Kontrollzentrale, stieß die Leichen<br />
mit dem Bajonett an und verpasste jenen vieren, die noch schwache<br />
Lebenszeichen zeigten, den Gnadenschuss. Sein Gesicht war gr<strong>im</strong>mig<br />
befriedigt. Mindestens fünfundzwanzig ungläubige Hunde tot.<br />
Fünfundzwanzig Fremde, die nun nicht mehr zwischen seinem<br />
Volk und Allah standen. Wahrlich, er hatte Allahs Werk getan!<br />
Mohammed, der dritte, war schon an seine Arbeit gegangen, als<br />
Rasul sich am oberen Ende der Treppe postierte. Im rückwärtigen<br />
Teil des Raumes schaltete er unter Umgehung aller au<strong>tom</strong>atischen<br />
Sicherheitssysteme von Computerkontrolle auf manuelle Notsteuerung<br />
um.<br />
Ibrah<strong>im</strong>, ein methodischer Mann, hatte das Unternehmen zwar<br />
über Monate hinweg geplant und sich jede Einzelheit eingeprägt,<br />
trug aber dennoch eine Checkliste in der Tasche, die er nun entfal<br />
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tete und vor sich aufs Hauptschaltpult legte. Tolkase warf einen<br />
Blick auf die Anzeigetafel, um sich zu orientieren, und hielt dann<br />
inne.<br />
Aus der Hüfttasche zog er die Hälfte eines Korans, der seinem<br />
Großvater gehört hatte, und schlug ihn aufs Geratewohl auf: die<br />
Sure über die Kriegsbeute. Sein Großvater war bei einem erfolglosen<br />
Aufstand gegen Moskau zum »Märtyrer des Islam« geworden,<br />
sein Vater hatte sich auf schändliche Weise dem gottlosen Staat<br />
unterworfen, und Tolkase selbst war von seinen Lehrern indoktriniert<br />
und schließlich zum Ingenieur ausgebildet worden, der in<br />
Aserbeidschans bedeutendster Industrieanlage Anstellung fand.<br />
Erst dann hatte der Gott seiner Vorväter seine Seele durch einen<br />
inoffiziellen Imam gerettet. Tolkase las die Passage, die er aufgeschlagen<br />
hatte: »Und als die Ungläubigen planten, dich gefangenzuhalten,<br />
zu töten oder zu vertreiben, planten sie schlau; doch auch<br />
Allah hatte seinen Plan gemacht. Und seine Pläne sind die klügsten.«<br />
Tolkase lächelte. Ein letzter Fingerzeig für einen Plan, den ein<br />
Größerer ausführte. Seelenruhig und zuversichtlich begann er, sein<br />
Schicksal und seinen Auftrag zu erfüllen.<br />
Zuerst das Benzin. Er schloss sechzehn Steuerventile - die nächsten<br />
waren drei Kilometer entfernt - und öffnete dann zehn; so<br />
leitete er achtzig Millionen Liter Benzin um, die nun aus einer<br />
Batterie von Füllventilen für Tanklaster strömten. Da die drei keine<br />
pyrotechnischen Vorrichtungen hinterlassen hatten, entzündete<br />
sich der Treibstoff nicht sofort. Doch wenn wir wahrhaftig das<br />
Werk Allahs tun, hatte sich Tolkase gesagt, wird Er schon dafür<br />
sorgen...<br />
Was Er auch tat. Ein Kleinlaster ging auf dem Abfüllhof zu rasch<br />
in die Kurve, geriet auf dem auslaufenden Benzin ins Schleudern<br />
und prallte seitlich gegen einen Strommast. Es bedurfte nur eines<br />
Funkens... und auch an den Gleisen lief schon der Treibstoff aus.<br />
An den Hauptschaltern des Pipeline-Systems ging Tolkase nach<br />
einem ganz speziellen Plan vor. Rasch gab er in den Computer einen<br />
Befehl ein und dankte Allah für Rasuls Geschick, der mit seinem<br />
Sturmgewehr nichts Wichtiges beschädigt hatte. Die Hauptleitung<br />
von dem nahe gelegenen Ölfeld hatte einen Durchmesser von zwei<br />
Metern und zahlreiche Abzweigungen zu allen Bohrlöchern. Das<br />
Öl in diesen Pipelines stand unter dem Druck der Förderpumpen<br />
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des Feldes. Auf Ibrah<strong>im</strong>s Befehle hin wurden Ventile in rascher<br />
Folge geöffnet und geschlossen. Die Pipeline barst an einem Dutzend<br />
Stellen, der Computer aber ließ die Pumpen weiterlaufen. Das<br />
austretende leichte Rohöl überflutete das Ölfeld; ein Funke genügte,<br />
um einen vom Winterwind noch weiter angefachten Großbrand<br />
auszulösen. Ein anderer Rohrbruch ereignete sich an der<br />
Stelle, wo die Öl- und Erdgasleitungen parallel über den Fluß Ob<br />
geführt wurden.<br />
»Die Grünen sind da!« schrie Rasul. Gleich darauf kam der<br />
Einsatztrupp des KGB-Grenzschutzes die Treppe hochgestürmt.<br />
Ein kurzer Feuerstoß aus der Kalaschnikow tötete die beiden ersten<br />
Männer. Der Rest des Trupps machte hinter einer Biegung des<br />
Treppenhauses jäh halt; ein junger Feldwebel versuchte auszumachen,<br />
in was sie da hineingeraten waren.<br />
Ringsum <strong>im</strong> Kontrollzentrum gingen au<strong>tom</strong>atische Alarmsignale<br />
los. Die Hauptanzeige stellte vier wachsende Brände dar, umrissen<br />
von blinkenden roten Leuchten. Tolkase trat an den Hauptrechner<br />
und riss die Bandspule mit den digitalen Steuer<strong>im</strong>pulsen heraus.<br />
Ersatzbänder lagen in einem Tresorraum <strong>im</strong> Keller, doch die einzigen<br />
Männer <strong>im</strong> Umkreis von zehn Kilometern, die die Kombination<br />
des Türschlosses kannten, lagen tot am Boden. Mohammed riss<br />
eifrig die Anschlüsse aller Telefone heraus. Die Explosion eines<br />
zwei Kilometer entfernten Benzintanks ließ das ganze Gebäude<br />
erzittern.<br />
Die Detonation einer Handgranate leitete einen neuen Angriff<br />
der KGB-Truppen ein. Rasul erwiderte das Feuer; Todesschreie<br />
mischten sich mit dem ohrenbetäubenden Lärm der Brandsirenen.<br />
Tolkase eilte in die Ecke, wo der Boden vom Blut schlüpfrig war,<br />
öffnete die Tür eines Sicherungsschranks, legte den Hauptschalter<br />
um und schoss dann mit der Pistole hinein. Wer hier etwas reparieren<br />
wollte, würde <strong>im</strong> Dunkeln arbeiten müssen.<br />
Es war vollbracht. Ibrah<strong>im</strong> sah, dass sein hünenhafter Freund von<br />
Granatsplittern tödlich in die Brust getroffen war, sich aber wankend<br />
an der Tür auf den Beinen hielt, bemüht, seine Kameraden bis<br />
zum letzten Augenblick zu schützen.<br />
»Ich nehme Zuflucht <strong>im</strong> Herrn der Welt«, rief Tolkase den KGB-<br />
Truppen, die kein Wort Arabisch verstanden, trotzig zu. »Dem<br />
König der Menschen, Gott der Menschen, vorm Übel des flüsternden<br />
Scheitan«<br />
7
Der KGB-Feldwebel sprang auf den unteren Treppenabsatz, und<br />
seine erste Garbe riss Rasul die Kalaschnikow aus den blutleeren<br />
Händen. Zwei Handgranaten flogen <strong>im</strong> Bogen durch die Luft, als<br />
der Feldwebel schon wieder um die Ecke verschwand.<br />
Kein Ausweg, kein Grund zur Flucht. Mohammed und Ibrah<strong>im</strong><br />
blieben reglos in der Tür stehen, als die Handgranaten über die<br />
Fliesen auf sie zugerollt kamen. Um sie herum schien die ganze Welt<br />
Feuer zu fangen - und ihretwegen würde sie auch tatsächlich in<br />
Brand geraten.<br />
»Allahu akhbar!«<br />
Sunnyvale, Kalifornien<br />
»Heiliger Strohsack!« hauchte der Chief Master Sergeant. Der in<br />
dem Benzin- und Diesellager der Raffinerie ausgebrochene Brand<br />
hatte ausgereicht, die Sensoren eines vierzigtausend Kilometer über<br />
dem Indischen Ozean in einer geo-synchronen Umlaufbahn schwebenden<br />
strategischen Frühwarnsatelliten zu aktivieren. Das Signal<br />
wurde zu einer hochgehe<strong>im</strong>en Bodenstation der US-Luftwaffe gesendet.<br />
Der ranghöchste Wachoffizier der Satelliten -Kontrolleinrichtung<br />
war ein Colonel der Air Force, der sich nun an seinen rangältesten<br />
Techniker wandte. »Bringen Sie das auf die Karte.«<br />
»Ja, Sir.« Der Sergeant gab an seinem Terminal einen Befehl ein,<br />
der die Empfindlichkeit der Kameras <strong>im</strong> Satelliten verringerte. Als<br />
der Überbelichtungseffekt auf dem Bildschirm nachließ, ortete der<br />
Satellit die Quelle der Wärmeenergie rasch. Eine Computer erzeugte<br />
Landkarte auf dem Monitor lieferte genaue Koordinaten. »Sir, da<br />
brennt eine Erdölraffinerie. In zwanzig Minuten haben wir einen<br />
KH-11-Durchlauf. Der Satellit passiert die Brandstelle in knapp<br />
hundertzwanzig Kilometer Entfernung.«<br />
»Gut.« Der Colonel nickte. Er betrachtete aufmerksam den Bildschirm,<br />
um sich zu vergewissern, dass die Hitzequelle sich nicht<br />
bewegte. Mit der rechten Hand griff er nach dem goldenen Telefon<br />
zum NORAD - Hauptquartier in Cheyenne Mountain <strong>im</strong> Bundesstaat<br />
Colorado. »Hier Argus Control. Ich habe eine Blitzmeldung<br />
für den CINC-NORAD.«<br />
»Moment.«<br />
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»Hier CINC-NORAD«, sagte ein zweiter Mann, der Oberbefehlshaber<br />
der nordamerikanischen Luft- und Raumverteidigung.<br />
»Sir, hier Colonel Burnette, Argus Control. Massiver Thermalenergiewert,<br />
Koordinaten sechzig Grad fünfzig Minuten Nord,<br />
sechsundsiebzig Grad vierzig Minuten Ost. Die Lokalität ist als<br />
Erdölraffinerie ausgewiesen. Die Hitzequelle ist stationär, wiederhole:<br />
stationär. In zwanzig Minuten erfolgt ein KH-11-Durchlauf.<br />
Nach erster Einschätzung, General, haben wir es hier mit einem<br />
Großbrand auf einem Ölfeld zu tun.«<br />
»Ihr Satellit wird also nicht von einem Laser geblendet?« fragte<br />
der CINC-NORAD. Es bestand <strong>im</strong>mer die Möglichkeit, dass die<br />
Sowjets solche Spiele trieben.<br />
»Negativ. Die Lichtquelle umfasst das gesamte sichtbare Spektrum<br />
plus infrarot und ist nicht, wiederhole: nicht monochromatisch.<br />
Weitere Einzelheiten in wenigen Minuten, Sir. Bisher weisen<br />
alle Daten auf einen Flächenbrand hin.«<br />
Dreißig Minuten später hatten sie Gewissheit. Der Aufklärungssatellit<br />
kam über den Horizont und der Unfallstelle so nahe, dass<br />
seine acht Fernsehkameras das Chaos aufzeichnen konnten. Das<br />
Signal wurde über einen stationären Satelliten an die Bodenstation<br />
gefunkt, und Burnette sah sich das Ganze in »Echtzeit« an, live und<br />
in Farbe. Der Brand hatte bereits auf die Hälfte des Raffineriekomplexes<br />
und auf mehr als die Hälfte des nahe gelegenen Ölfelds<br />
übergegriffen; brennendes Öl strömte aus den geborstenen Pipelines<br />
in den Ob. Sie konnten zusehen, wie sich das von einem<br />
starken Wind angefachte Feuer rasch ausbreitete. Im sichtbaren<br />
Spektrum hüllte Rauch den Großteil der Anlage ein, aber Infrarot-<br />
Sensoren durchdrangen ihn und zeigten eine Vielzahl von Hitzequellen,<br />
die nur riesige, heftig brennende Seen von Erdölprodukten<br />
darstellen konnten. Burnettes Sergeant kam aus dem Osten von<br />
Texas und hatte als junger Mann auf Ölfeldern gearbeitet. Er<br />
brachte Tageslichtaufnahmen der Anlage auf den Monitor und<br />
verglich sie mit dem Bild auf dem Sichtgerät nebenan, um festzustellen,<br />
welche Teile der Raffinerie bereits Feuer gefangen hatten.<br />
»Verflucht, Colonel.« Der Sergeant schüttelte andächtig den<br />
Kopf. »Die Raffinerie ist <strong>im</strong> E<strong>im</strong>er, Sir. Das Feuer rast vor dem<br />
Wind her und ist unmöglich zu löschen. Die Anlage ist ein Totalverlust<br />
und brennt vielleicht noch drei, vier Tage weiter, stellenweise<br />
sogar eine Woche. Und wenn sie den Brand nicht unter Kontrolle<br />
9
ekommen, geht auch das Ölfeld hoch. Be<strong>im</strong> nächsten Durchlauf<br />
steht der ganze Schlamassel in Flammen, brennendes Öl aus allen<br />
Bohrlöchern ... Mann, da traut sich selbst Red Adair nicht ran!«<br />
»Von der Raffinerie bleibt also nichts übrig? Hmm.« Burnette<br />
ließ eine Bandaufzeichnung der Satellitenaufnahmen ablaufen.<br />
»Das ist ihre neueste und größte Anlage. Bis die von Grund auf<br />
wieder aufgebaut ist, gibt es bei Petroleumprodukten mit Sicherheit<br />
Engpässe. Wenn der Brand gelöscht ist, werden sie ihre Benzin- und<br />
Dieselproduktion radikal umstellen müssen. Eins muss ich dem<br />
Russen lassen: Wenn bei seiner Industrie etwas schief geht, stößt er<br />
sofort zu. Ein lästiger Rückschlag für unsere russischen Freunde<br />
also, nicht mehr.«<br />
Diese Analyse wurde tags darauf vom CIA und einen Tag später<br />
von den britischen und französischen Nachrichtendiensten bestätigt.<br />
Sie lagen alle schief.<br />
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2<br />
Außenseiter <strong>im</strong> inneren Zirkel<br />
DATUM-ZEIT 31/01 - 06:15 BLATT 01 GROSSBRAND UDSSR<br />
BC - Soviet Fire, Bjt, 1809 -FL-<br />
Feuerkatastrophe auf sowjetischem Ölfeld <strong>im</strong> Nischnewartowsk<br />
-FL.<br />
EDS: Für Nachmittagsausgabe MITTWOCH vorgezogen<br />
•FL-.<br />
Von William Blake -FC-<br />
Militärkorrespondent AP<br />
WASHINGTON (AP) - »Der schwerste Brand auf einem<br />
Ölfeld seit der Katastrophe in Mexico City 1984 und selbst dem<br />
Texas-City-Brand 1947« erhellte laut militärischen und nachrichtendienstlichen<br />
Quellen die Nacht in der mittleren Sowjetunion.<br />
Der Brand wurde mit »nationalen technischen Mitteln«<br />
ausgemacht, ein Begriff, der <strong>im</strong> allgemeinen auf von der CIA<br />
mittels Aufklärungssatelliten gewonnene Daten hinweist. Die<br />
CIA lehnte jeglichen Kommentar zu dem Vorfall ab.<br />
Quellen <strong>im</strong> Pentagon bestätigten den Bericht und betonten,<br />
die von der Unfallstelle abgestrahlte Energie habe bei NO<br />
RAD vorübergehend Unruhe und die Besorgnis ausgelöst, es<br />
könne sich um den Abschuss einer Rakete gegen die Vereinigten<br />
Staaten handeln oder den Versuch, amerikanische Frühwarnsatelliten<br />
mit einem Laser zu blenden.<br />
Es sei jedoch zu keinem Zeitpunkt erwogen worden, erhöhte<br />
Alarmbereitschaft auszulösen. »Nach dreißig Minuten war<br />
alles vorbei«, erklärte die Quelle.<br />
Von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS ging bisher<br />
keine Bestätigung ein.<br />
Die Tatsache, dass amerikanische Regierungsbeamte außergewöhnliche<br />
Industrieunfälle erwähnten, lässt darauf schließen,<br />
dass dieser Großbrand viele Todesopfer gefordert hat. Quellen<br />
<strong>im</strong> Verteidigungsministerium waren nicht bereit, über die<br />
Möglichkeit von Opfern unter der Zivilbevölkerung zu spekulieren.<br />
Der Erdölkomplex Nischnewartowsk grenzt an die<br />
gleichnamige Stadt an.<br />
Das Feld Nischnewartowsk liefert 31,3 Prozent der gesamten<br />
11
sowjetischen Ölförderung, und die angrenzende, erst kürzlich<br />
erbaute Raffinerie 17,3 Prozent aller Erdöldestillate.<br />
»Zu ihrem Glück«, erklärte Donald Evans, Sprecher des<br />
American Petroleum Institute, »brennt unterirdisches Öl<br />
nicht, und aus diesem Grund ist damit zu rechnen, dass das<br />
Feuer in ein paar Tagen von selbst ausgehen wird.« Der Wiederaufbau<br />
der Raffinerie jedoch könne sehr kostspielig werden.<br />
»Wenn so etwas hochgeht«, meinte Evans, »dann gewöhnlich<br />
mit einem großen Knall. Die Russen verfügen jedoch<br />
über ausreichende ungenutzte Raffineriekapazität und<br />
können den Ausfall ausgleichen, zum Beispiel mit ihrem erweiterten<br />
Komplex bei Moskau.«<br />
Evans sah sich nicht in der Lage, Vermutungen über die<br />
Brandursache anzustellen: »Mag sein, dass das Kl<strong>im</strong>a etwas<br />
damit zu tun hatte. Wir sind zum Beispiel in Alaska auf<br />
Probleme gestoßen, die nur durch sorgfältige Arbeit gelöst<br />
werden konnten. Zudem ist jede Raffinerie anfällig für<br />
Brände, und für intelligentes, umsichtiges und gut ausgebildetes<br />
Bedienungspersonal gibt es eben keinen Ersatz.«<br />
Dies ist der letzte in einer Serie von Rückschlägen für die<br />
sowjetische Ölindustrie. Erst <strong>im</strong> vergangenen Herbst wurde<br />
vor dem Zentralkomitee eingestanden, die Förderleistung beider<br />
Ölfelder m Ostsibirien hätte »frühere Erwartungen nicht<br />
ganz erfüllt«. Westliche Kreise interpretierten diese scheinbar<br />
milde Erklärung als scharfen Angriff auf den inzwischen zurückgetretenen<br />
Erdölminister Satyschin, dessen Posten nun<br />
Michail Sergetow innehat, ehemals Parteichef in Leningrad<br />
und ein Aufsteiger in der Partei. Sergetow, erfahrener Ingenieur<br />
und Parteibürokrat, Muss nun die sowjetische Ölindustrie<br />
von Grund auf reorganisieren, eine Aufgabe, die Jahre m<br />
Anspruch nehmen mag.«<br />
AP-BA-31-01 0501 EST -FL-.<br />
12
Moskau<br />
Michail Eduardowitsch Sergetow hatte keine Gelegenheit, sich den<br />
Bericht der Nachrichtenagentur anzusehen. Er war aus seiner Datscha<br />
in den Birkenwäldern um Moskau geholt worden und sofort<br />
nach Nischnewartowsk geflogen, wo er sich nur zehn Stunden lang<br />
aufhielt, ehe er nach Moskau zurückbeordert wurde, um Bericht zu<br />
erstatten. Erst drei Monate auf dem Posten, dachte er, und jetzt<br />
ausgerechnet das!<br />
Seine Stellvertreter, zwei geschickte junge Ingenieure, waren zurückgeblieben,<br />
um Ordnung in das Chaos zu bringen und zu retten,<br />
was noch zu retten war. Sergetow saß in der leeren Bugkabine einer<br />
IL-86 und ging seine Unterlagen für den Vortrag vom Politbüro<br />
durch, das später am Tag zusammentreten sollte. Dreihundert<br />
Männer waren bei der Bekämpfung des Brandes ums Leben gekommen<br />
und wie durch ein Wunder nur knapp zweihundert Bürger der<br />
Stadt Nischnewartowsk.<br />
Die Raffinerie war fast völlig zerstört. Der Wiederaufbau würde<br />
mindestens zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen und einen<br />
beträchtlichen Anteil der Großröhrenproduktion des Landes verschlingen.<br />
Hinzu kamen alle anderen raffineriespezifischen Einrichtungen.<br />
Kostenpunkt: fünfzehn Milliarden Rubel. Und was<br />
musste alles aus dem Ausland <strong>im</strong>portiert werden - gegen Geld und<br />
kostbare Devisen!<br />
Und das war noch die positive Seite.<br />
Der negative Aspekt: Der Brand auf dem Ölfeld hatte die Quellenfassungen<br />
total zerstört. Reparaturzeit: sechsunddreißig Monate!<br />
Sechsunddreißig Monate, sann Sergetow depr<strong>im</strong>iert, vorausgesetzt,<br />
wir können die Bohrtürme und Mannschaften von anderswo<br />
abziehen und jede einzelne Bohrung neu niederbringen lassen und<br />
zur selben Zeit die ERO-Systeme wiederaufbauen. Achtzehn Monate<br />
lang ein drastischer Produktionsrückgang, wenn nicht dreißig<br />
Monate. Was soll aus unserer Wirtschaft werden?<br />
Er nahm ein liniertes Blatt aus der Aktentasche und begann zu<br />
rechnen. Der Flug dauerte drei Stunden, aber dass er vorüber war,<br />
merkte Sergetow erst, als der Pilot erschien und verkündete, sie<br />
seien gelandet.<br />
Er blinzelte auf die Schneelandschaft bei Wnukowo-2, Moskaus<br />
13
nur für die Parteiprominenz best<strong>im</strong>mtem Flughafen, und ging allein<br />
die Treppe hinunter zu einem bereitstehenden Sil. Die schwere<br />
L<strong>im</strong>ousine raste sofort los und hielt an keinem der Kontrollpunkte.<br />
Die fröstelnden Milizoffiziere nahmen Haltung an, als der Sil vorbeirauschte.<br />
Die Sonne schien hell, der H<strong>im</strong>mel war bis auf dünne<br />
Zirruswolken klar. Sergetow starrte ausdruckslos aus dem Fenster<br />
und ging in Gedanken Zahlen durch, die er schon ein halbes dutzendmal<br />
überprüft hatte.<br />
Sergetow war seit sechs Monaten Kandidat, also nicht st<strong>im</strong>mberechtigtes<br />
Mitglied des Politbüros, was bedeutete, dass er zusammen<br />
mit acht anderen Kandidaten die dreizehn Männer, die allein<br />
alle wichtigen Entscheidungen trafen, beriet. Er war seit September<br />
für die Erzeugung und Verteilung von Energie zuständig und hatte<br />
gerade erst begonnen, seinen Plan für die Reorganisation aller<br />
anderen mit Energie befassten zentralen und regionalen Ministerien,<br />
die den Großteil ihrer Zeit mit bürokratischen Grabenkämpfen<br />
verbrachten, in die Tat umzusetzen und eine übergeordnete<br />
Behörde zu schaffen, die dem Politbüro direkt Bericht erstattete. Er<br />
schloss kurz die Augen und dankte Gott, weil er sich in seiner ersten<br />
Empfehlung vor einem Monat mit Fragen der Sicherheit und politischen<br />
Zuverlässigkeit auf den Ölfeldern befasst und für eine weitere<br />
Russifizierung der größtenteils »ausländischen« Belegschaft eingesetzt<br />
hatte. Aus diesem Grund brauchte er um seine Karriere,<br />
bislang ein ununterbrochener Erfolg, nicht zu fürchten. Er zuckte<br />
die Achseln. Bei der nun vor ihm liegenden Aufgabe ging es auf<br />
jeden Fall um seine Zukunft. Und womöglich um die seines Landes.<br />
Der Sil raste auf der für höchste Persönlichkeiten best<strong>im</strong>mten<br />
Sonderspur in der Fahrbahnmitte des Leningradski-Prospekts entlang.<br />
Sie glitten am Intourist - Hotel vorbei auf den Roten Platz und<br />
hielten schließlich auf das Kremltor zu. Hier musste der Fahrer an<br />
drei von KGB-Soldaten und Taman - Gardisten bemannten Kontrollposten<br />
anhalten. Fünf Minuten später fuhr die L<strong>im</strong>ousine am<br />
Eingang zum Ministerratsgebäude vor, dem einzigen modernen<br />
Bau in der Festung. Hier kannten die Posten Sergetow vom Sehen<br />
und hielten ihm zackig salutierend die Wagentür auf.<br />
Als er eintrat, herrschte <strong>im</strong> Sitzungssaal Totenstille. In dem alten<br />
Saal <strong>im</strong> Arsenal, der gerade renoviert wurde, hätte die St<strong>im</strong>mung an<br />
eine Beerdigung erinnert. Langsam starben die alten Männer, die<br />
Stalins Schreckensherrschaft überlebt hatten, aus. Die »jungen«<br />
14
Männer um die fünfzig verschafften sich Gehör, die Wachablösung<br />
hatte begonnen, kam aber für den Geschmack Sergetows und seiner<br />
Generation trotz des neuen Generalsekretärs viel zu langsam voran.<br />
»Guten Tag, Genossen«, sagte Sergetow. Die anderen Männer<br />
nahmen ihre Plätze ein. Sergetow setzte sich auf der rechten Seite<br />
des Tisches in die Mitte.<br />
Der Generalsekretär eröffnete die Sitzung, sprach beherrscht und<br />
sachlich. «Genosse Sergetow, beginnen Sie mit Ihrem Bericht. Zuerst<br />
möchten wir von Ihnen erfahren, was genau sich zugetragen<br />
hat.«<br />
»Genossen, gestern um dreiundzwanzig Uhr Moskauer Zeit<br />
drangen drei bewaffnete Männer ins Kontrollzentrum des Ölkomplexes<br />
Nischnewartowsk ein und begingen einen raffinierten Sabotageakt.«<br />
»Wer waren sie?« fragte der Verteidigungsminister scharf.<br />
»Bisher konnten wir nur zwei identifizieren. Einer der Banditen<br />
war Betriebsangehöriger, ein Elektriker. Der dritte« - Sergetow zog<br />
einen Personalausweis aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch -<br />
»war der Leitende Ingenieur Tolkase. Offenbar löste er in fachmännischer<br />
Kenntnis der Steuersysteme einen Großbrand aus, der sich,<br />
angefacht von starkem Wind, rasch verbreitete. Ein aus zehn Soldaten<br />
des KGB-Grenzschutzes bestehender Sicherheitstrupp griff<br />
auf den Alarm hin sofort ein. Der bisher noch nicht identifizierte<br />
Saboteur tötete oder verwundete fünf dieser Männer mit einem<br />
Sturmgewehr, das er einem Angehörigen des Werkschutzes abgenommen<br />
hatte, der ebenfalls ums Leben kam. Ich muss nach der<br />
Vernehmung des Feldwebels vom KGB - der Leutnant fiel - sagen,<br />
dass der Grenzschutz rasch und korrekt reagierte. Die Männer<br />
töteten die Saboteure binnen Minuten, konnten aber die völlige<br />
Zerstörung der gesamten Anlage, Raffiniere und Ölfeld, nicht verhindern.«<br />
»Gut, der Grenzschutz hat rasch gehandelt. Warum hat er diesen<br />
Sabotageakt nicht verhindern können?« fragte der Verteidigungsminster<br />
aufgebracht. »Was hatte dieses Mohammedanergesindel<br />
dort überhaupt verloren?«<br />
»Genosse, die Arbeit auf den sibirischen Ölfeldern ist hart, und<br />
wir hatten ernsthafte Schwierigkeiten, die Stellen dort zu besetzen.<br />
Mein Vorgänger beschloss, erfahrene Arbeiter aus Baku nach Sibirien<br />
Zwangsversetzen zu lassen. Das war der helle Wahnsinn. Sie<br />
15
werden sich entsinnen, dass ich Ende vergangenen Jahres die Abschaffung<br />
dieser Praktik empfahl.«<br />
»Wir haben davon Kenntnis genommen, Michail Eduardowitsch«,<br />
meinte der Generalsekretär. »Bitte fahren Sie fort.«<br />
»Die KGB-Wache zeichnet alle Telefon- und Funkgespräche auf.<br />
Der Einsatztrupp war binnen zwei Minuten unterwegs. Unglücklicherweise<br />
befindet sich die Wache neben dem alten Kontrollzentrum.<br />
Als wir vor zwei Jahren neue computergesteuerte Anlagen<br />
aus dem Westen erhielten, wurde das gegenwärtige Gebäude drei<br />
Kilometer weiter weg hochgezogen. Das Baumaterial für eine neue<br />
Wache daneben wurde zugeteilt, aber vom Direktor des Komplexes<br />
und dem örtlichen Parteisekretär für den Bau von Datschen am<br />
Fluss zweckentfremdet. Beide Männer sind auf meine Veranlassung<br />
hin wegen Verbrechens gegen den Staat festgenommen worden«,<br />
berichtete Sergetow nüchtern. Keine Reaktion am Tisch. Sergetow<br />
sprach weiter: »Ich habe die Sicherheitsmaßnahmen an allen Ölanlagen<br />
bereits verschärfen lassen. Ebenfalls auf meinen Befehl hin<br />
wurden die Familien der beiden bekannten Saboteure in Baku<br />
verhaftet und vom Staatssicherheitsdienst streng verhört, ebenso<br />
alle Bekannten und Arbeitskollegen der Täter. Ehe die Täter vom<br />
Grenzschutz unschädlich gemacht werden konnten, sabotierten sie<br />
die Steueranlage des Ölfeldes auf eine Weise, die einen Großbrand<br />
auslöste. Es gelang ihnen auch, die Steuereinrichtungen so zu beschädigen,<br />
dass selbst qualifizierte Ingenieure die Katastrophe nicht<br />
hätten verhindern können. Die KGB-Truppen waren gezwungen,<br />
das Gebäude, das später ausbrannte, zu verlassen. Sie konnten<br />
nichts mehr machen.« Sergetow erinnerte sich an die Tränen auf<br />
den Blasen <strong>im</strong> verbrannten Gesicht des Feldwebels.<br />
»Und die Feuerwehr?« fragte der Generalsekretär.<br />
»Über die Hälfte der Männer kam bei der Bekämpfung des<br />
Brandes um«, erwiderte Sergetow, »dazu mehr als hundert Bürger,<br />
die mithalfen, den Komplex zu retten. Man kann hier wirklich<br />
niemandem die Schuld geben, Genosse. Sowie dieser Tolkase sein<br />
Teufelswerk begonnen hatte, war es so leicht unter Kontrolle zu<br />
bringen wie ein Erdbeben. Die Brände sind inzwischen zum größten<br />
Teil gelöscht, denn der bei der Raffinerie lagernde Treibstoff wurden<br />
binnen fünf Stunden von den Flammen verzehrt, und aus den<br />
zerstörten Bohrlöchern tritt kein Öl mehr aus.«<br />
»Wie war eine solche Katastrophe nur möglich?« fragte ein altes<br />
16
Mitglied. Sergetow war von der ruhigen St<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Raum überrascht.<br />
Hatte man den Fall bereits zuvor besprochen?<br />
»Mein Bericht vom 10. Dezember befasste sich mit den Gefahren.<br />
Vom Kontrollzentrum aus werden Pumpen und Ventile auf einem<br />
Gebiet von über hundert Quadratkilometern gesteuert. Von hier<br />
aus kann ein mit der Anlage vertrauter Mann die verschiedenen<br />
Systeme des gesamten Feldes nach Belieben manipulieren und erreichen,<br />
dass sich der ganze Komplex praktisch selbst zerstört. Tolkase<br />
verfügte über diese Kenntnisse. Er war ein Aserbeidschaner, wegen<br />
seines Geschicks und seiner vorbildlichen Treue ausgewählt, Absolvent<br />
der Staatsuniversität Moskau, angesehenes Parte<strong>im</strong>itglied.<br />
Außerdem scheint er ein zu verblüffender He<strong>im</strong>tücke fähiger religiöser<br />
Fanatiker gewesen zu sein. Alle Männer, die <strong>im</strong> Kontrollzentrum<br />
getötet wurden, waren seine Freunde - oder hielten sich<br />
zumindest dafür. Nach fünfzehn Jahren in der Partei waren die<br />
letzten Worte dieses Mannes, der ein gutes Gehalt, den Respekt<br />
seiner Kollegen und sogar einen Privatwagen hatte, der schrille<br />
Schrei: >Allah ist großleicht und süß
zig Prozent unserer Benzin-, achtundvierzig Prozent der Kerosinund<br />
fünfzig Prozent der Dieselproduktion. Diese Zahlen sind das<br />
Ergebnis vorläufiger Berechnungen, die ich auf dem Rückflug anstellte,<br />
sie sollten aber bis auf plus - minus zwei Prozent exakt sein.<br />
Genaue Werte wird meine Behörde in ein, zwei Tagen vorlegen.«<br />
»Also die Hälfte?« fragte der Generalsekretär leise.<br />
»Korrekt, Genosse«, gab Sergetow zurück.<br />
»Und wann kann die Förderung wieder beginnen?«<br />
»Genosse Generalsekretär, wenn wir alle verfügbaren Bohrtürme<br />
heranziehen und rund um die Uhr arbeiten lassen, kann die<br />
Förderung in zwölf Monaten wieder beginnen. Die Beseitigung der<br />
Trümmer wird drei Monate in Anspruch nehmen, Transport und<br />
Aufstellung der Bohrtürme weitere drei. Da uns über Lage und<br />
Tiefe der Bohrungen exakte Informationen vorliegen, kann der<br />
übliche Unsicherheitsfaktor unberücksichtigt bleiben. Innerhalb<br />
eines Jahres - will sagen, sechs Monate nach Beginn der Bohrarbeiten<br />
- produziert das Feld wieder und wird nach zwei Jahren wieder<br />
seine volle Kapazität erreicht haben. Gleichzeitig müssten auch die<br />
EOR-Anlagen erneuert werden -«<br />
»Und was wäre das?« fragte der Verteidigungsminister.<br />
»Enhanced Oil Recovery Systeme, Genosse Minister, eine westliche<br />
Erfindung. Wären dies verhältnismäßig neue Bohrlöcher gewesen,<br />
aus denen das Öl unter dem Druck des Erdgases strömt, hätte<br />
das Feld wochenlang gebrannt. Wie Ihnen bekannt ist, Genossen,<br />
wurde aus diesen Bohrlöchern schon allerhand Öl gepumpt. Um die<br />
Förderleistung zu steigern, haben wir Wasser in die Bohrlöcher<br />
gepumpt, das mehr Öl nach oben drückt. Unsere Geologen sind <strong>im</strong><br />
Augenblick noch damit befasst herauszufinden, in welchem Ausmaß<br />
dies die Ölführenden Schichten schädigt. Wie auch <strong>im</strong>mer, mit<br />
dem Strom fiel auch die Kraft, die das Öl nach oben presste, aus, und<br />
die Brände an der Oberfläche fanden bald keine Nahrung mehr.«<br />
»Wir können also noch nicht einmal in drei Jahren mit voller<br />
Förderleistung rechnen?« fragte der Innenminister.<br />
»Korrekt, Genosse Minister. Es existiert schlicht keine wissenschaftliche<br />
Basis für die Taxierung der Gesamtproduktion. Mit<br />
einer Situation wie dieser sah sich bisher noch niemand konfrontiert,<br />
weder <strong>im</strong> Osten noch <strong>im</strong> Westen. Vielleicht können wir <strong>im</strong><br />
Lauf der nächsten zwei oder drei Monate den Testbohrungen einige<br />
Aufschlüsse entnehmen. Ich habe zwei Ingenieure zurückgelassen,<br />
18
die <strong>im</strong> Begriff sind, den Prozeß mit verfügbarem Gerät in Gang zu<br />
setzen.«<br />
»Gut.« Der Generalsekretär nickte. »Die nächste Frage: Wie<br />
lange kann das Land auf dieser Basis existieren?«<br />
Sergetow konsultierte seine Unterlagen. »Genossen, für unsere<br />
Wirtschaft ist das unbestreitbar eine Katastrophe von noch nie<br />
da gewesenen Ausmaßen. Der Winter hat unsere Schwerölvorräte<br />
stärker als gewöhnlich vermindert. Best<strong>im</strong>mte Energieverbraucher<br />
müssen relativ unangetastet bleiben. Für die Stromerzeugung zum<br />
Beispiel wurden <strong>im</strong> vergangenen Jahr achtunddreißig Prozent unserer<br />
Ölprodukte aufgewandt, sehr viel mehr als geplant, weil die<br />
Kohle- und Gasproduktion, die den Ölverbrauch reduzieren sollte,<br />
enttäuschend ausfiel. Wegen Fehlschlägen bei der Modernisierung<br />
wird der Ausstoß unserer Kohleindustrie erst in fünf Jahren das<br />
Plansoll erreichen. Und Bohrungen nach Erdgas werden gegenwärtig<br />
von Umweltbedingungen verlangsamt. Aus technischen Gründen<br />
sind Einrichtungen dieser Art in extremer Kälte sehr schwer zu<br />
bedienen.«<br />
»Dann sollen die Faulenzer eben fester zupacken!« schlug der<br />
Moskauer Parteichef vor.<br />
»An den Bohrmannschaften liegt es nicht, Genosse.« Sergetow<br />
seufzte. »Es sind die Maschinen. Die Kälte schadet Metall mehr als<br />
Menschen. Werkzeuge und Gerätschaften brechen, weil sie in der<br />
Kälte spröde werden. Die Witterungsbedingungen erschweren die<br />
Versorgung der Lager mit Ersatzteilen.«<br />
»Wäre es möglich, die Bohrarbeiten <strong>im</strong> gehe<strong>im</strong>en durch zuführen?«<br />
fragte der Verteidigungsminister.<br />
Das verblüffte Sergetow. »Ausgeschlossen, Genosse Minister.<br />
Wie versteckt man mehrere hundert zwischen zwanzig und vierzig<br />
Meter hohe Bohrtürme? Da könnte man genauso gut versuchen,<br />
den Raketenkomplex Plesezk zu tarnen.« Zum ersten Mal fiel<br />
Sergetow auf, dass der Verteidigungsminister und der Generalsekretär<br />
Blicke tauschten.<br />
»Dann muss die Stromindustrie ihren Ölverbrauch einschränken«,<br />
verfügte der Generalsekretär.<br />
»Genossen, gestatten Sie mir, Ihnen ein paar grobe Zahlen zu<br />
unserem Ölverbrauch zu nennen. Bitte berücksichtigen Sie, dass ich<br />
das aus dem Gedächtnis tue, da der Jahresbericht meiner Behörde<br />
<strong>im</strong> Augenblick noch erstellt wird.<br />
19
Im vergangenen Jahr förderten wir 589 Millionen Tonnen Rohöl,<br />
zweiunddreißig Millionen Tonnen unterm Plansoll, und selbst<br />
diese Leistung war nur mit Hilfe der erwähnten künstlichen Maßnahmen<br />
möglich. Die Hälfte dieser Menge wurde in masut oder<br />
schweres Heizöl zur Verfeuerung in Kraftwerken, Fabriken und so<br />
weiter umgewandelt. Für den Großteil dieses Öls gibt es keine<br />
andere Verwendung, da wir nur über drei - Verzeihung, nun nur<br />
noch zwei - Raffinerien verfügen, deren komplexe katalytische<br />
Spaltanlagen Schweröl in leichte Destillate umzuwandeln <strong>im</strong>stande<br />
sind.<br />
Unsere Treibstoffproduktion hält die Wirtschaft auf vielfältige<br />
Weise in Gang. Wie bereits erwähnt, werden bei der Stromerzeugung<br />
achtunddreißig Prozent verbraucht. Die gute Hälfte der leichteren<br />
Treibstoffe Benzin, Diesel und Kerosin absorbieren Landwirtschaft,<br />
Nahrungsindustrie, Personen- und Gütertransport, der zivile<br />
Verbrauch und die Streitkräfte. In anderen Worten, Genossen,<br />
ist nach dem Ausfall von Nischnewartowsk der Bedarf der erwähnten<br />
Endverbraucher größer als unsere Produktion, und es bleibt<br />
nichts übrig für Metallurgie, die chemische und die Schwerindustrie,<br />
die Bauwirtschaft und nicht zu vergessen die Lieferungen an<br />
die sozialistischen Bruderstaaten in Osteuropa und anderswo auf<br />
der Welt.<br />
Um auf Ihre spezifische Frage einzugehen, Genosse Generalsekretär,<br />
eine bescheidene Verringerung des Verbrauchs von leichtem<br />
Heizöl in Kraftwerken ist zwar möglich, doch schwere Defizite bei<br />
der Stromerzeugung führen schon jetzt zu gelegentlichen Spannungsabfällen<br />
und Stromausfällen. Weitere Kürzungen auf diesem<br />
Gebiet würden sich ungünstig auf die Industrieproduktion und den<br />
Schienentransport auswirken. Sie werden sich entsinnen, dass wir<br />
vor drei Jahren in einem Exper<strong>im</strong>ent die Spannung des erzeugten<br />
Stroms verringerten, um Treibstoff zu sparen, was <strong>im</strong> ganzen Donezbecken<br />
zu durchgebrannten Elektromotoren führte.«<br />
»Und Kohle und Gas?«<br />
»Genosse Generalsekretär, die Kohleproduktion liegt bereits<br />
sechzehn Prozent unterm Plansoll und sinkt weiter - aus diesem<br />
Grund mussten viele Kessel und Kraftwerke von Kohle auf Öl<br />
umgestellt werden. Zudem wäre die Rückkonvertierung solcher<br />
Anlagen von Öl auf Kohle zu kostspielig und zeitraubend. Umrüstung<br />
auf Erdgas ist eine attraktivere und kostengünstigere Alterna<br />
20
tive, die wir energisch verfolgt haben. Leider hinkt auch die Erdgasförderung<br />
dem Plansoll hinterher, ist aber nun <strong>im</strong> Steigen begriffen<br />
und mag <strong>im</strong> Lauf des Jahres die vorgegebenen Werte erreichen.<br />
Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass wir die Hälfte<br />
unseres Erdgases gegen Devisen nach Westeuropa liefern, um <strong>im</strong><br />
Ausland Rohöl und natürlich auch Getreide einkaufen zu können."<br />
Bei diesem Hinweis verzog das für die Landwirtschaft zuständige<br />
Mitglied des Politbüros schmerzlich das Gesicht. Wie viele Männer,<br />
fragte sich Sergetow, hatten bei dem Versuch, die sowjetische Landwirtschaft<br />
auf Trab zu bringen, ihre Karrieren ruiniert? Eine Ausnahme<br />
stellte natürlich der gegenwärtige Generalsekretär dar; den<br />
hatten seine Missgriffe auf diesem Gebiet nicht am Aufstieg gehindert.<br />
Doch welchen Preis er bezahlt hatte, begann Sergetow erst<br />
jetzt zu verstehen.<br />
»Welche Lösung schlagen Sie vor, Michail Eduardowitsch?«<br />
fragte der Verteidigungsminister mit beunruhigender Beflissenheit.<br />
» Genossen, wir müssen unsere Wirtschaft auf allen Ebenen rationalisieren<br />
und leistungsfähiger machen.» Höhere Öl<strong>im</strong>porte erwähnte<br />
Sergetow erst gar nicht, denn das von ihm erwähnte Defizit<br />
bedeutete bereits eine dreißigfache Erhöhung der Einfuhren, und<br />
für eine Verdoppelung der Öl<strong>im</strong>porte reichten die Devisenreserven<br />
kaum aus. »Wir werden den Ausstoß der Bohrturmfabrik »Barrikade«<br />
in Wolgograd erhöhen und die Qualitätskontrolle verbessern<br />
müssen. Außerdem ist der Einkauf von Bohrgerät <strong>im</strong> Westen notwendig,<br />
damit existierende Felder weiter erforscht und ausgebeutet<br />
werden können. Wir müssen mehr Kernkraftwerke bauen. Die<br />
Lastwagen und Privatfahrzeugen zur Verfügung stehende Treibstoffmenge<br />
ließe sich kürzen - wir alle wissen, dass auf diesem<br />
Sektor viel verschwendet wird, vielleicht sogar ein Drittel des Gesamtverbrauchs.<br />
Der Treibstoffverbrauch der Streitkräfte ließe sich<br />
vorübergehend einschränken. Und zu erwägen wäre auch die Umstellung<br />
einiger Rüstungsbetriebe auf die Herstellung wichtiger<br />
Produkte für den zivilen Bereich. Wir haben drei sehr schwere Jahre<br />
vor uns - aber nur drei«, schloss Sergetow opt<strong>im</strong>istisch.<br />
»Genosse, auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspolitik<br />
haben Sie nur wenig Erfahrung, nicht wahr?« fragte der Verteidigungsminister.<br />
»Ich habe nie etwas anderes behauptet, Genosse Minister«, erwiderte<br />
Sergetow argwöhnisch.<br />
21
»Dann will ich Ihnen sagen, weshalb diese Lage unakzeptabel ist.<br />
Wenn wir Ihren Vorschlägen folgen, wird der Westen von unserer<br />
Krise erfahren. Größere Bestellungen von Bohr- und Fördereinrichtungen<br />
und Aktivität in Nischnewartowsk demonstrieren eindeutig,<br />
was hier vor sich geht. Dann sind wir in den Augen des Westens<br />
verwundbar, und unsere Schwäche wird ausgenutzt werden. Und<br />
dabei« - er hieb mit der Faust auf den schweren Eichentisch -<br />
»schlagen Sie die Kürzung des Treibstoffs für die Streitkräfte vor,<br />
die uns gegen den Westen verteidigen sollen!«<br />
»Genosse Minister, ich bin Ingenieur und kein Soldat. Ich wurde<br />
um eine Einschätzung der Lage vom technischen Standpunkt aus<br />
gebeten und habe das getan.« Sergetow war bemüht, sachlich zu<br />
klingen. »Die Lage ist sehr ernst, zieht aber zum Beispiel unsere<br />
Interkontinentalraketen nicht in Mitleidenschaft. Können sie allein<br />
uns nicht vor den Imperialisten schützen, während wir uns von<br />
diesem Schlag erholen?« Wozu sind sie sonst gebaut worden? fragte<br />
sich Sergetow. Unsummen für unproduktive Löcher vergeudet.<br />
Reichte es denn nicht aus, den Westen zehnmal zerstören zu können?<br />
Warum eigentlich zwanzigmal? Und warum war das jetzt<br />
<strong>im</strong>mer noch nicht genug?<br />
»Haben Sie an die Möglichkeit gedacht, dass der Westen uns<br />
nicht verkauft, was wir brauchen?« fragte der Parteitheoretiker.<br />
»Wann haben die Kapitalisten sich je geweigert -«<br />
»Wann hatten die Kapitalisten je eine solche Waffe gegen uns in<br />
der Hand?« gab der Generalsekretär zu bedenken. »Zum ersten<br />
Mal ist der Westen in der Lage, uns innerhalb eines Jahres die Luft<br />
abzuschnüren. Und was, wenn man uns obendrein noch an Getreidekäufen<br />
hindert?«<br />
Daran hatte Sergetow nicht gedacht. Nach sieben aufeinanderfolgenden<br />
Missernten war die Sowjetunion auf riesige Getreidelieferungen<br />
angewiesen, in diesem Jahr ausgerechnet aus den USA und<br />
Kanada, da Argentinien und in geringerem Ausmaß auch Australien<br />
wegen schlechten Wetters in der südlichen Hemisphäre karge<br />
Ernten eingefahren hatten. In Washington und Ottawa waren die<br />
Kaufverhandlungen bereits <strong>im</strong> Gange, und abgesehen vom starken<br />
Dollar, der den Weizen unverhältnismäßig verteuerte, machten die<br />
Amerikaner überhaupt keine Schwierigkeiten. Die Verschiffung<br />
des Getreides würde jedoch Monate in Anspruch nehmen. Wie<br />
einfach war es, fragte sich Sergetow, die Lieferungen <strong>im</strong> kritischen<br />
22
Moment wegen »technischer Schwierigkeiten« in den Getreidehäfen<br />
New Orleans und Balt<strong>im</strong>ore zu verzögern oder ganz einzustellen?<br />
Er schaute in die Runde. Zweiundzwanzig Männer, darunter nur<br />
dreizehn, die die wirklichen Entscheidungen trafen, dachten stumm<br />
über die Aussicht auf über zweihundertfünfzig Millionen hungernde<br />
und frierende Arbeiter und Bauern nach, und das zu einem Zeitpunkt,<br />
zu dem die Truppen der Roten Armee, des Innenministeriums<br />
und des KGB ihre Bewegungsfreiheit und ihre Ausbildungsmöglichkeiten<br />
wegen Treibstoffkürzungen eingeschränkt sahen.<br />
Die Männer <strong>im</strong> Politbüro gehörten zu den mächtigsten der Welt<br />
und waren niemandem Rechenschaft schuldig - nicht dem ZK der<br />
Partei, nicht dem Obersten Sowjet, und schon gar nicht den Bürgern.<br />
Diese Männer hatten die Straßen Moskaus schon seit Jahren nicht<br />
mehr betreten, sondern brausten in ihren handgefertigten, von<br />
Chauffeuren gesteuerten L<strong>im</strong>ousinen zwischen Arbeitsplatz und<br />
Luxuswohnungen in Moskau oder ihren Dienstdatschen vor der<br />
Stadt hin und her. Ihre Einkäufe erledigten sie in bewachten, nur für<br />
die Elite best<strong>im</strong>mten Läden, und um ihre Gesundheit kümmerten<br />
sich Ärzte in Kliniken, die nur den Mitgliedern der Nomenklatura<br />
vorbehalten waren. Diese Männer fühlten sich als Meister ihres<br />
Schicksals.<br />
Erst jetzt ging ihnen auf, dass auch sie wie alle anderen normalen<br />
Menschen zum Spielball des Schicksals wurden.<br />
Die Bürger ihres Landes lebten zusammengepfercht in heruntergekommenen<br />
Wohnungen. Lebensmittel waren knapp. Im Überfluss<br />
gab es nur Plakate und Transparente, die den Fortschritt in der<br />
Sowjetunion und die Solidarität der Werktätigen priesen. Es gab hier<br />
am Tisch Männer, die diese Slogans für bare Münze hielten. Selbst<br />
der sonst eher kritische Sergetow glaubte sie manchmal, wenn sie ihn<br />
an seine idealistische Jugend erinnerten. Doch der Fortschritt in der<br />
Sowjetunion konnte die Lebensmittelversorgung des Landes nicht<br />
garantieren, und wie lange konnten die <strong>im</strong> Dunklen hungernden und<br />
frierenden Werktätigen Solidarität empfinden? Waren sie etwa stolz<br />
auf die Raketen in den Wäldern Sibiriens, auf die Panzer und<br />
Geschütze, die jedes Jahr zu Tausenden produziert wurden? Wenn<br />
sie zum Nachth<strong>im</strong>mel aufschauten, dachten sie dann an die Raumstation<br />
Saljut und fühlten sich inspiriert - oder fragten sie sich<br />
insgehe<strong>im</strong>, was diese Elite dort oben zu essen bekam? Bis vor einem<br />
23
knappen Jahr hatte Sergetow den Parteibezirk Leningrad geführt<br />
und sich von seinen Untergebenen die Klagen der Bürger, die<br />
Schlange standen, um Brot, Zahnpasta oder Schuhe zu ergattern,<br />
genau wiedergeben lassen. Obwohl er auch damals schon von der<br />
harschen Realität des Lebens in der Sowjetunion abgeschirmt war,<br />
hatte er sich oft gefragt, ob nicht eines Tages der Durchschnittsarbeiter<br />
seine schwere Bürde nicht mehr würde tragen wollen. Hatte<br />
er das damals prophezeien können? Nein. Und heute? Ebenfalls<br />
nicht. Und diese alten Männer hier wussten erst recht nicht, was das<br />
Volk empfand.<br />
Das Volk - narod nannten sie es, ein maskulines Substantiv für<br />
die Massen, die gesichtslosen Männer und Frauen, die sich Tag für<br />
Tag in Fabriken und Kolchosen abrackerten und ihre Gedanken<br />
hinter lächelnden Masken verborgen hielten. Die Mitglieder des<br />
Politbüros redeten sich ein, die Arbeiter und Bauern neideten ihnen<br />
den mit der schweren Verantwortung einhergehenden Luxus nicht.<br />
Immerhin hatten sich die Lebensumstände <strong>im</strong> Lande meßbar verbessert.<br />
Das war die stillschweigende Übereinkunft zwischen Volk<br />
und Führung. Doch diese Abmachung sollte nun gebrochen werden.<br />
Was würde geschehen? Nikolaus II. hatte keine Antwort auf<br />
diese Frage gewußt. Diese Männer kannten sie.<br />
Der Verteidigungsminister brach das Schweigen. »Wir müssen<br />
mehr Öl beschaffen. So einfach ist das. Die Alternative wäre eine<br />
gelähmte Volkswirtschaft, hungrige Bürger und reduzierte Verteidigungsbereitschaft.<br />
Die Konsequenzen sind nicht akzeptabel.«<br />
»Wir können uns das Öl nicht leisten«, wandte ein Kandidat ein.<br />
»Dann holen wir es uns eben.«<br />
Fort Meade, Maryland<br />
Bob Toland zog die Stirn kraus und musterte die Scheibe Gewürzkuchen.<br />
Solltest dir den Nachtisch verkneifen, sagte sich der Analytiker<br />
von der nationalen Sicherheitsbehörde NSA. Na ja, sind nur<br />
zweihundert Kalorien. Fünf Minuten länger auf dem Tr<strong>im</strong>mfahrrad,<br />
wenn du he<strong>im</strong>kommst, dann ist alles wieder <strong>im</strong> Lot.<br />
»Was meinen Sie zu diesem Zeitungsartikel, Bob?« fragte ein<br />
Kollege.<br />
»Die Sache mit dem Ölfeld?« Toland sah sich den Anstecker des<br />
24
Mannes noch einmal an und stellte fest, dass seine Sicherheitseinstufung<br />
den Zugang zu Satelliteninformationen ausschloss. »Muss ja<br />
ein schönes Feuerchen gewesen sein.«<br />
»Haben Sie denn noch nichts Offizielles gesehen?«<br />
»Sagen wir, dass die Presse von einer Quelle informiert wurde,<br />
deren Sicherheitseinstufung höher ist als meine.«<br />
»Streng gehe<strong>im</strong> - an die Presse?« Beide lachten.<br />
»So ungefähr. Dem Reporter lagen Informationen vor, die ich<br />
noch nicht zu Gesicht bekommen habe«, meinte Toland fast wahrheitsgemäß.<br />
In seiner Abteilung spekulierte man, wie der Russe den<br />
Brand so schnell gelöscht hatte. »Sollte den Russen aber nicht zu<br />
viel ausmachen. Ist ja nicht wie bei uns, wo jeden Sommer Millionen<br />
von Autofahrern auf den Straßen sind.«<br />
Moskau<br />
Das Politbüro trat am nächsten Morgen um halb zehn zusammen.<br />
Der H<strong>im</strong>mel vor den Doppelfenstern war grau und schneeverhangen.<br />
Heute Abend fahren sie <strong>im</strong> Gorki Park Schlitten, dachte Sergetow.<br />
Die Moskowiter würden lachen, trinken und sich amüsieren,<br />
ohne zu ahnen, was hier beschlossen werden, welche Wendung ihr<br />
Leben nehmen sollte.<br />
Nun hatte sich nur der fünfköpfige Verteidigungsrat versammelt.<br />
Sergetow sah den Generalsekretär an, den »jungen« Mann, der<br />
nach westlicher Meinung das Heft in der Hand hatte. Sein Aufstieg<br />
an die Parteispitze war für viele, darunter auch Sergetow, eine<br />
Überraschung gewesen. Im Westen setzt man noch <strong>im</strong>mer so große<br />
Hoffnungen in ihn wie einst wir, dachte Sergetow. Sein Eintreffen<br />
in Moskau hatte das radikal geändert. Wieder ein zerbrochener<br />
Traum. Der Mann, der jahrelang munter einen landwirtschaftlichen<br />
Fehlschlag nach dem anderen überspielt hatte, ließ nun seinen<br />
Charme in einer weiteren Arena los. Jeder am Tisch musste zugeben,<br />
dass er sich gewaltig anstrengte, doch die Aufgabe war unlösbar.<br />
Um an die Spitze zu kommen, hatte er zu viele Kompromisse mit der<br />
alten Garde schließen müssen. Selbst die »jungen« Männer von<br />
fünfzig und sechzig, die von ihm ins Politbüro geholt worden<br />
waren, hatten ihre Bindungen zum alten Reg<strong>im</strong>e. Geändert hatte<br />
sich <strong>im</strong> Grunde nichts.<br />
25
Seit Chruschtschow war kein Mann mehr allein an der Macht<br />
gewesen. Einzelherrschaft barg Gefahren, an die sich die ältere<br />
Generation in der Partei nur zu gut erinnern konnte. Die Jungen<br />
hatten die Geschichten von den großen Säuberungen unter Stalin<br />
oft genug gehört und sie sich zu Herzen genommen, und auch bei<br />
der Armee wusste man noch, was Chruschtschow mit ihrer Hierarchie<br />
angestellt hatte. Im Politbüro ging es wie <strong>im</strong> Dschungel nur<br />
ums Überleben, und kollektive Führung bedeutete kollektive Sicherheit.<br />
Der Generalsekretär hatte Zugeständnisse machen müssen,<br />
um auf seinen Sessel zu kommen, und weitere waren unvermeidlich,<br />
wenn er ihn behalten wollte. Die wahren Machtblöcke<br />
waren amorph, Loyalitäten verschoben sich mit den Begleitumständen<br />
und wurden nur von Zweckdienlichkeit best<strong>im</strong>mt. Wirkliche<br />
Macht hatte nur die Partei.<br />
Die Partei herrschte über alles, war aber nicht länger Ausdruck<br />
des Willens nur eines Mannes, sondern in Interessengruppen aufgesplittert,<br />
die hier von zwölf Männern vertreten wurden. Einer<br />
sprach fürs Militär, andere für KGB und Schwerindustrie, einer<br />
sogar für die Landwirtschaft. Jeder Interessenvertreter übte auf<br />
seine Weise Macht aus und verbündete sich mit anderen, um seine<br />
Stellung zu sichern. Der Generalsekretär hatte versucht, das durch<br />
die Ernennung seiner eigenen Leute zu ändern; aber würde er wie<br />
seine Vorgänger lernen, dass Loyalität an diesem Tisch nicht von<br />
Dauer war? Solange er seine Leute nicht platziert hatte, war er<br />
Pr<strong>im</strong>us inter pares in einer Gruppe, die ihn ebenso leicht stürzen<br />
konnte wie Chruschtschow.<br />
»Genossen«, begann der Verteidigungsminister, »die Sowjetunion<br />
braucht Öl, und zwar mindestens zweihundert Millionen<br />
Tonnen mehr, als sie fördert. Dieses Öl existiert nur wenige hundert<br />
Kilometer von unserer Grenze entfernt <strong>im</strong> Persischen Golf - mehr<br />
Öl, als wir je brauchen werden. Selbstverständlich sind wir in der<br />
Lage, diese Felder innerhalb von zwei Wochen mit Luftlandetruppen<br />
einzunehmen. Leider aber wäre eine heftige Reaktion des Westens<br />
unvermeidlich, denn diese Felder versorgen Westeuropa, Japan<br />
und zu einem gewissen Grad auch die USA. Der Nato fehlen die<br />
Mittel, sie mit konventionellen Waffen zu verteidigen. Die Amerikaner<br />
haben ihre schnelle Einsatztruppe RDF, eine leere Hülse aus<br />
Hauptquartieren und leichtbewaffneten Truppen. Selbst mit Hilfe<br />
ihres vorgeschobenen Ausrüstungsdepots auf Diego Garcia könn<br />
26
ten sie unsere Luftlande- und Panzertruppen nicht aufhalten. Bei<br />
dem Versuch würden ihre Elitetruppen binnen weniger Tage überwältigt<br />
und vernichtet, und dann bliebe ihnen nur eine Alternative:<br />
Kernwaffen - ein Risiko, das wir nicht unbeachtet lassen dürfen.<br />
Zum Beispiel wissen wir genau, dass amerikanische Kriegspläne für<br />
diesen Fall den Einsatz von A<strong>tom</strong>waffen vorsehen. Solche Waffen<br />
lagern in großen Mengen auf Diego Garcia. Aus diesem Grund<br />
müssen wir vor der Eroberung des Persischen Golfes die Nato als<br />
militärischen und politischen Faktor ausschalten.«<br />
Sergetow setzte sich in seinem Ledersessel kerzengerade auf. Was<br />
hatte er da gehört? Er wahrte nur mit Mühe eine teilnahmslose<br />
Miene, als der Verteidigungsminister fort fuhr.<br />
»Ist die Nato erst einmal vom Tisch, findet sich Amerika in einer<br />
merkwürdigen Lage. Es kann nämlich seinen Energiebedarf in der<br />
westlichen Hemisphäre decken, ohne die bei den amerikanischen<br />
Juden nicht gerade beliebten arabischen Länder verteidigen zu<br />
müssen.«<br />
Glaubt ihr das denn selbst? fragte sich Sergetow, glaubt ihr denn<br />
wirklich, dass die Vereinigten Staaten untätig bleiben?<br />
Zumindest ein Mann teilte seine Besorgnis. »Wir brauchen also<br />
nur Westeuropa zu erobern, Genosse?« fragte ein Kandidat. »Sind<br />
das nicht jene Länder, vor deren konventionellen Streitkräften Sie<br />
uns jedes Jahr warnen? Alljährlich hören wir von der Bedrohung,<br />
die die massierten Nato-Armeen darstellen, und jetzt sagen Sie so<br />
leichthin, wir müssten sie besiegen? Verfügen Großbritannien und<br />
Frankreich denn nicht über ihre eigenen Nukleararsenale, Genosse<br />
Minister? Und warum sollte Amerika nicht seiner Bündnisverpflichtung<br />
nachkommen und Kernwaffen zur Verteidigung der<br />
Nato einsetzen?«<br />
Sergetow fand es überraschend, dass ausgerechnet ein Kandidat<br />
diese Themen so rasch zur Sprache gebracht hatte. Noch mehr<br />
überraschte ihn, dass der Außenminister darauf antwortete. Wieder<br />
ein Teil des Puzzles. Doch was meinte das KGB dazu? Warum war<br />
es hier nicht vertreten? Sein Vorsitzender erholte sich von einer<br />
Operation, doch es hätte jemand anwesend sein sollen - es sei denn,<br />
die Angelegenheit war gestern Abend bereits abgeklärt worden.<br />
»Aus nahe liegenden Gründen müssen unsere Kriegsziele beschränkt<br />
bleiben, was uns vor eine Reihe politischer Aufgaben<br />
stellt. Erstens müssen wir die Vereinigten Staaten in Sicherheit<br />
27
wiegen, damit die Operation sie unvorbereitet trifft und es für eine<br />
energische Reaktion zu spät ist. Zweitens muss der politische Zusammenhalt<br />
der Nato gelockert werden.« Der Außenminister erlaubte<br />
sich ein seltenes Lächeln. »Wie Sie wissen, arbeitet das KGB schon<br />
seit Jahren an einem solchen Plan, dessen endgültige Form nun<br />
feststeht. Lassen Sie mich ihn in groben Umrissen darlegen.«<br />
Sergetow lauschte und nickte: über die Kühnheit des Vorhabens<br />
und auch, weil er nun eine neue Einsicht in das Kräftegleichgewicht<br />
in diesem Raum gewonnen hatte. Es steckte also das KGB dahinter.<br />
Das hätte er ahnen sollen. Doch ging der Rest des Politbüros mit dem<br />
Vorschlag konform? Der Minister fuhr fort: »Sie sehen also, wie das<br />
funktionieren würde: Ein Element ergänzt das andere, bis das Bild<br />
komplett ist. Unter diesen Voraussetzungen wären die Wasser<br />
gründlich getrübt, und wenn wir darüber hinaus noch erklären, die<br />
beiden unabhängigen A<strong>tom</strong>mächte der Nato nicht direkt bedrohen<br />
zu wollen, ist das nukleare Risiko, wenngleich real, doch geringer als<br />
die Gefahren, die unserer Wirtschaft bereits drohen.«<br />
Sergetow lehnte sich in seinen Ledersessel zurück. Da war es<br />
heraus: Krieg war besser als ein kalter Hungerfrieden. Die Würfel<br />
waren gefallen. Oder? Hatte eine Koalition anderer Mitglieder des<br />
Politbüros die Macht und das Prestige, die Entscheidung umzustoßen?<br />
Konnte er es wagen, gegen diesen Wahnsinn die St<strong>im</strong>me zu<br />
erheben? Erst einmal war eine wohlüberlegte Frage zu stellen.<br />
» Können wir die Nato denn besiegen ?« Die glatte Antwort ließ ihn<br />
frösteln.<br />
»Selbstverständlich«, erwiderte der Verteidigungsminister.<br />
»Wozu haben wir denn eine Armee? Unsere Oberbefehlshaber sind<br />
bereits zu Rate gezogen worden.«<br />
Und erst letzten Monat hast du mehr Stahl für neue Panzer<br />
verlangt, weil die Nato angeblich <strong>im</strong>mer stärker wird, dachte Sergetow<br />
wütend. Was waren hier für Machenschaften <strong>im</strong> Gange? Hatte<br />
man wirklich schon die Fachleute vom Militär konsultiert, oder<br />
basierte das Ganze auf der viel gepriesenen persönlichen Erfahrung<br />
des Verteidigungsministers? Hatte sich der Generalsekretär von ihm<br />
ins Bockshorn jagen lassen? Wurden so Entscheidungen getroffen,<br />
von denen das Schicksal ganzer Nationen abhing? Was würde Lenin<br />
dazu sagen?<br />
»Genossen, das ist der reinste Wahnsinn!« sagte Pjotr Bromkowski,<br />
der Älteste. » Gewiss, unserer Wirtschaft droht große Gefahr.<br />
28
Jawohl, auch der Sicherheit des Staates - doch sollen wir ihr mit<br />
einer noch größeren Gefahr begegnen? Bitte bedenken Sie, was<br />
geschehen kann - wann soll der Krieg denn beginnen, Genosse<br />
Verteidigungsminister?«<br />
»Man hat mir versichert, dass unsere Armeen in vier Monaten<br />
bereit sind.«<br />
»In vier Monaten also. Ich nehme doch an, dass wir in vier<br />
Monaten genug Treibstoff haben - genug, um einen Krieg anzufangen!«<br />
Petja war alt, aber nicht senil.<br />
»Genosse Sergetow.« Der Generalsekretär drückte sich wieder<br />
um die Verantwortung.<br />
Auf welche Seite sollte er sich schlagen ? Der junge Kandidat kam<br />
zu einem raschen Entschluss. »Die Bestände an leichten Treibstoffen<br />
sind <strong>im</strong> Moment hoch«, musste Sergetow zugestehen. »Wir<br />
bauen sie in den Wintermonaten, wenn der Verbrauch am niedrigsten<br />
ist, <strong>im</strong>mer auf, und wenn man unsere strategischen Reserven<br />
hinzurechnet, ergeben sich fünfundvierzig ...«<br />
»Sechzig!« beharrte der Verteidigungsminister.<br />
»Fünfundvierzig Tage, das ist ein realistischerer Wert, Genosse.«<br />
Sergetow hielt seine Stellung. »Meine Behörde hat sich <strong>im</strong> Zug eines<br />
Programms zur Erhöhung der strategischen Reserven mit dem<br />
Treibstoffverbrauch von Einheiten der Streitkräfte befasst. Durch<br />
Einsparungen auf anderen Sektoren und Opfer in der Industrie<br />
ließe sich eine Kriegsreserve von sechzig, vielleicht sogar siebzig<br />
Tagen aufbauen. Die kurzfristige Belastung für die Wirtschaft wäre<br />
nur gering, doch zur Mitte des Sommers würde sich das Bild rapide<br />
ändern.« Sergetow legte eine Pause ein und war betroffen, weil er<br />
sich der unausgesprochenen Entscheidung so leicht gefügt hatte.<br />
Ich habe meine Seele verkauft... oder wie ein Patriot gehandelt?<br />
Bin ich so geworden wie die anderen hier am Tisch? Oder habe ich<br />
nur die Wahrheit gesagt - und was ist die Wahrheit? Fest stand nur,<br />
dass er überlebt hatte. Fürs erste. »Wie ich Ihnen gestern darlegte,<br />
sind wir in beschränktem Maß zu einer Umstrukturierung der<br />
Produktion von Destillaten in der Lage. Meine Behörde ist der<br />
Ansicht, dass die Erzeugung militärisch wichtiger Treibstoffe um<br />
neun Prozent erhöht werden kann. Andererseits halten meine Analytiker<br />
alle existierenden Verbrauchseinschätzungen unter Gefechtsbedingungen<br />
für übertrieben opt<strong>im</strong>istisch.« Ein letzter,<br />
schwacher Protest.<br />
29
»Besorgen Sie uns nur den Treibstoff, Michail Eduardowitsch.«<br />
Der Verteidigungsminister lächelte kalt. »Wir passen schon auf,<br />
dass er vernünftig verwendet wird. Laut Schätzung meiner Experten<br />
werden wir unsere Angriffsziele binnen zwei Wochen erreicht haben,<br />
wenn nicht früher. Aber ich konzediere die Stärke der Nato-<br />
Armeen und gehe daher von dreißig Tagen aus. Es bleibt uns also<br />
<strong>im</strong>mer noch mehr als genug Treibstoff.«<br />
»Und wenn die Nato herausbekommt, was wir planen?« fragte<br />
der alte Petja.<br />
»Sie wird nichts erfahren, denn wir bereiten bereits unsere maskiroivka<br />
vor, unser Ablenkungsmanöver. Die Nato ist keine starke<br />
Allianz. Ihre Minister zanken sich um den Verteidigungsbeitrag<br />
ihrer Länder, die Bevölkerungen sind uneins und verweichlicht.<br />
Weil sie es noch <strong>im</strong>mer nicht fertig gebracht hat, ihre Waffensysteme<br />
zu standardisieren, ist der Nachschub ein Chaos. Und ihr<br />
wichtigstes, stärkstes Mitglied trennt ein fünftausend Kilometer<br />
breiter Ozean von Europa. Die Sowjetunion hingegen ist von der<br />
westdeutschen Grenze nur eine Nachtfahrt mit dem Zug entfernt.<br />
Wenn alles versagt und unsere Absichten bekannt werden, können<br />
wir jederzeit halt machen, sagen, wir hielten Manöver ab, und zu<br />
Friedensbedingungen zurückkehren - und wären dann nicht<br />
schl<strong>im</strong>mer dran, als wenn wir nichts unternommen hätten. Zuzuschlagen<br />
brauchen wir nur, wenn alles bereit ist. Zurückziehen<br />
können wir uns <strong>im</strong>mer.«<br />
Alle wussten, dass das eine geschickte Lüge war, aber niemand<br />
hatte den Mut, sie anzuprangern. Wann hatte sich eine einmal<br />
mobilisierte Armee je zurückgezogen? Bromkowski schwafelte<br />
noch ein paar Minuten lang und zitierte Lenins Warnung vor einer<br />
Gefährdung der He<strong>im</strong>at des Weltsozialismus, doch selbst darauf<br />
reagierte niemand. Dass dem Staat - oder eher der Partei und dem<br />
Politbüro - Gefahr drohte, lag auf der Hand. Die Alternative war<br />
Krieg.<br />
Zehn Minuten später st<strong>im</strong>mte das Politbüro ab. Sergetow und<br />
die acht anderen Kandidaten waren nur Zuschauer. Das Ergebnis<br />
lautete elf zu zwei für den Krieg. Der Prozess hatte begonnen.<br />
30<br />
DATUM - ZEIT 03/02 17:15 BLATT 01 SOWJETREPORT<br />
BC - Soviet Report, Bjt, 2310-FL-<br />
TASS bestätigt Feuer auf Ölfeld
RED: Für Nachmittagsausgabe SAMSTAG vorgezogen - FL.<br />
Von Patrick Flynn - F C-<br />
Korrespondent Moskau AP<br />
MOSKAU (AP) - Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS<br />
bestätigte heute, in Westsibirien habe sich ein >schwerer<br />
Brand< ereignet.<br />
Das Parteiorgan Prawda meldete das Unglück und lobte die<br />
»heldenhaften Feuerwehrleute«, die durch pflichtbewussten<br />
Einsatz zahllose Menschenleben gerettet und weitere Schäden<br />
an einer nahe liegenden Einrichtung verhindert hätten.<br />
Dem Vernehmen nach brach der Brand durch »technisches<br />
Versagen« <strong>im</strong> au<strong>tom</strong>atischen Steuerungssystem der Raffinerie<br />
aus und verbreitete sich rasch, wurde aber von »den tapferen<br />
Feuerwehrleuten und mutigen Arbeitern, die ihnen heroisch<br />
zur Hilfe eilten, nicht ohne Opfer« bald gelöscht.<br />
Obgleich in westlichen Berichten Zweifel angemeldet wurden,<br />
erloschen die Flammen offenbar rascher als erwartet. Im<br />
Westen werden nun Spekulationen über ein hochmodernes<br />
Löschsystem m der Anlage angestellt, das es den Sowjets<br />
ermöglichte, den Brand unter Kontrolle zu bringen.<br />
AB-BA 3-2 16:01 EST-FL-<br />
31
Moskau<br />
3<br />
Korrelation der Kräfte<br />
»Nach meiner Meinung hat man mich überhaupt nicht gefragt«,<br />
erklärte Generalstabschef Marschall Schawyrin. »Als man mich am<br />
Donnerstagabend rief, war die politische Entscheidung längst gefallen.<br />
Wie lange ist es her, dass der Verteidigungsminister mich um<br />
eine auf stichhaltigen Argumenten basierende Entscheidung gebeten<br />
hat?«<br />
»Und was haben Sie gesagt?« fragte Marschall Roschkow, Oberbefehlshaber<br />
der Heerestruppen. Die erste Reaktion war ein gr<strong>im</strong>miges,<br />
ironisches Lächeln.<br />
»Die Streitkräfte der Sowjetunion seien nach einer Vorbereitungszeit<br />
von vier Monaten in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen.«<br />
»Vier Mo nate...?« Roschkow starrte aus dem Fenster, drehte<br />
sich dann um. »Wir werden nicht bereit sein.«<br />
»Die Feindseligkeiten beginnen am 15. Juni«, erwiderte Schawyrin.<br />
»Wir müssen bereit sein, Juri. Sollte ich denn vielleicht sagen:<br />
»Bedaure, Genosse Generalsekretär, aber die Sowjetarmee ist dazu<br />
nicht in der Lage?< Ich wäre entlassen und durch einen fügsameren<br />
Mann ersetzt worden - Sie wissen ja, wer das ist. Wollen Sie lieber<br />
unter Bucharin dienen?«<br />
»Dieser Idiot!« grollte Roschkow. Die brillanten Pläne des damaligen<br />
Generalleutnants Bucharin hatten die Sowjetarmee nach<br />
Afghanistan geführt. Bucharin, fachlich eine Null, war von seinen<br />
politischen Beziehungen nicht nur gerettet, sondern bis fast an die<br />
Spitze des Militärs befördert worden.<br />
»Soll also er in diesem Z<strong>im</strong>mer sitzen und Ihnen seine Pläne<br />
diktieren?« fragte Schawyrin. Roschkow schüttelte den Kopf. Die<br />
beiden waren befreundet, seit sie 1945 bei dem letzten Vorstoß auf<br />
Wien Panzerverbände befehligt hatten.<br />
»Und wie fangen wir das an?« fragte Roschkow.<br />
»Roter Sturm«, erwiderte der Marschall schlicht. Roter Sturm<br />
32
hieß der Plan für einen Panzerangriff auf Westdeutschland und die<br />
Niederlande, der unter Berücksichtigung von Strukturveränderungen<br />
in den Streitkräften beider Seiten laufend auf den neuesten<br />
Stand gebracht wurde und auf eine rapide Zunahme der Spannungen<br />
zwischen Ost und West eine drei Wochen dauernde Kampagne<br />
vorsah. Trotzdem wurde <strong>im</strong> Einklang mit der sowjetischen Militärdoktrin<br />
ein strategischer Überraschungseffekt als Voraussetzung<br />
für den Sieg gefordert, der nur mit konventionellen Waffen errungen<br />
werden sollte.<br />
»Wenigstens sind keine A<strong>tom</strong>waffen <strong>im</strong> Spiel«, sagte Roschkow.<br />
Andere Pläne mir anderen Bezeichnungen sahen nämlich verschiedene<br />
Szenarien vor, die den Einsatz von taktischen und gar strategischen<br />
Kernwaffen bedeuteten - etwas, das kein Mann in Uniform<br />
gerne in Erwägung zog. Trotz des Säbelrasselns ihrer politischen<br />
Herren wussten diese Berufssoldaten zu gut, dass der Gebrauch<br />
nuklearer Waffen nur zu grauenerregenden Unsicherheitsfaktoren<br />
führte. »Und die maskirowska?«<br />
»Spielt sich in zwei Stufen ab. Die erste ist rein politisch und<br />
gegen die Vereinigten Staaten gerichtet. Die zweite führt kurz vor<br />
Kriegsbeginn das KGB durch. Sie stammt vom KGB-Nord und<br />
wurde von uns vor zwei Jahren besprochen.«<br />
Roschkow grunzte. Die Gruppe Nord war ein ad hoc- Komitee,<br />
das sich aus den Abteilungsleitern des KGB zusammensetzte und<br />
erstmals Anfang der siebziger Jahre von dem damaligen KGB-Chef<br />
Juri Andropow einberufen worden war. Sein Zweck war die Erforschung<br />
von Möglichkeiten zur Spaltung der Nato <strong>im</strong> allgemeinen<br />
und die Führung von politischen und psychologischen Operationen<br />
zur Untergrabung des westlichen Wehrwillens <strong>im</strong> Besonderen. Der<br />
spezifische Plan, der zur Vorbereitung auf einen heißen Krieg die<br />
militärische und politische Struktur der Nato erschüttern sollte,<br />
war der bislang kühnste Schwindel der Gruppe Nord. Ob er Erfolg<br />
haben würde, stand dahin. Die beiden hohen Offiziere tauschten<br />
einen ironischen Blick. Wie die meisten Berufssoldaten mißtrauten<br />
sie Spionen und ihren Plänen.<br />
»Vier Monate«, wiederholte Roschkow. »Da gibt es viel zu tun.<br />
Und wenn dieser KGB-Zauber nicht funktioniert?«<br />
»Der Plan ist gut. Er soll den Westen nur eine Woche lang<br />
täuschen, obwohl zwei besser wären. Entscheidend ist natürlich,<br />
wie rasch die Nato voll kriegsbereit ist. Wenn wir den Mobilisie<br />
33
ungsprozeß um sieben Tage verzögern können, ist uns der Sieg<br />
sicher -«<br />
«Und wenn nicht?« fragte Roschkow, der wusste, dass selbst eine<br />
Verzögerung von sieben Tagen keine Garantie bot.<br />
»Dann ist er nicht sicher, aber das Gleichgewicht der Kräfte<br />
bleibt für uns günstig. Das wissen Sie, Juri.« Über die Option,<br />
bereits mobilisierte Streitkräfte wieder zurückzuziehen, hatte der<br />
Verteidigungsminister mit dem Chef des Generalstabs überhaupt<br />
nicht gesprochen.<br />
»Zuerst einmal muss rundum die Disziplin verbessert werden«,<br />
sagte der OB. »Und ich Muss sofort meine Kommandeure informieren.<br />
Es muss intensiv geübt werden. Wie ernst ist die Treibstoffknappheit?«<br />
Schawyrin reichte seinem Untergebenen die Unterlagen.<br />
»Könnte schl<strong>im</strong>mer sein. Wir haben genug für ein erweitertes<br />
Übungsprogramm. Ihre Aufgabe ist nicht leicht, Juri, aber vier<br />
Monate sind doch gewiss eine ausreichende Zeit, oder?«<br />
Natürlich nicht, aber es war sinnlos, das auszusprechen. »Wie Sie<br />
sagten, reichen vier Monate aus, um unseren Männern die Disziplin<br />
zum Kampf einzu<strong>im</strong>pfen. Habe ich freie Hand?«<br />
»In Grenzen.«<br />
»Einem Gemeinen klarzumachen, dass er vorm Feldwebel<br />
strammzustehen hat, ist eine Sache; einen Papierkrieger in einen<br />
Feldoffizier zu verwandeln, eine andere.« Roschkow umging den<br />
Kern des Problems, aber sein Vorgesetzter verstand genau, was<br />
gemeint war.<br />
»Sie haben in beiden Fällen freie Hand, Juri. Aber gehen Sie in<br />
unser beider Interesse behutsam vor.«<br />
Roschkow nickte knapp. Er wusste schon, wem er die Aufgabe<br />
übertragen würde. »Mit den Truppen, die wir vor vierzig Jahren<br />
anführten, Andrej, könnten wir das schaffen.« Roschkow setzte<br />
sich. »Und <strong>im</strong> Grunde haben wir das gleiche Material wie damals <br />
und dazu bessere Waffen. Der größte Unsicherheitsfaktor sind die<br />
Männer. Als wir mit unseren Panzern in Wien einfuhren, waren<br />
unsere Leute harte, zähe Kerle mit Front Erfahrung -«<br />
»Vergessen Sie nicht, dass sich auch der Westen mit diesem<br />
Problem herumzuschlagen hat. Wie will er kämpfen, wenn er uneins<br />
ist und überrascht wird? Juri, der Plan kann funktionieren. Er<br />
muss einfach klappen.«<br />
34
»Am Montag spreche ich mit meinen Kommandeuren.«<br />
Norfolk, Virginia<br />
»Passen Sie nur gut darauf auf.«<br />
Commander Daniel X. McCafferty reagierte nicht sofort. USS<br />
Chicago war erst vor sechs Wochen in Dienst gestellt worden, mit<br />
Verspätung wegen eines Feuers auf der Werft. Sie hatten gerade<br />
eine harte fünfwöchige Testfahrt <strong>im</strong> Atlantik hinter sich und nahmen<br />
nun Proviant für ihre erste Dienstfahrt an Bord. McCafferty<br />
war noch <strong>im</strong>mer von seinem neuen Boot entzückt und konnte sich<br />
nicht an ihm Sattsehen. Er war gerade mit dem Oberbürgermeister<br />
von Chicago über das gewölbte Oberdeck gegangen, der Beginn<br />
jeder Führung durch ein U-Boot, obwohl es hier so gut wie nichts zu<br />
sehen gab. »Wie bitte?«<br />
»Passen Sie gut auf Ihr Schiff auf«, sagte der OB von Chicago.<br />
»Wir nennen es ein Boot, Sir, und versprechen, angesichts der<br />
Patenstadt gut auf es aufzupassen. Darf ich Sie in die Messe bitten?«<br />
»Noch mehr Leitern?« Der OB zog eine Gr<strong>im</strong>asse. »Und wohin<br />
geht morgen die Fahrt?«<br />
»Aufs Meer, Sir.« McCafferty trat auf die oberste Sprosse der<br />
Leiter. Der OB von Chicago folgte ihm.<br />
»Das hätte ich mir auch gedacht.« Für einen Mann Ende fünfzig<br />
kletterte er recht gelenkig. »Was treiben Sie eigentlich auf diesen<br />
Booten?«<br />
»Ozeanographische Forschung« heißt es bei der Marine.«<br />
McCafferty drehte sich um und entschuldigte sich mit einem Lächeln<br />
für die Antwort auf die peinliche Frage. Auf der Chicago<br />
entwickelten sich die Dinge rasch. Die Navy wollte sehen, wie<br />
wirksam die neuen Schalldämpfsysteme waren. In dem Akustik-<br />
Erprobungsgebiet vor den Bahamas waren alle Ergebnisse positiv<br />
ausgefallen. Nun wollte man sehen, wie gut das Boot in der Barentssee<br />
funktionierte.<br />
Darüber musste der OB lachen. »Na, dann zählen Sie best<strong>im</strong>mt<br />
<strong>im</strong> Auftrag von Greenpeace Wale.«<br />
»Wo wir hinfahren, gibt es welche, das kann ich Ihnen verraten.«<br />
»Was haben Sie da für Kacheln an Deck? Ich wusste gar nicht,<br />
dass es Schiffe mit Gummideck gibt.«<br />
35
„Das sind echofreie Kacheln, Sir. Das Gummi schluckt Schallwellen.<br />
Dadurch wird das Boot leiser und ist mit Sonar schwerer zu<br />
orten. Kaffee?«<br />
»Man sollte doch meinen, dass es an einem Tag wie heute -«<br />
Der Captain lachte in sich hinein. »Finde ich auch. Aber an Bord<br />
herrscht strenges Alkoholverbot.«<br />
Der OB hob seinen Becher und stieß mit McCafferty an. »Glückliche<br />
Fahrt.«<br />
Moskau<br />
Sie versammelten sich in der Offiziersmesse des Militärbezirks<br />
Moskau in der Uliza Krasnokasarmennaja, einem gewaltigen, beeindruckenden<br />
Bau aus der Zarenzeit. Die Oberbefehlshaber trafen<br />
sich regelmäßig um diese Zeit in Moskau und begingen den Anlass<br />
mit üppigen Festessen. Roschkow begrüßte seine Kameraden am<br />
Haupteingang, und als alle versammelt waren, führte er sie in den<br />
Keller zu den prunkvollen Dampfbädern. Anwesend waren alle<br />
Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und ihre Stellvertreter, dazu<br />
die Befehlshaber der Luftwaffe und der Flotten: eine kleine Galaxis<br />
aus Sternen, Ordensbändern und Goldtressen. Zehn Minuten später<br />
waren sie nackt, hatten nur ein Handtuch und ein Bündel<br />
Birkenzweige in der Hand und sahen aus wie ganz normale Männer<br />
in mittleren Jahren, vielleicht etwas besser in Form als der Durchschnitt<br />
in der Sowjetunion.<br />
Alle kannten sich. Manche waren zwar Rivalen, aber doch Berufskollegen<br />
und verbrachten die ersten Minuten in der für ein<br />
russisches Dampfbad typischen int<strong>im</strong>en Atmosphäre mit oberflächlicher<br />
Konversation über Kinder und Enkel. Schließlich kam<br />
die klassische Diskussion über die »Dicke« des Dampfes auf.<br />
Roschkow schlichtete den Streit gebieterisch mit einem dünnen,<br />
stetigen Strahl kalten Wassers auf die erhitzten Ziegelsteine in der<br />
Mitte des Raumes. Das davon ausgelöste Zischen reichte aus, eventuelle<br />
Horchgeräte <strong>im</strong> Raum zu zerstören, wenn sie in der feuchten<br />
Luft nicht schon längst korrodiert waren. Roschkow hatte sich<br />
noch nicht anmerken lassen, was bevorstand, weil er es für besser<br />
hielt, die Männer mit einem Schock zu konfrontieren und ihre<br />
fre<strong>im</strong>ütigen Reaktionen abzuwarten.<br />
36
»Genossen, ich habe eine Erklärung abzugeben.«<br />
Die Gespräche verstummten, die Männer schauten ihn fragend<br />
an.<br />
»Genossen, in vier Monaten, genau gesagt am 15. Juni, starten<br />
wir eine Offensive gegen die Nato.«<br />
Einen Augenblick lang war nur das Zischen des Dampfes zu<br />
vernehmen. Dann lachten drei Männer, die sich auf der Fahrt vom<br />
Kreml in ihren Wagen einen kräftigen Schluck genehmigt hatten,<br />
laut auf. Andere, die nahe genug saßen, um das Gesicht Roschkows<br />
sehen zu können, schwiegen.<br />
»Ist das Ihr Ernst, Genosse Marschall?« fragte der Oberbefehlshaber<br />
West. Er bekam ein Nicken zur Antwort und sprach weiter:<br />
»Könnten Sie uns dann bitte den Grund für dieses Unternehmen<br />
nennen?«<br />
»Sicher. Über die Katastrophe in Nischnewartowsk sind Sie alle<br />
informiert. Was Ihnen noch nicht bekannt ist, sind die strategischen<br />
und politischen Implikationen.« Er umriss knapp alle Entscheidungen<br />
des Politbüros. »In vier Monaten starten wir die entscheidendste<br />
Militäroperation in der Geschichte der Sowjetunion: die Zerschlagung<br />
der Nato als politische und militärische Macht. Und das<br />
Unternehmen wird erfolgreich verlaufen.«<br />
Als er geendet hatte, schaute er die Offiziere schweigend an. Der<br />
Dampf begann die erwünschte Wirkung zu zeigen, ernüchterte<br />
jene, die getrunken hatten, und brachte sie zum Schwitzen. Gewöhnt<br />
euch ruhig daran, dachte Roschkow, <strong>im</strong> Lauf der nächsten<br />
Monate werdet ihr gehörig schwitzen müssen.<br />
Dann sprach Pawel Alexejew, stellvertretender OB Südwest.<br />
»Gerüchte habe ich ja gehört. Aber steht es denn so ernst?«<br />
»Jawohl. Wir haben genug Treibstoff für zwölf Monate unter<br />
Friedens- und für sechzig Tage unter Kriegsbedingungen.« Dass<br />
dabei bis Mitte August die Wirtschaft am Boden liegen würde,<br />
verschwieg er.<br />
Alexejew beugte sich vor und schlug sich mit den Birkenzweigen.<br />
Er war mit fünfzig Jahren der zweitjüngste Offizier <strong>im</strong> Raum, ein<br />
respektierter Soldat und Intellektueller; ein durchtrainierter, gutaussehender<br />
Mann mit den Schultern eines Holzfällers. Aus scharfen<br />
dunklen Augen spähte er durch die aufsteigende Dampfwolke.<br />
»Mitte Juni?«<br />
»Jawohl«, erwiderte Roschkow. »Soviel Zeit bleibt uns, um<br />
37
unsere Pläne und Truppen vorzubereiten.» Roschkow schaute sich<br />
<strong>im</strong> Raum um. Schon machte der Dampf einen Teil der Decke<br />
unsichtbar.<br />
»Ich nehme an, dass wir hier sind, um ganz offen sprechen zu<br />
können.«<br />
»So ist es, Pawel Leonidowitsch«, antwortete Roschkow, nicht<br />
<strong>im</strong> Geringsten überrascht, dass Alexejew als erster das Wort ergriffen<br />
hatte. Roschkow hatte die Karriere dieses Mannes <strong>im</strong> Lauf der<br />
vergangenen zehn Jahre mit Bedacht gefördert. Alexejew war der<br />
einzige Sohn eines verwegenen Panzergenerals des Großen Vaterländischen<br />
Krieges, der unter Chruschtschow bei einer der unblutigen<br />
Säuberungen Ende der fünfziger Jahre zwangsweise in den<br />
Ruhestand versetzt worden war.<br />
»Genossen.« Alexejew erhob sich und stieg von der Holzbank<br />
auf den Marmorboden. »Ich akzeptiere alles, was Marschall<br />
Roschkow gesagt hat. Aber - vier Monate! Vier Monate, in denen<br />
unser Vorhaben aufgedeckt werden, uns das Überraschungsmoment<br />
entgleiten könnte. Was mag dann geschehen? Nein, für einen<br />
solchen Fall haben wir Plan Schukow-4! Sofortige Mobilmachung!<br />
In sechs Stunden können wir wieder auf unseren Befehlsständen<br />
sein. Wenn wir schon einen Überraschungsangriff führen wollen,<br />
dann so, dass er gehe<strong>im</strong> bleibt: in zweiundsiebzig Stunden!«<br />
Wieder hörte man nur das Wasser auf den hellbraunen Ziegeln<br />
verdampfen, aber dann brach <strong>im</strong> Raum ein St<strong>im</strong>mengewirr los.<br />
Schukow-4 war die Wintervariante eines Plans, der die Aufdeckung<br />
eines beabsichtigten Überraschungsangriffs der Nato auf den Warschauer<br />
Pakt voraussetzte. Für diesen Fall sah die sowjetische Militärdoktrin<br />
den Angriff als beste Verteidigung vor: der Nato durch<br />
einen Frontalangriff der Panzerdivisionen der Kategorie A in Ostdeutschland<br />
zuvorkommen.<br />
»Wir sind aber nicht bereit!« wandte OB West ein. Er saß in<br />
Berlin »vor Ort« und befehligte die zahlenmäßig stärksten Verbände<br />
der Welt. Für einen Angriff auf Westdeutschland war vorwiegend<br />
er verantwortlich.<br />
Alexejew hob die Hand. »Der Gegner aber auch nicht. Er ist<br />
sogar noch unvorbereiteter. Berücksichtigen wir unsere Gehe<strong>im</strong>dienstmeldungen.<br />
Vierzehn Prozent ihrer Offiziere sind <strong>im</strong> Urlaub.<br />
Gut, es ist das Ende einer Übungsperiode, aber gerade aus diesem<br />
Grund wird ein Großteil ihres Geräts nun gewartet, und man kann<br />
38
davon ausgehen, dass ihre Befehlshaber zu Besprechungen in die<br />
jeweiligen Hauptstädte gefahren sind - so wie wir. Ihre Truppen<br />
sind <strong>im</strong> Winterquartier und tun Winterdienst. Dies ist die Jahreszeit<br />
für Wartung und Papierkrieg. Das Sportprogramm ist eingeschränkt<br />
- wer will schon <strong>im</strong> Schnee herumrennen? Die Männer<br />
frieren und trinken mehr als gewöhnlich. Jetzt ist unsere Chance!<br />
Die Geschichte lehrt, dass der sowjetische Soldat <strong>im</strong> Winter die<br />
besten Leistungen bringt. Und die Abwehrbereitschaft der Nato ist<br />
auf dem Tiefstand.«<br />
»Und unsere auch, Sie Grünschnabel!« fauchte der OB West.<br />
»Das lässt sich in achtundvierzig Stunden ändern«, konterte<br />
Alexejew.<br />
»Ausgeschlossen«, unterstützte der Stellvertreter des OB West<br />
seinen Chef.<br />
»Max<strong>im</strong>ale Bereitschaft wird sich erst in einigen Monaten erreichen<br />
lassen«, st<strong>im</strong>mte Alexejew zu. Er wusste, dass sein Standpunkt<br />
bei seinen Vorgesetzten nur mit Sachlichkeit anzubringen war.<br />
Seine Erfolgsaussichten waren zwar gering, aber er wollte es wenigstens<br />
versuchen. »Aber es wird schwer, wenn nicht unmöglich sein,<br />
die notwendigen Maßnahmen zu kaschieren.«<br />
»Wie Marschall Roschkow sagte, ist uns politische und diplomatische<br />
maskirowka versprochen worden«, sagte ein General.<br />
»Dass das KGB und unsere geschickte politische Führung Wunder<br />
bewirken, bezweifle ich nicht.« Vielleicht war der Raum ja doch<br />
verwanzt. «Aber ist es nicht zuviel verlangt, von den Imperialisten,<br />
die uns fürchten und hassen und durch ihre Agenten und Spionagesatelliten<br />
belauern, zu erwarten, dass sie eine Steigerung unserer<br />
Übungsaktivitäten um hundert Prozent einfach übersehen? Wir<br />
wissen, dass sich ihre Alarmbereitschaft erhöht, wenn unsere Einheiten<br />
Feldübungen abhalten, und wegen der Frühjahrsübungen<br />
wird ihre Abwehrbereitschaft ohnehin höher sein. Ein Abweichen<br />
von unserem normalen Übungsprogramm würde sie warnen. Ostdeutschland<br />
w<strong>im</strong>melt nur so von westlichen Spionen. Die Nato<br />
wird Verdacht schöpfen und reagieren, sich uns mit allem, was sie<br />
in ihren Arsenalen hat, an der Grenze entgegenstellen. Greifen wir<br />
aber andererseits mit dem an, was uns zu Verfügung steht, und<br />
zwar jetzt, sind wir <strong>im</strong> Vorteil. Unsere Männer sind nämlich nicht<br />
<strong>im</strong> Skiurlaub. Schukow-4 sieht den Übergang vom Friedens- zum<br />
Kriegszustand innerhalb von achtundvierzig Stunden vor. So<br />
39
schnell kann die Nato unmöglich reagieren. Bis ihre Offiziere die<br />
Gehe<strong>im</strong>dienstmeldungen verarbeitet und ihren Ministern vorgelegt<br />
haben, rollen unsere Panzer schon in der Bundesrepublik durchs<br />
Kinzigtal.«<br />
»Zuviel kann schief gehen!« Der OB West erhob sich so rasch,<br />
dass ihm das Handtuch von den Hüften zu rutschen drohte. Er hielt<br />
es mit einer Hand fest und ballte die andere. »Die Verkehrsregelung<br />
muss ausgearbeitet werden. Unsere Männer müssen an den neuen<br />
Waffensystemen üben. Unsere Heeresflieger müssen auf den Fronteinsatz<br />
gegen die Imperialisten vorbereitet werden. Bitte sehr, da<br />
haben Sie ein unüberwindliches Problem. Die Piloten müssen mindestens<br />
einen Monat lang intensiv üben. Und meine Panzerbesatzungen,<br />
Geschützbedienungen und Infanteristen auch.«<br />
Wenn du eine Ahnung von deiner Arbeit hättest, wärst du jetzt<br />
bereit, du nichtsnutziger Hurenbock! dachte Alexejew. Der OB<br />
West war ein Mann von einundsechzig, der unter Vernachlässigung<br />
seiner Dienstpflichten gerne seine Potenz unter Beweis stellte. Aber<br />
der Mann galt als politisch zuverlässig. So geht das also in unserem<br />
System, sagte sich der jüngere General. Zur Verteidigung des Vaterlandes<br />
brauchen wir Kämpfer, und was kriegen wir? Politisch<br />
zuverlässige Bürohengste. Alexejew spielte seine letzte Karte aus:<br />
»Genosse General, Ihre Divisions-, Reg<strong>im</strong>ents- und Bataillonskommandeure<br />
sind tüchtige Männer. Vertrauen Sie ihnen.« Es<br />
konnte nicht schaden, das Banner der Roten Armee zu schwenken,<br />
fand Alexejew.<br />
Roschkow erhob sich. »Was Sie sagen, Pawel Leonidowitsch, hat<br />
Hand und Fuß, aber dürfen wir ein Vabanquespiel um die Sicherheit<br />
des Landes wagen?« Er schüttelte den Kopf und zitierte wie<br />
schon oft die Militärdoktrin: »Nein. Gewiss, wir setzen auf den<br />
Überraschungseffekt, wenn unser erster schwerer Schlag den Weg<br />
für den kühnen Vorstoß unserer Panzer fre<strong>im</strong>acht. Während das<br />
Politbüro den Westen mit Friedensangeboten in Sicherheit wiegt,<br />
bereiten wir unseren Schlag vor, und wenn er fällt, trifft er den<br />
Gegner, der erst drei Tage vorher Verdacht geschöpft hat, unvorbereitet.«<br />
Die Offiziere folgten Roschkow, um sich unter der kalten Dusche<br />
den Schweiß von den Leibern zu waschen. Zehn Minuten später<br />
versammelten sie sich erfrischt <strong>im</strong> Speisesaal <strong>im</strong> zweiten Stock. Die<br />
Kellner, größtenteils KGB-Informanten, stellten fest, dass eine et<br />
40
was gedrückte St<strong>im</strong>mung herrschte. Unterhaltungen wurden so<br />
leise geführt, dass sie nichts mitbekamen. Die Generale wussten<br />
wohl, dass das Lefortowo-Gefängnis des KGB nur einen knappen<br />
Kilometer entfernt war.<br />
»Unsere Pläne? fragte der OB Südwest seinen Stellvertreter.<br />
»Wie oft haben wir die schon durchgespielt?« bemerkte Alexejew.<br />
»Alle Karten und Formeln haben wir seit Jahren studiert,<br />
wissen, wo die gegnerischen Truppen und Panzerverbände konzentriert<br />
sind, kennen die Straßen und Autobahnen, die wir benutzen<br />
werden. Unsicher ist nur, ob unsere sorgfältig ausgearbeiteten<br />
Pläne auch Erfolg haben werden. Wir sollten sofort angreifen.<br />
Dann hätten nämlich beide Seiten mit diesem Unsicherheitsfaktor<br />
zu kämpfen.«<br />
»Und wenn unsere Offensive zu erfolgreich ist und die Nato<br />
Kernwaffen einsetzt?« fragte Roschkow. Alexejew gestand zu, dass<br />
dieser Faktor entscheidend wichtig und unberechenbar war.<br />
»Das könnte ohnehin eintreffen. Genosse, alle unsere Pläne setzen<br />
einen Überraschungseffekt voraus. Die Kombination von Überraschung<br />
und Erfolg wird den Westen zwingen, die nukleare Option<br />
zu erwägen -«<br />
»Irrtum, junger Freund«, rügte der OB Südwest. »Das ist eine<br />
rein politische Entscheidung. Auch die Entscheidung für den Nichteinsatz<br />
von Kernwaffen ist ein politischer Prozess, der seine Zeit<br />
braucht.«<br />
»Wie können wir uns des strategischen Überraschungseffekts<br />
sicher sein, wenn wir vier Monate lang warten?« fragte Alexejew.<br />
»Die politische Führung hat uns die entsprechenden Maßnahmen<br />
versprochen.«<br />
»In dem Jahr, in dem ich an die Frunse-Akademie kam, verkündete<br />
die Partei, wann wir ins Stadium des wahren Kommunismus<br />
eintreten würden. Das war ein feierliches Versprechen. Der Termin<br />
war vor sechs Jahren.«<br />
»Pascha, bei mir können Sie sich so etwas erlauben, ich habe<br />
Verständnis. Aber wenn Sie nicht lernen, Ihre Zunge <strong>im</strong> Zaum zu<br />
halten -«<br />
»Verzeihung, Genosse General, aber wir müssen mit der Möglichkeit<br />
rechnen, dass uns die Überraschung nicht gelingt. >Im Gefecht<br />
sind trotz sorgfältigster Vorbereitungen Risiken unvermeidlich'«,<br />
zitierte Alexejew aus einem Lehrbuch der Frunse-Akademie.<br />
41
»Korrekt, Pascha.« Der OB Südwest lachte und schenkte seinem<br />
Stellvertreter georgischen Wein ein.<br />
»Wenn der Überraschungsangriff misslingt, steht uns ein Zermürbungskrieg<br />
von ungeheuren Ausmaßen bevor, eine hochtechnisierte<br />
Version von 14/18.«<br />
»Den wir gewinnen werden.« Roschkow setzte sich neben Alexejew.<br />
»Richtig«, st<strong>im</strong>mte Alexejew zu. Alle sowjetischen Generale gingen<br />
von der Voraussetzung aus, dass einer Offensive, die keine<br />
rasche Entscheidung brachte, ein blutiger Abnutzungskrieg, der<br />
beide Seiten gleichermaßen erschöpft, folgen musste. Und für einen<br />
solchen Krieg waren die Sowjets dank größerer Truppen- und<br />
Materialreserven besser gerüstet. »Vorausgesetzt, dass wir das<br />
Tempo der Schlacht best<strong>im</strong>men und es unseren Freunden von der<br />
Marine gelingt, der Nato den Nachschub aus den USA abzuschneiden.<br />
Die Nato hat Kriegsmaterial für rund fünf Wochen auf Lager.<br />
Unsere schöne, teure Flotte muss den Atlantik abriegeln.«<br />
»Maslow?« Roschkow machte eine Geste zum Oberbefehlshaber<br />
der Marine. »Bitte sagen Sie uns etwas über das Kräfteverhältnis<br />
<strong>im</strong> Nordatlantik.«<br />
»Was ist unser Auftrag?« fragte Maslow argwöhnisch.<br />
»Wenn der Überraschungsangriff <strong>im</strong> Westen misslingt, Andrej<br />
Petrowitsch, werden unsere teuren Genossen von der Marine Europa<br />
von Amerika abschneiden müssen«, erklärte Roschkow. Seine<br />
Reaktion auf die Antwort war ein ungläubiges Blinzeln.<br />
» Geben Sie mir eine Fallschirmjägerdivision, und ich erfülle diese<br />
Aufgabe«, erwiderte Maslow nüchtern. Er hatte ein Glas Wasser in<br />
der Hand und den Alkohol an diesem Februarabend mit Bedacht<br />
gemieden. »Die Frage ist nur, ob unsere strategische Haltung auf<br />
See offensiv oder defensiv sein soll. Die Seestreitkräfte der Nato <br />
vor allem die der USA - stellen eine direkte Bedrohung der Rodina,<br />
des Vaterlandes, dar. Nur die US-Navy verfügt über Flugzeuge und<br />
Flugzeugträger, mit denen sie die Halbinsel Kola angreifen kann.<br />
Wir wissen sogar, dass solche Pläne existieren.«<br />
»Na u nd?« merkte der OB Südwest an. »Man kann einen Angriff<br />
auf sowjetischen Boden natürlich nicht auf die leichte Schulter<br />
nehmen, aber wir werden in diesem Feldzug schwere Verluste<br />
hinnehmen müssen, ganz gleich, wie brillant wir ihn auch führen.<br />
Entscheidend ist nur das Endergebnis.«<br />
42
»Ein erfolgreicher amerikanischer Angriff auf Kola würde uns<br />
effektiv an der Abriegelung des Atlantiks hindern. Es ist ein Irrtum,<br />
eine solche Attacke einfach abzutun. Ein Eindringen der<br />
Amerikaner in die Barentssee stellte eine direkte Bedrohung unserer<br />
nuklearen Abschreckung dar und könnte ernstere Konsequenzen<br />
haben, als Sie sich vorstellen.» Admiral Maslow beugte sich<br />
vor. »Bekämen wir aber andererseits von STAWKA die Mittel zur<br />
Durchführung des Unternehmens Nordlicht, könnten wir die Initiative<br />
ergreifen und die Art der Operationen <strong>im</strong> Nordatlantik<br />
nach Belieben diktieren.« Er hob einen Finger. »Erstens hinderten<br />
wir die Amerikaner an einem Angriff auf die He<strong>im</strong>at; zweitens<br />
könnten wir den Großteil unserer U-Boote <strong>im</strong> Atlantik einsetzen,<br />
wo die Schifffahrtswege verlaufen, anstatt ihnen eine passive Verteidigungsrolle<br />
zuzuweisen; und drittens könnten wir max<strong>im</strong>alen<br />
Gebrauch von unseren Marinefliegern machen. So verwandeln wir<br />
unsere Marine auf einen Schlag von einer Defensiv- in eine Offensivwaffe.«<br />
»Und dafür brauchen Sie nur eine Division Luftlandetruppen?<br />
Bitte erläutern Sie uns Ihren Plan näher, Genosse Admiral.«<br />
Maslow sprach fünf Minuten lang und schloss: »So verpassen wir<br />
den Kriegsmarinen der Nato auf einen Schlag mehr, als sie verdauen<br />
können, und sichern uns eine wertvolle Position für die<br />
Nachkriegszeit.«<br />
»Lassen wir die Trägerverbände doch lieber herankommen und<br />
zerstören sie dann«, mischte sich der OB West ein.<br />
Maslow antwortete: »Die Amerikaner werden <strong>im</strong> Atlantik fünf<br />
oder sechs Träger gegen uns einsetzen können. Jeder hat achtundfünfzig<br />
Flugzeuge, die, abgesehen von ihrer Schutzfunktion für die<br />
Flotte, auch als Jäger oder A<strong>tom</strong>bomber dienen können. Ich würde<br />
vorschlagen, Genosse, diese Schiffe so weit wie möglich von der<br />
He<strong>im</strong>at fernzuhalten.«<br />
»Andrej Petrowitsch, ich bin sehr beeindruckt«, sagte Roschkow<br />
versonnen und sah auch Respekt in Alexejews Augen. Unternehmen<br />
Nordlicht war kühn und s<strong>im</strong>pel. »Ich möchte bis morgen<br />
Nachmittag umfassend über diesen Plan informiert werden. Ein<br />
Erfolg ist also sehr wahrscheinlich, wenn Ihnen die erforderlichen<br />
Mittel zur Verfügung gestellt werden?«<br />
»Wir haben fünf Jahre an diesem Plan gearbeitet und unser<br />
Hauptaugenmerk auf Einfachheit gerichtet. Vorausgesetzt, der<br />
43
Plan bleibt gehe<strong>im</strong>, müssen zur Sicherung des Erfolges nur zwei<br />
Operationen gelingen.«<br />
Roschkow nickte. »Dann haben Sie meine Unterstützung.«<br />
44
Moskau<br />
4<br />
Maskirowska l<br />
Der Außenminister trat wie üblich von links auf und ging mit<br />
federnden Schritten, die über seine sechzig Jahre hinwegtäuschten,<br />
zum Rednerpult. Vor ihm drängte sich eine Meute von Reportern,<br />
die von Soldaten in zwei Gruppen aufgeteilt worden waren: die<br />
Leute von der Presse mit ihren Fotografen, und die Fernsehteams<br />
mit ihren Kameras und Scheinwerfern. Der Außenminister hasste<br />
die grellen Lichter und die Männer, die sie anschleppten; die Leute<br />
von den westlichen Medien, die keine Manieren hatten, <strong>im</strong>mer<br />
herumschnüffelten und nachbohrten, <strong>im</strong>mer Antworten auf Fragen<br />
verlangten, die kein Russe zu stellen wagte. Merkwürdig, dachte er<br />
und schaute von seinem Redemanuskript auf, vor diesen ausländischen<br />
Spionen muss ich manchmal offener sein als vor dem Zentralkomitee.<br />
Allesamt Spione...<br />
Natürlich konnte man sie mit sorgfältig vorbereiteter Desinformation<br />
manipulieren, und genau das hatte er nun vor. Doch <strong>im</strong><br />
großen und ganzen stellten sie eine Bedrohung dar, weil sie keine<br />
Ruhe gaben.<br />
»Meine Damen und Herren«, begann er auf Englisch, »ich<br />
möchte eine kurze Erklärung abgeben und bedaure, gegenwärtig<br />
keine Fragen beantworten zu können. Der Präsident der Vereinigten<br />
Staaten hat <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Rüstungskontrolle oft<br />
>Taten, nicht Worte< gefordert. Wie Sie wissen, sind bei den gegenwärtigen<br />
Abrüstungsverhandlungen in Wien zur Enttäuschung der<br />
ganzen Welt seit einem Jahr keine wesentlichen Fortschritte erzielt<br />
worden, und eine Seite gibt der anderen die Schuld. Es ist allen<br />
Friedensliebenden Völkern der Welt bekannt, dass die Sowjetunion<br />
keinen Krieg will und dass angesichts des nuklearen Winters, des<br />
Fallout und des Overkill nur ein Wahnsinniger den A<strong>tom</strong>krieg als<br />
realistische Option auch nur in Erwägung ziehen würde.«<br />
»Donnerwetter», murmelte Patrick Flynn, Chef des AP-Büros.<br />
45
Die Sowjets nahmen die Möglichkeit eines nuklearen Winters nur<br />
selten zur Kenntnis und hatten den Begriff noch nie bei einem so<br />
öffentlichen Anlass benutzt. Schon hatte er die Nase <strong>im</strong> Wind und<br />
witterte.<br />
»Die Zeit für eine beträchtliche Reduzierung der strategischen<br />
Waffen ist gekommen. Trotz unserer zahlreichen ernsten und aufrichtigen<br />
Abrüstungsvorschläge fahren die Vereinigten Staaten mit<br />
der Aufstellung destabilisierender Offensivwaffen fort: der MX-<br />
Interkontinentalrakete mit Erstschlagssystem Trident D- 5; zwei verschiedener<br />
Typen von Marschflugkörpern, deren Eigenschaften die<br />
Verifizierung eines Abrüstungsabkommens so gut wie unmöglich<br />
machen; und natürlich die so genannte Strategische Verteidigungsinitiative<br />
SDI, die Offensivwaffen in den Weltraum tragen will.<br />
Dies also sind die Taten der Amerikaner.« Er sah auf und setzte in<br />
ironischem Tonfall hinzu: »Und dabei verlangt Amerika mit frommen<br />
Worten sowjetische Taten. Von morgen an werden wir ein für<br />
allemal sehen, ob man Amerikas Wort trauen kann oder nicht. Von<br />
morgen an wird sich erweisen, wie groß der Unterschied zwischen<br />
amerikanischen Friedensworten und sowjetischen Friedenstaten<br />
ist. Morgen wird die Sowjetunion in Wien einen Vorschlag zur<br />
Reduzierung der existierenden strategischen und taktischen A<strong>tom</strong>waffen<br />
um fünfzig Prozent unterbreiten, die drei Jahre nach Ratifizierung<br />
erreicht und durch neutrale Beobachterteams, deren Zusammensetzung<br />
alle Unterzeichneten einvernehmlich best<strong>im</strong>men,<br />
vor Ort verifiziert werden soll. Bitte beachten Sie, dass ich >alle<br />
Unterzeichneten« gesagt habe. Die Sowjetunion lädt Großbritannien,<br />
Frankreich und« - er schaute auf- »die Volksrepublik China<br />
ein, sich mit uns an den Verhandlungstisch zu setzen.« Eine Salve<br />
von Blitzen zwang ihn, kurz das Gesicht abzuwenden.<br />
»Meine Damen und Herren, bitte blenden Sie mich nicht.« Er<br />
lächelte und hielt sich eine Hand vor die Augen. »Ich habe meine<br />
Rede nicht auswendig gelernt. Oder möchten Sie, dass ich in Russisch<br />
fortfahre?«<br />
Gelächter, dann vereinzelter Applaus. Der alte Fuchs lässt seinen<br />
Charme spielen, dachte Flynn und machte sich hastig Notizen.<br />
Diese Erklärung war potentiell Dynamit. Er fragte sich, was nun als<br />
nächstes kam, und war ganz besonders auf den genauen Wortlaut<br />
des Vorschlags gespannt. Flynn berichtete nicht zum ersten Mal<br />
über Abrüstungsverhandlungen und wusste nur zu gut, dass eine<br />
46
generelle Umschreibung von Vorschlägen deren tatsächlichen Inhalt<br />
oft grotesk verzerrte. Der Teufel steckte hier <strong>im</strong> Detail.<br />
»Nun weiter.« Der Außenminister blinzelte, um wieder klar<br />
sehen zu können. »Man hat uns beschuldigt, wir hätten nie mit<br />
einer Geste unseren guten Willen unter Beweis gestellt. Dass dieser<br />
Vorwurf falsch ist, liegt auf der Hand, doch diese boshafte Unterstellung<br />
kursiert <strong>im</strong> Westen nach wie vor. Das hat nun ein Ende. Nie<br />
wieder wird das aufrichtige Streben des sowjetischen Volkes nach<br />
einem gerechten und dauerhaften Frieden in Frage gestellt werden<br />
können. Ab heute wird die Sowjetunion als Geste des guten Willens,<br />
die sie die Vereinigten Staaten und andere interessierte Nationen<br />
nachzuahmen auffordert, eine ganze Klasse a<strong>tom</strong>getriebener<br />
Raketen-U-Boote, die <strong>im</strong> Westen als >Yankee< bekannt ist, außer<br />
Dienst stellen. Alle aktiven Boote dieser Klasse, derzeit zwanzig, die<br />
je zwölf Interkontinentalraketen tragen, gehören zur sowjetischen<br />
Nordflotte und sind auf der Kola-Halbinsel stationiert. Von heute<br />
an werden wir pro Monat eines dieser Boote deaktivieren. Wie Sie<br />
wissen, bedarf die Totaldeaktivierung einer so komplexen Waffe<br />
einer Werft - es muss nämlich die Raketenanlage in ihrer Gesamtheit<br />
aus dem Rumpf entfernt werden -, und aus diesem Grund lässt<br />
sie sich nicht über Nacht völlig entschärfen. Doch um die Ehrlichkeit<br />
unseres Vorhabens unbestreitbar zu demonstrieren, fordern<br />
wir die Vereinigten Staaten zu einer von zwei Maßnahmen auf:<br />
Erstens: Wir werden ein ausgewähltes Team von sechs amerikanischen<br />
Marineoffizieren diese sechs Boote inspizieren und verifizieren<br />
lassen, dass ihre Raketenrohre vor der Entfernung der Raketenanlage<br />
mit Beton ausgegossen worden sind. Im Gegenzug würden<br />
wir erwarten, dass einer gleichen Anzahl sowjetischer Offiziere zu<br />
einem späteren Zeitpunkt ähnliche Inspektionsbesuche auf amerikanischen<br />
Werften gestattet werden. Zweitens: Für den Fall, dass<br />
die Vereinigten Staaten eine auf Gegenseitigkeit beruhende Verifizierung<br />
der Abrüstungsmaßnahmen ablehnt, sind wir bereit, diese<br />
Kontrollen von einer sechsköpfigen Gruppe von Offizieren aus<br />
Drittländern vornehmen zu lassen. Über die Zusammensetzung<br />
dieser Gruppe könnten sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion<br />
<strong>im</strong> Lauf der kommenden dreißig Tage einigen. Ein Team aus<br />
neutralen Ländern wie Schweden oder Indien würde die Sowjetunion<br />
<strong>im</strong> Prinzip akzeptieren.<br />
Meine Damen und Herren, es ist Zeit, dem Wettrüsten ein Ende<br />
47
zu setzen. Ich will die blumigen Phrasen, die wir alle nun schon seit<br />
zwei Generationen hören, nicht wiederholen. Es soll niemand mehr<br />
sagen können, die Sowjetunion habe ihren Beitrag zur Verringerung<br />
der Kriegsgefahr nicht geleistet. Ich danke Ihnen für Ihre<br />
Aufmerksamkeit.«<br />
Jäh senkte sich Schweigen über den Raum, bis nur noch das<br />
Surren der Kameras zu hören war.<br />
»Donnerwetter«, murmelte Flynn nach zehn Sekunden.<br />
»Kann man wohl sagen«, st<strong>im</strong>mte der Reuter-Korrespondent<br />
William Calloway zu.<br />
Flynn zog eine Gr<strong>im</strong>asse und schaute dem Außenminister nach,<br />
der sich lächelnd verabschiedete. »Das muss ich schriftlich sehen.<br />
Fahren Sie mit mir zurück?«<br />
In Moskau war es bitter kalt. Am Straßenrand lagen Schneehaufen.<br />
Der H<strong>im</strong>mel war blau. Und die Wagenheizung funktionierte<br />
nicht. Flynn fuhr, sein Freund las laut die Presseerklärung vor. Der<br />
Entwurf des Abrüstungsvorschlags umfasste neunzehn mit Anmerkungen<br />
versehene Seiten.<br />
»Erstaunlich fair«, sagte der Reuter-Korrespondent Calloway<br />
verwundert. »Sie schlagen eine Abrüstung mit El<strong>im</strong>inierung vieler<br />
existierender Waffen vor, lassen beide Seiten überholte Raketen<br />
ersetzen, gestehen beiden Seiten je fünftausend Sprengköpfe zu und<br />
wollen diese Zahl über einen Zeitraum von fünf Jahren nach der<br />
dreijährigen Reduzierungsperiode stabil halten. Ein separater Vorschlag<br />
lädt zu Verhandlungen über den Totalabbau >schwerer<<br />
Raketen ein, die durch mobile Flugkörper ersetzt werden dürfen,<br />
doch die Anzahl der Testflüge soll beschränkt bleiben -« Er blätterte<br />
um und überflog den Rest des Vertragsentwurfs. »Kein Wort<br />
über das Star-Wars-Forschungsprogramm... Nanu, hat er das<br />
nicht in seinem Vortrag erwähnt? Patrick, das ist wirklich Dynamit,<br />
könnte direkt in Washington verfasst worden sein. Es wird natürlich<br />
Monate dauern, bis alle Details geklärt sind, aber das ist ein<br />
ernsthafter und großzügiger Vorschlag.«<br />
»Nichts über Star Wars?« Flynn zog kurz die Stirn kraus und bog<br />
rechts ab. Sollte das bedeuten, dass die Russen bei ihren Forschungen<br />
einen Durchbruch erzielt hatten? Muss mal in Washington<br />
nachfragen, dachte er. »Willie, da haben wir eine Mordsstory. Wie<br />
heißt deine Schlagzeile? Was hältst du von >Frieden
Fort Meade, Maryland<br />
Amerikanische Nachrichtendienste werten wie ihre Konkurrenz<br />
überall auf der Welt die Berichte aller Nachrichtenagenturen aus.<br />
Toland sah sich die Meldungen von AP und Reuter an und verglich<br />
sie mit der Version, die in der Sowjetunion über Mikrowelle an die<br />
Redaktionen der Regionalausgaben von Prawda und Iswestija gesendet<br />
worden waren. Die Art und Weise, in welcher Nachrichten<br />
in der Sowjetunion wiedergegeben werden, soll den Parte<strong>im</strong>itgliedern<br />
den Standpunkt der Führung verdeutlichen.<br />
»Kommt mir alles bekannt vor«, sagte sein Abteilungsleiter.<br />
»Be<strong>im</strong> letzten Mal scheiterten die Verhandlungen, weil beide Seiten<br />
mobile Raketen haben, sie der anderen Seite aber verweigern wollten.«<br />
»Aber der Ton der Meldung.«<br />
»Verdammt, über ihre eigenen Abrüstungsvorschläge berichten<br />
sie <strong>im</strong>mer mit Enthusiasmus. Das wissen Sie doch genau, Bob.«<br />
»Gewiss, Sir, aber dies ist meines Wissens das erste Mal, dass die<br />
Russen einseitig ein Waffensystem außer Dienst stellen.«<br />
»Die U-Boote der >Yankee< -Klasse sind technisch überholt.«<br />
»Na und? Obsolet oder nicht, die Russen werfen nie etwas weg.<br />
In ihren Lagerhäusern stehen <strong>im</strong>mer noch Geschütze aus dem<br />
Zweiten Weltkrieg, nur für den Fall, dass sie noch einmal gebraucht<br />
werden. Dieser Fall liegt anders, und die politischen Implikationen.«<br />
»Wir reden nicht von Politik, sondern von Nuklearstrategie«,<br />
bellte der Abteilungsleiter zurück.<br />
Als ob da ein Unterschied bestünde, sagte sich Toland.<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Nun, Pascha?«<br />
»Genosse General, da steht uns eine gewaltige Arbeit bevor.«<br />
Alexejew hatte Haltung angenommen; man befand sich <strong>im</strong> Kiewer<br />
Hauptquartier des Militärbereichs Südwest.<br />
»Unsere Einheiten müssen ausgiebig üben. Übers Wochenende<br />
habe ich über achtzig Bereitschaftsmeldungen unserer Panzer- und<br />
Panzergrenadierdivisionen durchgelesen.« Alexejew legte eine<br />
49
Pause ein, ehe er fort fuhr. Taktische Ausbildung und Bereitschaft<br />
waren die Achillesferse der sowjetischen Streitkräfte. Ihre Soldaten,<br />
größtenteils Wehrpflichtige, dienten zweieinhalb Jahre lang<br />
und brauchten die Hälfte dieser Zeit, um sich die militärischen<br />
Grundkenntnisse anzueignen. Selbst Unteroffiziere waren Wehrpflichtige,<br />
die auf spezielle Schulen geschickt wurden, aber nach<br />
Ablauf ihres Wehrdienstes den Streitkräften wieder verlorengingen.<br />
Aus diesem Grund verließen sich die Sowjets auf ihre Offiziere,<br />
die oft Aufgaben erfüllten, die <strong>im</strong> Westen einem Feldwebel<br />
zufielen. Der einzige zuverlässige Faktor in der sowjetischen Armee<br />
war das Offizierskorps. »Die Wahrheit ist, dass wir unseren<br />
Bereitschaftsgrad <strong>im</strong> Augenblick nicht kennen. Unsere Obersten<br />
benutzen in ihren Meldungen ausnahmslos die gleichen Floskeln.<br />
Jeder erklärt, die Norm erfüllt zu haben - die gleiche Anzahl von<br />
Übungsstunden, die gleiche Anzahl politischer Lektionen, die gleiche<br />
Zahl be<strong>im</strong> Übungsschießen verwendeter Patronen - nun ja,<br />
die Abweichung liegt unter drei Prozent! - und die vorgeschriebene<br />
Anzahl von Feldübungen, selbstverständlich des angemessenen<br />
Typs.«<br />
»So wie es <strong>im</strong> Buch steht«, merkte der Generaloberst an.<br />
»Natürlich. Genau - viel zu genau! Keine Abweichungen wegen<br />
schlechten Wetters. Keine Abweichungen wegen verspäteter Treibstofflieferungen.<br />
Zum Beispiel verbrachte das 703. Panzergrenadierreg<strong>im</strong>ent<br />
den ganzen letzten Oktober <strong>im</strong> Ernteeinsatz bei Charkow<br />
- erfüllte aber dennoch die Übungsnorm für den entsprechenden<br />
Zeitraum. Lügen sind schon schl<strong>im</strong>m, aber diese sind einfach<br />
lächerlich!«<br />
»So schl<strong>im</strong>m kann es doch nicht sein, Pawel Leonidowitsch.«<br />
»Können wir es wagen, etwas anderes anzunehmen, Genosse?«<br />
Der General starrte auf seinen Schreibtisch. »Nein. Gut, Pascha,<br />
Sie haben einen Plan formuliert. Lassen Sie einmal hören.«<br />
«Sie arbeiten <strong>im</strong> Augenblick unseren Angriffsplan gegen die islamischen<br />
Länder aus. Ich muss hinaus, um unsere Truppenführer auf<br />
Trab zu bringen. Wenn wir rechtzeitig vor dem Angriff <strong>im</strong> Westen<br />
unsere Ziele erreichen wollen, müssen wir an den schl<strong>im</strong>msten<br />
Missetätern ein Exempel statuieren. Ich hatte an vier Kommandeure<br />
gedacht, deren Verhalten eindeutig kr<strong>im</strong>inell war. Hier sind<br />
Namen und Anklagepunkte.« Er reichte einen Bogen über den<br />
Tisch.<br />
50
»Darunter sind zwei gute Leute, Pascha«, wandte der General<br />
ein.<br />
»Diese Männer sind Hüter des Staates und genießen großes<br />
Vertrauen. Dieses Vertrauen haben sie sich durch Lügen verscherzt<br />
und dabei den Staat gefährdet.«<br />
»Sind Ihnen die Konsequenzen dieser Anklage bekannt?«<br />
»Selbstverständlich. Auf Hochverrat steht die Todesstrafe. Habe<br />
ich jemals eine Bereitschaftsmeldung verfälscht? Oder Sie?« Alexejew<br />
schaute kurz weg. »Eine harte Maßnahme, die ich nur ungern<br />
ergreife, aber wenn wir unsere Einheiten nicht auf Vordermann<br />
bringen, müssen junge Männer wegen des Versagens ihrer Offiziere<br />
sterben. Kriegsbereitschaft ist wichtiger als vier Lügner. Eine Armee<br />
ohne Disziplin ist ein wertloser Haufen. Wir haben Anweisung<br />
von STAWKA, an aufsässigen Gemeinen und Unteroffizieren Exempel<br />
zu statuieren. So ist es nur gerecht, dass auch ihre Obersten<br />
drankommen. Ihre Verantwortung ist größer, ihr Sold höher. Hier<br />
werden einige Exempel viel für die Erneuerung unserer Armee tun.«<br />
»Überlassen wir die Sache dem Inspektorat?«<br />
»Das wäre das beste«, st<strong>im</strong>mte Alexejew zu. Auf diese Weise<br />
konnte die oberste Führung die Verantwortung für die Maßnahmen<br />
abwälzen. »Übermorgen lasse ich den Generalinspekteur<br />
Teams zu diesen Reg<strong>im</strong>entern schicken. Heute früh gingen bei allen<br />
Divisions- und Reg<strong>im</strong>entshauptquartieren unsere Übungsbefehle<br />
ein. Die Nachricht von der Verhaftung der vier Verräter wird die<br />
Kommandeure unserer Einheiten veranlassen, sie energisch in die<br />
Tat umzusetzen. Doch auch so wird es zwei Wochen dauern, bis wir<br />
erkennen, worauf wir uns konzentrieren müssen, und dann bleibt<br />
uns noch genug Zeit, für Abhilfe zu sorgen.«<br />
»Was untern<strong>im</strong>mt der OB West?«<br />
»Ähnliches, hoffe ich.« Alexejew schüttelte den Kopf. »Hat er<br />
bei Ihnen schon Einheiten angefordert?«<br />
»Nein, aber das kommt noch. Offensive Operationen gegen die<br />
Südflanke der Nato sollen nämlich unterbleiben, das ist Teil der<br />
fortgesetzten maskirowka. Sie können davon ausgehen, dass viele<br />
unserer Einheiten der Kategorie B nach Deutschland verlegt werden,<br />
möglicherweise sogar Panzereinheiten der Kategorie A. Ganz<br />
gleich, wie viele Divisionen dieser Idiot bekommt, es ist ihm nie<br />
genug.«<br />
»Gut, solange wir genug Truppen zur Eroberung der Ölfelder<br />
51
haben, wenn die Zeit gekommen ist«, meinte Pascha. »Welchen<br />
Plan sollen wir ausführen?«<br />
»Den alten. Er muss natürlich auf den neuesten Stand gebracht<br />
werden.« Der alte Plan war vor dem sowjetischen Einmarsch in<br />
Afghanistan ausgearbeitet worden, und inzwischen sah die Rote<br />
Armee die Entsendung von Panzergrenadierdivisionen in von bewaffneten<br />
Moslems bewohnte Gebiete aus einer ganz neuen Perspektive.<br />
Alexejew ballte die Fäuste. »Ist ja großartig. Wir sollen einen<br />
Plan formulieren, ohne zu wissen, wann er ausgeführt wird und<br />
welche Kräfte wir zur Verfügung haben.«<br />
»Tja, da werden Sie zustoßen müssen, Pascha.« Der OB Südwest<br />
lachte in sich hinein.<br />
Der jüngere Mann lächelte bedrückt. »Allerdings, Genosse General.<br />
Geschlafen wird nach dem Krieg.«<br />
52
Chesapeake Bay, Maryland<br />
5<br />
Seeleute und Spione<br />
Er blinzelte schmerzlich geblendet zum Horizont. Über der grünlich-braunen<br />
Küste von Maryland war die Sonnenscheibe nur zur<br />
Hälfte zu sehen und erinnerte ihn daran, dass er am Vortag bis spät<br />
gearbeitet hatte, noch später zu Bett gegangen und um halb fünf<br />
aufgestanden war, um Angeln zu gehen. Langsam nachlassende<br />
Kopfschmerzen wiesen auf die Sechserpackung Bier hin, die er vor<br />
dem Fernseher geleert hatte.<br />
Aber er war zum ersten Mal in diesem Jahr hinausgefahren und<br />
warf nun mit Vergnügen die Angel an einer Stelle aus, wo das stille<br />
Wasser der Bucht sich kräuselte. War das ein Blaufisch oder ein<br />
Klippenbarsch? Auf jeden Fall ließ er sich von seinem Köder nicht<br />
locken.<br />
»Kaffee, Bob?«<br />
»Gerne, Pop.« Robert Toland steckte seine Angelrute in den<br />
Halter und lehnte sich in den mittschiffs angebrachten Drehsessel<br />
seines Boston Whalers zurück. Edward Keegan, sein Schwiegervater,<br />
reichte ihm die gefüllte Plastikkappe einer großen Thermosflasche.<br />
»Kalt oder nicht, es tut gut, mal wieder hier draußen zu sein.«<br />
Keegan trank aus seinem Becher und setzte einen Fuß auf den<br />
Köderkasten. Es war nicht nur das Fischen, st<strong>im</strong>mten die beiden<br />
überein, sondern auch die Gelegenheit, einmal der Zivilisation zu<br />
entkommen.<br />
»Wäre schön, wenn die Klippenbarsche sich wieder mal sehen<br />
ließen.«<br />
»Ja. Und vor allem: Hier gibt's kein Telefon.«<br />
»Und dein Piepser?«<br />
»Hm, den Muss ich in der anderen Hose vergessen haben.« Keegan<br />
lachte in sich hinein. »Die DIA wird heute ohne mich auskommen<br />
müssen.«<br />
53
»Meinst du, das schaffen die?«<br />
«Die Navy hat's auch überstanden.« Keegan, Absolvent der<br />
Marineakademie, hatte seine dreißig Jahre abgedient und dann eine<br />
Stelle be<strong>im</strong> Verteidigungsnachrichtendienst angenommen.<br />
Toland war Lieutenant auf einem in Pearl Harbor stationierten<br />
Zerstörer gewesen, als er Martha Keegan kennen lernte, die an der<br />
Universität von Hawaii <strong>im</strong> Hauptfach Psychologie und <strong>im</strong> Nebenfach<br />
Surfen studierte. Sie waren jetzt seit fünfzehn Jahren glücklich<br />
verheiratet.<br />
Keegan stand auf und griff nach seiner Angel. »Nun, was gibt's<br />
<strong>im</strong> Fort?«<br />
Bob Toland war Analytiker der mittleren Ebene in der Nationalen<br />
Sicherheitsbehörde NSA. Die Navy hatte er nach sechsjähriger<br />
Dienstzeit verlassen, blieb aber Reservist. Seine Arbeit bei der NSA<br />
passte gut zum Dienst als Marinereservist, Er war Kommunikationsexperte,<br />
hatte Elektronik studiert und hörte derzeit von<br />
Horchposten der NSA oder Lauschsatelliten aufgefangene sowjetische<br />
Signale ab. So nebenbei hatte er auch sein Russischdiplom<br />
erworben.<br />
»Letzte Woche kam mir etwas Hochinteressantes unter, aber<br />
mein Chef wollte seine Bedeutung nicht erkennen.«<br />
»Wer ist denn dein Abteilungsleiter?«<br />
»Captain Albert Redman, US Navy.« Toland sah einem Fischerboot<br />
nach, das einige Meilen weiter dahintuckerte und Krabbenfallen<br />
auswarf. »Ein Arschloch.«<br />
Keegan lachte. »So was solltest du nicht laut sagen, Bob. Immerhin<br />
wirst du nächste Woche zum Reservedienst einberufen. Mit<br />
Bert habe ich vor fünfzehn Jahren mal gearbeitet und musste ihm ab<br />
und zu mal was auf den Deckel geben. Der Mann neigt zur Rechthaberei.«<br />
»Das ist sehr milde ausgedrückt«, schnaubte Toland. »Auf den<br />
neuen Abrüstungsvorschlag hin stieß ich letzten Mittwoch auf<br />
etwas ganz Ungewöhnliches, aber er legte es einfach zu den Akten.<br />
Ich frage mich, weshalb er sich überhaupt neue Daten ansieht.«<br />
»Kannst du mir verraten, worum es ging?«<br />
»Eigentlich nicht.« Bob wankte kurz. Verdammt, wenn er noch<br />
nicht einmal mit dem Großvater seiner Kinder reden konnte...<br />
»Ein Lauschsatellit überflog letzte Woche das Hauptquartier<br />
eines sowjetischen Militärbezirks und fing ein Telefongespräch<br />
54
über Mikrowelle auf. Es war ein Bericht an Moskau über vier<br />
Oberste <strong>im</strong> Militärbezirk Karpaten, die wegen getürkter Bereitschaftsmeldungen<br />
erschossen wurden. Offenbar soll er nächste<br />
Woche <strong>im</strong> Roten Stern erscheinen.» Den Brand auf dem Ölfeld<br />
hatte er inzwischen ganz vergessen.<br />
»So?« Keegan hob die Augenbrauen. »Und was hat Bert dazu<br />
gesagt?«<br />
»»War auch höchste Zeit, dass die mal aufräumen.< Das war<br />
alles.«<br />
»Und was meinst du dazu?«<br />
»Pop, mit den verrückten Wahrsagern bei Trends und Plänen<br />
habe ich nichts zu tun, aber die Russen bringen keinen zum Spaß<br />
um. Wenn der Iwan öffentlich Menschen hinrichten lässt, bezweckt<br />
er damit etwas. Das waren keine Personaloffiziere, die gegen<br />
Schmiergeld Versetzungen arrangierten. Sie wurden auch nicht<br />
erschossen, weil sie Treibstoff oder Holz für ihre Datschen abgezweigt<br />
hatten. Ich habe in unserem Archiv nachgesehen und festgestellt,<br />
dass über zwei von ihnen Akten vorliegen. Beide waren Stabsoffiziere<br />
mit Gefechts Erfahrung in Afghanistan und angesehene<br />
Parte<strong>im</strong>itglieder obendrein; einer war Absolvent der Frunse-Akademie<br />
und hatte sogar Artikel in Militärisches Denken veröffentlicht.<br />
Doch alle vier wurden wegen verfälschter Bereitschaftsmeldungen<br />
vors Kriegsgericht gestellt und drei Tage später erschossen.<br />
Krasnaja Swesda wird die Story in ein paar Tagen als Dreiteiler<br />
bringen - gezeichnet >Der Beobachter
Vermutung nach. Im Lauf der vergangenen fünf Jahre hat die Rote<br />
Armee die Namen von vierzehn hingerichteten Offizieren publik<br />
gemacht. Darunter war ein Oberst, ein Personaloffizier in Georgien,<br />
der gegen Bestechungsgeld Versetzungen arrangierte. Bei den<br />
anderen handelte es sich um einen Fall von Spionage, drei Vernachlässigungen<br />
der Dienstpflicht unter Alkoholeinfluss und neun ganz<br />
normale Korruptionsfälle - die Burschen hatten alles mögliche,<br />
vom Treibstoff bis hin zum Großrechner, naljewo, links herum,<br />
auf dem Schwarzmarkt verhökert. Und nun werden auf einmal<br />
allein in einem Militärbezirk vier Reg<strong>im</strong>entskommandeure hingerichtet.»<br />
»Das könntest du Redman vorlegen.«<br />
»Reine Zeitverschwendung.«<br />
»Hast du Kontakt zu Leuten vom zivilen Nachrichtendienst?«<br />
»Nein, meine Kollegen beschäftigen sich alle mit militärischer<br />
Telekommunikation.«<br />
»Vergangenen Montag habe ich be<strong>im</strong> Mittagessen mit einem<br />
Mann von der CIA gesprochen, den ich schon seit einer Ewigkeit<br />
kenne. Wie auch <strong>im</strong>mer, er riss Witze über eine neue Knappheit in<br />
der Sowjetunion.«<br />
»Schon wieder eine?« Bob war amüsiert. Versorgungsengpässe<br />
waren in Russland nichts Neues. Zahnpasta, Toilettenpapier, Scheibenwischer<br />
- davon hörte er in der Kantine <strong>im</strong>mer wieder.<br />
»Ja, und diesmal geht es um Batterien für Autos und Lastwagen.<br />
Seit vier Wochen ist nirgends eine Batterie aufzutreiben. Viele<br />
Autos sind stillgelegt, und weil überall gestohlen wird, klemmen die<br />
Leute abends ihre Batterien ab und nehmen sie mit ins Haus.«<br />
»Aber in Togliatti gibt es doch eine große Batteriefabrik!« Toland<br />
meinte ein mit Hilfe von Fiat errichtetes riesiges Kraftfahrzeugwerk<br />
<strong>im</strong> europäischen Russland.<br />
»Die fährt drei Schichten. Was hältst du davon?«<br />
Norfolk, Virginia<br />
Toland musterte in der Offiziersmesse in Norfolk sein Spiegelbild.<br />
Die Uniform passte noch, wenngleich sie um die Taille herum etwas<br />
eng saß. Seine Ordensspange wies nur kümmerliche anderthalb<br />
Riemen auf, aber er hatte <strong>im</strong>merhin das Seedienstabzeichen, seine<br />
56
»Schw<strong>im</strong>mflügel«, er war nicht <strong>im</strong>mer nur ein glorifizierter Funker<br />
gewesen. An den Ärmeln trug er die zweieinhalb Streifen eines<br />
Lieutenant Commander. Noch einmal kurz über die Schuhe gefahren,<br />
und dann war er zur Tür hinaus, an diesem hellen Montagmorgen<br />
bereit, seine jährlichen zwei Wochen Dienst bei der Flotte<br />
anzutreten.<br />
Fünf Minuten später fuhr er die Mitcher Avenue hinunter zum<br />
Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Atlantikflotte - CIN<br />
CLANTFLT -, einem niedrigen, nichts sagenden Gebäude, das einmal<br />
ein Krankenhaus gewesen war. Toland, ein Frühaufsteher,<br />
fand den Parkplatz an der Ingersoll Street halb leer vor, suchte sich<br />
aber trotzdem einen unmarkierten Platz, um nicht den Zorn eines<br />
hohen Offiziers heraufzubeschwören.<br />
»Bob? Bob Toland?« rief jemand.<br />
»Ed Morris!«<br />
Inzwischen war er Commander Edward Morris, USN, stellte<br />
Toland fest, und der goldene Stern am Uniformrock identifizierte<br />
ihn als Kommandanten eines Schiffes. Toland salutierte, ehe er<br />
seinem Freund die Hand gab. Nachdem sie Erinnerungen ausgetauscht<br />
und von ihren Familien gesprochen hatten, wies Toland auf<br />
den Stern. »Dann erzähl mal von deiner neuen Liebe.«<br />
»Schau dir mein Auto an.«<br />
Toland drehte sich um. Morris' Ford trug das Kennzeichen FF<br />
1094. Dem Uneingeweihten war das eine ganz gewöhnliche Nummer,<br />
aber ein Seemann wusste, dass sie ein Kommando signalisierte:<br />
U-Jagdfregatte 1094 ~ USS Pharris.<br />
»Bescheidenheit war ja schon <strong>im</strong>mer deine Stärke«, bemerkte<br />
Toland grinsend. »Gratuliere, Ed. Seit wann hast du sie?«<br />
»Seit zwei Jahren. Sie ist groß, schön und mein. Hättest dabeibleiben<br />
sollen, Bob. Der Tag, an dem ich sie übernahm, war wie<br />
J<strong>im</strong>mys Geburt.«<br />
»Fein, Ed, aber es stand doch schon <strong>im</strong>mer fest, dass du ein Schiff<br />
bekommst und ich nicht.« Tolands Personalakte enthielt einen<br />
Tadel, weil er als Wachhabender einen Zerstörer auf Grund gesetzt<br />
hatte. Eigentlich nur Pech: eine unklare Eintragung auf der Seekarte<br />
und eine ungünstige Tide hatten den Irrtum ausgelöst, aber eine<br />
Karriere in der Navy war rasch ruiniert.<br />
»Reißt also deine zwei Wochen runter.«<br />
»St<strong>im</strong>mt.«<br />
57
»Celia ist ihre Eltern besuchen gefahren, und ich bin Strohwitwer.<br />
Was isst du heute Abend?«<br />
»Gehn wir zu McDonalds?« Toland lachte.<br />
«Von wegen. Danny McCafferty ist mit Chicago auch hier.<br />
Wenn wir einen vierten Mann auftreiben, können wir vielleicht<br />
Bridge spielen wie damals.« Morris versetzte seinem Freund einen<br />
Stoß. »So, ich muss weiter. Wir treffen uns um halb sechs <strong>im</strong> Foyer<br />
der Offiziersmesse. Danny hat mich für halb sieben zum Essen auf<br />
sein Boot eingeladen, da bleibt uns gerade eine Stunde zur Justierung<br />
der Geisteshaltung.««<br />
»Ave, aye, Commander.««<br />
»Wie auch <strong>im</strong>mer, da war ich also auf Will Rogers«, erzählte<br />
McCafferty. »Schon fünfzig Tage auf Patrouille, und ich hatte<br />
Wache, klar? Sonar sagt, sie bekamen ein komisches Signal rein,<br />
Richtung null-fünf-zwo. Wir laufen auf Periskoptiefe. Ich fahre das<br />
Ding aus, stelle es auf null-fünf-zwo, und da zuckelt doch tatsächlich<br />
ein Segler mit vier Knoten und Ruderau<strong>tom</strong>atik vorbei. Na, es<br />
war ein trüber Tag, ich schalte auf Vergrößerung um, und da liegen<br />
doch der Käpt'n und sein Fräulein Maat auf dem Ruderhaus und<br />
bumsen! Das Boot war vielleicht tausend Meter entfernt - ehrlich,<br />
das war, als hätte ich daneben gestanden. Haben wir also die Fernsehkamera<br />
<strong>im</strong> Periskop eingeschaltet und das Band laufen lassen.<br />
Fünfzehn Minuten hat es gedauert. Die Crew hat die Kassette die<br />
ganze nächste Woche lang gespielt. Ist gut für die Moral, wenn man<br />
weiß, wofür man kämpft.« Alle drei Offiziere lachten.<br />
»Ich hab's doch schon <strong>im</strong>mer gesagt, Bob«, bemerkte Morris,<br />
»U-Bootfahrer sind ein he<strong>im</strong>tückischer Verein. Und pervers dazu.«<br />
»Und wie lange hast du Chicago schon, Danny?« fragte Toland<br />
bei der zweiten Tasse Kaffee nach dem Essen. Die drei hatten die<br />
Offiziersmesse des U-Bootes für sich, denn die anderen Offiziere an<br />
Bord waren entweder auf Wache oder schlafen gegangen.<br />
»Drei hektische Monate, die Zeit auf der Werft nicht mitgerechnet«,<br />
sagte McCafferty und trank seine Milch aus. Toland war<br />
aufgefallen, dass Dan in der Messe des Stützpunktes bei der »Justierung<br />
der Geisteshaltung«, die aus dem Kippen dreier kräftiger<br />
Drinks bestand, nicht mitgemacht hatte. McCafferty war nicht<br />
mehr der alte.<br />
»Merkt man das nicht an der käsigen Haut, die Höhlenbewohner<br />
58
und U-Boot-Fahrer gemeinsam haben?» witzelte Morris. »Ganz<br />
zu schweigen von dem schwachen Leuchten, das Leute von a<strong>tom</strong>getriebenen<br />
Booten umgibt?« McCafferty grinste. Dann traf der<br />
vierte Mann ein, ein junger Ingenieur, der gerade Reaktorwache<br />
gehabt hatte. Chicagos Reaktor war nicht in Betrieb. Das Boot<br />
wurde von Land mit Strom versorgt, aber die Vorschriften verlangten<br />
auch dann volle Reaktorwache, wenn der »Teekessel«<br />
nicht siedete.<br />
»Na, Jungs, ich kann euch verraten, dass ich vor vier Wochen<br />
echt blass geworden bin.« McCafferty wurde ernst.<br />
»Wie das?« fragte Toland.<br />
»Du weißt ja, was wir mit diesen Booten für eine Dreckarbeit<br />
machen müssen.«<br />
»In Küstennähe Informationen sammeln? Dan, du solltest wissen,<br />
dass die elektronischen Daten, die ihr da auffangt, in unserer<br />
Behörde landen. Vielleicht kenne ich sogar die Leute, auf deren<br />
Datenanforderung hin ihr eure Einsatzbefehle bekommt.« Bob widerstand<br />
der Versuchung, sich zu auffällig umzusehen. Er war<br />
nämlich noch nie an Bord eines A<strong>tom</strong>-U-Boots gewesen. Es war<br />
kalt und roch stark nach Maschinenöl. Rundum glänzte und funkelte<br />
alles wie neu. Also das war die eine Milliarde Dollar teure<br />
Maschine, die die elektronischen ELINT-Daten sammelte...<br />
»Wir waren oben in der Barentssee nordöstlich vom Kola-Fjord<br />
und verfolgten ein russisches Boot, eins aus der Oscar-Klasse, lagen<br />
gut zehn Meilen hinter ihm - und landen auf einmal mitten in<br />
einer Übung mit scharfer Munition! Überall sausten Raketen rum.<br />
Sie versenkten drei alte Schiffe und bepflasterten ein halbes Dutzend<br />
Zielleichter.«<br />
»Nur das Oscar?« fragte Morris.<br />
»Wie sich herausstellte, fuhren da auch noch ein Papa und ein<br />
Mike herum. Das ist der Nachteil unserer leisen Boote. Wenn die<br />
anderen nicht wissen, dass wir da sind, können wir ganz schön in<br />
die Scheiße geraten. Ringsum werden Raketenabschussrohre geflutet,<br />
Sonar schlägt Alarm. Wie sollten wir wissen, dass nicht auf<br />
einmal echte Torpedos abgeschossen werden? Wir fuhren die<br />
ESM-Antenne aus und fingen ihr Periskopradar auf, dann fetzten<br />
so ein paar Dinger direkt über unsere Köpfe weg. Für ein paar<br />
Minuten war das ganz schön haarig, Jungs.« McCafferty schüttelte<br />
den Kopf. »Zwei Stunden später zogen die drei Boote mit<br />
59
zwanzig Knoten wieder he<strong>im</strong> in den Stall. Ziemlich lebhaft für eine<br />
erste Dienstfahrt.«<br />
»Hattest du dabei den Eindruck, dass die Russen etwas Ungewöhnliches<br />
taten?« Tolands Interesse war jäh geweckt.<br />
»Hast du denn nicht gehört, dass sie ihre Patrouillen mit Dieselbooten<br />
<strong>im</strong> Norden stark reduziert haben? Gut, die hört man normalerweise<br />
kaum, aber seit zwei Monaten sind sie einfach nicht<br />
mehr da. Nur eins hab ich gehört, ein einziges. Früher war das da<br />
oben anders. Satellitenfotos zeigen massenhaft Dieselboote <strong>im</strong> Hafen.<br />
Offenbar läuft ein massives Instandsetzungsprogramm. Und<br />
gewöhnlich wird auch um diese Jahreszeit nicht mit scharfer Munition<br />
geübt.« McCafferty lachte. »Vielleicht waren sie es auch müde,<br />
dauernd an den ollen Zerstörern rumzukratzen und zu pinseln, und<br />
schickten sie dahin, wo sie auch hingehören - auf den Grund.«<br />
»Unsinn!« schnaubte Morris.<br />
»Nenne mir doch einmal einen Grund, aus dem du einen ganzen<br />
Haufen Dieselboote außer Dienst stellen würdest«, sagte Toland,<br />
der inzwischen bedauerte, bei der zweiten und dritten Runde <strong>im</strong><br />
Kasino nicht gepasst zu haben. Etwas Wichtiges löste in seinem<br />
Kopf einen Alarm aus, aber der Alkohol ließ sein Gehirn langsamer<br />
arbeiten.<br />
»Verdammt«, versetzte McCafferty. "Es gibt keinen.«<br />
»Was stellen sie dann mit diesen Dieselbooten an?«<br />
»Selbst gesehen habe ich die Satellitenfotos nicht, Bob, sondern<br />
nur von ihnen gehört. Da aber in den Trockendocks keine besondere<br />
Aktivität herrscht, kann es keine Generalüberholung sein.«<br />
Endlich ging Toland ein Licht auf. »Sag mal, ist es einfach, in<br />
einem U-Boot die Batterien auszuwechseln?«<br />
»Nein. Das ist ein schwerer, unangenehmer Job. Spezielle Maschinen<br />
braucht man dazu aber nicht. Unsere Teams erledigen das<br />
in drei bis vier Wochen. Iwans Boote haben eine höhere Batteriekapazität<br />
und sind wartungsfreundlicher ausgelegt. Da sie ihre Batterien<br />
rascher verschleißen als Boote <strong>im</strong> Westen, sind sie durch Wartungsluken<br />
<strong>im</strong> Rumpf leichter auszutauschen. Die ganze Geschichte<br />
wird von Hand erledigt. Worauf willst du hinaus, Bob?«<br />
Toland berichtete von den vier erschossenen sowjetischen Obersten.<br />
»Dann höre ich, dass in Russland Batterien knapp sind. Für<br />
Lastwagen und Personenautos sind keine zu haben. Was die Privatfahrzeuge<br />
angeht, verstehe ich das ja noch, aber in Russland gehört<br />
60
doch jeder Laster dem Staat und ist für den Fall einer Mobilmachung<br />
für den Einsatz vorgemerkt. Laster benutzen doch die gleichen<br />
Batterien, oder?«<br />
»Ja, Bleibatterien. Ist die Fabrik vielleicht abgebrannt?» fragte<br />
Commander Morris. »Ich weiß, dass der Iwan gewöhnlich einer<br />
Riesenfabrik den Vorzug vor einem Haufen kleiner gibt.«<br />
»Nein, sie fährt drei Schichten.«<br />
McCafferty rückte seinen Stuhl zurecht.<br />
»Und was braucht alles Batterien?« war Morris' rhetorische<br />
Frage.<br />
»U-Boote«, verkündete McCafferty. »Panzer, Schützenpanzer,<br />
Befehlsfahrzeuge, Startwagen für Flugzeuge, alles mögliche Militär-Gerät.<br />
Bob, was du da sagst, bedeutet, dass der Iwan ganz<br />
plötzlich beschlossen hat, seinen Bereitschaftsgrad durch die Bank<br />
zu erhöhen. Fragt sich nur: Weißt du eigentlich, wovon du redest?«<br />
»Und ob, Danny. Die Geschichte von den vier Obersten habe ich<br />
selbst gesehen; sie kam über meinen Schreibtisch. Der Iwan weiß<br />
noch <strong>im</strong>mer nicht, wie empfindlich unsere Lauschsatelliten sind,<br />
und sendet nach wie vor <strong>im</strong> Klartext gesprochene und fernschriftliche<br />
Nachrichten, die wir auffangen - vergesst bitte gleich, dass ihr<br />
das gehört habt, klar? « Die anderen nickten. »Die Sache mit den<br />
Batterien bekam ich aus Zufall zu hören, aber ein Bekannter aus<br />
dem Pentagon konnte sie bestätigen. Hinzu kommt nun deine Story<br />
von den Übungen mit scharfer Munition, Dan. Wenn wir nun noch<br />
bestätigen können, dass die Dieselboote tatsächlich zum Batterieaustausch<br />
außer Dienst gestellt sind, ergibt sich langsam ein Bild.<br />
Wie wichtig sind eigentlich neue Batterien für ein Boot mit Dieselantrieb?«<br />
»Sehr wichtig«, erwiderte Chicagos Kommandant. »Es hängt<br />
zwar sehr von Qualitätskontrolle und dem Wartungsstandard ab,<br />
aber neue Batterien verdoppeln den Aktionsbereich.«<br />
»Verdammt noch mal, wisst ihr, wonach das klingt? Iwan ist<br />
<strong>im</strong>mer gefechtsklar, aber diesmal scheint er es ernst zu meinen«,<br />
bemerkte Morris. »In der Zeitung steht aber nur, er benähme sich<br />
wie ein wiedergeborener Engel und wolle abrüsten. Gentlemen,<br />
hier st<strong>im</strong>mt etwas nicht.«<br />
»Ich muss das irgendwie auf dem Dienstweg nach oben weiterleiten.<br />
Bei uns in Fort Meade könnte der Vorgang einfach liegenbleiben.«<br />
Toland dachte an seinen Abteilungsleiter.<br />
61
»Da kann ich helfen«, sagte McCafferty nach einer kurzen Pause.<br />
»Morgen früh habe ich einen Termin bei COMSUBLANT. Du<br />
kommst am besten mit, Bob.«<br />
Toland trug Vizeadmiral Richard Pipes, Befehlshaber der U-Boot-<br />
Flotte <strong>im</strong> Nordatlantik, zwanzig Minuten lang seine Daten vor.<br />
Pipes war der erste schwarze U-Boot-Fahrer, der sich durch Leistung<br />
drei Sterne verdient hatte, in einem Beruf, der traditionell<br />
Weißen vorbehalten gewesen war, und stand in dem Ruf, ein harter<br />
und anspruchsvoller Vorgesetzter zu sein. Der Admiral hörte<br />
schweigend zu und trank Kaffee aus einem mit drei Sternen verzierten<br />
Becher. Er hatte ärgerlich reagiert, als McCaffertys Meldung<br />
durch den Vortrag eines Reservisten ersetzt worden war, seine<br />
Haltung aber nach drei Minuten geändert. Nun vertieften sich die<br />
Falten um seinen Mund.<br />
»Junger Mann, Sie haben einige Sicherheitsvorschriften verletzt,<br />
um mir das zu erzählen.«<br />
»Ich weiß, Sir«, erwiderte Toland.<br />
»Dazu braucht man Mumm. Freut mich, dass ein junger Offizier<br />
mal Initiative beweist, anstatt nur an seine Karriere zu denken.«<br />
Pipes stand auf. »Was Sie mir da erzählt haben, gefällt mir nicht.<br />
Einerseits spielt der Iwan mit diesem ganzen diplomatischen Zirkus<br />
den Weihnachtsmann, andererseits versetzt er seine U-Boot-Flotte<br />
in Gefechtsbereitschaft. Vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht.<br />
Besprechen wir das doch einmal mit CINCLANT und seinem<br />
Nachrichtenchef.«<br />
Toland zog eine Gr<strong>im</strong>asse. Auf was hab ich mich da eingelassen?<br />
fragte er sich. »Sir, man hat mich nur <strong>im</strong> Rahmen einer Übung<br />
hierher versetzt...«<br />
»Wie auch <strong>im</strong>mer, auf diesen Aufklärungskram scheinen Sie sich<br />
zu verstehen, Commander. Halten Sie die Geschichte, die Sie mir<br />
gerade erzählt haben, für wahr?«<br />
Toland richtete sich auf. »Jawohl, Sir.«<br />
»Dann bekommen Sie die Chance, den Beweis zu erbringen.<br />
Haben Sie den Mumm, etwas zu riskieren, oder tun Sie Ihre Meinungen<br />
nur bei Freunden und Verwandten kund?« herrschte der<br />
Admiral.<br />
Toland wusste, dass Pipes als harter Brocken galt. Der Reservist<br />
stand auf. »Legen wir los, Admiral.«<br />
62
Pipes wählte eine dreistellige Nummer, seine Direktleitung zu<br />
CINCLANT. »Bill? Hier Dick. Ich hab hier einen Jungen <strong>im</strong> Büro,<br />
den Sie sich mal anhören sollten. Es geht um das, was wir letzten<br />
Donnerstag besprochen haben.« Eine kurze Pause. »Genau, finde<br />
ich auch... Ave, aye, Sir, bin schon unterwegs.« Pipes legte auf.<br />
»McCafferty, ich bin dankbar, dass Sie diesen Mann mitgebracht<br />
haben. Ihren Bericht gehen wir heute Nachmittag um 15 Uhr 30<br />
durch. Toland, Sie kommen mit.«<br />
Eine Stunde später wurde Lieutenant Commander Robert<br />
M. Toland beschieden, er sei auf Anweisung des Verteidigungsministers<br />
zum verlängerten aktiven Dienst best<strong>im</strong>mt worden. In Wirklichkeit<br />
kam der Befehl von CINCLANT, aber die Formulare konnten<br />
erst in einer Woche korrekt ausgefüllt werden.<br />
An diesem Tag lud der CINCLANT seine Gattungsbefehlshaber<br />
- Drei-Sterne-Admirale, die Flugzeuge, Schiffe, U-Boote und Versorgungsschiffe<br />
kommandierten - zum Mittagessen ins Gebäude I<br />
des Komplexes ein. Die Unterhaltung war gedämpft und verstummte<br />
ganz, als die Stewards den nächsten Gang servierten. Alle<br />
waren über fünfzig, erfahrene, ernsthafte Männer, die Pläne für<br />
einen Fall, von dem sie hofften, dass er nie eintreten würde, ausarbeiteten<br />
und ausführten. Diese Hoffnung bestand weiter, doch<br />
be<strong>im</strong> Kaffee wurde beschlossen, die Flottenübungen zu intensivieren<br />
und eine Reihe von unangemeldeten Inspektionen durchzuführen.<br />
CINCLANT ließ sich für den nächsten Morgen einen Termin<br />
be<strong>im</strong> Chef der Marineoperationen geben, und sein Nachrichtendienstchef<br />
bestieg eine Zivilmaschine nach Hawaii, um sich mit<br />
seinem für den Pazifik zuständigen Kollegen zu treffen.<br />
Toland wurde von seinem Posten abgelöst und zu »Intentionen«<br />
versetzt, dem nachrichtendienstlichen Beraterstab von CIN<br />
CLANT.<br />
63
Norfolk, Virginia<br />
6<br />
Die Beobachter<br />
»Intentionen« war ein kleines Büro <strong>im</strong> zweiten Stock, in dem<br />
normalerweise vier Offiziere arbeiteten. Es war also nicht einfach,<br />
Toland zusätzlich unterzubringen, insbesondere, da alle Gehe<strong>im</strong>dokumente<br />
abgedeckt werden mussten, während die Möbelpacker<br />
den Schreibtisch aufstellten. Als sie endlich fort waren, stellte Bob<br />
fest, dass er gerade genug Platz hatte, um sich auf seinen Drehsessel<br />
zu zwängen. Die Bürotür war mit einem elektronischen Kombinationsschloß<br />
gesichert, das über fünf in eine Metallplatte eingelassene<br />
Kippschalter bedient wurde. Durch die vergitterten Fenster des<br />
Raumes in der Nordwestecke des CINCLANT-Gebäudes sah man<br />
eine Landstraße und sonst kaum etwas. Die tristen Vorhänge blieben<br />
zugezogen, und die verschossene Wandfarbe erinnerte an eine<br />
Gelbfieberstation.<br />
Der ranghöchste Offizier war ein Colonel der Marineinfanterie,<br />
der den Einzug mit stummer Missbilligung verfolgt hatte, die Bob<br />
erst verstand, als der Mann sich erhob.<br />
»Weiß der Teufel, wie ich jetzt aufs Klo komme«, murrte der<br />
Colonel, der Chuck Löwe hieß, und manövrierte sein Gipsbein<br />
hinter dem Schreibtisch hervor. Sie gaben sich die Hände.<br />
»Was haben Sie mit dem Bein angestellt, Colonel?«<br />
»War auf der Gebirgsjägerschule in Kalifornien, lief in der Freizeit<br />
Ski und fiel auf die Nase. Die Ärzte meinen, es sei dumm, sich<br />
den Oberschenkelknochen so knapp überm Knie zu brechen«,<br />
erklärte Löwe mit einem ironischen Lächeln. »Da hab ich mich<br />
jahrelang abgerackert, um aus dem Nachrichtendienst rauszukommen,<br />
und ausgerechnet jetzt, wo ich mein eigenes Reg<strong>im</strong>ent bekommen<br />
habe, muss so etwas passieren. Willkommen an Bord, Toland.<br />
Besorgen Sie uns doch mal Kaffee.«<br />
Auf einem Aktenschrank stand eine Kanne. Die drei anderen<br />
Offiziere, erklärte Löwe, hielten Vortrag.<br />
64
»Ich habe Ihren Bericht an CINCLANT gesehen. Hochinteressant.<br />
Was hat der Iwan Ihrer Meinung nach vor?«<br />
»Sieht so aus, als erhöhe er rundum seinen Bereitschaftsgrad,<br />
Colonel.«<br />
»Hier können Sie ruhig Chuck zu mir sagen.«<br />
»Fein, ich heiße Bob.«<br />
»Sie beschäftigen sich bei der NSA mit Fernmeldeaufklärung,<br />
nicht wahr? Und sind Satellitenspezialist, wie ich höre.«<br />
Toland nickte. »Für russische und amerikanische Satelliten, aber<br />
vorwiegend für unsere. Hin und wieder sehe ich mir Fotos an,<br />
kümmere mich aber hauptsächlich um den Fernmeldeverkehr. Dabei<br />
fing ich übrigens die Geschichte mit den vier Obersten auf. Es<br />
wird auch mehr geübt als sonst um diese Jahreszeit. Iwans Panzer<br />
scheinen freier herumkurven zu können, und es stört ihn offenbar<br />
auch nicht, wenn ein Bataillon ein gepflügtes Feld platt walzt.«<br />
»Und Sie sollen auf alles achten, was sich ungewöhnlich ausn<strong>im</strong>mt,<br />
ganz gleich, wie lächerlich es auch scheinen mag, st<strong>im</strong>mt's?<br />
Dann sehen Sie sich mal diese Bilder an, die wir von DIA bekommen<br />
haben.« Löwe zog zwei Fotos <strong>im</strong> Format 20 X 25 aus einem braunen<br />
Umschlag und reichte sie Toland. Sie zeigten das gleiche Stück<br />
Land, aber zu verschiedenen Jahreszeiten und aus verschiedenen<br />
Winkeln aufgenommen. Toland schaute auf.<br />
»Eine Kolchose?«<br />
»Ja. Nummer 1196, rund zweihundert Kilometer nordwestlich<br />
von Moskau. Sehen Sie den Unterschied?«<br />
Toland schaute sich die Bilder noch einmal an. Auf einem sah er<br />
eingezäunte Gärten, auf dem anderen einen neuen Zaun, der das<br />
eingefriedete Gebiet fast verdoppelte.<br />
»Die Bilder hat mir ein ehemaliger Kollege, ein Colonel von der<br />
Army, geschickt, weil er dachte, ich könnte sie interessant finden.<br />
Ich bin nämlich auf einer Maisfarm in Iowa aufgewachsen.«<br />
»Iwan gibt also mehr Land für die private Bestellung frei. Seltsam,<br />
davon habe ich nichts gehört.«<br />
Löwe schüttelte den Kopf. »Eben, und das finde ich sonderbar.<br />
So etwas sollten sie doch bekannt geben. Für die Presse wäre das ein<br />
weiterer Hinweis auf die >Liberalisierung
Gewöhnlich benutzen wir unsere Aufklärungssatelliten ja nicht für<br />
so etwas, aber die Aufnahmen sind wohl an einem Tag entstanden,<br />
an dem die wichtigen Objekte unter einer Wolkendecke lagen."<br />
»Kommt ein bisschen spät, oder? Können die Bauern mit dem<br />
Land um diese Jahreszeit noch etwas anfangen?<br />
»Ich bekam die Bilder vor zwei Tagen, aber sie wurden wohl<br />
schon vor längerem aufgenommen - zur Saatzeit. Gehen wir davon<br />
aus, dass wir es hier mit einem landesweiten Programm zu tun<br />
haben. Bitte evaluieren Sie das, Bob.« Die Augen des Colonel<br />
wurden schmal.<br />
»Zweifellos ein geschickter Schachzug, der einen Teil ihrer Versorgungsprobleme<br />
löst, besonders, was Gemüse betrifft.«<br />
»Mag sein. Berücksichtigen Sie, dass Gemüseanbau arbeitsintensiv<br />
ist und nur geringen Maschineneinsatz erfordert. Was halten Sie<br />
vom demographischen Aspekt des Programms?«<br />
Toland blinzelte. In der US Navy neigte man dazu, die Marines<br />
für dumm zu halten, weil sie sich ihren Lebensunterhalt mit Sturmangriffen<br />
gegen MG-Feuer verdienten. »Die meisten Kolchosebauern<br />
sind relativ alt, <strong>im</strong> Durchschnitt Ende vierzig, Anfang fünfzig.<br />
Es sind diese Leute, die das Privatland bestellen, während die<br />
Jüngeren Traktoren und Mähdrescher fahren. Wollen Sie damit<br />
sagen, dass die Russen auf diese Weise ihre Lebensmittelerzeugung<br />
steigern - ohne die jungen Männer <strong>im</strong> Wehrdienstalter?«<br />
»So könnte man es sehen«, sagte Löwe. »Politisch gesehen ist das<br />
Dynamit. Der private Sektor, der einzige produktive der ganzen<br />
sowjetischen Landwirtschaft, wurde bislang aus ideologischen<br />
Gründen klein gehalten, weil man keine neue Generation von Kulaken<br />
heranziehen wollte. Nun erweitert man ihn auf einmal, ohne<br />
die Tatsache bekannt zugeben. Und gleichzeitig erhöht man den<br />
Bereitschaftsgrad der Streitkräfte. Toland, ich glaube nicht an Zufälle,<br />
auch wenn ich nur ein dummer Feldoffizier bin, dessen Aufgabe<br />
es ist, Strande zu stürmen.«<br />
Lowes Uniformjacke hing in der Ecke. Toland trank einen<br />
Schluck Kaffee und sah sich die Ordensspangen an. Drei Auszeichnungen<br />
in Vietnam, dazu das Navy Cross. Löwe, ein zierlich gebauter<br />
Mann, wirkte in dem olivgrünen Pullover, wie ihn die Offiziere<br />
der Marineinfanterie trugen, entspannt und fast gelangweilt, aber<br />
seine braunen Augen drückten etwas ganz anderes aus. Colonel<br />
Löwe war Tolands Gedankengängen gefolgt.<br />
66
»Chuck, wenn sie sich wirklich gefechtsbereit machen, ist es mit<br />
einem Exempel an vier Obersten nicht getan. Man wird auch am<br />
unteren Ende der Rangleiter etwas unternehmen müssen.«<br />
»Jawohl, und darauf müssen wir nun achten. Ich habe über DIA<br />
veranlasst, dass uns ab sofort nach Erscheinen des Roten Stern über<br />
Satellit ein Fotofaks<strong>im</strong>ile zugeht. Wenn sich etwas tut, taucht es<br />
best<strong>im</strong>mt in Krasnaja Swesda auf.«<br />
Toland trank seinen Kaffee aus. Die Sowjets hatten eine ganze<br />
Klasse von Raketen-U-Booten außer Dienst gestellt und führten in<br />
Wien Abrüstungsverhandlungen. Sie kauften in Amerika und Kanada<br />
Weizen zu erstaunlich günstigen Bedingungen und ließen<br />
sogar zwanzig Prozent des Getreides von amerikanischen Frachtern<br />
transportieren. Wie passte das zu den Signalen, die er gesehen hatte?<br />
Wenn man es logisch betrachtete, passte nichts, es sei denn, es läge<br />
ein spezifischer Fall vor - und der war ausgeschlossen. Oder?<br />
Schpola, Ukraine<br />
Das Donnern der 125-mm-Panzerkanone kann einem die Haare<br />
vom Kopf fetzen, dachte Alexejew, aber nach fünf Stunden dieser<br />
Übung drang es nur noch als dumpfes Dröhnen durch seine Ohrschützer.<br />
Am Morgen war der Boden noch Grasbewachsen und mit<br />
jungen Bäumen bestanden gewesen; inzwischen hatte er sich in eine<br />
einförmige Schlammwüste verwandelt, nur markiert von den Kettenspuren<br />
der Kampfpanzer T-8o und der BMP-Schützenpanzer.<br />
Dre<strong>im</strong>al hatte das Reg<strong>im</strong>ent die Übung durchgeführt, einen Frontalangriff<br />
mit Panzern und aufgesessener Infanterie gegen einen<br />
gleich starken Feind s<strong>im</strong>uliert. Neunzig Geschütze auf Selbstfahrlafetten<br />
und Raketenwerfer hatten Feuerunterstützung geboten.<br />
Dre<strong>im</strong>al.<br />
Alexejew drehte sich um, nahm Helm und Ohrenschützer ab und<br />
schaute den Reg<strong>im</strong>entskommandeur an. »Soll das ein Gardereg<strong>im</strong>ent<br />
sein, Genosse Oberst? Eine Eliteeinheit der Roten Armee?<br />
Diese Milchbärte könnten ja noch nicht mal einen türkischen Puff<br />
bewachen, geschweige denn was Vernünftiges drin anstellen. Und<br />
Sie kommandieren diesen rollenden Zirkus jetzt seit vier Jahren.<br />
Was haben Sie in dieser Zeit eigentlich getrieben, Genosse Oberst?<br />
Sie haben gelernt, Ihre Einheit total zu verheizen, dre<strong>im</strong>al! Ihre<br />
67
Artilleriebeobachter sind nicht richtig postiert. Ihre Kampf- und<br />
Schützenpanzer gehen <strong>im</strong>mer noch nicht koordiniert vor, und Ihre<br />
Panzerschützen bringen es nicht fertig, ein drei Meter hohes Ziel zu<br />
treffen! Wenn ein Nato-Verband diese Anhöhe gehalten hätte,<br />
wären Sie und Ihre Einheit jetzt tot!« Alexejew musterte das Gesicht<br />
des Obersten. Bisher rot vor Angst, war es jetzt weiß vor Zorn<br />
geworden. Gut. »Der Verlust dieser Leute ist für den Staat kein<br />
schwerer Schlag, aber Sie vergeuden wertvolles Gerät, wertvollen<br />
Treibstoff, wertvolle Munition und vor allem meine wertvolle Zeit!<br />
Genosse Oberst, ich verlasse Sie jetzt. Wenn ich zurückkomme,<br />
führen wir diese Übung noch einmal durch. Wenn Ihre Männer<br />
dann nichts Ordentliches leisten, können Sie für den Rest Ihres<br />
Lebens Bäume zählen!«<br />
Alexejew stampfte weg und erwiderte den Gruß des Obersten<br />
nicht. Sein Adjutant, ein Oberst der Panzertruppe, hielt die Wagentür<br />
auf und stieg hinter seinem Vorgesetzten ein.<br />
»Der Verein macht sich ganz ordentlich, nicht wahr?« fragte<br />
Alexejew.<br />
»Er ist noch nicht gut genug, hat aber Fortschritte gemacht«,<br />
gestand der Adjutant zu. »Es sind nur noch sechs Wochen Zeit,<br />
dann muss die Einheit nach Westen.«<br />
Das war eine unglückliche Bemerkung. Alexejew hatte diese<br />
Division zwei Wochen lang auf Gefechtsbereitschaft getr<strong>im</strong>mt, nur<br />
um vorgestern erfahren zu müssen, dass sie dem OB West für die<br />
deutsche Front zugeteilt worden war und nicht in seinen bislang<br />
unvollständigen Plan für den Vorstoß gegen Iran und Irak einbezogen<br />
werden konnte. Man hatte ihm bereits seine vier Elite-Panzerdivisionen<br />
abgenommen, und jede Änderung in der Schlachtordnung<br />
Südwest erzwang eine Umstrukturierung seines Plans für die Eroberung<br />
des Persischen Golfs.<br />
»In diesen sechs Wochen werden die Männer allerhand zu tun<br />
haben«, merkte der Oberst an. »Was halten Sie vom Kommandeur?«<br />
Alexejew zuckte die Achseln. »Er ist mit fünfundvierzig zu alt<br />
und schon zu lange auf seinem Posten, ansonsten aber ein guter<br />
Mann. Zu gut zum Bäume zählen.« Alexejew lachte. Der Ausdruck<br />
stammte aus der Zarenzeit und bedeutete, dass nach Sibirien Verbannte<br />
nichts zu tun hatten, als Bäume zu zählen. Das hatte sich<br />
unter Lenin geändert: Die Menschen <strong>im</strong> Gulag konnten über Man<br />
68
gel an Beschäftigung nicht klagen. »Bei den letzten beiden Versuchen<br />
hätten sie Erfolg haben können, glaube ich. Dieses Reg<strong>im</strong>ent<br />
wird bereit sein, zusammen mit dem Rest der Division.«<br />
USS Pharris<br />
»Sonar an Brücke: Kontakt Richtung null neun vier!« schallte eine<br />
St<strong>im</strong>me aus dem Lautsprecher am Schott. Commander Morris<br />
schwang seinen erhöht montierten Drehsessel herum, um die Reaktion<br />
des wachhabenden Offiziers zu beobachten.<br />
Der Wachhabende schaute durchs Fernglas in die angegebene<br />
Richtung. »Nichts zu sehen.«<br />
Morris erhob sich. »Zustand 1-AS einleiten.«<br />
»Ave, aye. Gefechtsstationen«, bestätigte der Wachhabende, ein<br />
Bootsmannsmaat trat an die Sprechanlage und blies auf seiner<br />
Bootsmannspfeife drei Töne ins Mikrophon. »Alarm, Alarm, alle<br />
Mann auf Gefechtsstation zur U-Boot-Jagd.« Als nächstes ertönte<br />
das Alarmsignal, und eine ruhige Vormittagswache fand ein Ende.<br />
Morris ging nach achtern und rutschte eine Leiter hinunter in die<br />
Gefechtszentrale CIC. Sein Erster Offizier übernahm nun die<br />
Brücke und gab dem Kommandanten Gelegenheit, vom taktischen<br />
Nervenzentrum des Schiffes aus die Waffen und Sensoren zu überwachen.<br />
Überall auf der Fregatte rannten Männer auf ihre Stationen.<br />
Wasserdichte Türen und Luken wurden geschlossen und<br />
verschraubt. Löschtrupps legten ihre Ausrüstung an. Das Ganze<br />
dauerte nur vier Minuten. Wird <strong>im</strong>mer besser, dachte Morris, als<br />
der Sprecher <strong>im</strong> CIC die Meldungen »bemannt und klar« an ihn<br />
weitergab. Seit Pharris vor vier Tagen aus Norfolk ausgelaufen<br />
war, hatte es wie befohlen durchschnittlich dre<strong>im</strong>al am Tag Alarm<br />
gegeben. Morris vermutete, dass sein Freund Toland ein Wespennest<br />
angestochen hatte. Das Übungsprogramm war praktisch verdoppelt<br />
worden, die entsprechende Anweisung war streng gehe<strong>im</strong>.<br />
Und erstaunlicher noch, das schärfere Übungstempo musste die<br />
Wartungspläne in Mitleidenschaft ziehen, eine Tatsache, die man<br />
nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.<br />
»Alle Stationen bemannt und bereit!« verkündete der Sprecher<br />
schließlich. »Auf dem ganzen Schiff herrscht Zustand Zebra.«<br />
»Gut«, bestätigte der taktische Gefechtsoffizier TAO.<br />
69
«Bitte Meldung«, befahl Morris.<br />
»Sir, Navigations- und Luftabwehrradar sind in Bereitschaft,<br />
Sonar <strong>im</strong> Passivmodus«, erwiderte der TAO. »Scheint sich um ein<br />
schnorchelndes U-Boot zu handeln. Kontakt kam ohne Warnung<br />
auf die Schirme. Zielbewegungsanalyse in Ausarbeitung. Der Kontakt<br />
hat rasch die Fahrtrichtung geändert und scheint sich von uns<br />
zu entfernen. Entfernung zehn Meilen.«<br />
»Ist die Kontaktmeldung schon nach Norfolk abgegangen?«<br />
»Wir warten auf Ihre Anweisung, Sir.«<br />
»Gut. Mal sehen, ob wir den Burschen festnageln können.«<br />
Binnen fünfzehn Minuten warf der Hubschrauber der Pharris<br />
Sonarbojen über dem U-Boot ab, und die Fregatte peilte es mit<br />
ihrem starken aktiven Sonar an. Diese Maßnahmen würden erst<br />
eingestellt werden, wenn sich das sowjetische U-Boot geschlagen<br />
gab und auf Schnorcheltiefe zurückkehrte - oder der Fregatte entkam,<br />
was Morris einen dicken Minuspunkt eintragen würde.<br />
Zweck der Übung war, dem Kommandanten des U-Bootes das<br />
Vertrauen in sein Boot, seine Mannschaft und sich selbst zu rauben.<br />
USS Chicago<br />
Sie liefen tausend Meilen vor der Küste mit fünfundzwanzig Knoten<br />
auf Nordostkurs. Die Mannschaft war unzufrieden, weil eine dreiwöchige<br />
Fahrtunterbrechung in Norfolk schon nach acht Tagen ein<br />
Ende gefunden hatte, nach einer langen Fahrt eine bittere Pille.<br />
Urlaube und Reisen mussten abgebrochen werden, und kleinere<br />
Wartungsarbeiten, die eigentlich Techniker vom Land hätten erledigen<br />
sollen, wurden nun rund um die Uhr von der Mannschaft<br />
ausgeführt. Zwei Stunden nach dem Tauchen hatte McCafferty der<br />
Mannschaft seinen versiegelten Einsatzbefehl verlesen: Zwei Wochen<br />
lang intensive Zielauffassungs- und Torpedoübungen, dann<br />
weiter in die Barentssee zur Aufklärung. Das sei hochwichtig, sagte<br />
er den Männern. Aber das hörten die nicht zum ersten Mal.<br />
70
Norfolk, Virginia<br />
7<br />
Erste Observationen<br />
Toland hoffte, dass seine Uniform richtig saß. Es war halb sieben an<br />
einem Mittwochmorgen, und er hatte seit vier seinen Vortrag geprobt<br />
und den CINCLANT verflucht, der vermutlich nur deshalb<br />
so früh aufstand, um am Nachmittag eine Runde Golf einschieben<br />
zu können.<br />
Den Lageraum der Flaggoffiziere schienen Welten vom Rest des<br />
geschmacklosen Baus zu trennen, aber das konnte kaum überraschen:<br />
Admiräle wissen ihren Komfort zu schätzen. Die Offiziere<br />
nahmen je nach Rang auf Ledersesseln Platz. Vor ihnen lagen<br />
Notizblocks. Stewards brachten mehrere Kannen Kaffee auf Silbertabletts<br />
herein und zogen sich dann zurück. Der CINCLANT<br />
nickte Toland zu.<br />
»Guten Morgen, Gentlemen. Vor ungefähr vier Monaten wurden<br />
vier Oberste der sowjetischen Armee, allesamt Reg<strong>im</strong>entskommandeure<br />
in mechanisierten Divisionen, wegen Verfälschung von<br />
Bereitschaftsmeldungen vors Kriegsgericht gestellt und hingerichtet.<br />
Anfang dieser Woche meldete der Rote Stern, das Organ der<br />
sowjetischen Streitkräfte, die Exekution einer Reihe von Soldaten<br />
der Armee. Alle bis auf zwei waren in den letzten sechs Monaten<br />
ihrer Dienstzeit, allen wurde Missachtung der Befehle ihrer Feldwebel<br />
vorgeworfen. Warum ist das von Bedeutung?«<br />
Toland legte eine kurze Pause ein.<br />
»Die russische Armee ist für ihre harte Disziplin bekannt, doch<br />
auch hier, wie sooft in der Sowjetunion, ist nicht alles so, wie es sich<br />
ausn<strong>im</strong>mt. Anders als in den meisten Armeen ist dort ein Feldwebel<br />
kein Berufssoldat, sondern ein Wehrpflichtiger, der schon zu Beginn<br />
seiner Dienstzeit wegen Intelligenz, politischer Zuverlässigkeit<br />
oder vermuteter Führerqualitäten für eine Sonderausbildung ausgewählt<br />
wurde. Er absolviert einen harten, sechs Monate langen<br />
Kurs, wird dann auf der Stelle zum Feldwebel ernannt und zu seiner<br />
71
Einheit zurückgeschickt. Seine praktische Erfahrung ist so gering<br />
wie die seiner Untergebenen, und seine besseren Kenntnisse auf den<br />
Gebieten Taktik und Waffeneinsatz spiegeln sich lediglich <strong>im</strong> Sold<br />
wider. In westlichen Armeen ist der Ausbildungsunterschied zwischen<br />
Feldwebeln und neuen Rekruten sehr viel größer. In Russland<br />
werden Soldaten zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Jahr eingezogen, <strong>im</strong> Januar und <strong>im</strong><br />
Juni. Angesichts der üblichen zweijährigen Dienstzeit haben wir es<br />
also in jeder Einheit mit vier 'Klassen' zu tun: Die niedrigste ist <strong>im</strong><br />
ersten Halbjahr, die höchste <strong>im</strong> vierten. Die jungen Soldaten der<br />
letzten Klasse verlangen und bekommen auch meist das Beste <br />
Verpflegung, Uniform, Dienst. Und sie setzen sich über die Autorität<br />
der Unteroffiziere der Kompanie hinweg. Befehle kommen direkt<br />
von den Offizieren, nicht von den Zugführern, und werden<br />
gewöhnlich unter weitgehender Missachtung dessen, was bei uns als<br />
militärische Disziplin auf Unteroffiziersebene gilt, ausgeführt. Wie<br />
Sie sich vorstellen können, ist dies eine gewaltige Belastung für die<br />
Unteroffiziere und zwingt die Offiziere, mit unerträglichen Zuständen<br />
zu leben.«<br />
»Bei der sowjetischen Marine ist das aber anders«, merkte der<br />
Befehlshaber der Kampfverbände Atlantik an.<br />
»Gewiss, Sir. Wie wir wissen, dienen die Seeleute drei, nicht zwei<br />
Jahre, und ihre Lage unterscheidet sich von der ihrer Kameraden <strong>im</strong><br />
sowjetischen Heer. Doch auch dort haben diese Verhältnisse jetzt<br />
ein Ende: Es wird nämlich energisch durchgegriffen.«<br />
»Und wie viele Soldaten wurden erschossen?« fragte der General<br />
der 2. Marineinfanteriedivision.<br />
»Elf, Sir, mit Namen und Einheit aufgeführt. Sie finden die<br />
Aufstellung in Ihren Unterlagen. Die meisten waren in der >vierten<br />
Klasse
Wind weht. Die Frage ist nur: warum? Und es hat den Anschein, als<br />
sei dies kein isolierter Fall.«<br />
Toland schaltete einen Arbeitsprojektor ein und ließ eine graphische<br />
Darstellung erscheinen. »Bei der sowjetischen Marine ist eine<br />
Zunahme der Übungen mit scharfen Schiff-Schiff-Raketen um siebzig<br />
Prozent zu verzeichnen. Der Einsatz von Diesel-U-Booten ist<br />
reduziert, und laut Gehe<strong>im</strong>dienstmeldungen liegt eine ungewöhnlich<br />
große Zahl von Booten wegen routine-, aber außerplanmäßiger<br />
Wartungsarbeiten in den Werften. Wir haben Grund zu der Annahme,<br />
dass dies <strong>im</strong> Zusammenhang mit einer landesweiten Batterieknappheit<br />
steht. Offenbar werden in allen sowjetischen Unterseebooten<br />
die Batterien ausgetauscht, und aus diesem Grund wurde<br />
die Batterieproduktion von zivil auf militärisch umgestellt.<br />
Es ist zudem erhöhte Aktivität bei sowjetischen Überwasserverbänden,<br />
Marinefliegern und Langstreckenbombern festgestellt<br />
worden, zusammen mit intensivierten Waffenübungen. Zudem<br />
scheinen sowjetische Überwasser-Kampfschiffe länger auf See zu<br />
bleiben und realistische Gefechtsübungen durchzuführen. Dies hat<br />
man zwar schon zuvor getan, aber niemals unangekündigt.<br />
Zusammen mit dem, was wir bei Armee und Luftwaffe beobachten<br />
konnten, hat es den Anschein, als würde die Kampfbereitschaft<br />
durch die Bank erhöht. Zum einen schlägt die Sowjetunion eine<br />
Reduzierung der strategischen Kernwaffen vor, zum anderen<br />
n<strong>im</strong>mt die Gefechtsbereitschaft ihrer konventionellen Kräfte rapide<br />
zu. Wir halten diese Kombination von Faktoren für potentiell<br />
gefährlich.«<br />
»Kommt mir ziemlich nebulös vor«, meinte ein Admiral, ohne<br />
die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Wie sollen wir jemanden<br />
davon überzeugen, dass an der Sache etwas dran ist?«<br />
»Gute Frage, Sir. Isoliert betrachtet ist jeder dieser Indikatoren<br />
harmlos und logisch, doch was uns Sorgen macht, ist die Tatsache,<br />
dass sich alles zur selben Zeit abspielt. Insbesondere weckt die Sache<br />
mit den Batterien unser Interesse. Wir erleben den Beginn einer<br />
Entwicklung, die zu einer schweren Störung der sowjetischen Wirtschaft<br />
führen kann. Die Batteriefabrik arbeitet zwar in drei Schichten,<br />
auf privatem Sektor sind Batterien aber trotzdem knapp. Das<br />
Gesamtbild gefällt mir nicht.«<br />
»Mir auch nicht. Was unternehmen Sie sonst?« fragte der CIN<br />
CLANT.<br />
73
»Wir haben den OB der alliierten Streitkräfte in Europa SA<br />
CEUR gebeten, uns über etwaige ungewöhnliche Aktivitäten der<br />
sowjetischen Armeegruppe in Deutschland zu informieren. Die<br />
Norweger überwachen die Barentssee intensiver. Wir bekommen<br />
mehr Zugang zu Satellitenfotos von Häfen und Marinestützpunkten.<br />
DIA ist über unsere Daten informiert und stellt selbst Ermittlungen<br />
an. Es tauchen langsam weitere Einzelheiten auf.«<br />
»Wann beginnt das Frühlingsmanöver des Warschauer Pakts?«<br />
fragte CINCLANT.<br />
»Die diesjährige Übung, die übrigens »Fortschritt« heißt, beginnt<br />
in drei Wochen. Es besteht die Aussicht, dass die Sowjets <strong>im</strong> Zuge<br />
der Entspannung Nato-Beobachter und die westliche Presse einladen<br />
werden.«<br />
»Auf einmal tun die Russen Dinge, um die wir sie schon <strong>im</strong>mer<br />
gebeten haben. Das finde ich beängstigend«, meinte der OB der<br />
Überwasserflotte Atlantik.<br />
»Versuchen Sie mal, das den Medien zu verkaufen«, schlug der<br />
Befehlshaber der Marineflieger Atlantik vor.<br />
»Vorschläge?« fragte der CINCLANT.<br />
»Unser Übungsprogramm ist bereits ziemlich intensiv, aber es<br />
könnte nicht schaden, noch einen Zahn zuzulegen«, antwortete der<br />
für Operationen zuständige Offizier.<br />
»Toland, Sie haben einen hässlichen Verdacht geschöpft«, sagte<br />
der CINCLANT. »Fein, dafür werden Sie bezahlt. Guter Vortrag.«<br />
Bob verstand den Wink und verabschiedete sich. Die Admiräle<br />
blieben zurück, um sich weiter über die Lage zu beraten.<br />
»Nun, wie ist's gelaufen?« fragte Chuck Lowe, als Toland zurück<br />
in sein Büro kam.<br />
Toland zog die Jacke aus und tat so, als wollte er zusammensakken.<br />
»Nicht übel. Jedenfalls hat mir keiner den Kopf abgerissen.«<br />
»Ich habe vorhin nichts gesagt, um Ihnen keine Sorgen zu machen,<br />
aber der CINCLANT isst zum Frühstück am liebsten gebratenen<br />
Commander mit gehacktem Lieutenant.«<br />
»Kein Wunder. Schließlich ist er Admiral. Das war nicht mein<br />
erster Vortrag, Chuck.« Toland wusste, dass die Marines alle Seeleute<br />
für Schlappschwänze hielten. Lowe brauchte in diesem Glauben<br />
nicht auch noch bestärkt zu werden.<br />
»Irgendwelche Entscheidungen?«<br />
74
»Der CINCLANT sagte etwas von einem intensivierten Übungsprogramm<br />
und schickte mich dann hinaus.«<br />
»Gut. Später bekommen wir einen Schwung Satellitenfotos herein.<br />
CIA in Langley und DIA in Arlington stellen Fragen. Noch<br />
nichts Definitives, aber es hat den Anschein, als wären sie auf ein<br />
paar relevante Daten gestoßen. Wenn sich herausstellt, dass Sie<br />
recht haben - na ja, Sie wissen ja, wie das funktioniert.«<br />
»Sicher. Die Lorbeeren wird jemand in Washington ernten, aber<br />
das ist mir scheißegal, Chuck. Hoffentlich habe ich mich geirrt! Ich<br />
will nichts wie he<strong>im</strong> und in meinen Garten.«<br />
»Na, ich habe wenigstens eine gute Nachricht für Sie. Man hat<br />
unseren Fernseher an einen Satellitenempfänger angeschlossen, damit<br />
wir uns die russischen Abendnachrichten ansehen können.<br />
Dabei erfahren wir zwar keine harten Fakten, bekommen aber<br />
Aufschluss über die St<strong>im</strong>mung. Ich habe vorhin einmal den Empfang<br />
geprüft und festgestellt, dass der Iwan ein Eisenstein-Festival<br />
laufen hat. Heute Abend gibt's Panzerkreuzer Potemkin, und die<br />
Serie endet am 30. Mai mit Alexander Newski.«<br />
»So? Newski hab ich auf Video.«<br />
»Die Russen haben die Kopie bei EMI in London <strong>im</strong> Digitalverfahren<br />
restaurieren und Prokofjews Filmmusik <strong>im</strong> Dolby-System<br />
neu aufnehmen lassen.«<br />
»Fein, das schneiden wir mit«, meinte Toland.<br />
Lowe reichte ihm eine zwanzig Zent<strong>im</strong>eter dicke Akte. Zeit,<br />
wieder an die Arbeit zu gehen.<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Es sieht günstiger aus, Genosse«, meldete Alexejew. »Die Disziplin<br />
<strong>im</strong> Offizierkorps hat sich unglaublich gebessert. Die Übung des<br />
261. Gardereg<strong>im</strong>ents verlief heute früh recht ordentlich.«<br />
»Und das 173. Gardereg<strong>im</strong>ent?« fragte der OB Südwest.<br />
»Muss sich noch anstrengen, sollte aber rechtzeitig bereit sein«,<br />
sagte Alexejew zuversichtlich. »Endlich benehmen sich die Offiziere<br />
wie Offiziere. Nun müssen wir die Gemeinen dazu bringen,<br />
sich wie Soldaten zu verhalten. Wenn »Fortschritt« beginnt, werden<br />
wir sehen, wie es klappt. Unsere Offiziere müssen von der Lehrbuch-<br />
Choreographie abkommen und reale Gefechts-Szenen durch<br />
75
spielen. >Fortschritt< gibt uns Gelegenheit, solche Führer zu identifizieren,<br />
die sich realen Gefechtsbedingungen nicht anpassen können,<br />
und sie durch jüngere, fähigere Männer zu ersetzen.« Er nahm<br />
vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Platz. Alexejew rechnete<br />
sich aus, dass er mit seinem Schlafpensum einen Monat <strong>im</strong> Rückstand<br />
war.<br />
»Sie sehen erschöpft aus, Pascha«, bemerkte der OB Südwest.<br />
»Kein Problem.« Alexejew lachte in sich hinein. »Aber noch ein<br />
Trip mit dem Hubschrauber, und mir wachsen Flügel.«<br />
»Pascha, Sie gehen jetzt he<strong>im</strong> und kommen erst in vierundzwanzig<br />
Stunden wieder.«<br />
»Ich . . .«<br />
»Ein Pferd wäre schon längst zusammengebrochen«, unterbrach<br />
der General. »Ich befehle Ihnen hiermit vierundzwanzig Stunden<br />
Ruhe. Morgen um sechzehn Uhr gehen wir unseren Plan für den<br />
Persischen Golf durch.«<br />
Alexejew stand auf. Sein Chef war ein grantiger alter Bär, der<br />
keine Widerrede duldete. »Jawohl. Die Akten sollen beweisen, dass<br />
ich alle Befehle meines Vorgesetzten befolge.« Beide lachten. Beide<br />
hatten die Spannungsentladung nötig.<br />
Alexejew verließ das Büro und ging hinunter zu seinem Dienstwagen.<br />
Als sie kurz darauf vor seinem Wohnblock anhielten, musste<br />
der Fahrer seinen General wecken.<br />
USS Chicago<br />
»Anpirschen!« befahl McCafferty.<br />
Vor zwei Stunden hatte Chicagos Sonar über eine Distanz von<br />
vierundvierzig Meilen hinweg ein Überwasserschiff geortet, das sie<br />
nun <strong>im</strong>mer noch verfolgten. Auf Anweisung des Kommandanten<br />
hatte Sonar dem Feuerleittrupp nicht verraten, worum es sich bei<br />
dem Objekt handelte. Im Augenblick galt jeder Oberflächenkontakt<br />
als feindliches Kriegsschiff.<br />
»Entfernung dreitausendfünfhundert Meter«, meldete der Erste<br />
Offizier. »Richtung eins-vier-zwo, Geschwindigkeit achtzehn Knoten,<br />
Kurs zwei-sechs-eins.«<br />
»Periskop ausfahren!« Das Angriffs-Sehrohr glitt auf der Steuerbordseite<br />
des Sockels aus seiner Versenkung. Ein Steuermannsmaat<br />
76
trat hinter das Instrument, klappte die Handgriffe herunter und<br />
richtete es aus. Der Kapitän nahm den Bug des Ziels ins Fadenkreuz.<br />
»Ziel - markieren!«<br />
Der Steuermannsmaat drückte den Knopf an der »Gurke« und<br />
übertrug so die Richtung an den Feuerleitcomputer MK-117.<br />
»Zwanzig Grad Steuerbord voraus.«<br />
Der Feuerleittechniker gab die Daten in den Computer ein. Die<br />
Mikrochips berechneten augenblicklich Entfernungen und Winkel.<br />
»Gleichung eingestellt. Rohre drei und vier klarmachen.«<br />
»Gut.« McCafferty trat vom Periskop zurück und warf dem<br />
Ersten einen Blick zu. »Wollen Sie mal sehen, was wir versenkt<br />
haben?«<br />
»Donnerwetter!« Der Erste Offizier lachte.<br />
McCafferty griff zum Mikrophon der Bordsprechanlage. »Hier<br />
spricht der Kommandant. Wir haben gerade eine Verfolgungsübung<br />
abgeschlossen und, falls das jemanden interessiert, die Universe<br />
Ireland versenkt, einen 34 000 BRT großen Supertanker. Das<br />
war's.« Er steckte das Mikrophon zurück in seinen Halter.<br />
»Kritik, 1A?«<br />
»Das war zu einfach, Sir«, meinte der Erste Offizier. »Fahrt und<br />
Kurs des Objekts blieben konstant. Wir hätten die Zielbewegungsanalyse<br />
drei oder vier Minuten früher haben können, wenn wir<br />
nicht auf einen Zickzackkurs fixiert gewesen wären. Aber insgesamt<br />
lief es ganz ordentlich, finde ich.«<br />
McCafferty nickte zust<strong>im</strong>mend. Vorsicht war geboten, denn ein<br />
schnelles Objekt wie ein Zerstörer mochte durchaus direkt auf sie<br />
zulaufen. Langsamere Schiffe würden unter Kriegsbedingungen<br />
unablässig den Kurs ändern. »Wir schaffen es schon noch.« Der<br />
Kommandant schaute hinüber zum Feuerleittrupp. »Gut gemacht,<br />
Leute. Weiter so.« Er nahm sich vor, be<strong>im</strong> nächsten Mal Sonar den<br />
Kontakt erst dann melden zu lassen, wenn sie ganz dicht herangekommen<br />
waren. Dann würde sich erweisen, wie rasch seine Männer<br />
einen Blitzangriff hinbrachten. Bis dahin sollten vom Computer<br />
s<strong>im</strong>ulierte Gefechte geübt werden.<br />
77
Norfolk, Virginia<br />
»Eindeutig Batterien.« Lowe reichte Toland die Satellitenfotos, auf<br />
denen Lastwagen sichtbar waren. Die Ladefläche der meisten waren<br />
zwar mit Planen abgedeckt, aber drei Pritschen waren dem<br />
Blick des hochfliegenden Spähsatelliten ausgesetzt gewesen. Zu<br />
erkennen waren badewannenförmige Großbatterien, die von Matrosen<br />
über eine Pier geschleppt wurden.<br />
»Wie alt sind diese Aufnahmen?« fragte Toland.<br />
»Achtzehn Stunden.«<br />
»Die wären mir heute früh zupass gekommen«, murrte der jüngere<br />
Mann. »Sieht so aus, als lägen da drei Tango. Die Laster sind<br />
Zehntonner, insgesamt neun Stück. Ich habe mich erkundigt: die<br />
Batterien wiegen leer je zweihundertachtzehn Kilo -«<br />
»Aua! Wie viele braucht ein U-Boot?«<br />
»Eine ganze Menge!« Toland grinste. »Die genaue Anzahl kennen<br />
wir nicht. Ich stieß auf vier verschiedene Schätzungen, die um<br />
vierunddreißig Prozent voneinander abweichen, aber die Zahl der<br />
Batterien ist wohl von Boot zu Boot variabel. Je länger ein Typ in<br />
Produktion ist, desto größer die Versuchung, Modifikationen vorzunehmen.<br />
Jedenfalls ist das bei uns so.« Toland schaute auf. »Wir<br />
brauchen mehr Bilder.«<br />
»Dafür ist bereits gesorgt. Von nun an stehen wir auf dem<br />
Verteiler für alle Fotos von Marineeinrichtungen. Was halten Sie<br />
von den Aktivitäten der Überwasserschiffe?«<br />
Toland zuckte die Achseln. Die Lichtbilder zeigten ein Dutzend<br />
Kriegsschiffe, vom Kreuzer bis zur Korvette. Auf allen Decks stapelten<br />
sich Kabelrollen und Kisten; es waren viele Männer zu sehen.<br />
»Dies hier sagt nicht viel aus. Es fehlen Kräne, also wurde nichts<br />
Schweres an Bord genommen, aber auch Kräne sind beweglich. Das<br />
ist das Problem bei Schiffen: Alles, was uns interessiert, ist abgedeckt.<br />
Fest steht nur, dass die Schiffe <strong>im</strong> Hafen liegen. Alles andere<br />
ist reine Spekulation. Selbst bei den U-Booten gehen wir nur von der<br />
Annahme aus, dass sie neue Batterien an Bord nehmen.«<br />
»Ich bitte Sie, Bob!« schnaubte Lowe.<br />
»Denken Sie doch einmal nach, Chuck«, erwiderte Toland. »Die<br />
Russen wissen genau, wozu unsere Satelliten da sind. Sie kennen<br />
ihre Umlaufbahnen und können genau sagen, wo sie sich zu einem<br />
gegebenen Zeitpunkt befinden. Fiele es ihnen also schwer, uns<br />
78
etwas vorzumachen ? Wir verlassen uns zu sehr auf diese Dinger. Sie<br />
sind nützlich, aber nur in Grenzen. Wäre schön, wenn wir jemanden<br />
vor Ort hätten.«<br />
Poljarnij, UdSSR<br />
»Ist schon ein komisches Gefühl, wenn man zusieht, wie Beton in<br />
ein Schiff gegossen wird«, bemerkte Flynn auf der Rückfahrt nach<br />
Murmansk. Von Ballast hatte er wohl noch nie etwas gehört.<br />
»Aber ist das nicht auch großartig?« rief der Begleiter, ein Kapitänleutnant<br />
der sowjetischen Marine, aus. »Wenn Ihre Kriegsmarine<br />
nur unserem Beispiel folgen würde!«<br />
Der kleinen Pressegruppe war es gestattet worden, von einer Pier<br />
aus der Neutralisierung der beiden ersten Raketen-U-Boote der<br />
Yankee-Klasse zuzuschauen. Das Ganze war sorgfältig inszeniert<br />
worden, wie Flynn und Calloway festgestellt hatten. Verblüffend<br />
war <strong>im</strong>mer noch, dass man ihnen erlaubt hatte, einen so gehe<strong>im</strong>en<br />
Stützpunkt zu betreten.<br />
»Schade, dass Ihr Präsident kein Beobachterteam von der amerikanischen<br />
Marine schickte«, fuhr ihr Begleiter fort.<br />
»Da Muss ich Ihnen recht geben.« Flynn nickte. Das hätte eine viel<br />
bessere Story abgegeben. So hatten sich zwei Offiziere, ein Schwede<br />
und ein Inder, beide keine U-Boot-Fahrer, die »Zement-Zeremonie«,<br />
wie es bei der Presse hieß, aus der Nähe angesehen und später<br />
feierlich gemeldet, es sei in der Tat Beton in alle Raketenabschußrohre<br />
der beiden Boote geschüttet worden. Flynn hatte jeden<br />
Schüttvorgang gestoppt und nahm sich vor, zu Hause Berechnungen<br />
anzustellen. Was war der Rauminhalt eines Abschussrohrs?<br />
Wie viel Beton fasste es? Wie lange dauerte es, bis es voll war? »Sie<br />
müssen aber zugestehen, dass die amerikanische Reaktion auf Ihren<br />
Verhandlungsvorschlag sehr positiv war.«<br />
Währenddessen schaute William Calloway aus dem Wagenfenster.<br />
Er hatte über den Falklandkrieg berichtet und viel Zeit auf Schiffen<br />
und Werften verbracht, die Vorbereitungen für die lange Fahrt in<br />
den Südatlantik beobachtet. Sie fuhren nun an den Hafenanlagen für<br />
die Kriegsschiffe vorbei. Irgendetwas st<strong>im</strong>mte hier nicht.<br />
»Und wie findet unser englischer Freund die sowjetischen Werften?«<br />
fragte der Kapitänleutnant und lächelte breit.<br />
79
»Viel moderner als unsere«, erwiderte Calloway. »Und Hafenarbeitergewerkschaften<br />
gibt es bei Ihnen wohl auch nicht?«<br />
Der Offizier lachte. »In der Sowjetunion sind Gewerkschaften<br />
überflüssig, weil die Werktätigen schon alle Produktionsmittel besitzen.«<br />
»Dienen Sie auf einem U-Boot?« fragte der Engländer.<br />
»Nein!« rief der Offizier aus und lachte wieder. »Ich komme aus<br />
der Steppe und liebe blauen H<strong>im</strong>mel und den weiten Horizont. Ich<br />
respektiere meine Kameraden von den U-Booten, aber mit ihnen<br />
fahren möchte ich nicht.«<br />
»Geht mir auch so«, st<strong>im</strong>mte Calloway zu. »Wir älteren Engländer<br />
lieben unsere Parks und Gärten. Auf welchem Schiff fahren<br />
Sie?«<br />
»Im Augenblick tue ich Dienst an Land, aber meine letzte Fahrt<br />
war auf dem Eisbrecher Leonid Breschnew. Wir hatten einen Forschungsauftrag<br />
und hielten auch vor der arktischen Küste Handelsschiffe<br />
den Weg zum Pazifik frei.«<br />
»Das Muss eine schwierige Aufgabe gewesen sein«, meinte Calloway<br />
und dachte: Red schön weiter, alter Junge. »Und eine gefährliche<br />
obendrein.«<br />
»Gewiss, man Muss vorsichtig sein, aber wir Russen sind an Kälte<br />
und Eis gewöhnt.«<br />
»Ich würde mich nie zum Seemann eignen«, fuhr Calloway fort.<br />
Flynn sah ihn zweifelnd an. »Viel zuviel Arbeit, selbst wenn man <strong>im</strong><br />
Hafen liegt. Ist auf Ihren Werften <strong>im</strong>mer so viel los?«<br />
»Ach, das ist noch gar nichts«, versetzte der Russe, ohne nachzudenken.<br />
Der Mann von Reuter nickte. Die Decks der Schiffe waren vollgestellt,<br />
aber es herrschte keine sonderliche Aktivität. Nur wenige<br />
Männer liefen herum. Viele Kräne standen still. Laster waren abgestellt.<br />
Doch auf den Decks herrschte ein Durcheinander, als ob ...<br />
Er schaute auf die Armbanduhr. Halb vier. Längst noch nicht<br />
Feierabend. »Ein großer Tag für die Entspannung«, wechselte er<br />
das Thema. »Und eine großartige Story für unsere Leser.«<br />
»Sehr gut.« Der Kapitänleutnant lächelte. »Es ist Zeit für einen<br />
echten Frieden.«<br />
Nach der vierstündigen Tortur auf den unbequemen Aeroflot-<br />
Sitzen waren die Korrespondenten wieder in Moskau. Sie gingen zu<br />
Flynns Auto - Calloways stand <strong>im</strong>mer noch in der Werkstatt.<br />
80
»Hätte ich doch meinen Morris mitgebracht«, murrte Calloway.<br />
»Für diese russischen Mühlen kriegt man ja keine Ersatzteile.«<br />
»Gibt das eine gute Story, Patrick?«<br />
»Klar. Schade, dass ich keine Aufnahmen machen konnte.« Immerhin<br />
hatte man ihnen Sovfoto-Bilder von der »Beton-Zeremonie«<br />
versprochen.<br />
»Was hielten Sie von der Werft?«<br />
»Groß genug war sie jedenfalls. Ich war mal einen Tag lang auf<br />
der Werft der US-Marine in Norfolk. Sehen alle gleich aus.«<br />
Calloway nickte nachdenklich. Warum war ihm Poljarnij so<br />
sonderbar vorgekommen? War er als Reporter zu argwöhnisch,<br />
fragte <strong>im</strong>mer wieder: Was wird hier vertuscht? Er arbeitete nun<br />
schon zum dritten Mal in Moskau, aber bisher hatte man ihn nie<br />
auf einen Marinestützpunkt gelassen. Einmal hatte er Murmansk<br />
besuchen dürfen. Bei einem Gespräch mit dem Bürgermeister hatte<br />
er gefragt, welche Auswirkung die vielen Seeleute auf die Stadtverwaltung<br />
hatten. Man sähe ja <strong>im</strong>mer Uniformierte auf den Straßen.<br />
Der Bürgermeister hatte versucht, der Frage auszuweichen, und<br />
schließlich erklärt: »Keine Marine in Murmansk.« Die typisch<br />
russische Antwort auf eine unangenehme Frage - aber nun ließ man<br />
auf einmal ein halbes Dutzend Reporter aus dem Westen auf eine<br />
der gehe<strong>im</strong>sten Einrichtungen. Also hatten sie nichts zu verbergen.<br />
Oder? Calloway beschloss, seine Story zu schreiben und loszuschikken<br />
und dann mit einem Freund bei der Botschaft einen Cognac zu<br />
trinken. Außerdem sollte es dort eine Party geben.<br />
Zurück in Moskau schrieb Calloway seinen Bericht. Aus einem<br />
Brandy wurden vier, und be<strong>im</strong> letzten Glas beugte sich der Korrespondent<br />
über eine Karte des Marinestützpunkts und erklärte mit<br />
Hilfe seines trainierten Gedächtnisses die Aktivitäten, die er gesehen<br />
hatte. Eine Stunde später waren diese Daten verschlüsselt und<br />
wurden nach London telegrafiert.<br />
81
Grassau, DDR<br />
8<br />
Weitere Observationen<br />
Das Kamerateam vom Fernsehen war begeistert. Zum ersten Mal<br />
seit Jahren durfte es eine sowjetische Einheit in Aktion filmen, und<br />
die vielen Schnitzer, die sie miterlebten, würden ihrem Bericht für<br />
die Abendnachrichten des Netzes NBC so die rechte Würze verleihen.<br />
Im Augenblick steckte gerade ein Panzerbataillon an einer<br />
Kreuzung der Staatsstraße 101 fünfzig Kilometer südlich von Berlin<br />
fest. Irgendwo waren sie falsch abgebogen, und der Bataillonskommandeur<br />
brüllte seine Untergebenen an. Nach zwei Minuten trat<br />
ein Hauptmann vor und wies auf die Landkarte. Ein Major wurde<br />
von der Szene verbannt, nachdem der jüngere Mann das Problem<br />
offenbar gelöst hatte. Die Kamera folgte dem niedergeschlagenen<br />
Major bis zu seinem Dienstwagen. Fünf Minuten später war das<br />
Bataillon aufgesessen und rollte wieder. Die Kameramänner packten<br />
gemächlich ihr Gerät ein, und der Chefreporter hatte Zeit,<br />
hinüber zu einem französischen Offizier zu gehen, der die Prozedur<br />
ebenfalls beobachtet hatte.<br />
Der Franzose war Verbindungsoffizier be<strong>im</strong> Viermächteausschuß,<br />
einem praktischen Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg,<br />
das es beiden Seiten ermöglichte, einander nachzuspionieren. Der<br />
hagere Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht trug die Flügel eines<br />
Fallschirmjägers und rauchte Gauloises. Selbstverständlich war er<br />
Gehe<strong>im</strong>dienstoffizier.<br />
»Nun, Major, was halten Sie davon?« fragte der NBC-Reporter.<br />
»Sie haben sich verfahren, hätten vor vier Kilometern links abbiegen<br />
sollen.« Ein lakonisches Achselzucken.<br />
»Eine besonders beeindruckende Leistung haben die Russen da<br />
nicht geboten, finden Sie nicht?« Der Reporter lachte. Der Franzose<br />
wurde noch nachdenklicher.<br />
»Ist Ihnen aufgefallen, dass sie einen deutschen Offizier dabeihatten<br />
?«<br />
82
»Ein Deutscher war das? Mir fiel nur auf, dass er eine andere<br />
Uniform trug. Warum hat man ihn nicht nach dem Weg gefragt?«<br />
»Tja, warum nicht?« versetzte der französische Major. Was er<br />
verschwieg, war die Tatsache, dass er nun schon zum vierten Mal<br />
miterlebt hatte, wie ein sowjetischer Offizier auf die Hilfe seines<br />
deutschen Kameraden von der Volksarmee verzichtete. Dass sowjetische<br />
Einheiten sich verfranzten, war nichts Neues. Die Russen<br />
hatten nicht nur eine andere Sprache, sondern auch ein anderes<br />
Alphabet, und wurden aus diesem Grund von DDR-Offizieren<br />
begleitet. Aber nun... Er schnippte seine Zigarette auf die Straße.<br />
»Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen, Monsieur?«<br />
»Der Oberst war stinksauer auf den Major. Und dann wies ihn<br />
ein anderer Offizier - ein Hauptmann, glaube ich - auf den Fehler<br />
hin.«<br />
»Sehr gut.« Der Franzose lächelte. Der Major war auf dem Weg<br />
zurück nach Berlin, und das Bataillon hatte nun einen neuen Kommandeur.<br />
Das Lächeln verschwand.<br />
»Sieht ganz schön dumm aus, wenn sich ein ganzes Panzerbataillon<br />
verfährt, finden Sie nicht auch?«<br />
Der Franzose stieg in seinen Wagen, um den Russen zu folgen.<br />
»Haben Sie <strong>im</strong> Ausland noch nie die Orientierung verloren?«<br />
»Klar, wem ist so was noch nicht passiert?«<br />
»Sie haben den Fehler dann aber rasch bemerkt, nicht wahr?«<br />
Der Franzose gab seinem Fahrer ein Zeichen. Und diesmal dachte<br />
er. Sehr interessant...<br />
Der Fernsehreporter zuckte die Achseln und ging zurück zu<br />
seinem Wagen. Er folgte dem letzten Panzer der Kolonne, die mit<br />
dreißig Stundenkilometern nach Nordwesten fuhr und auf der<br />
Staatsstraße 187 wie durch ein Wunder zu einer anderen sowjetischen<br />
Einheit stieß. Die Kettenfahrzeuge verringerten ihre Geschwindigkeit<br />
auf zwanzig Stundenkilometer und rasselten nach<br />
Westen zum Manövergebiet.<br />
Norfolk, Virginia<br />
Es sah eindrucksvoll aus. In den Fernsehnachrichten aus Moskau<br />
war zu verfolgen, wie ein ganzes Panzerreg<strong>im</strong>ent über eine Ebene<br />
vorrückte. Über dem Angriffsziel stiegen Erdfontänen auf, als Artil<br />
83
lerie die s<strong>im</strong>ulierten »feindlichen« Stellungen mit Trommelfeuer<br />
belegte. Jagdbomber am H<strong>im</strong>mel, Hubschrauber vollführten ihren<br />
Todestanz. Aus dem Off verkündete der Kommentator die Bereitschaft<br />
der Sowjetunion, jede fremde Bedrohung abzuwehren.<br />
Der nächste Bericht befasste sich mit den Abrüstungsverhandlungen<br />
in Wien. Nach den üblichen Klagen über Einwände der Amerikaner<br />
gegen best<strong>im</strong>mte Aspekte des großzügigen sowjetischen Vorschlags<br />
meldete der Sprecher, es seien dennoch echte Fortschritte<br />
erzielt worden, und es sei nun zum Sommer eine umfassende Übereinkunft<br />
in Sicht.<br />
»Klingt ganz normal«, kommentierte Chuck Lowe. »Wenn eine<br />
Übereinkunft bevorsteht, lässt das Gemecker nach. Und kurz vor<br />
der Unterzeichnung werden die Sowjets direkt euphorisch.»<br />
»Kam Ihnen das Manöver normal vor?«<br />
»Und wie. Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie angenehm es<br />
ist, hundert Panzern mit Kanonen vom Kaliber 125 mm gegenüberzustehen?<br />
Nicht zu vergessen die Artillerieunterstützung und die<br />
Flugzeuge. Wenn die Russen kommen, setzen sie das gesamte Inventar<br />
ein. Sie beherrschen die Taktik aus dem Effeff.«<br />
»Und was hätten wir dem entgegenzusetzen?«<br />
»Wir ergreifen die Initiative und lassen den Gegner seinen<br />
Schlachtplan erst gar nicht entwickeln. Wer nur zu reagieren bereit<br />
ist, kann gleich einpacken.«<br />
»Richtig - auf See ist das nicht anders.«<br />
Kiew, Ukraine<br />
Alexejew goss sich am Tisch in der Ecke eine Tasse Tee ein und trat<br />
dann breit grinsend vor den Schreibtisch seines Chefs.<br />
»Genosse General, »Fortschritt« läuft gut!«<br />
»Habe ich auch festgestellt.«<br />
»Das hätte ich nie geglaubt. Unser Offizierkorps hat sich erstaunlich<br />
verbessert. Der Ballast ist weg, und die Männer, denen wir neue<br />
Posten gegeben haben, sind eifrig und tüchtig.«<br />
»Die Hinrichtung der vier Obersten hat also gewirkt«, meinte<br />
der OB Südwest sardonisch. Er hatte das Manöver während der<br />
ersten beiden Tage von seinem Hauptquartier aus geleitet und<br />
sehnte sich danach, hinaus ins Feld zu kommen, wo sich die wahre<br />
84
Aktion abspielte. Doch das war nicht die Aufgabe eines Oberbefehlshabers<br />
einer Front; er musste sich auf Alexejews Berichte verlassen.<br />
»Ein harter, aber guter Entschluss. Die Resultate sprechen für<br />
sich selbst.« Die Begeisterung des jüngeren Mannes ließ nach, denn<br />
sein Gewissen plagte ihn <strong>im</strong>mer noch. Er verdrängte den Gedanken.<br />
»Noch zwei intensive Übungswochen, und die Rote Armee ist<br />
bereit. Wir schaffen es. Wir können die Nato schlagen.«<br />
»Wir werden es nicht mit der Nato aufnehmen müssen, Pascha.«<br />
»Dann sei Allah den Arabern gnädig.«<br />
»Und uns. Der OB West bekommt nämlich noch eine Panzerdivision<br />
von uns.« Der General hob eine Depesche. »Und zwar jene, die<br />
Sie heute besucht haben. Wie hat sie sich gehalten?«<br />
»Recht gut, wie ich höre.«<br />
»Ein Klassenkamerad von mir ist <strong>im</strong> Stab des OB West. Auch<br />
dort werden unfähige Männer ausgeschaltet. Ein Mann auf einem<br />
neuen Posten hat einen besseren Ansporn, seine Arbeit ordentlich<br />
zu tun als jemand, bei dem sie zur Routine verkommen ist.«<br />
»An der Spitze ist das natürlich anders.«<br />
»Ich hatte nie erwartet, den OB West einmal in Schutz nehmen zu<br />
müssen, aber wie ich höre, bringt er seine Leute ebenso auf Trab wie<br />
wir.«<br />
»Wenn Sie so großmütig sind, Muss sich die Lage wirklich gebessert<br />
haben.«<br />
»St<strong>im</strong>mt. Leider sind wir wieder eine Panzerdivision los. Nun,<br />
der OB West hat sie nötiger als wir. Passen Sie auf, wir fegen die<br />
Araber weg wie Dreck auf glatten Fliesen. Der Fall liegt anders als<br />
in Afghanistan. Unser Auftrag ist Erobern, nicht Befrieden. Und das<br />
schaffen wir. Als einziges Problem sehe ich die Zerstörung der<br />
Ölfelder. Selbst mit Fallschirmjägern können wir sie nicht daran<br />
hindern, sich mit einer Politik der verbrannten Erde zu verteidigen.<br />
Trotz alledem sind unsere Ziele erreichbar.«<br />
85
Norfolk, Virginia<br />
9<br />
Ein letzter Blick<br />
»Wie schnell so etwas doch zur Gewohnheit wird, Chuck.« Sie<br />
sahen nun schon den vierten russischen Film über Satellit. Toland<br />
reichte Lowe die Schüssel mit dem Popcorn. »Schade, dass wir Sie<br />
ans Marine Corps verlieren.«<br />
»Mir ist das recht. Ich hab den Papierkrieg satt.«<br />
»Werden Sie unsere Filmabende denn überhaupt nicht vermissen?«<br />
Toland lachte.<br />
»Na, vielleicht ein bisschen.« Sie empfingen nun schon seit Wochen<br />
das Signal eines sowjetischen Nachrichtensatelliten, vorwiegend<br />
der russischen Fernsehnachrichten wegen, aber auch, um sich<br />
einmal in der Woche den Eisenstein-Film anzusehen.<br />
Heute gab es Alexander Newski, sein Meisterwerk.<br />
Toland riss eine Dose Coke auf. »Wie würde der Iwan wohl auf<br />
einen Western von John Ford reagieren? Ich habe das Gefühl, dass<br />
Eisenstein sich bei Ford etwas abgeschaut hat.«<br />
»Tja, John Wayne hätte da gut reingepasst. Oder besser noch<br />
Errol Flynn. Fahren Sie heute he<strong>im</strong>?«<br />
»Ja, gleich nach dem Film. Stellen Sie sich vor, vier Tage frei! Ob<br />
ich das aushalte?«<br />
Der Vorspann war neu und unterschied sich von der Version, die<br />
Toland dahe<strong>im</strong> auf Band hatte. Der Originaldialog war beibehalten<br />
und entstört worden, doch die Musik hatte das Moskauer Staatssinfonieorchester<br />
mit Chor neu aufgenommen.<br />
»Erstklassige Kopie«, bemerkte Lowe.<br />
»Viel besser als meine«, st<strong>im</strong>mte Toland zu. Zwei VHS-Recorder<br />
liefen, doch die Bänder stammten nicht aus Navy-Beständen. SA<br />
CLANTS Generalinspekteur hatte einen üblen Ruf. Die Offiziere<br />
hatten die Kassetten aus eigener Tasche bezahlt.<br />
Der Film begann auf einer mit Knochen und Waffen übersäten<br />
Steppe, Überreste einer Schlacht gegen die Mongolen. Dann fielen<br />
86
mordend und brandschatzend die Ritter des Deutschen Ordens ein,<br />
und das Volk erhob sich, um unter Führung des anfangs zögerlichen<br />
Fürsten von Nowgorod, Alexander Newski, die Eindringlinge<br />
zurückzuschlagen: Wstawaitje, Ijudi russkijelna slavni boi, na<br />
smjertni boi.. .<br />
„Donnerwetter!» Toland setzte sich auf. »Die neue Version<br />
klingt sehr schmissig! Die Tonqualität war trotz leichter Übertragungsstörungen<br />
fast perfekt.<br />
Steh auf, russisches Volk, zum gerechten Kampf bis auf<br />
den Tod: Steh auf, du tapferes freies Volk, verteidige<br />
unsere schöne He<strong>im</strong>at!<br />
Toland stellte fest, dass »Russland« oder »russisch» über zwanzigmal<br />
vorkamen.<br />
»Sonderbar», merkte er an, »davon will man doch eigentlich<br />
loskommen. Die Sowjetunion soll eine glückliche Völkerfamilie<br />
sein und kein neues Russisches Reich.«<br />
»Eine Laune der Geschichte«, kommentierte Lowe. »Stalin gab<br />
den Film in Auftrag, um die Bevölkerung vor den Nazis zu warnen.«<br />
Die Entscheidungsschlacht wurde auf dem gefrorenen Peipus-See<br />
geschlagen. Die Ordensritter griffen in Keilformation an, die Russen<br />
unter Newski reagierten mit dem Versuch einer doppelten<br />
Umfassung à la Cannae. Dann folgte der unvermeidliche Zweikampf<br />
der Feldherren, den Fürst Alexander für sich entschied, und<br />
daraufhin gerieten die Reihen der Deutschen ins Wanken. Als sie<br />
versuchten, sich am Rande des Sees zum Gegenangriff zu formieren,<br />
brach das Eis, und fast alle ertranken.<br />
»Welcher Idiot stellt sich mit einer halbe Tonne Blech am Leib<br />
auf einem zugefrorenen See zur Schlacht?« stöhnte Toland.<br />
»Die Schlacht fand 1241 tatsächlich so statt«, erklärte der Colonel.<br />
»Genau 700 Jahre vor Stalingrad ...«<br />
Am Schluss befreite Alexander das besetzte Pskow und beschwor<br />
in einer Rede das Schicksal, das jedem Angreifer Russlands droht.<br />
»Dieser Newski ist wohl Stalin nachempfunden, oder?«<br />
»Da ist etwas dran«, st<strong>im</strong>mte Lowe zu. »Die starke, einsame<br />
Vaterfigur. Wie auch <strong>im</strong>mer, Alexander Newski ist wohl der beste<br />
Propagandafilm aller Zeiten.« Lowe holte einen Pappkarton unter<br />
seinem Schreibtisch hervor und begann, seine Sachen einzupacken.<br />
»Ein nützlicher Abend. Falls Krieg möglich ist, sollte man so viel<br />
wie möglich über den Gegner in Erfahrung bringen.«<br />
87
»Glauben Sie denn, dass es Krieg gibt?«<br />
Lowe zog die Stirn kraus. »Davon habe ich seit Vietnam die Nase<br />
voll - aber dafür werden wir schließlich bezahlt.«<br />
Toland stand auf und reckte sich. »Colonel, es war angenehm,<br />
mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Viel Glück bei Ihrem neuen Reg<strong>im</strong>ent.«<br />
»Ganz meinerseits. Besuchen Sie mich doch einmal in Lejeune.«<br />
Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, ging Toland<br />
zu seinem Wagen und fuhr rasch über den Interstate Terminal<br />
Boulevard zum Interstate Highway 64. Unterwegs tauchten <strong>im</strong>mer<br />
wieder Szenen aus Eisensteins Film vor seinen Augen auf, besonders<br />
die grässliche, in der ein Ordensritter mit dem Kreuz am Gewand in<br />
Pskow einer Mutter das Kind von der Brust reißt und es in die<br />
Flammen wirft. Wen brachte so etwas nicht auf? Kein Wunder, dass<br />
das mitreißende Lied Steh auf, russisches Volk jahrelang beliebt<br />
gewesen war. Manche Szenen schrieen geradezu nach blutiger Rache.<br />
Bald summte er Prokofjews feurigen Ruf zu den Waffen vor<br />
sich hin. Bist ein richtiger Gehe<strong>im</strong>dienstoffizier, dachte Toland und<br />
lächelte. Denkst wie die Leute, die du studieren sollst... verteidige<br />
unsere schöne He<strong>im</strong>at... sa naschu sjemlju tschestnuju!<br />
»Wie bitte?« fragte eine Frau verdutzt.<br />
Toland schüttelte den Kopf. Hatte er denn laut gesungen? Mit<br />
einem verlegenen Lächeln händigte er die fünfundsiebzig Cent<br />
Maut für den Straßentunnel aus. Was sollte diese Frau von einem<br />
amerikanischen Marineoffizier halten, der auf Russisch vor sich hin<br />
sang?<br />
Moskau<br />
Kurz nach Mitternacht fuhr der Laster über die Kemenny-Brücke<br />
und auf den Borowizkaya-Platz und bog dann nach rechts ab zum<br />
Kreml. Am ersten Kontrollposten hielt der Fahrer an. Die Papiere<br />
waren natürlich in Ordnung, sie wurden durchgewinkt. Auch an<br />
der zweiten Kontrolle ging alles glatt. Nun waren es nur noch<br />
fünfhundert Meter zum Lieferanteneingang des Ministerratsgebäudes.<br />
»Was haben Sie denn um diese Tageszeit abzuliefern, Genosse?«<br />
fragte ein Hauptmann der Roten Armee.<br />
88
»Reinigungsmittel. Hier, ich will sie Ihnen zeigen.« Der Fahrer<br />
stieg aus und ging langsam hinter den Laster. »Nachtdienst muss<br />
angenehm sein, wenn alles so friedlich ist.«<br />
»Wohl wahr«, st<strong>im</strong>mte der Hauptmann zu. Noch neunzig Minuten,<br />
dann wurde er abgelöst.<br />
»Bitte sehr.« Der Fahrer zog die Plane beiseite. Auf der Ladefläche<br />
standen zwölf Kanister und eine Kiste mit Ersatzteilen.<br />
»Aus Deutschland?« fragte der Hauptmann, der hier erst seit<br />
zwei Wochen Dienst tat, überrascht.<br />
»Da. Dieses Reinigungsmittel ist für Teppiche, dieses für Toilettenwände,<br />
und das da für Fensterscheiben. Und die Ersatzteile - na<br />
ja, auch deutsche Maschinen gehen mal kaputt«, setzte er mit einem<br />
spöttischen Grinsen hinzu.<br />
»Öffnen Sie einen Behälter«, befahl der Hauptmann.<br />
»Sicher, aber ich warne Sie vor dem Geruch. Welchen soll ich<br />
aufmachen?« Der Fahrer griff nach einem kleinen Brecheisen.<br />
»Diesen da.« Der Hauptmann wies auf den Toilettenreiniger.<br />
Der Fahrer lachte. »Da haben Sie sich das stinkigste Zeug ausgesucht.<br />
Treten Sie zurück, Genosse, damit Sie das Zeug nicht auf die<br />
Uniform bekommen.«<br />
Der Hauptmann war noch so neu auf diesem Posten, dass er mit<br />
Bedacht nicht zurücktrat. Gut, dachte der Fahrer, setzte das Brecheisen<br />
an, hebelte und schlug mit der freien Hand aufs Ende des<br />
Werkzeugs. Der Deckel sprang ab und bespritzte den Hauptmann<br />
mit Lösungsmittel.<br />
»Puh!« Der Gestank war ekel erregend.<br />
»Ich habe Sie gewarnt, Genosse Hauptmann.«<br />
»Was ist denn das für ein Dreckzeug?«<br />
«Damit entfernt man hartnäckige Flecken von Kacheln. Geben<br />
Sie Ihre Uniform so rasch wie möglich in die Reinigung, Genosse<br />
Hauptmann, denn die Substanz ist säurehaltig und könnte den Stoff<br />
angreifen.«<br />
Der Hauptmann wollte wütend werden, aber hatte ihn der Mann<br />
nicht gewarnt? So was passiert mir nicht noch einmal, dachte er.<br />
»Gut, laden Sie ab.« Der Hauptmann gab einem Gefreiten einen<br />
Wink und entfernte sich. Der Soldat schloss auf; Fahrer und Beifahrer<br />
gingen ins Haus und holten eine Sackkarre, mit der sie die<br />
Behälter zum Aufzug transportierten.<br />
Im dritten Stock brachten sie ihre Ladung in einen Lagerraum,<br />
89
der sich direkt unter dem großen Konferenzsaal <strong>im</strong> vierten Stock<br />
befand.<br />
»Der Vorfall mit dem Hauptmann war günstig, meinte der<br />
Beifahrer. »So, und jetzt an die Arbeit.«<br />
»Jawohl, Genosse Oberst«, erwiderte der Fahrer eilfertig. Vier<br />
Behälter Teppichreinigungsmittel enthielten Sprengladungen. Der<br />
Oberst hatte sich die Blaupausen des Gebäudes angesehen und<br />
eingeprägt. Die Stützen befanden sich an den äußeren Ecken des<br />
Raumes, und an ihnen wurde je eine Ladung befestigt. Davor stellte<br />
man zur Tarnung die leeren Behälter. Als nächstes entfernte der<br />
Fahrer, ein Leutnant, zwei Platten der Deckenverkleidung und legte<br />
Eisenträger frei, die den Fußboden des vierten Stockes stützten. An<br />
ihnen wurden die übrigen Ladungen befestigt. Der Oberst nahm<br />
einen elektronischen Zeitzünder aus der Tasche, schaute auf die<br />
Armbanduhr, wartete drei Minuten lang und aktivierte den T<strong>im</strong>er<br />
dann durch Knopfdruck. Die Bomben sollten in genau drei Stunden<br />
explodieren.<br />
Der Oberst sah dem Leutnant be<strong>im</strong> Aufräumen zu und schob<br />
dann die Sackkarre zurück zum Aufzug. Zwei Minuten später<br />
verließen sie das Gebäude. Der Hauptmann war zurückgekommen.<br />
»Genosse«, sagte er zu dem Fahrer, «warum lassen Sie Ihren<br />
älteren Kollegen alle Arbeit tun? Zeigen Sie doch ein bisschen<br />
Respekt!«<br />
»Anständig von Ihnen, Genosse Hauptmann.« Der Oberst lächelte<br />
schief und zog eine Halbliterflasche Wodka aus der Tasche,<br />
»'n Schluck?«<br />
Die Freundlichkeit des Hauptmanns verflog. »Ein Arbeiter, der<br />
<strong>im</strong> Dienst trinkt - und noch dazu <strong>im</strong> Kreml! Scheren Sie sich fort!«<br />
»Wiedersehen, Genosse.« Der Fahrer stieg in den Laster. Sie<br />
hatten wieder zwei Kontrollen zu passieren, aber ihre Papiere waren<br />
<strong>im</strong>mer noch in Ordnung.<br />
Als der Kreml hinter ihnen lag, bogen sie in den Marksa-Prospekt<br />
ab und fuhren nach Norden zur KGB-Zentrale am Dserschinski-<br />
Platz 2.<br />
90
Crofton, Maryland<br />
»Wo sind die Kinder?«<br />
»Im Bett." Martha Toland umarmte ihren Mann. Sie trug ein<br />
dünnes, attraktives Gewand. »Ich war heute so lange mit ihnen<br />
schw<strong>im</strong>men, dass sie die Augen nicht offen halten konnten.« Ein<br />
schelmisches Lächeln, das er zum ersten Mal am Sunset Beach auf<br />
Oahu gesehen hatte: Martha mit dem Surfbrett und dem knappen<br />
Bikini. Sie war <strong>im</strong>mer noch eine Wasserratte. Und der Bikini passte<br />
auch noch.<br />
Martha ging in die Küche und kam mit einer Flasche Rose und<br />
zwei Gläsern zurück. »Komm, geh mal duschen und entspann dich<br />
ein bisschen. Dann können wir es uns endlich gemütlich machen.«<br />
Das hörte sich gut an. Was danach kam, war noch besser.<br />
91
Crofton, Maryland<br />
10<br />
Die Pulververschwörung<br />
Es war dunkel, und das Telefon läutete. Toland war nach der<br />
langen Fahrt und vom Wein noch benommen und reagierte erst<br />
nach dem zweiten Läuten richtig. Nach einem Blick auf die Uhr auf<br />
dem Nachttisch - «Pest noch mal, 2. Uhr 11!« - nahm er ab. »Ja?«<br />
sagte er barsch.<br />
»Lieutenant Commander Toland, bitte.«<br />
»Am Apparat.«<br />
»Hier CINCLANT. Bitte kehren Sie sofort auf Ihren Posten<br />
zurück. Bestätigen Sie den Befehl, Commander.«<br />
»Sofort zurück nach Norfolk. Verstanden.« Toland setzte sich<br />
auf und schwang die Beine aus dem Bett.<br />
»Schatz, was ist?« fragte Martha.<br />
»Ich werde in Norfolk gebraucht.«<br />
»Wann denn?«<br />
»Sofort.« Martha, auf einen Schlag wach, setzte sich <strong>im</strong> Bett auf.<br />
Die Decke glitt ihr von der Brust, und das durchs Fenster fallende<br />
Mondlicht verlieh ihrer Haut einen ätherischen Sch<strong>im</strong>mer.<br />
»Du bist doch gerade erst gekommen!«<br />
»Als ob ich das nicht wüsste.« Bob stand auf und wankte ins Bad.<br />
Wenn er Norfolk lebend erreichen wollte, musste er erst einmal<br />
duschen und ein paar Tassen Kaffee trinken. Als er zehn Minuten<br />
später mit Rasierschaum <strong>im</strong> Gesicht zurückkam, hatte seine Frau<br />
den Schlafz<strong>im</strong>merfernseher angestellt.<br />
»Sieh dir das mal an, Bob.«<br />
»Hier Rich Suddler live aus dem Kreml«, sagte ein Reporter <strong>im</strong><br />
blauen Blazer. Hinter ihm konnte Toland die düsteren Mauern der<br />
Festung sehen - doch dort standen nun bewaffnete Soldaten <strong>im</strong><br />
Kampfanzug Wache. Toland ging auf den Fernseher zu. Dort war<br />
etwas Merkwürdiges <strong>im</strong> Gange. Eine ganze Kompanie bewaffneter<br />
Soldaten <strong>im</strong> Kreml könnte alles Mögliche bedeuten, nur nichts<br />
92
Gutes. »Im Ministerratsgebäude kam es heute zu einer Explosion.<br />
Ich nahm um halb zehn Uhr Moskauer Zeit ein Interview auf, und<br />
plötzlich hörten wir einen scharfen Knall.«<br />
»Rich, hier Dionna McGee <strong>im</strong> Studio.« Das Bild von Suddler vor<br />
dem Kreml schrumpfte in eine Ecke des Schirmes, als der Regisseur<br />
die attraktive schwarze Moderatorin des Nachrichtensenders CNN<br />
einblendete. »Ich nehme an, dass Sie Personal vom sowjetischen<br />
Sicherheitsdienst bei sich hatten. Wie reagierten diese Leute?«<br />
»Das kann ich Ihnen gleich zeigen, sobald meine Techniker das<br />
Band eingelegt haben.« Er drückte sich den Ohrhörer tief ins Ohr.<br />
»Okay, Dionna, Band läuft- «<br />
Die Bandaufnahme trat an die Stelle des Live-Bildes und füllte<br />
den ganzen Schirm. Zunächst ein Standbild: Suddler, der auf die<br />
Kremlmauer wies. Dann begann das Band zu laufen.<br />
Suddler zuckte zusammen und fuhr herum, als eine donnernde<br />
Explosion über den weiten Platz hallte. Mit dem Reflex des Profis<br />
schwenkte der Kameramann sofort und stellte nach kurzem Wakkeln<br />
die Linse auf eine Wolke aus Staub und Rauch scharf, die von<br />
dem modernen Gebäude in dem ansonsten <strong>im</strong> slawischen Rokokostil<br />
gehaltenen Kreml-Komplex aufstieg. Eine Sekunde später<br />
zoomte er die Szene heran. Drei Geschosse des Gebäudes waren<br />
ihrer Glasfenster beraubt, und die Kamera folgte einem großen<br />
Konferenztisch, der aus einem Stockwerk fiel und dann an Montiereisen<br />
zu baumeln schien. Die Kamera ging tiefer; auf der Straße<br />
waren eine oder zwei Leichen und einige von Trümmern zerquetschte<br />
Autos zu sehen.<br />
Binnen Sekunden füllten rennende Männer in Uniform und die<br />
ersten Dienstwagen den Platz. Eine unscharfe Gestalt, bei der es<br />
sich nur um einen Mann in Uniform handeln konnte, trat jäh vor<br />
die Linse. An diesem Punkt wurde das Band angehalten, und auf<br />
dem Bildschirm erschien wieder Rich Suddler.<br />
»Unser Begleiter, ein Hauptmann der Miliz, unterbrach die Aufnahme<br />
und beschlagnahmte die Videokassette. Wir durften weder<br />
die Feuerwehren noch die mehreren hundert bewaffneten Soldaten<br />
filmen, die nun das gesamte Gebiet bewachen. Wir bekamen das<br />
Band aber gerade zurück und können Ihnen nun, da das Feuer<br />
gelöscht ist, auch ein Live-Bild des Gebäudes zeigen. Ich kann dem<br />
Mann Fairerweise keinen Vorwurf machen, denn für ein paar Minuten<br />
ging es hier ziemlich wild zu.«<br />
93
»Wurden Sie bedroht, Rich?«<br />
Suddler schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Dionna. Man<br />
schien sich vorwiegend um unsere Sicherheit zu sorgen. Außer<br />
dem Milizhauptmann haben wir nun einen Zug Infanteriesoldaten<br />
bei uns, dessen Führer erklärte, er sei mit seinen Männern zu<br />
unserem Schutz da. Der Zutritt zur Unfallstelle ist uns verwehrt,<br />
und wir dürfen den Platz auch nicht verlassen.« Die Kamera<br />
schwenkte zum Gebäude. »Wie Sie sehen, durchsuchen dort rund<br />
fünfhundert Männer von Feuerwehr, Polizei und Militär die<br />
Trümmer nach weiteren Opfern, und rechts von uns steht ein<br />
Kamerateam vom sowjetischen Fernsehen.« Toland sah sich das<br />
Fernsehbild genau an. Die eine Leiche, die er erkennen konnte,<br />
wirkte erstaunlich klein, aber er schrieb das der Entfernung und<br />
der Perspektive zu.<br />
»Dionna, wir haben es hier offenbar mit dem ersten schweren<br />
Terrorangriff in der Geschichte der Sowjetunion zu tun. Wie verlautete,<br />
wurde <strong>im</strong> Gebäude des Ministerrats eine Bombe zur Explosion<br />
gebracht. Ein Unfall ist ausgeschlossen. Fest steht, dass drei<br />
oder mehr Menschen ums Leben kamen und vierzig oder fünfzig<br />
verletzt wurden. Interessant ist, dass zum Zeitpunkt der Explosion<br />
eine Sitzung des Politbüros anberaumt war.«<br />
»Heiliger Strohsack!« Toland stellte die Dose Rasierschaum auf<br />
den Nachttisch.<br />
»Können Sie sagen, ob ein Mitglied des Politbüros unter den<br />
Toten oder Verletzten ist?« fragte Dionna McGee sofort.<br />
»Nein. Erstens sind wir zu weit von der Unfallstelle entfernt, und<br />
zweitens fahren die Herren mit ihren Dienstwagen auf der anderen<br />
Seite des Gebäudes vor. Aber unserem Milizhauptmann entfuhr:<br />
»H<strong>im</strong>mel, da ist das Politbüro drin.«<br />
»Rich, wie ist die Reaktion in Moskau?«<br />
»Lässt sich von hier aus nur schwer beurteilen. Die Kreml-Garde<br />
ist schockiert und verständlicherweise wütend, aber, das möchte<br />
ich betonen, ihr Zorn richtet sich nicht gegen Amerikaner. Zusammenfassend<br />
lässt sich sagen, dass <strong>im</strong> Kreml eine Bombe explodiert<br />
ist; möglicherweise der Versuch, das Politbüro auszuschalten. Von<br />
der Polizei erfuhren wir, dass es mindestens drei Tote und vierzig bis<br />
fünfzig Verletzte gegeben hat. Weitere Berichte folgen, sobald neue<br />
Informationen vorliegen.«<br />
»Sie sahen einen Exklusivbericht aus Moskau.« Dionna McGee<br />
94
lächelte. Dann verblasste ihr Bild, und es folgte eine Bierreklame.<br />
Martha stand auf und schlüpfte in einen Morgenrock.<br />
»Ich stell den Kaffee auf.«<br />
»Heiliger Strohsack!« sagte Toland noch einmal. Zum Rasieren<br />
brauchte er länger als gewöhnlich und schnitt sich zwe<strong>im</strong>al, weil er<br />
sich <strong>im</strong> Spiegel auf seine Augen und nicht auf sein Kinn konzentrierte.<br />
Er zog sich rasch an und schaute bei seinen schlafenden Kindern<br />
herein, weckte sie aber nicht.<br />
Vierzig Minuten später fuhr er mit offenen Wagenfenstern nach<br />
Süden und hörte Nachrichten. War <strong>im</strong> Kreml wirklich eine Bombe<br />
explodiert? Reporter unter Termindruck oder Fernsehleute auf der<br />
Jagd nach einem Knüller recherchierten oft nicht sorgfältig genug.<br />
War die Explosionsursache vielleicht eine undichte Gasleitung gewesen?<br />
Gab es in Moskau Gasleitungen? Sollte es wirklich eine<br />
Bombe gewesen sein, würden die Sowjets instinktiv annehmen, dass<br />
der Westen dahinter steckte, und eine höhere Alarmstufe auslösen.<br />
Und der Westen würde au<strong>tom</strong>atisch das gleiche tun, um für eine<br />
mögliche sowjetische Aktion gerüstet zu sein. Nichts Auffälliges,<br />
nichts Provokatives, vorwiegend eine Gehe<strong>im</strong>dienst- und Aufklärungsaktion,<br />
für die die Sowjets Verständnis haben würden. Bei uns<br />
wurde dieses Szenarium schon öfters durchgespielt, sagte sich Toland<br />
und entsann sich verschiedener Anschläge auf amerikanische<br />
Präsidenten.<br />
Und wenn sie uns nun doch die Schuld geben? fragte sich Toland.<br />
Ausgeschlossen, sie mussten doch wissen, dass niemand so verrückt<br />
sein konnte. Oder?<br />
Norfolk, Virginia<br />
Er fuhr weitere drei Stunden lang, wünschte sich, weniger Wein und<br />
mehr Kaffee getrunken zu haben, und ließ das Autoradio laufen,<br />
um wach zu bleiben. Kurz nach sieben traf er ein und fand zu seinem<br />
Erstaunen Colonel Lowe an seinem Schreibtisch vor.<br />
»Ich muss mich erst am Dienstag in Lejeune melden und dachte,<br />
fährst mal ins Büro und siehst dir die Sache an. Passen Sie auf, das<br />
ist der Gipfel." Lowe hielt einen Bogen aus dem Fernschreiber<br />
hoch. »Wir haben vor einer halben Stunde bei Reuter mitgeschnit<br />
95
ten und erfahren, dass das KGB einen Westdeutschen namens Gerhard<br />
Falk verhaftet hat und ihn beschuldigt, die Bombe <strong>im</strong> Kreml<br />
gelegt zu haben!« Lowe atmete tief aus. »Die hohen Tiere sind<br />
davongekommen, aber erwischt hat es offenbar sechs Junge Oktobristen,<br />
die dem Politbüro eine Präsentation machen wollten. Kinder!<br />
Passen Sie auf, jetzt ist der Teufel los.«<br />
Toland schüttelte den Kopf. Schl<strong>im</strong>mer hätte es wirklich nicht<br />
kommen können. »Und man behauptet, es sei ein Deutscher gewesen?«<br />
»Ein Westdeutscher«, korrigierte Lowe. Die Nato-Nachrichtendienste<br />
sind schon wild am Nachprüfen. Die offizielle sowjetische<br />
Verlautbarung nennt seinen Namen - Falk - und seinen Wohnort <br />
ein Vorort von Bremen - und seinen Beruf; er hat eine kleine<br />
Export-Firma. Sonst nichts weiter, aber das sowjetische Außenministerium<br />
erklärte weiter, mit negativen Auswirkungen auf die<br />
Wiener Abrüstungsgespräche sei nicht zu rechnen. Es sei zwar<br />
unwahrscheinlich, dass Falk allein handelte, doch man »habe nicht<br />
den Wunsch< anzunehmen, dass wir etwas mit der Sache zu tun<br />
haben.«<br />
»Fein. Schade, dass Sie zurück zu Ihrem Reg<strong>im</strong>ent müssen,<br />
Chuck. Sie haben das Talent, <strong>im</strong>mer die wichtigsten Zitate herauszupicken.«<br />
»Commander, es mag sein, dass wir das Reg<strong>im</strong>ent bald brauchen.<br />
Die Sache stinkt nämlich zum H<strong>im</strong>mel. Sechs tote russische Kinder,<br />
und die Bombe hat angeblich ein Deutscher gelegt.«<br />
»Mag sein«, meinte Toland, ein halbherziger Advokat des Teufels,<br />
versonnen. »Aber meinen Sie, wir könnten diese Tatsache der<br />
Presse oder jemandem in Washington verkaufen? Das Ganze klingt<br />
zu verrückt und zufällig.«<br />
Lowe nickte. »Gehen wir der Sache aber trotzdem auf den<br />
Grund, nur für den Fall, dass sie gestellt ist. Rufen Sie bei CNN in<br />
Atlanta an und finden Sie heraus, wie lange sich dieser Suddler um<br />
die Genehmigung zum Filmen <strong>im</strong> Kreml bemüht hatte, von wem er<br />
sie bekam und ob er sie von einer anderen Stelle als seinen normalen<br />
Pressekontakten erhielt.«<br />
»Ein Türke?« Toland fragte sich, ob sie nun clever oder verrückt<br />
waren.<br />
»Selbst ein Herrenmagazin kann man in die Sowjetunion nur mit<br />
Diplomatenpost einschmuggeln, und nun will man uns vormachen,<br />
96
dass ein Deutscher unbemerkt eine Bombe in den Kreml geschafft<br />
hat, um das Politbüro in die Luft zu sprengen?«<br />
»Brächten wir das denn fertig?« fragte Toland.<br />
»Wenn die CIA so verrückt wäre, das auch nur zu versuchen?«<br />
Lowe schüttelte den Kopf. »Kaum, das schaffen selbst die Russen<br />
nicht. Der Kreml muss eine tief gestaffelte Verteidigungsanlage haben<br />
- Röntgenapparate, Spürhunde, dreihundert Wächter von drei<br />
verschiedenen Einheiten, KGB, MWD, wahrscheinlich auch noch<br />
die Miliz. Sie wissen ja, wie sehr die sich vor ihren eigenen Bürgern<br />
fürchten. Glauben Sie vielleicht, die lassen einen Deutschen<br />
durch?«<br />
»Sie können also nicht behaupten, Falk sei ein Irrer gewesen, der<br />
auf eigene Faust handelte.«<br />
»Bleibt also n ur. ..«<br />
»Genau.« Toland griff nach dem Telefon und rief den Kabelsender<br />
an.<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Kinder!« flüsterte Alexejew. »Wegen dieser maskirowka ermordet<br />
die Partei unsere eigenen Kinder. Was ist aus uns geworden?«<br />
Auch sein General war blass, als er den Fernseher ausschaltete.<br />
»Wir müssen diese Gedanken verdrängen, Pascha. Das ist hart,<br />
aber notwendig. Der Staat ist nicht perfekt, aber wir müssen ihm<br />
dienen.«<br />
Alexejew musterte seinen Vorgesetzten aufmerksam. An den<br />
letzten Worten war der General fast erstickt. Der Tag der Abrechnung<br />
wird kommen, sagte sich Pascha, aber werde ich ihn noch<br />
erleben? Vermutlich nicht, dachte er resigniert.<br />
Moskau<br />
So weit ist es mit der Revolution gekommen, dachte Sergetow und<br />
starrte auf die Trümmer. Es war Spätnachmittag, aber die Sonne<br />
stand noch hoch. Die Feuerwehrleute und Soldaten hatten die<br />
Bergungsarbeiten fast abgeschlossen und luden nun den Schutt auf<br />
Lastwagen. Sein Anzug war staubig. Muss in die Reinigung, dachte<br />
97
er und sah zu, wie sie siebte kleine Leiche mit einer Sanftheit, die<br />
irgendwie fehl am Platz wirkte, angehoben wurde. Ein Kind wurde<br />
noch vermisst; es bestarid wenig Hoffnung. In der Nähe packte ein<br />
Sanitäter vom Heer mit zitternden Händen Verbandsmaterial aus.<br />
Links von ihm weinte ein Infanteriemajor vor Zorn.<br />
Die Fernsehkameras waren natürlich auch da. Haben wir uns bei<br />
den Amerikanern abgeguckt, dachte Sergetow, die Teams drängen<br />
sich vor und zeichnen jede grässliche Szene für die Abendnachrichten<br />
auf. Zu seiner Überraschung sah er auch ein amerikanisches Team.<br />
Aha, wir haben den Massenmord zum internationalen Zuschauersport<br />
gemacht. Sergetow war viel zu wütend, um sich seine Emotionen<br />
anmerken zu lassen. Es hätte auch mich erwischen können,<br />
dachte er. Donnerstag bin ich <strong>im</strong>mer früher da. Das weiß jeder, die<br />
Wächter, die Beamten und ganz gewiss auch meine Kollegen <strong>im</strong><br />
Politbüro. Das also ist das vorletzte Teilstück der maskirowka: das<br />
Volk aufbringen, motivieren. Sollte auch ein Mitglied des Politbüros<br />
in den Trümmern liegen? Selbstverständlich nur ein Kandidat...<br />
Du irrst dich best<strong>im</strong>mt, sagte sich Sergetow. Sein Verstand widmete<br />
sich der Frage mit kalter Objektivität und prüfte gleichzeitig<br />
sein persönliches Verhältnis zu den älteren Mitgliedern des Politbüros.<br />
Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Eine seltsame<br />
Lage für einen Parteiführer.<br />
Norfolk, Virginia<br />
»Mein Name ist Gerhard Falk«, sagte der Mann. »Ich reiste vor<br />
sechs Tagen über Odessa in die Sowjetunion ein. Seit zehn Jahren<br />
bin ich Agent des Bundesnachrichtendienstes. Mein Auftrag war<br />
die Ausschaltung des Politbüros mittels einer Bombe, die ich in<br />
einen Lagerraum unmittelbar unterhalb des Sitzungssaals legte.«<br />
Lowe und Toland starrten fasziniert auf den Bildschirm. »Falk«<br />
sprach ein perfektes Russisch mit Leningrader Akzent.<br />
»Ich betreibe seit vielen Jahren eine Export-Import-Firma in<br />
Bremen und bin auf den Handel mit der Sowjetunion spezialisiert.<br />
Ich habe viele Reisen in die Sowjetunion unternommen und dabei<br />
oft unter dem Deckmantel eines Geschäftsmanns Agenten gesteuert,<br />
deren Auftrag die Schwächung und Ausspähung der politischen<br />
und militärischen Infrastruktur der Sowjetunion war.«<br />
98
Die Kamera ging näher. »Falk« las monoton vom Blatt ab und<br />
schaute nur selten in die Linse. Er hatte ein blaues Auge, und seine<br />
Hände zitterten leicht.<br />
»Sieht aus, als hätten sie ihn ein bisschen durch die Mangel<br />
gedreht«, merkte Lowe an.<br />
»Interessant«, versetzte Toland. »Man gibt uns zu verstehen, dass<br />
man solche Methoden anwendet.»<br />
Lowe schnaubte. »Bei Kerlen wie ihm, die kleine Kinder in die<br />
Luft sprengen? Ist doch kein Wunder, das Ganze ist ernsthaft<br />
überlegt und geplant.«<br />
»Ich möchte klarstellen«, fuhr Falk fort, »dass es nicht meine<br />
Absicht war, Kindern Schaden zuzufügen. Das Politbüro war ein<br />
legit<strong>im</strong>es politisches Ziel, aber einen Krieg gegen Kinder führt mein<br />
Land nicht.«<br />
Aus dem Off kam ein empörtes Geheul. Wie auf ein Stichwort hin<br />
fuhr die Kamera zurück und zeigte zwei KGB-Offiziere in Uniform,<br />
die den Sprecher mit ausdruckslosen Mienen flankierten. Das Publikum<br />
setzte sich aus rund zwanzig Zivilisten zusammen.<br />
»Wann sind Sie eingereist?« fragte einer der beiden.<br />
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«<br />
»Warum wollte Ihr Land die Führer unserer Partei töten?«<br />
»Ich bin ein Spion«, erwiderte Falk, »und führe Aufträge aus. Ich<br />
stelle keine Fragen und befolge meinen Befehl.«<br />
»Wie wurden Sie festgenommen?«<br />
»Ich wurde in Kiew auf dem Bahnhof verhaftet. Wie man mir auf<br />
die Spur kam, sagte man mir nicht.«<br />
»Clever«, kommentierte Lowe.<br />
»Moment, er bezeichnet sich als >SpionOffizierAgent< ist ein Ausländer, der für jemanden arbeitet, und ein<br />
>Spion< ein Bösewicht. Die Russen verwenden die Begriffe so wie<br />
wir.«<br />
Eine Stunde später ging über Telex der CIA/DIA-Bericht ein.<br />
Gerhard Eugen Falk, 44, geboren in Bonn. Gutes Abiturzeugnis,<br />
aber sein Lichtbild war aus den Unterlagen des Gymnasiums verschwunden.<br />
Wehrdienst in einem Transportbataillon, dessen Akten<br />
vor zwölf Jahren bei einem Kasernenbrand vernichtet wurden.<br />
Studium der Geisteswissenschaften, gute Noten, aber wieder kein<br />
Foto, und drei Professoren, die ihm Zweier gegeben hatten, konn<br />
99
ten sich offenbar nicht an ihn entsinnen. Eine kleine Import-Export-Firma.<br />
Woher kam das Startkapital? Auf diese Frage wusste<br />
niemand eine Antwort. Lebte ruhig, bescheiden und allein in Bremen,<br />
galt als freundlich. Grüßte seine Nachbarn, knüpfte aber<br />
keine gesellschaftlichen Kontakte. Ein guter, »sehr korrekter«<br />
Chef, wie seine Sekretärin erklärte, der viel unterwegs war. Kurz:<br />
Viele wussten, dass es ihn gab, nicht wenige machten Geschäfte mit<br />
ihm, aber niemand wusste etwas Genaues über ihn.<br />
»Ich sehe die Schlagzeilen schon jetzt: >Die Handschrift der<br />
CIA
efolgt, und ich kann nur sagen, dass ich stolz bin, mit Ihnen gedient<br />
zu haben. Die üblichen politischen Tiraden überlasse ich Ihren<br />
Politoffizieren.« Alexejew erlaubte sich ein kleines Lächeln. »Wir<br />
sind Berufsoffiziere der sowjetischen Armee und kennen unsere<br />
Aufgabe. Die Existenz der Rodina hängt von unserer Fähigkeit ab,<br />
sie zu erfüllen. Alles andere ist unwichtig«, schloss er.<br />
101
Schpola, Ukraine<br />
11<br />
Die Schlachtordnung<br />
»Bitte fangen Sie an, Genosse Oberst«, sprach Alexejew in sein<br />
Funkgerät und verkniff sich hinzuzufügen: Wenn du mich blamierst,<br />
kannst du Bäume zählen. Der General befand sich auf einer<br />
Anhöhe fünfhundert Meter westlich des Gefechtsstands des Reg<strong>im</strong>ents,<br />
begleitet von seinem Adjutanten und dem Mitglied des<br />
Politbüros Michail Sergetow.<br />
Erst die Artillerie. Sie sahen die Blitze, lange bevor sie den grollenden<br />
Donner der Schüsse hörten. Die Granaten wurden hinter<br />
einem drei Kilometer entfernten Hügel abgefeuert und flogen links<br />
von ihnen <strong>im</strong> hohen Bogen vorbei, durchschnitten die Luft mit<br />
einem Geräusch, das an reißendes Leinen erinnerte. Der Mann von<br />
der Partei zuckte bei dem Lärm zusammen, wie Alexejew feststellte,<br />
wieder so ein verweichlichter Zivilist.<br />
»Ich habe dieses Geräusch nie gemocht«, sagte Sergejew knapp.<br />
»Kennen Sie es denn, Genosse Minister?« fragte Alexejew beflissen.<br />
»Ich diente vier Jahre in einem motorisierten Schützenreg<strong>im</strong>ent«,<br />
erwiderte er, »und lernte, meinen Kameraden an den Zielplanpausen<br />
nicht zu trauen. Dumm von mir. Verzeihung, Genosse General.«<br />
Dann die Panzergeschütze. Durch Feldstecher sahen sie die<br />
mächtigen Kampfpanzer wie Traumungeheuer aus dem Wald auftauchen<br />
und be<strong>im</strong> gleitenden Vormarsch über das wellige Übungsgelände<br />
aus langen Rohren Feuer spucken. Zwischen den Panzern<br />
verteilt fuhren die Schützenpanzer. Dann flogen die Kampfhubschrauber<br />
von links und rechts das Ziel an und schössen ihre<br />
Lenkflugkörper auf die Bunker- und Panzerfahrzeugattrappen ab.<br />
Das Kampfziel, eine Anhöhe, war inzwischen vor Explosionen<br />
und Erdfontänen kaum noch sichtbar. Alexejew schätzte die Übung<br />
mit geübtem Blick sorgfältig ein. Wer auf dieser Anhöhe saß, hatte<br />
102
es nicht leicht. Selbst auf Schützen in tiefen, engen Löchern, selbst<br />
auf Panzer in verdeckten Stellungen musste das Artilleriefeuer so<br />
erschreckend wirken, dass es den Bedienungsmannschaften der<br />
Lenkwaffen die Konzentration nahm, das Fernmeldepersonal aus<br />
der Fassung brachte, vielleicht sogar die Offiziere behinderte.<br />
Denkbar. Aber das Gegenfeuer der feindlichen Artillerie? Und die<br />
Panzerabwehrhubschrauber und Erdkampfflugzeuge, die auf die<br />
vorrückenden Panzerbataillone niederstoßen konnten? So viele<br />
Gründe, ein Risiko einzugehen, und so viele, es bleiben zu lassen. So<br />
viele Unsicherheitsfaktoren <strong>im</strong> Gefecht. Wenn nun Deutsche diese<br />
Anhöhe hielten? Waren die Deutschen jemals aus der Fassung<br />
geraten? Selbst 1945 vor Berlin nicht.<br />
Zwölf Minuten später hatten die Kampf- und Schützenpanzer<br />
die Höhe erreicht. Die Übung war vorbei.<br />
»Hübsch, Genosse General«, meinte Sergetow und nahm die<br />
Ohrschützer ab. »Wenn ich mich recht entsinne, beträgt die vorgeschriebene<br />
Zeit für diese Übung vierzehn Minuten. Die Panzer und<br />
Infanteriefahrzeuge haben gut zusammengearbeitet. Ich habe zwar<br />
noch nie Kampfhubschrauber <strong>im</strong> Einsatz gesehen, aber auch das<br />
war eindrucksvoll.«<br />
»Die entscheidende Verbesserung wurde bei der Koordinierung<br />
von Artilleriefeuer und Infanterie in der letzten Angriffsphase erzielt.«<br />
»Das Problem kenne ich gut«, meinte Sergetow lachend. »Meine<br />
Kompanie hatte zwar keine Verluste zu verzeichnen, aber zwei<br />
Freunde von mir wurden von der eigenen Artillerie verletzt, zum<br />
Glück nicht ernsthaft.«<br />
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Genosse Minister,<br />
es freut mich, dass auch Mitglieder des Politbüros dem Staat in<br />
Uniform gedient haben. Das erleichtert uns armen Soldaten die<br />
Kommunikation.« Ein Freund bei Hof konnte nicht schaden, fand<br />
Alexejew, und Sergetow schien ein anständiger Kerl zu sein.<br />
»Mein älterer Sohn wurde erst <strong>im</strong> letzten Jahr aus dem Militärdienst<br />
entlassen. Und mein jüngerer Sohn wird nach Abschluß<br />
seiner Studien in der Roten Armee dienen.«<br />
So etwas bekam der General nur selten zu hören. Alexejew setzte<br />
den Feldstecher ab und starrte den Mann von der Partei kurz an.<br />
»Sie brauchen es nicht auszusprechen, Genosse General.« Sergetow<br />
lächelte. »Ich weiß, die Sprösslinge hoher Parteifunktionäre<br />
103
wählen nur selten eine solche Karriere. Aber wer herrschen will,<br />
muss erst dienen lernen. So, und nun habe ich einige Fragen an<br />
Sie...<br />
»Bitte folgen Sie mir. Genosse Minister.« Die beiden Männer<br />
gingen zurück zu Alexejews gepanzertem Gefechtsstandsfahrzeug.<br />
Der Adjutant entfernte sich, nachdem er die Besatzung des umgebauten<br />
Mannschaftstransportwagens entlassen hatte, und ließ Sergetow<br />
und Alexejew allein. Der General schenkte aus einer Thermosflasche<br />
heißen Tee ein.<br />
»Auf Ihr Wohl, Genosse Minister."<br />
"Und auf Ihres, Genosse General.« Sergetow trank einen kleinen<br />
Schluck und stellte die Tasse auf den Kartentisch. »So, und<br />
nun zur Hauptsache: Wie ist unsere Bereitschaft für Roter<br />
Sturm?«<br />
»Es sieht gegenüber Januar bemerkenswert besser aus. Unsere<br />
Männer sind fit und haben ihre Aufgaben unablässig geübt. Aufrichtig<br />
gesagt, würde ich mir lieber noch zwei Monate Zeit nehmen,<br />
aber ja: Wir sind bereit.«<br />
»Gut gesagt, Pawel Leonidowitsch. Und darf ich jetzt bitte die<br />
Wahrheit hören?« meinte Sergetow mit einem Lächeln.<br />
Alexejew war trotzdem sofort auf der Hut. »Ich bin kein Narr,<br />
Genosse Minister. Es wäre Wahnsinn, Ihnen etwas vorzulügen.«<br />
»Bei uns ist die Wahrheit oft der größere Wahnsinn. Lassen Sie<br />
uns ganz offen miteinander reden. Gewiss, ich habe Macht, aber<br />
wir beide kennen ihre Grenzen. Es sind <strong>im</strong> Augenblick nur Kandidaten<br />
des Politbüros draußen bei unseren Einheiten, und es ist<br />
unser Auftrag, den Vollmitgliedern Bericht zu erstatten. Sind wir<br />
wirklich bereit, Genosse General? Werden wir siegen?«<br />
»Ja, wenn uns ein strategischer Überraschungseffekt gelingt und<br />
die maskirowka Erfolg hat, sollten wir siegen können«, erwiderte<br />
Alexejew vorsichtig.<br />
»Ein Sieg ist also nicht garantiert?«<br />
»Sie haben gedient. Genosse Minister. Auf dem Gefechtsfeld ist<br />
nichts garantiert. Die Qualität einer Armee erweist sich erst, wenn<br />
Blut geflossen ist. Das ist bei unserer nicht der Fall. Wir haben<br />
alles in unseren Kräften Stehende getan, um sie auf ihre Aufgabe<br />
vorzubereiten «<br />
»Sie wollten noch zwei Monate haben«, stellte Sergetow fest.<br />
»Mit einer solchen Aufgabe ist man nie wirklich fertig. Es gibt<br />
104
<strong>im</strong>mer wieder etwas, das noch verbessert werden kann. Erst vor<br />
einem Monat begannen wir. hohe Offiziere auf Bataillons- und<br />
Reg<strong>im</strong>entsebene durch jüngere, energischere Männer zu ersetzen,<br />
eine Maßnahme, die sehr erfolgreich war. Doch eine Reihe von<br />
jungen Hauptleuten, die nun die Funktion eines Majors erfüllen,<br />
könnte noch mehr Erfahrungen sammeln.«<br />
„Sie haben also <strong>im</strong>mer noch Zweifel?«<br />
»Zweifel wird es <strong>im</strong>mer geben, Genosse Minister. Ein Krieg läßt<br />
sich nicht angehen wie eine Mathematikaufgabe. Wir haben es mit<br />
Menschen zu tun, nicht mit Zahlen.«<br />
»Gut, Pawel Leonidowitsch, sehr gut. Sie sind ein ehrlicher<br />
Mann.« Sergetow hob die Teerasse und trank dem General zu. »Ich<br />
kam hierher, weil ein Genosse aus dem Politbüro, Pjotr Bromkowski,<br />
mir von Ihrem Vater erzahlte.«<br />
»Onkel Petja?« Alexejew nickte. »Er war be<strong>im</strong> Vorstoß auf Wien<br />
Kommissar in der Division meines Vaters und besuchte uns oft, als<br />
ich noch klein war. Geht es ihm gut?«<br />
»Nein, er ist alt und krank. Er hält den Angriff gegen den Westen<br />
für Wahnsinn. Mag sein, dass er ein bisschen senil ist, aber da er sich<br />
<strong>im</strong> Krieg ausgezeichnet hat, wollte ich hören, wie Sie unsere Chancen<br />
einschätzen. Keine Angst, ich werde Sie nicht denunzieren. Zu<br />
viele Leute haben Angst, uns, dem Politbüro, die Wahrheit zu<br />
sagen. Aber es ist Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich will<br />
Ihre fachmännische Meinung hören.« Was als Bitte begonnen<br />
hatte, endete als barscher Befehl.<br />
Alexejew sah seinem Gast fest in die Augen. Der Charme war<br />
verflogen, ihr Blau war kalt. Hier drohte Gefahr, selbst einem<br />
General, aber was der Mann gesagt hatte, st<strong>im</strong>mte.<br />
»Genosse, wir planen einen raschen Feldzug und erwarten, den<br />
Rhein innerhalb von zwei Wochen zu erreichen. Diese Einschätzung<br />
ist sogar noch zurückhaltender als die Pläne, die vor fünf<br />
Jahren galten. Die Nato hat ihren Bereitschaftsgrad erhöht, insbesondere<br />
ihre Panzerabwehr verbessert. Ich persönlich halte drei<br />
Wochen für ein realistischeres Ziel, abhängig vom Überraschungsmoment<br />
und den vielen Imponderabilien <strong>im</strong> Krieg.«<br />
»Das Überraschungsmoment ist also entscheidend?«<br />
»Das ist es <strong>im</strong>mer«, erwiderte Alexejew sofort und zitierte die<br />
sowjetische Militärdoktrin: »Im Krieg ist Überraschung der wichtigste<br />
Faktor. Die taktische Überraschung ist eine operative Kunst,<br />
105
die ein geschickter Truppenführer <strong>im</strong> allgemeinen beherrscht. Strategische<br />
Überraschung erzielt man auf politischer Ebene. Das ist<br />
ihre Aufgabe, und das ist wichtiger als alles, was wir hier bei der<br />
Armee leisten können. Wenn ein echtes strategisches Überraschungsmoment<br />
erzielt wird, wenn unsere maskirowka klappt,<br />
ist der Sieg so gut wie sicher.«<br />
»Und wenn nicht?«<br />
Dann haben wir acht Kinder umsonst ermordet, dachte Alexejew.<br />
Welche Rolle hatte dieser charmante Bursche dabei gespielt?<br />
»Dann kann der Erfolg ausbleiben. Würden Sie mir bitte eine Frage<br />
beantworten? Können wir die Nato politisch spalten?«<br />
Sergetow zuckte die Achseln und war gereizt, weil er in seine<br />
eigene Falle gegangen war. »Wie Sie sagten, Pawel Leonidowitsch,<br />
gibt es viele Imponderabilien. Was, wenn das Unternehmen keinen<br />
Erfolg hat?«<br />
»Dann wird der Krieg eine Willens- und Nervenprobe. Hierbei<br />
sollten wir gewinnen. Wir können leichter Verstärkung heranführen.<br />
Außerdem haben wir nahe der Gefechtszone mehr Truppen,<br />
Panzer und Flugzeuge als die Nato-Mächte.«<br />
»Und Amerika?«<br />
»Amerika liegt jenseits des Atlantiks, für dessen Sperrung wir<br />
einen Plan haben. Gewiss, Amerika kann Truppen nach Europa<br />
fliegen, aber keine Waffen, keinen Treibstoff. Dazu braucht man<br />
Schiffe, und die sind leichter zu zerstören als eine kämpfende Division.<br />
Wenn das volle Überraschungsmoment nicht erzielt werden<br />
kann, wird das Operationsgebiet Atlantik äußerst wichtig sein.«<br />
»Und etwaige Überraschungen von seiten der Nato?«<br />
Der General lehnte sich zurück. »Es liegt in der Natur von<br />
Überraschungen, dass sie sich nicht vorhersagen lassen, Genosse. Es<br />
ist die Aufgabe unserer Gehe<strong>im</strong>dienste, sie zu reduzieren oder ganz<br />
auszuschalten. Aus diesem Grund berücksichtigt unser Plan eine<br />
Reihe von Eventualitäten. Was zum Beispiel, wenn der Überraschungseffekt<br />
gänzlich verloren geht und die Nato vor uns angreift?«<br />
Er hob die Schultern. »Weit käme sie nicht, stiftete aber<br />
Verwirrung. Sorgen macht mir nur noch eine nukleare Reaktion,<br />
aber das ist eher eine politische Frage.«<br />
»Allerdings.« Sergetows Sorge galt seinem älteren Sohn. Wenn<br />
die Reservisten einberufen wurden, musste Iwan in seinen Panzer<br />
klettern, und man brauchte kein Mitglied des Politbüros zu sein,<br />
106
um zu wissen, wohin er rollen würde. Alexejew hatte nur Töchter.<br />
Glückspilz, dachte Sergetow und sagte laut: »Und diese Einheit hier<br />
kommt nach Deutschland?«<br />
»Ja, Ende der Woche.«<br />
»Und Sie?«<br />
»Während der ersten Phase des Krieges ist es unsere Aufgabe, als<br />
strategische Reserve für die Operationen des OB West zu fungieren<br />
und mögliche Übergriffe gegen die Südflanke abzuwehren. Aber<br />
das macht uns keinen großen Kummer. Griechenland und die Türkei<br />
müssten kooperieren, um uns zu bedrohen; eine Möglichkeit,<br />
die ausgeschlossen ist, wenn sich unser Gehe<strong>im</strong>dienst nicht völlig<br />
irrt. Mein OB und ich werden später Phase zwei des Plans durchführen<br />
und den Persischen Golf besetzen. Die Araber sind bis an die<br />
Zähne bewaffnet, aber ihre Zahl ist gering. Was tut Ihr Sohn <strong>im</strong><br />
Augenblick?«<br />
»Mein Ältester? Der hat gerade mit Erfolg das erste Jahr seines<br />
Arabistikstudiums abgeschlossen.« Sergetow war überrascht, <strong>im</strong><br />
Zusammenhang mit Roter Sturm daran nicht gedacht zu haben.<br />
»Solche Leute können wir gebrauchen. Wer sonst bei uns Arabisch<br />
kann, ist meist selbst Moslem, und für den Einsatz <strong>im</strong> Persischen<br />
Golf würde ich zuverlässigere Männer bevorzugen.«<br />
»Trauen Sie den Söhnen Allahs denn nicht?«<br />
»Im Krieg traue ich keinem. Wenn Ihr Sohn Arabisch beherrscht,<br />
werde ich Verwendung für ihn finden.« Das Übereinkommen<br />
wurde mit Kopfnicken bestätigt, und beide fragten sich, ob der<br />
andere das nicht geplant hatte.<br />
Norfolk, Virginia<br />
»>Fortschritt< ist nicht wie geplant zu Ende gegangen«, sagte Toland.<br />
»Satelliten und andere Aufklärungsmittel zeigen, dass die<br />
sowjetischen Kräfte in Ostdeutschland und Westpolen noch <strong>im</strong>mer<br />
in Gefechtsformation <strong>im</strong> Feld liegen. Es gibt auch Hinweise, dass an<br />
mehreren Stellen in der Sowjetunion Züge zusammengestellt werden<br />
- und zwar auf Verschiebebahnhöfen, deren Lage mit einem<br />
Plan zum Transport zahlreicher Truppen nach Westen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
stehen könnte. Heute früh liefen sechs U-Boote der sowjetischen<br />
Nordflotte aus, offenbar, um <strong>im</strong> Mittelmeer operierende<br />
107
Verbände abzulösen. Im Lauf der nächsten zwei Wochen werden<br />
sich also mehr russische U-Boote als gewöhnlich <strong>im</strong> Nordatlantik<br />
befinden.«<br />
»Informieren Sie mich näher über die Verbände, die <strong>im</strong> Mittelmeer<br />
abgelöst werden«, befahl der CINCLANT.<br />
»Es handelt sich um ein Victor, ein Echo, drei Foxtrott und ein<br />
Juliet. Die letzte Woche verbrachten sie längsseits eines Tenders in<br />
Tripoli - das Mutterschiff blieb in libyschen Gewässern zurück. Die<br />
Straße von Gibraltar werden sie morgen um 13.00 Uhr Zulu-Zeit<br />
passieren.«<br />
»Sie warten also nicht auf die erste Ablösung?«<br />
»Nein, Admiral. Gewöhnlich wartet man, bis die ablösenden<br />
Verbände ins Mittelmeer eingefahren sind, aber in drei von zehn<br />
Fällen verfährt man so. Es sind also zwölf sowjetische Boote nach<br />
Norden und nach Süden unterwegs, dazu ein November und drei<br />
weitere Foxtrott, die mit der kubanischen Marine geübt haben.<br />
Auch letztere liegen am Mutterschiff, wie wir heute Vormittag<br />
feststellten - die Information ist gerade zwei Stunden alt.«<br />
»Gut, und wie sieht es in Europa aus?«<br />
»Keine weiteren Informationen über Falk. Die Nachrichtendienste<br />
der Nato rannten gegen eine Wand, und auch in Moskau<br />
verlautete nichts Neues, noch nicht einmal das Datum der Gerichtsverhandlung.<br />
Die Deutschen wissen überhaupt nichts über den<br />
Mann. Man hat seine Wohnung Stück für Stück auseinandergenommen<br />
und nichts Belastendes gefunden«<br />
»Gut, Commander, was halten Sie persönlich davon?«<br />
»Admiral, Falk ist meiner Meinung nach ein sowjetischer Agent,<br />
der vor dreizehn Jahren in die Bundesrepublik eingeschleust wurde<br />
und dort bis jetzt als Maulwurf lebte.«<br />
»Sie halten das Ganze also für eine Operation des sowjetischen<br />
Gehe<strong>im</strong>dienstes. Überrascht mich nicht. Was ist der Zweck der<br />
Übung?« fragte der CINCLANT scharf.<br />
»Sir, bestenfalls soll ungeheurer politischer Druck auf Westdeutschland<br />
ausgeübt, das Land vielleicht sogar aus der Nato getrieben<br />
werden. Schl<strong>im</strong>mstenfalls -«<br />
»Danke, das schl<strong>im</strong>mste Szenarium haben wir bereits erstellt.<br />
Gut gemacht, Toland. Und ich muss mich wegen gestern bei Ihnen<br />
entschuldigen. Es war nicht Ihre Schuld, dass nicht alle Daten<br />
vorlagen, die ich haben wollte.« Toland blinzelte ungläubig. Es<br />
108
kam nicht oft vor, dass sich ein Vier-Sterne-Admiral vor anderen<br />
Offizieren bei einem Lieutenant Commander der Reserve entschuldigte.<br />
»Was treibt Ihre Flotte?«<br />
»Admiral, wegen schlechter Witterungsverhältnisse liegen keine<br />
Satellitenfotos von Murmansk vor, aber wir rechnen damit, dass es<br />
bis morgen nachmittag aufklart. Die Norweger haben ihre Patrouillen<br />
in der Barentssee intensiviert und sagen, dass abgesehen<br />
von den U-Booten <strong>im</strong> Augenblick nur wenige russische Schiffe auf<br />
See sind. Aber das ist schon seit einem Monat so.«<br />
»Und lässt sich innerhalb von drei Stunden ändern«, merkte ein<br />
Admiral an. »Wie ist es Ihrer Einschätzung nach um den Bereitschaftsgrad<br />
der Flotte bestellt?«<br />
»Seit ich begann, mich mit ihm zu befassen, war er noch nie so<br />
hoch«, erwiderte Toland. »Praktisch hundert Prozent. Wie Sie<br />
gerade sagten, Sir, können die Russen jederzeit mit ihrem gesamten<br />
Inventar in See stechen.«<br />
»Wenn sie auslaufen, werden wir das bald erfahren«, meinte<br />
Admiral Pipes. » Drei meiner Boote behalten dort oben die Dinge <strong>im</strong><br />
Auge.«<br />
»Ehe ich hierher kam, sprach ich mit dem Verteidigungsminister.<br />
Er wird sich heute mit dem Präsidenten treffen und um Verteidigungsstufe<br />
DEFCON 3, global, ersuchen. Die Deutschen haben<br />
gebeten, Spirale Grün in Kraft zu belassen, bis die russischen Aktivitäten<br />
abebben. Was haben die Sowjets Ihrer Ansicht nach vor,<br />
Commander?« fragte der CINCLANT.<br />
»Sir, bis heute Nachmittag werden wir mehr wissen. Der Generalsekretär<br />
wird bei einer Sondersitzung des Obersten Sowjet und<br />
vielleicht auch morgen bei der Beerdigung sprechen.«<br />
»Sent<strong>im</strong>entaler Sack«, grollte Pipes.<br />
Eine Stunde später saß Toland <strong>im</strong> Büro vor dem Fernseher und<br />
vermisste Chuck Lowe, der ihm bei der Übersetzung hätte helfen<br />
können. Der Generalsekretär hatte die unangenehme Angewohnheit,<br />
so rasch zu sprechen, dass Toland nur mit Mühe folgen konnte.<br />
Die vierzig Minuten lange Rede bestand zu drei Vierteln aus den<br />
üblichen politischen Phrasen. Am Ende jedoch gab der Generalsekretär<br />
die Mobilisierung der Reserveeinheiten der Kategorie II<br />
bekannt, um der deutschen Bedrohung entgegenzutreten.<br />
109
12<br />
Arrangements für Begräbnisse<br />
Norfolk, Virginia<br />
Das Haus der Allunionskonferenz war ungewöhnlich voll, wie<br />
Toland feststellte. Normalerweise wurden mit solchem Pomp nur<br />
Helden begraben. Einmal hatten hier drei Kosmonauten aufgebahrt<br />
gelegen, doch nun ging es um elf Helden. Acht Junge Oktobristen<br />
aus Pskow und drei Beamte, die dem Politbüro zugearbeitet<br />
hatten, lagen umgeben von einem Blumenmeer in polierten Särgen<br />
aus Birkenholz. Toland sah genauer hin. Die Särge standen erhöht,<br />
so dass man die Opfer sehen konnte, aber zwei Gesichter waren mit<br />
schwarzer Seide abgedeckt, und gerahmte Fotos auf den Särgen<br />
zeigten, wie die Kinder <strong>im</strong> Leben ausgesehen hatten.<br />
Die Säulenhalle war schwarz und rot drapiert, selbst die Lüster<br />
hatte man für diesen feierlichen Anlass verhängt. Die Familien der<br />
Opfer, Eltern ohne ihre Kinder sowie Frauen und Kinder ohne ihre<br />
Väter, standen aufgereiht. Ihre Gesichter verrieten weniger Emotionen<br />
als einen Schock; offenbar hatten sie sich noch nicht mit dem<br />
Schicksalsschlag abgefunden und hofften noch <strong>im</strong>mer, aus diesem<br />
Alptraum aufzuwachen und ihre Lieben gesund in ihren Betten<br />
vorzufinden.<br />
Der Generalsekretär schritt die Reihe der Trauernden ab, umarmte<br />
jeden und hatte ein schwarzes Band am Ärmel, das <strong>im</strong><br />
Kontrast zu dem Leninorden an seinem Revers stand. Toland konzentrierte<br />
sich auf sein Gesicht. Der Mann war erschüttert. Fast<br />
konnte man sich vorstellen, dass seine eigene Familie betroffen war.<br />
Eine Mutter ließ sich umarmen, dann küssen und brach fast<br />
zusammen, fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.<br />
Noch vor ihrem Mann lag der Generalsekretär neben ihr auf den<br />
Knien, zog ihren Kopf an seine Schultern. Einen Augenblick später<br />
half er ihr auf die Beine und schob sie sanft in die schützenden Arme<br />
ihres Mannes, eines Hauptmanns der sowjetischen Armee, dessen<br />
Gesicht eine steinerne Maske war.<br />
110
Allmächtiger, dachte Toland, das hätte selbst Eisenstein nicht<br />
besser inszenieren können.<br />
Kaltherziges Schwein, dachte Sergetow, der mit dem Rest des<br />
Politbüros links von den Särgen stand. Er hielt das Gesicht den<br />
Särgen zugewandt, schaute aber zur Seite und musste Fernsehkameras<br />
entdecken, die die Zeremonie aufzeichneten. Die ganze Welt<br />
würde sie miterleben, hatte man ihm versichert; so perfekt war also<br />
der vorletzte Akt der maskirowka organisiert. Eine Ehrengarde aus<br />
Soldaten der Roten Armee und Jungen Pionieren bewachte die<br />
ermordeten Kinder. Geigen schluchzten. Was für eine Maskerade!<br />
sagte sich Sergetow. Seht nur, wie rührend wir uns um die Hinterbliebenen<br />
unserer Opfer kümmern! In seinen fünfunddreißig Jahren<br />
in der Partei hatte er genügend Lügen gehört und erzählt, aber<br />
diese Szene stellte alles in den Schatten. Sein Blick kehrte zögernd zu<br />
dem wächsernen Gesicht eines Kindes zurück. Wie oft war er<br />
abends he<strong>im</strong>gekommen und hatte sich seine schlafenden, inzwischen<br />
erwachsenen Kinder angeschaut, davon überzeugt, dass sie<br />
normal atmen, dem Schnüffeln gelauscht, wenn eines erkältet war,<br />
dem Murmeln, wenn eins träumte. Wie oft hatte er sich eingeredet,<br />
dass er und die Partei für ihre Zukunft arbeiteten? Kriegst keinen<br />
Schnupfen mehr, Kleines, sagte er stumm zu einem Kind. Und aus<br />
ist's mit den Träumen. Da siehst du, was die Partei für deine<br />
Zukunft geleistet hat. Als ihm die Tränen kamen, wurde er wütend<br />
auf sich selbst, denn seine Genossen mochten glauben, das gehörte<br />
zur Vorstellung. Am liebsten hätte er sich umgeschaut und betrachtet,<br />
was seine Kollegen vom Politbüro von ihrem Werk hielten. Fast<br />
wünschte sich Sergetow, das Gebäude fünf Minuten früher betreten<br />
zu haben. Lieber tot, als von einer solchen Infamie profitieren. Aber<br />
in diesem Fall hätte er bei dieser Farce eine noch größere Rolle<br />
gespielt.<br />
Norfolk, Virginia<br />
»Genossen, vor uns liegen die unschuldigen Kinder unseres Volkes«,<br />
begann der Generalsekretär so langsam und leise, dass Toland<br />
das Dolmetschen leichter fiel. Neben ihm stand der Chef von CIN-<br />
CLANTs Nachrichtendienstabteilung. »Ermordet von der teuflischen<br />
Maschinerie des Staatsterrorismus. Hingeschlachtet von<br />
111
einem Volk, das unser Vaterland zwe<strong>im</strong>al mir üblen Träumen von<br />
Eroberung und Mord überfiel. Vor uns liegen die einfachen, treuen<br />
Diener der Partei, von faschistischer Aggression zu Märtyrern gemacht.<br />
Genossen, den Familien dieser unschuldigen Kinder, den<br />
Familien dieser braven Männer sage ich, dass der Tag der Abrechnung<br />
kommen wird. Die Toten bleiben unvergessen. Dieses gemeine<br />
Verbrechen wird gesühnt werden ...«<br />
»Guter Gott.« Toland schaute zu seinem Vorgesetzten auf.<br />
»Das ist es: Es gibt Krieg, Bob. Gehen wir zum Chef.«<br />
»Sind Sie ganz sicher?« fragte der CINCLANT.<br />
»Möglich, dass sie sich mit weniger zufrieden geben«, erwiderte<br />
Toland, »aber das bezweifle ich. Diese Operation hat die russische<br />
Bevölkerung auf eine noch nie da gewesene Weise aufgehetzt.«<br />
»Reden Sie nicht um den Brei herum. Sie sagen, dass diese Menschen<br />
absichtlich ermordet wurden, um eine Krise heraufzubeschwören.«<br />
Der CINCLANT starrte auf seine Schreibtischplatte.<br />
»Kaum zu glauben.«<br />
»Admiral, entweder glauben wir das, oder wir glauben, dass die<br />
westdeutsche Regierung auf eigene Faust beschlossen hat, einen<br />
Krieg mit der Sowjetunion vom Zaun zu brechen.«<br />
»H<strong>im</strong>mel noch mal, warum denn?«<br />
»Das wissen wir nicht, Sir. Vorgänge sind leichter zu ergründen<br />
als Gründe.«<br />
Der CINCLANT stand auf und ging in eine Ecke des Dienstz<strong>im</strong>mers.<br />
Es gab Krieg, aber er wusste nicht, warum. Er wollte den<br />
Grund wissen.<br />
»Wir berufen die Reserven ein. Toland, Sie haben in den vergangenen<br />
zwei Monaten verdammt gute Arbeit geleistet. Ich werde Ihre<br />
Beförderung zum Commander beantragen. Was ich für Sie vorhabe,<br />
liegt zwar außerhalb Ihres normalen Dienstbereichs, aber ich<br />
glaube, dass Sie es schaffen. Ich versetze Sie zum Stab des Befehlshabers<br />
der Zweiten Flotte auf einen Flugzeugträger.«<br />
» Es wäre schön, wenn ich noch ein, zwei Tage mit meiner Familie<br />
verbringen könnte, Sir.«<br />
Der Admiral nickte. »Das sind wir Ihnen schuldig. Die N<strong>im</strong>itz ist<br />
<strong>im</strong> Augenblick ohnehin auf der Überfahrt, und Sie können dann vor<br />
der spanischen Küste an Bord gehen. Melden Sie sich hier am<br />
Mittwoch früh zurück.« Der CINCLANT kam auf ihn zu und<br />
drückte ihm die Hand. »Gut gemacht, Commander.«<br />
112
Zwei Meilen weiter lag die Pharris an ihrem Tender. Ed Morris<br />
stand auf der Brücke und sah zu, wie die mit Raketentreibsätzen<br />
ausgerüsteten ASROC-Torpedos mit einem Kran in den Bug geladen<br />
und dann in die Bunker geschoben wurden. Ein weiterer Kran<br />
senkte achtern Versorgungsmaterial aufs Hubschrauberdeck ab.<br />
Zum ersten Mal in seinen zwei Jahren als Kommandant der Pharris<br />
trug das Schiff die volle Waffenladung. Am achtzelligen ASROC-<br />
Werfer, »Pfefferbüchse« genannt, behoben Techniker eine kleine<br />
Funktionsstörung. Ein anderes Team vom Tender befasste sich<br />
zusammen mit Leuten vom Schiff mit einem Radarproblem. Er war<br />
nun am Ende seiner Wartungs- und Instandsetzungs-Checkliste angelangt.<br />
Die Maschinen der Fregatte funktionierten perfekt, besser<br />
als bei einem fast zwanzig Jahre alten Schiff zu erwarten war. Noch<br />
ein paar Stunden, dann war USS Pharris voll einsatzbereit... Wofür?<br />
»Noch <strong>im</strong>mer kein Einsatzbefehl, Skipper?« fragte der Erste<br />
Offizier.<br />
»Nein, aber wenn Sie mich fragen, wissen selbst die Admiräle<br />
noch nicht, was eigentlich läuft. Morgen früh versammeln sich die<br />
Kommandanten be<strong>im</strong> CINCLANT. Vielleicht erfahre ich dort etwas.«<br />
»Was halten Sie von dieser deutschen Geschichte?«<br />
»Die Krauts, mit denen ich zur See gefahren bin, waren ordentliche<br />
Kerle. Die ganze russische Befehlsstruktur in die Luft sprengen<br />
- so verrückt ist doch keiner.« Morris zuckte die Achseln und zog<br />
eine finstere Miene. »Andererseits musste aber nicht alles auf der<br />
Welt mit Logik zugehen.«<br />
»Skipper, ich hab das Gefühl, dass wir die ASROC brauchen<br />
werden.«<br />
»Da haben Sie leider recht.«<br />
Crofton, Maryland<br />
»Auf See?« fragte Martha Toland ungläubig.<br />
»Da werde ich gebraucht, und da gehöre ich hin, ob es uns nun<br />
paßt oder nicht.« Bob konnte seiner Frau nicht in die Augen sehen.<br />
Es war schon schl<strong>im</strong>m genug, ihre brüchige St<strong>im</strong>me zu hören.<br />
»Bob, ist es wirklich ernst?«<br />
113
»Schwer zu sagen. Schau mal, Martha, Ed Morris und Dan<br />
McCafferty haben inzwischen ihre eigenen Schiffe und müssen<br />
auch fort. Soll ich vielleicht zurückbleiben und mich an Land<br />
verkriechen?«<br />
Die Antwort seiner Frau war vernichtend.<br />
»Das sind Profis, du aber nicht«, sagte sie kalt. »Du spielst den<br />
Wochenendkrieger und reißt einmal <strong>im</strong> Jahr deine zwei Wochen ab,<br />
nur um so zu tun, als wärst du noch bei der Navy. Bob, du bist<br />
Zivilist und gehörst nicht aufs Meer. Kannst ja noch nicht mal<br />
schw<strong>im</strong>men!«<br />
»Und ob!« protestierte Toland, der den Streitpunkt absurd fand.<br />
»So? Seit fünf Jahren habe ich dich nicht mehr <strong>im</strong> Schw<strong>im</strong>mbekken<br />
gesehen. Verdammt noch mal, Bob, und wenn dir etwas passiert?<br />
Was soll ich dann den Kindern sagen?«<br />
»Dass ich mich nicht gedrückt habe« Toland wandte den Kopf<br />
ab. Damit hatte er nicht gerechnet. Martha kam aus einer Navy-<br />
Familie und sollte eigentlich Verständnis haben. Doch nun liefen<br />
ihr die Tränen über die Wangen, und ihre Lippen zuckten. Er nahm<br />
sie in die Arme. »Pass auf, ich komme auf einen Flugzeugträger,<br />
klar? Auf unser größtes, sicherstes, am besten geschütztes Schiff,<br />
umgeben von einem Dutzend anderer Schiffe, die den Gegner auf<br />
Distanz halten, und ausgerüstet mit hundert Flugzeugen. Ich soll<br />
mit herausfinden, was der Gegner vorhat, damit man ihn so fern<br />
wie möglich halten kann. Martha, ich werde gebraucht. Der Admiral<br />
hat mich eigens angefordert. Jemand scheint mich für wichtig zu<br />
halten.« Er lächelte sanft, um die Lüge zu vertuschen. Träger waren<br />
die am besten geschützten Schiffe der Marine, weil sie für die<br />
Russen das Ziel Nummer eins darstellten.<br />
»Verzeihung.« Sie löste sich von ihm und ging ans Fenster. »Was<br />
machen Danny und Ed?«<br />
»Die haben viel mehr zu tun als ich. Dannys Boot ist oben - <strong>im</strong><br />
Augenblick ist er der Sowjetunion näher, als ich es jemals sein<br />
werde. Ed macht klar zum Auslaufen. Er hat ein 1052, ein Begleitschiff,<br />
und wird wahrscheinlich Geleitzüge vor U-Booten schützen.<br />
Beide haben Familie. Du bekamst wenigstens Gelegenheit, mich<br />
noch einmal zu sehen.«<br />
Martha drehte sich um und lächelte zum ersten Mal seit seinem<br />
unerwarteten Auftauchen. »Sei vorsichtig.«<br />
114
Aachen<br />
13<br />
Fremde kommen und gehen<br />
Schuld war der Verkehr. Der Umschlag landete wie versprochen <strong>im</strong><br />
richtigen Postfach, und der Schlüssel paßte auch. Min<strong>im</strong>ale persönliche<br />
Beteiligung. Der Major grollte, weil er sich so exponieren<br />
musste, aber das geschah nicht zum ersten Mal, seit er fürs KGB<br />
arbeitete, und er brauchte diese neuesten Informationen, wenn sein<br />
Auftrag eine Erfolgschance haben sollte.<br />
Der Major faltete den DIN-A-4-Umschlag und steckte ihn in die<br />
Jackentasche, ehe er das Gebäude verließ. Draußen auf dem Gehsteig<br />
überzeugte er sich mit Blicken nach links und rechts, dass er<br />
nicht verfolgt wurde. Alles klar. Der KGB-Offizier hatte ihm versprochen,<br />
das konspirative Haus sei völlig sicher. Vielleicht. Das<br />
Taxi wartete auf der anderen Straßenseite. Er hatte es eilig. Die<br />
Autos hielten vor der Ampel, und er beschloß, die Straße auf der<br />
Stelle zu überqueren und nicht erst den Umweg zum Fußgängerübergang<br />
zu machen. Als sich der Verkehr wieder in Bewegung<br />
setzte, trat er vom Bordstein, ohne sich umzusehen.<br />
Den beschleunigenden Peugeot nahm er überhaupt nicht wahr.<br />
Dessen Geschwindigkeit betrug nur fünfundzwanzig Stundenkilometer,<br />
aber das reichte. Der rechte Kotflügel erwischte den Major<br />
an der Hüfte, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn gegen einen<br />
Laternenpfahl. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde er ohnmächtig,<br />
was eine Gnade war, denn das rechte Hinterrad des Peugeot<br />
zerquetschte ihm beide Fußgelenke. Seine Kopfverletzungen waren<br />
schwer. Er lag reglos auf dem Bauch, und aus einer Hauptarterie<br />
schoß eine Blutfontäne auf den Gehsteig. Der Wagen hielt sofort<br />
an, die Fahrerin sprang heraus, um zu sehen, was sie angerichtet<br />
hatte. Ein Kind, das noch nie viel Blut gesehen hatte, schrie, ein<br />
Briefträger rannte los, um einen Polizisten zu holen, und ein anderer<br />
Mann rief in einem Laden den Krankenwagen.<br />
Der Verkehr war zum Stillstand gekommen. Der Taxifahrer stieg<br />
115
aus, überquerte die Straße und versuchte, an den Verletzten heranzukommen,<br />
doch über den beugten sich schon sechs Männer.<br />
»Der ist tot«, verkündete einer, und der Major sah auch tatsächlich<br />
so aus. Die Fahrerin des Peugeot versuchte den Umstehenden<br />
zu erklären, der Mann sei ihr direkt ins Auto gelaufen, und sie habe<br />
nicht mehr bremsen können, aber da sie das auf französisch tat,<br />
komplizierte sie das Ganze nur noch mehr.<br />
Der Taxifahrer hatte sich durch die Schaulustigen gedrängt und<br />
konnte den Verletzten nun fast berühren. Er musste unbedingt den<br />
Umschlag an sich bringen... Doch dann traf der Polizist ein.<br />
»Alles zurück!« befahl der Beamte. Ein Zuschauer meldete, der<br />
Krankenwagen sei bereits verständigt. Der Polizist nickte knapp<br />
und sah zu seiner Erleichterung einen Hauptwachtmeister herannahen.<br />
»Krankenwagen?»<br />
»Schon unterwegs, Herr Hauptwachtmeister. Mein Name ist<br />
Dieter, Verkehrspolizei.«<br />
»Wer hat das Fahrzeug gelenkt?« fragte der Hauptwachtmeister.<br />
Die Fahrerin begann stockend auf französisch zu berichten. Ein<br />
Mann, der das Ganze mit angesehen hatte, unterbrach sie.<br />
»Der Mann trat vom Gehsteig, ohne sich umzusehen. Der Dame<br />
blieb keine Zeit zum Bremsen. Ich bin Bankier und kam direkt<br />
hinter diesem Mann aus dem Postamt. Meine Karte.« Der Banker<br />
reichte dem Hauptwachtmeister seine Geschäftskarte.<br />
»Vielen Dank, Herr Dr. Müller. Darf ich Sie bitten, eine Aussage<br />
zu machen?«<br />
»Selbstverständlich. Ich komme gleich mit zur Wache.«<br />
Der Taxifahrer stand am Rand der Menschenmenge. Als erfahrener<br />
KGB-Führungsoffizier sah er nicht zum ersten Mal eine Operation<br />
scheitern, aber dieser Zwischenfall war einfach absurd. Da lag<br />
der stolze Speznas-Mann, umgefahren von einer angejahrten Französin!<br />
Warum hatte er nicht auf den Verkehr geachtet? Ich hätte<br />
den Umschlag von jemand anderem abholen lassen sollen, dachte<br />
er, scheiß auf die Befehle. Wie soll ich das der Zentrale beibringen?<br />
Wenn etwas schief ging, war nie die Zentrale schuld.<br />
Dann traf der Krankenwagen ein. Der Hauptwachtmeister zog<br />
dem Verletzten die Brieftasche aus der Hose. Das Opfer hieß Siegfried<br />
Baum und kam aus Hamburg-Altona. Er beschloß, mit dem<br />
Verletzten ins Krankenhaus zu fahren.<br />
116
Die Sanitäter gingen zügig ans Werk. Dem Verletzten wurde<br />
eine Halskompresse umgelegt, und er kam dann auf die Bahre.<br />
Der Hauptwachtmeister schaute auf die Uhr und stellte fest, dass<br />
die ganze Prozedur nur sechs Minuten in Anspruch genommen<br />
hatte. Dann stieg er in den Krankenwagen.<br />
»Wie ernst ist es?« fragte er.<br />
»Vermutlich Schädelbruch, starker Blutverlust. Wie ist das passiert?«<br />
»Unachtsamkeit be<strong>im</strong> Überqueren der Straße.«<br />
»Idiot«, kommentierte der Sanitäter. »Als hätten wir nicht<br />
schon so genug zu tun.«<br />
»Kommt der durch?«<br />
»Hängt von der Kopfverletzung ab.« Der Sanitäter zuckte die<br />
Achseln. »Na, er kommt sofort auf den Operationstisch. Haben<br />
Sie seine Personalien? Ich muss ein Formular ausfüllen.«<br />
»Baum, Siegfried, Kaiserstraße 17, Hamburg-Altona.«<br />
»Hm, sein Blutdruck fällt rasch.«<br />
Der Fahrer zog den Krankenwagen in eine scharfe Linkskurve,<br />
und das Martinshorn schaffte freie Bahn. Eine Minute später hielten<br />
sie vor der Poliklinik an, wo schon ein Arzt und zwei Pfleger<br />
warteten.<br />
Innerhalb von zehn Minuten war eine Intubation vorgenommen<br />
worden, der Patient erhielt eine Bluttransfusion und hing am<br />
Tropf. Dann wurde er in die Neurochirurgie gebracht. Der Hauptwachtmeister<br />
blieb mit dem Krankenhausarzt in der Notaufnahme.<br />
»So, und wer ist das?« fragte der junge Doktor. Der Polizeibeamte<br />
nannte ihm die Personalien.<br />
»Ein Deutscher?«<br />
»Wieso, finden Sie das sonderbar?«<br />
»Über Funk hieß es, der Verletzte sei Ausländer.«<br />
»Das Unfallfahrzeug wurde von einer Französin gesteuert.«<br />
»Ach so. Ich hielt den Mann für den Ausländer.«<br />
»Wieso?«<br />
»Als ich ihm den Schlauch einführte, fielen mir seine schlampigen<br />
Plomben auf.«<br />
»Vielleicht stammt er aus der Ostzone«, meinte der Hauptwachtmeister.<br />
Der Arzt schnaubte.<br />
»So eine Stümperei verzapft doch kein Deutscher. Das kann ja<br />
117
jeder Klempner besser!« Der Arzt füllte rasch das Aufnahmeformular<br />
aus.<br />
»Wo sind seine Sachen?« Der Hauptwachtmeister war von Natur<br />
aus neugierig; einer der Gründe, weshalb er nach der Bundeswehr<br />
zur Polizei gegangen war. Der Arzt führt ihn in ein Z<strong>im</strong>mer, in<br />
dem die persönliche Habe des Patienten aufbewahrt wurde. Sie<br />
fanden die Kleidung säuberlich gefaltet vor; Jackett und Hemd<br />
lagen getrennt, damit die Blutflecke nichts anderes beschmutzten.<br />
Kleingeld, ein Schlüsselbund und ein großer Umschlag wurden<br />
gerade von einem Pfleger registriert.<br />
Der Polizeibeamte griff nach dem braunen Umschlag. Er war am<br />
Vortag in Stuttgart aufgegeben worden. Porto zehn Mark. Auf eine<br />
Eingebung hin schlitzte er den Umschlag mit seinem Taschenmesser<br />
auf. Weder der Arzt noch der Pfleger erhoben Einspruch. Immerhin<br />
war der Mann Polizeibeamter.<br />
Der Umschlag enthielt unter anderem ein »Gehe<strong>im</strong>« gestempeltes<br />
Bundeswehrdokument, das den Namen Lammersdorf trug. Der<br />
Hauptwachtmeister hielt die Lageskizze einer Nato-Fernmeldezentrale<br />
in der Hand, die keine dreißig Kilometer entfernt war. Er war<br />
Hauptmann der Reserve und hatte für den MAD gearbeitet. Wer<br />
war dieser Siegfried Baum? Er musterte den Rest des Inhalts und<br />
ging dann ans Telefon.<br />
Rota, Spanien<br />
Das Düsentransportflugzeug landete pünktlich. Toland stieg aus<br />
der Frachttür und wurde von einer leichten Brise begrüßt. Zwei<br />
Seeleute nahmen ihn in Empfang und wiesen auf einen Hubschrauber,<br />
dessen Rotor sich bereits drehte. Zusammen mit vier anderen<br />
Männern kletterte er rasch an Bord und war Minuten später in der<br />
Luft; sein erster Besuch in Spanien hatte genau elf Minuten gewährt.<br />
Niemand unternahm den Versuch, eine Unterhaltung anzufangen.<br />
Toland schaute aus einem der kleinen Fenster, sah blaues<br />
Wasser. Sie befanden sich in einem U-Jagd-Hubschrauber des Typs<br />
Sea King. Der Chef der Besatzung war ein Sonar-Operator, der an<br />
seinen Geräten drehte, offenbar einen Test durchführte. Im Helikopter<br />
war es eng: Achtern waren Sonobojen verstaut, aller verfügbare<br />
Raum wurde von Waffen und Sensorinstrumenten eingenom<br />
118
men. Nach halbstündigem Flug begann der Hubschrauber zu kreisen<br />
und landete dann auf der USS N<strong>im</strong>itz.<br />
Auf dem Flugdeck war es heiß, laut, und es stank nach Kerosin.<br />
Ein Besatzungsmitglied wies sie zu einer Leiter, hinunter zur Laufplanke<br />
rings ums Flugdeck und in einen Durchgang. Hier betraten<br />
sie eine ruhige, kl<strong>im</strong>atisierte und gegen den Fluglärm von oben<br />
abgeschirmte Atmosphäre.<br />
»Lieutenant Commander Toland?« rief ein Verwaltungsunteroffizier.<br />
»Hier.«<br />
»Bitte kommen Sie mit mir, Sir.«<br />
Toland folgte dem Seemann durch ein Labyrinth von Räumen<br />
unter dem Flugdeck und wurde schließlich zu einer offenen Tür<br />
gewiesen.<br />
»Sie müssen Toland sein«, erklärte ein etwas erschöpft wirkender<br />
Offizier. »Was wollen Sie zuerst hören - die guten Nachrichten<br />
oder die schlechten?«<br />
»Die schlechten.«<br />
»Gut, Sie müssen sich die Koje mit anderen teilen, weil nicht<br />
genug zur Verfügung stehen. Macht aber nichts; ich hab schon seit<br />
drei Tagen nicht mehr geschlafen, deswegen sind Sie unter anderem<br />
hier. Willkommen an Bord, Commander. Ich bin Chip Bennett.«<br />
Der Offizier reichte Toland ein Fernschreiben. »Sie scheinen be<strong>im</strong><br />
CINCLANT beliebt zu sein.«<br />
Das Fernschreiben verkündete knapp, Lieutenant Robert A. Toland<br />
sei zum Commander ernannt worden, eine Beförderung, die<br />
ihn zum Tragen der drei Goldstreifen, aber vorerst noch nicht zum<br />
Kassieren der Bezüge eines Commanders berechtigte. Wie ein Kuss<br />
von der Kusine, sann Toland und sagte: »Für den Anfang nicht<br />
übel. Was soll ich hier tun?«<br />
»Theoretisch sind Sie mein Assistent, aber wir werden <strong>im</strong> Augenblick<br />
derart mit Informationen überschwemmt, dass wir das Territorium<br />
etwas aufgeteilt haben. Ihnen überlasse ich die morgendlichen<br />
und abendlichen Meldungen an den Kommandanten des Verbandes,<br />
die um sieben und um zwanzig Uhr erfolgen. Konteradmiral<br />
Samuel Baker Jr. ist ein scharfer Hund und früher mal auf A<strong>tom</strong>-<br />
U-Booten gefahren. Er legt auf knappe, präzise Berichte mit Fußnoten<br />
und Quellenangaben Wert. Schlafen tut er so gut wie nie. Ihre<br />
Station ist in der Gefechtsinformationszentrale CIC be<strong>im</strong> takti<br />
119
sehen Offizier des Verbandes.« Bennett rieb sich die Augen. »Und<br />
was geht auf dieser verrückten Welt eigentlich vor?«<br />
»Wie sieht es aus?« fragte Toland zurück.<br />
»Beschissen. Heute wurde der Start der Raumfähre Atlantis verschoben,<br />
angeblich wegen eines Computerproblems. Eben erfahre<br />
ich, dass nur umgeladen wird: Anstelle von vier zivilen Satelliten<br />
werden nun Aufklärungssatelliten in die Umlaufbahn gebracht.«<br />
»Bei uns fängt man wohl an, die Sache ernst zu nehmen.«<br />
Aachen<br />
Als »Siegfried Baum« sechs Stunden später, noch von der Narkose<br />
benommen, erwachte, sah er drei Männer in Chirurgenkitteln.<br />
»Wie geht es Ihnen?« fragte einer - auf russisch.<br />
»Was ist passiert?« antwortete der Major auf russisch.<br />
Aha! »Sie wurden angefahren und liegen jetzt in einem Militärlazarett«,<br />
log der Mann. In Wirklichkeit befanden sie sich noch in<br />
Aachen.<br />
»Was - ich wollte gerade«, sagte der Major schwerzüngig und<br />
versuchte, klar zu sehen.<br />
»Es ist alles aus, mein Freund.« Nun schaltete der Sprecher auf<br />
Deutsch um. »Wir wissen, dass Sie ein sowjetischer Offizier sind<br />
und Gehe<strong>im</strong>dokumente bei sich hatten. Warum interessieren Sie<br />
sich für Lammersdorf?«<br />
»Ich habe nichts zu sagen«, erwiderte »Baum« auf Deutsch.<br />
»Dafür ist es jetzt zu spät«, rügte der Vernehmende und sprach<br />
nun wieder russisch. »Aber wir wollen es Ihnen leicht machen. Der<br />
Arzt hat die Genehmigung gegeben, Ihnen ein neues, äh, Medikament<br />
zu verabreichen, das Sie bewegen wird, uns alles zu sagen, was<br />
Sie wissen. Sie sollten sich auch über Ihre Lage <strong>im</strong> klaren sein«,<br />
fügte der Mann schärfer hinzu. »Sie sind Offizier in der Armee eines<br />
fremden Landes, halten sich mit gefälschten Papieren in der Bundesrepublik<br />
auf und hatten Gehe<strong>im</strong>dokumente in Ihrem Besitz. Das<br />
kann Ihnen eine lebenslange Gefängnisstrafe eintragen. Aber wenn<br />
Sie kooperieren, werden Sie vielleicht später gegen einen deutschen<br />
Agenten ausgetauscht. Wenn Sie sich aber sperren, werden Sie den<br />
bei dem Unfall erlittenen Verletzungen erliegen.«<br />
»Ich habe Familie«, sagte Major Andrej Tschernjawin leise.<br />
120
Er war verängstigt und verwirrt und konnte nicht wissen, dass er<br />
über den Tropf bereits Natriumpentothal erhielt, das seine Hirnfunktionen<br />
beeinträchtigte. Bald würde er sich über die langfristigen<br />
Konsequenzen seiner Handlungen nicht mehr <strong>im</strong> klaren sein.<br />
Dann kam es nur noch auf das Hier und Jetzt an.<br />
»Ihrer Familie wird kein Leid geschehen«, versprach Oberst<br />
Weber. Der Heeresoffizier, der zum BND abgestellt war, hatte<br />
schon viele sowjetische Agenten verhört. »Wenn man die Familien<br />
aller Spione strafte, die wir erwischen, gingen dem KGB bald die<br />
Leute aus.« Weber gestattete sich nun einen milderen Ton. Die<br />
Drogen begannen zu wirken, und wenn der Fremde benommen<br />
war, würde er ihm sanft die Informationen entlocken. Sonderbar<br />
nur, dass ihm diese Technik ein Psychiater beigebracht hatte. In<br />
Filmen wurde <strong>im</strong>mer wieder gezeigt, wie brutal die Deutschen<br />
verhörten, aber ihm war in der Ausbildung nur am Rande beigebracht<br />
worden, wie man mit Gewalt Geständnisse erzwingt.<br />
Schade, dachte er, jetzt kämen mir ein paar harte Tricks zupass.<br />
Seine Familie wohnte bei Kulmbach, nicht weit von der innerdeutschen<br />
Grenze.<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Hauptmann Iwan Michailowitsch Sergetow wie befohlen zur<br />
Stelle, Genosse General.«<br />
»Nehmen Sie Platz, Genosse Hauptmann.« Die Ähnlichkeit mit<br />
dem Vater ist frappierend, dachte Alexejew: klein und untersetzt,<br />
der stolze Blick, die Intelligenz. Ein junger Mann auf dem Weg nach<br />
oben. »Von Ihrem Vater höre ich, dass Sie Arabistik studieren.«<br />
»Das st<strong>im</strong>mt, Genosse General.«<br />
»Haben Sie sich auch mit den Leuten befasst, die diese Sprache<br />
sprechen?«<br />
»Das gehört zum Lehrplan, Genosse.« Sergetow jr. lächelte.<br />
»Sogar der Koran war Pflichtlektüre. Außerdem bekommen wir<br />
Gelegenheit, unsere Kenntnisse <strong>im</strong> Gespräch mit Diplomaten aus<br />
befreundeten arabischen Ländern zu verbessern.«<br />
»Sie waren drei Jahre lang bei den Panzern. Können wir die<br />
Araber schlagen?«<br />
»Israel, das nur über einen Bruchteil unserer Ressourcen verfügt,<br />
121
schaffte das mit Leichtigkeit. Der arabische Soldat ist ein ungebildeter<br />
Bauer, von inkompetenten Offizieren schlecht ausgebildet.«<br />
Ein junger Mann, der auf alles eine Antwort parat hat, dachte<br />
Alexejew. »Genosse Hauptmann, Sie kommen für die bevorstehende<br />
Operation gegen die Staaten am Persischen Golf zu meinem<br />
Stab. Ich werde mich auf Ihre Sprachkenntnisse stützen und erwarten,<br />
dass Sie Lageberichte von den Nachrichtendiensten überprüfen.<br />
Wie ich höre, werden Sie auch zum Diplomaten ausgebildet. Nützlich<br />
; ich lasse mir <strong>im</strong>mer gerne ein Gegengutachten zu den Daten von<br />
KGB und GRU erstellen. Nicht etwa, weil ich unseren Kollegen<br />
misstraue, sondern schlicht, weil ich die Daten von jemandem, der in<br />
Heeresbegriffen denkt, prüfen will. Und die Tatsache, dass Sie bei den<br />
Panzern gedient haben, macht Sie für mich doppelt wertvoll. Noch<br />
eine Frage: Wie reagieren die Reservisten auf die Mobilisierung?«<br />
»Selbstverständlich mit Begeisterung«, erwiderte der Hauptmann.<br />
»Iwan Michailowitsch, ich nehme an, dass Sie von Ihrem Vater<br />
gehört haben, was ich für ein Mann bin. Ich lausche aufmerksam den<br />
Worten der Partei, doch Soldaten, die sich auf die Schlacht vorbereiten,<br />
müssen die ungeschminkte Wahrheit erfahren, um die Wünsche<br />
der Partei erfüllen zu können.«<br />
Hauptmann Sergetow fiel die vorsichtige Ausdrucksweise auf.<br />
»Das Volk ist aufgebracht, Genosse General, über den Anschlag <strong>im</strong><br />
Kreml und den Mord an den Kindern. >Begeisterung< ist wohl keine<br />
Übertreibung.«<br />
»Und Ihre Haltung, Iwan Michailowitsch?«<br />
»Genosse General, mein Vater hat mich auf diese Frage vorbereitet<br />
und gebeten, Ihnen zu versichern, dass er von dem Plan keine<br />
Kenntnis hatte. Entscheidend sei nun, meinte er, das Land zu sichern,<br />
damit es solche Tragödien nicht noch einmal gibt.«<br />
Alexejew antwortete nicht sofort. Er war betroffen von der Erkenntnis,<br />
dass Sergetow vor drei Tagen seine Gedanken gelesen, und<br />
verblüfft, weil das Mitglied des Politbüros seinem Sohn ein so großes<br />
Gehe<strong>im</strong>nis anvertraut hatte. Doch er war erleichtert, weil er den<br />
Mann richtig eingeschätzt hatte; i hm konnte man trauen. Auch<br />
seinem Sohn? Michail Eduardowitsch schien jedenfalls dieser Meinung<br />
zu sein.<br />
»Genosse Hauptmann, vergessen wir diese Dinge. Wir haben<br />
auch so schon genug Beschäftigung. Abtreten.«<br />
122
Bonn<br />
»Das Ganze ist eine Farce«, meldete Weber vier Stunden später dem<br />
Bundeskanzler. Er war mit dem Hubschrauber nach Bonn geflogen.<br />
»Ein brutales Täuschungsmanöver.»<br />
»Das wissen wir auch«, versetzte der Kanzler, der nach dem<br />
Ausbruch der Krise zwei schlaflose Nächte verbracht hatte, gereizt.<br />
»Herr Bundeskanzler, der Mann <strong>im</strong> Krankenhaus ist ein Andrej<br />
Iljitsch Tschernjawin. Vor zwei Wochen reiste er mit gefälschten<br />
Papieren aus der CSSR ein. Er ist Offizier der sowjetischen Elite-<br />
Kommandotruppe Speznas. Der Mann wurde bei einem Verkehrsunfall<br />
schwer verletzt und hatte die kompletten Pläne der Nato-<br />
Fernmeldezentrale Lammersdorf bei sich. Die Sicherheitsposten<br />
der Einrichtung wurden gerade vor einem Monat verlegt. Dieses<br />
Dokument hier ist erst zwei Wochen alt. Er hatte auch einen Dienstplan<br />
und eine Liste aller wachhabenden Offiziere - und die ist erst<br />
drei Tage alt! Zusammen mit einem zehnköpfigen Team kam er<br />
über die tschechische Grenze und erhielt erst jetzt den Einsatzbefehl:<br />
am Tag nach Erhalt der Order um Mitternacht den Stützpunkt<br />
angreifen. Es lag auch ein Stornierungssignal bei für den Fall, dass<br />
die Pläne geändert werden.«<br />
»Er kam also schon vor der Explosion <strong>im</strong> Kreml nach Deutschland<br />
-« Der Kanzler, der die ganze Affäre unwirklich fand, war<br />
verdutzt.<br />
»Genau, Herr Bundeskanzler. Es passt alles zusammen. Die Russen<br />
werden Deutschland angreifen, aus welchem Grund auch <strong>im</strong>mer.<br />
Alle Schachzüge bis zu diesem Punkt waren nur Täuschungsmanöver,<br />
um uns in Sicherheit zu wiegen. Hier ist das komplette<br />
Protokoll der Vernehmung Tschernjawins. Er ist über vier weitere<br />
Speznas-Operationen informiert, die alle auf einen Großangriff<br />
gegen uns hinweisen. Inzwischen liegt er unter schwerer Bewachung<br />
<strong>im</strong> Militärlazarett in Koblenz. Wir haben auch eine Videoaufnahme<br />
seines Geständnisses.«<br />
»Kann das nicht alles eine russische Provokation sein? Warum<br />
brachte man diese Dokumente nicht mit, als man die Grenze überschritt?«<br />
»Nach dem Umbau der Einrichtung in Lammersdorf brauchte<br />
man korrekte Informationen. Wie Sie wissen, wurden seit vergangenem<br />
Sommer die Sicherheitsmaßnahmen bei Fernmeldeanlagen<br />
123
der Nato verschärft, und unsere russischen Freunde haben wohl<br />
ebenfalls ihre Angriffspläne auf den neuesten Stand gebracht. Die<br />
Tatsache allein, dass sie über diese zum Teil erst wenige Tage alten<br />
Dokumente verfügen, ist erschreckend. Und zur Enttarnung des<br />
Mannes kam es -
Der Bundeskanzler starrte aus dem Fenster seines Arbeitsz<strong>im</strong>mers<br />
und dachte an seine eigene Militärzeit vor vierzig Jahren;<br />
damals war er ein verängstigter kleiner Junge gewesen, der kaum<br />
unterm Stahlhelm hervorgucken konnte. »Es gibt also wieder<br />
Krieg.« Wie viele Opfer wird dieser fordern?<br />
»Ja, Herr Bundeskanzler.«<br />
Leningrad<br />
Der Kapitän stand in der Brückennock und schaute nach Backbord.<br />
Schlepper schoben den letzten Schw<strong>im</strong>mcontainer auf den Aufzug<br />
am Heck und fuhren dann zurück. Der Aufzug wurde einige Meter<br />
angehoben, und der leichterähnliche Container kam auf einem<br />
bereits auf seinen Schienen stehenden Wagen zur Ruhe. Das Laden<br />
wurde vom Ersten Offizier der Julius Fucik vom Winsch-Bedienungsstand<br />
aus überwacht. Mit den anderen auf dem Achterdeck<br />
arbeitenden Männern stand der Offizier über Sprechfunk in Verbindung.<br />
Als der Aufzug das dritte Frachtdeck erreicht hatte, öffnete<br />
sich eine Tür und gab den Blick in einen riesigen Raum frei.<br />
Matrosen befestigten Stahltrossen an den Wagen.<br />
Winden zogen den Schw<strong>im</strong>mcontainer aufs dritte, unterste<br />
Frachtdeck des Leichtermutterschiffes, auch Seabee oder LASH<br />
genannt. Sowie die Wagen die Markierungslinie überfahren hatten,<br />
wurde die wasserdichte Tür geschlossen, und das Licht ging an,<br />
damit die Matrosen den Leichter verzurren konnten. Saubere Arbeit,<br />
dachte der Erste Offizier. Die ganze Ladeaktion hatte nur elf<br />
Stunden gedauert, fast ein Rekord.<br />
»Der letzte Leichter wird in dreißig Minuten gesichert sein«,<br />
meldete der Bootsmann dem Ersten, der die Nachricht an die<br />
Brücke weitergab.<br />
Kapitän Cherow rief den Maschinenraum an. »Maschinen in<br />
dreißig Minuten klar!«<br />
Der Ingenieur bestätigte den Befehl und legte auf.<br />
Auf der Brücke wandte sich der Kapitän an seinen ranghöchsten<br />
Passagier, einen Fallschirmjägergeneral, der die blaue Jacke eines<br />
Schiffsoffiziers trug. »Was machen Ihre Männer?«<br />
»Ein paar sind jetzt schon seekrank.« General Andrejew lachte.<br />
Sie waren zusammen mit Tonnen militärischer Ausrüstungsge<br />
125
genstände an Bord gebracht worden. »Danke, dass meine Leute sich<br />
auf den unteren Decks die Füße vertreten können.«<br />
»Ich kommandiere ein Schiff, kein Gefängnis. Solange sie nichts<br />
anrühren, ist alles klar.«<br />
»Das haben sie schon eingeschärft bekommen«, versicherte Andrejew.<br />
»Gut. In ein paar Tagen werden sie alle Hände voll zu tun<br />
haben.«<br />
»Ich bin übrigens zum ersten Mal auf einem Schiff.«<br />
»Wirklich? Keine Angst, Genosse General, hier ist es viel sicherer<br />
und bequemer als in einem Flugzeug - aus dem Sie auch noch<br />
hinausspringen!« Der Kapitän lachte. »Das Schiff ist groß genug<br />
und liegt trotz der leichten Ladung ruhig.«<br />
»Leichte Ladung?« fragte der General. »Sie haben über die<br />
Hälfte der Ausrüstung meiner Division an Bord.«<br />
»Wir können über 35ooo Tonnen tragen. Ihre Ausrüstung ist<br />
sperrig, aber nicht besonders schwer.« Ein neuer Gedanke für den<br />
General, der gewöhnlich in Lufttransportbegriffen dachte.<br />
Unter Deck wuselten unter Aufsicht ihrer Unteroffiziere und<br />
Offiziere über tausend Mann des 234. Garde-Luftlandereg<strong>im</strong>ents<br />
umher. Abgesehen von kurzen Perioden in der Nacht saßen sie hier<br />
unten fest, bis die Fucik den Ärmelkanal hinter sich gelassen hatte,<br />
und hielten das erstaunlich gut aus, denn die gewaltigen Frachträume,<br />
obgleich mit Leichtern und Ausrüstungsgegenständen vollgestellt,<br />
boten weitaus mehr Platz, als sie von ihren Transportflugzeugen<br />
her gewöhnt waren. Die Schiffsbesatzung hatte zwischen<br />
Leichtern Planken aufgeriggt, um Schlafgelegenheiten zu schaffen<br />
und die Soldaten von den öligen Arbeitsflächen, wo die Crew<br />
Inspektionsgänge machte, fernzuhalten. Bald sollten die Offiziere<br />
des Reg<strong>im</strong>ents über die Systeme an Bord, besonders die Löschanlage,<br />
informiert werden. Es herrschte striktes Rauchverbot. Die<br />
Seeleute waren von dem bescheidenen Verhalten der Fallschirmjäger,<br />
die die neue Umgebung wohl etwas einschüchterte, überrascht.<br />
Drei Schlepper strafften die mit dem Schiff verbundenen Trossen<br />
und zogen es langsam vom Kai. Zwei andere stießen dazu, als es<br />
klar war, und schoben den Bug herum, bis er zur Ausfahrt des<br />
Hafens von Leningrad wies. Der General sah zu, wie der Kapitän<br />
das Manöver überwachte, mit einem jungen Offizier <strong>im</strong> Schlepptau<br />
von einer Brückennock auf die andere eilte und <strong>im</strong> Vorbeigehen<br />
126
Ruderkommandos gab. Kapitän Cherow war knapp sechzig und<br />
hatte mehr als zwei Drittel seines Lebens auf See verbracht.<br />
»Aufkommen!« befahl er. »Langsam voraus.«<br />
Der Rudergänger bestätigte beide Befehle auf der Stelle. Nicht<br />
schlecht, dachte der General und entsann sich abfälliger Bemerkungen<br />
über die Handelsmarine. Der Kapitän trat wieder neben ihn.<br />
»So, das Gröbste hätten wir hinter uns.«<br />
»Immerhin hatten Sie Unterstützung«, bemerkte der General.<br />
»Ach was, die Schlepper werden von Säufern befehligt und demolieren<br />
hier dauernd Schiffe.« Der Kapitän ging an die Seekarte.<br />
Vorzüglich: eine tiefe, gerade Fahrrinne bis zur Ostsee. Jetzt konnte<br />
er sich etwas entspannen. Der Kapitän machte es sich auf seinem<br />
Brückensessel bequem und rief: »Tee!«<br />
Sofort erschien ein Steward mit einem Tablett.<br />
»Ist denn kein Schnaps an Bord?« fragte Andrejew überrascht.<br />
»Nein, es sei denn, Ihre Männer hätten welchen mitgebracht«,<br />
erwiderte Cherow. »Auf meinem Schiff dulde ich keinen Alkohol.«<br />
»Sehr gut.« Der Erste Offizier gesellte sich zu ihnen. »Achtern<br />
alles klar. Seewachen aufgestellt, Ausgucks auf ihren Posten, Deckinspektion<br />
wird gerade durchgeführt.«<br />
»Deckinspektion?« fragte Andrejew.<br />
»Normalerweise prüfen wir bei jeder Wachablösung alle Luken<br />
auf Dichtheit«, erklärte der Erste. »Da Ihre Männer an Bord sind,<br />
findet diese Kontrolle alle zwei Stunden statt.«<br />
»Trauen Sie meinen Leuten nicht?« Der General war etwas beleidigt.<br />
»Würden Sie uns denn in Ihren Flugzeugen trauen?« versetzte der<br />
Kapitän.<br />
»Sie haben natürlich recht.« Andrejew erkannte den Fachmann,<br />
wenn er einen vor sich hatte. »Können Sie ein paar Männer entbehren,<br />
die meinen Unteroffizieren das Notwendigste beibringen?«<br />
Der Erste Offizier zog Bögen aus der Tasche. »Der Unterricht<br />
beginnt in drei Stunden. In zwei Wochen sind Ihre Männer ordentliche<br />
Seeleute.«<br />
»Besonderen Kummer macht mir die Brandbekämpfung«,<br />
meinte der Kapitän. »Ein Kriegseinsatz bedeutet Gefahr. Genosse<br />
General, ich möchte wissen, wie Ihre Männer zur Sicherheit und<br />
Verteidigung des Schiffes beitragen können.«<br />
Daran hatte der General nicht gedacht. Bei der für seinen Ge<br />
127
schmack viel zu hastigen Vorbereitung der Operation hatte er keine<br />
Gelegenheit gehabt, seine Männer auf ihre Pflichten an Bord vorzubereiten.<br />
»Mein für die Flugzeugabwehr zuständiger Mann wird<br />
mit Ihnen reden, sobald es Ihnen recht ist.« Er machte eine Pause.<br />
»Wie schwere Schäden kann das Schiff einstecken, ohne unterzugehen<br />
?«<br />
»Julius Fucik ist kein Kriegsschiff, Genosse General.« Cherow<br />
lächelte kryptisch. »Ihnen wird aber aufgefallen sein, dass praktisch<br />
unsere gesamte Ladung aus stählernen Leichtern besteht. Diese<br />
Leichter haben doppelte Wände mit einem Meter Abstand dazwischen,<br />
was die Fucik vielleicht sicherer macht als ein Kriegsschiff<br />
mit seinen wasserdichten Abteilungen. Die Brandgefahr macht mir<br />
die meisten Sorgen. Wenn es uns gelingt, vernünftige Löschübungen<br />
abzuhalten, können wir durchaus einen oder sogar drei Raketentreffer<br />
überstehen.«<br />
Der General nickte nachdenklich. »Meine Männer stehen Ihnen<br />
jederzeit zur Verfügung.«<br />
»Sobald wir den Ärmelkanal hinter uns haben.« Der Kapitän<br />
stand auf und schaute noch einmal auf die Seekarte. »Bedaure, dass<br />
wir Ihnen keine Vergnügungsfahrt bieten können. Vielleicht wird<br />
der Rückweg angenehmer.«<br />
Der General hob die Teetasse. »Darauf will ich trinken, Genosse.<br />
Auf den Erfolg!«<br />
»Jawohl, Erfolg!« Kapitän Cherow hob ebenfalls die Tasse und<br />
sehnte sich fast nach einem Wodka, um ordentlich auf das Unternehmen<br />
zu trinken. Er war bereit. Seit seiner Militärzeit auf Minenräumbooten<br />
hatte er zum ersten Mal die Gelegenheit, dem Staat<br />
direkt zu dienen. Er war entschlossen, den Auftrag erfolgreich<br />
auszuführen.<br />
Koblenz<br />
»Guten Abend, Major.« In einem abgesperrten Flügel des Militärlazaretts<br />
setzte sich der CIA-Chef Bonn mit seinen britischen und<br />
französischen Gehe<strong>im</strong>dienstkollegen und zwei Dolmetschern zusammen.<br />
»Reden wir von Lammersdorf?« Ohne Wissen der Deutschen<br />
verfügten die Briten über eine Akte, die sich mit den Aktivitäten<br />
von Major Tschernjawin in Afghanistan befasste und ein zwar<br />
128
unscharfes, aber doch erkennbares Foto des Mannes enthielt, an<br />
den sich die Mudschaheddin als »Teufel von Kandahar« erinnerten.<br />
General Jean-Pierre de Ville vom französischen DGSE, der das<br />
beste Russisch sprach, führte die Vernehmung. Inzwischen war<br />
Tschernjawin ein gebrochener Mann. Das Band mit seinem mittels<br />
Drogen herbeigeführten Geständnis brach den letzten Widerstand.<br />
Der Major, in den Augen seiner Landsleute schon so gut wie tot,<br />
wiederholte, was diese Männer bereits wussten, aber selbst hören<br />
wollten.<br />
Drei Stunden später gingen Blitzmeldungen nach Washington,<br />
London und Paris, und Vertreter der drei Nachrichtendienste faßten<br />
Berichte an ihre Kollegen in den restlichen Natoländern ab.<br />
129
Wandlitz, DDR<br />
14<br />
Gas<br />
Szenarium 6<br />
Witterungsverhältnisse in Frühling und Sommer (Temperaturen<br />
und Luftfeuchtigkeit moderat), Winde aus West und Südwest,<br />
10-30 km/h m Bodennähe, auf Höhe ü. d. M. kompensiert;<br />
Einsatz hochpersistenter Kampfstoffe gegen Kommunikationsketten,<br />
POMCUS-Anlagen, Flugplätze, Nachschubund<br />
Kernwaffenlager (normale Fehlerquote: siehe Anhang l,<br />
Abschnitt F). Der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen<br />
Republik las das Dokument trotz seiner Magenkrämpfe<br />
zu Ende.<br />
Wie bei Szenarien 1,3,4 und 5 wird jede über einen Zeitraum<br />
von 15 Minuten hinausgehende Warnfrist den praktisch<br />
kompletten MOPP-4-Schutz von Kampftruppen und Versorgungspersonal<br />
sichern. Das Problem der Zivilopfer bleibt bestehen,<br />
da sich über hundert der oben aufgeführten Kategorien<br />
in der Nähe von Ballungszentren befinden. Der biologische<br />
Abbau persistenter Kampfstoffe wie GD (die voraussichtliche<br />
Wahl der Sowjets; Anlayse sowjetischer Literatur zu<br />
diesem Thema: siehe Anhang 2, Abschnitt C) wird durch<br />
allgemein milde Temperaturen und witterungsbedingt reduzierte<br />
Photosynthese verlangsamt und führt zu einer Verbreitung<br />
des Kampfstoffes in Aerosolform durch den Wind. Eine<br />
min<strong>im</strong>ale Quellenkonzentration von 2 mg/m 3 , die erwarteten<br />
vertikalen Temperaturengradienten und Wolkenschichten<br />
vorausgesetzt, ist das toxische Risiko für die BRD und die<br />
DDR in Windrichtung mit geschätzt 0,3 (unseren Berechnungen<br />
nach plus oder minus 50%, abhängig von Kontamination<br />
oder chemischer Zersetzung der C-Munition) ebenso groß wie<br />
über den Zielen selbst.<br />
Da die frei zugängliche sowjetische Literatur von Quellen<br />
130
konzentrationen (über dem Ziel) ausgeht, die deutlich über<br />
der mittleren letalen Dosis (LCT-50) liegen, muss mit schwerster<br />
Gefährdung der gesamten deutschen Zivilbevölkerung<br />
gerechnet werden. Der erwartete Gegenschlag der Nato wird<br />
vorwiegend psychologischer Natur sein - der Einsatz sowjetischer<br />
C-Waffen allein wird zur effektiven Kontaminierung des<br />
Großteils des Territoriums beider deutscher Staaten führen; es<br />
ist damit zu rechnen, dass 12 Stunden nach Abschuss der ersten<br />
Granaten in ganz Deutschland östlich des Rheins für ungeschütztes<br />
Personal ein Risiko besteht. Mit ähnlichen Auswirkungen<br />
kann in der CSSR und je nach Windrichtung und<br />
-geschwindigkeit auch in Westpolen gerechnet werden. Zudem<br />
ist der Fortbestand dieser Kontamination über das 1,5fache<br />
des mittleren Persistenzwertes des eingesetzten Kampfstoffes<br />
hinaus zu erwarten.<br />
Dies ist das letzte (und statistisch wahrscheinlichste) Szenarium<br />
gemäß der <strong>im</strong> Auftrag vorgegebenen Spezifikationen.<br />
Abschnitt VIII: Zusammenfassung<br />
Wie sich zeigt, haben alarmierte militärische Verbände trotz<br />
einer taktischen Warnfrist von nur wenigen Minuten nur eine<br />
geringe Zahl an Ausfällen zu befürchten (allerdings auch ein<br />
Nachlassen der Kampfkraft um 30-40 %; ein Wert, der übrigens<br />
für beide Seiten gilt), aber die Zahl der Zivilopfer wird<br />
größer sein als bei einem Schlagabtausch mit taktischen nuklearen<br />
Waffen (200 Sprengköpfe a 100 Kilotonnen; siehe<br />
Anhang I, Abschnitt A) gegen eine Mixtur von militärischen<br />
und zivilen und industriellen Zielen. Es Muss also trotz der<br />
Tatsache, dass chemische Waffen industrielle Anlagen nicht<br />
direkt beschädigen, mit ernsten kurz- und langfristigen Auswirkungen<br />
auf die Wirtschaft gerechnet werden. Selbst der<br />
Einsatz nichtpersistenter Stoffe an den VRV Muss wegen der<br />
Bevölkerungsdichte in Deutschland und der offenkundigen<br />
Unfähigkeit jeder Regierung, die Bevölkerung adäquat zu<br />
schützen, zwangsläufig zu gravierenden Auswirkungen auf<br />
die Zivilbevölkerung führen.<br />
Was die unmittelbaren Auswirkungen betrifft, stellen die in<br />
Szenarium 2 angeführten über zehn Millionen Opfer unter der<br />
Zivilbevölkerung eine Belastung des Gesundheitswesens dar,<br />
131
die vergleichsweise größer ist als die Folgen der Sturmflutkatastrophe<br />
in Bangladesh 1970 und synergetische Nebeneffekte<br />
haben wird, deren Ausarbeitung den Rahmen dieser Studie<br />
sprengen würde. (Auftragsspezifikationen schlössen die Untersuchungen<br />
bio-ökologischer Effekte eines C-Schlagabtausches<br />
ausdrücklich aus. Der Leser Muss darauf hingewiesen<br />
werden, dass die weitreichenden Auswirkungen leichter zu<br />
studieren als zu beseitigen sind. Es mag beispielsweise erforderlich<br />
sein, erst einmal zu Tonnen Insektenlarven zu <strong>im</strong>portieren,<br />
ehe in Europa auch nur die widerstandsfähigste Feldfrucht<br />
wieder gedeihen kann.) Im Augenblick kann die Fähigkeit<br />
selbst organisierter Armeen, die Leichen von Millionen<br />
Zivilisten in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung<br />
zu entsorgen, nicht einfach vorausgesetzt werden. Darüber<br />
hinaus würden die zur Wiederaufnahme der Industrieproduktionen<br />
erforderlichen Zivilisten <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes<br />
dez<strong>im</strong>iert.<br />
Eine Analyse der Auswirkungen der chemischen Kriegsführung<br />
<strong>im</strong> europäischen Operationsgebiet unter Berücksichtigung<br />
hochgerechneter atmosphärischer freisetzungswerte.<br />
Lawrence-Livermore National Laboratories<br />
LLNL 88-2504 + CR 8305/89/178<br />
S1GMA 2<br />
Intern<br />
+ + + GEHEIM+ + +<br />
Johannes Bitner warf den Bericht nicht in den Papierkorb, aber er<br />
hatte das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Mal wieder eine<br />
Ähnlichkeit zwischen Ost und West, dachte er kalt: Klingt wie von<br />
Wortprozessoren verfasst. Genau wie bei uns.<br />
»Genosse Generaloberst.« Der Staatsratsvorsitzende sah zu dem<br />
Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf. Der Offizier hatte ihm zusammen<br />
mit einem Kollegen - und in Zivil - das Dokument, das<br />
erst vor zwei Tagen von einem <strong>im</strong> westdeutschen Verteidigungsministerium<br />
Hochplatzierten DDR-Spion beschafft worden war, in<br />
seine Dienstvilla in Wandlitz bei Berlin gebracht. »Und wie genau<br />
ist dieses Dokument?«<br />
132
»Genosse, wir können die Computermodelle der Amerikaner<br />
natürlich nicht überprüfen, aber die Formeln beziehungsweise<br />
Einschätzungen der Wirksamkeit sowjetischer Kampfstoffe und<br />
der Witterungsverhältnisse sind von unserem Gehe<strong>im</strong>dienst und<br />
ausgewählten Fakultätsmitgliedern der Universität Leipzig geprüft<br />
worden, und es besteht kein Anlass zu Zweifeln an seiner Echtheit.«<br />
»Die Amerikaner haben sogar die Gesamtmenge der zum Einsatz<br />
kommenden Kampfstoffe unterschätzt«, warf Oberst Mellethin,<br />
Direktor der Analyse Ausland, ein. Er war ein hagerer, strenger<br />
Mann, dessen Augen deutlich verrieten, dass er seit langem<br />
nicht geschlafen hatte. »Sie überschätzen nämlich die Treffgenauigkeit<br />
der russischen Einsatzmittel.«<br />
»Sonst noch etwas, Mellethin?« fragte Bitner scharf.<br />
»Genosse, was ist das Kriegsziel der Russen?«<br />
»Die Neutralisierung der Nato und Zugang zu erweiterten wirtschaftlichen<br />
Kapazitäten. Bitte äußern Sie sich, Genosse Oberst«,<br />
befahl Bitner.<br />
»Genosse, ein Erfolg des Warschauer Paktes könnte ein wiedervereinigtes<br />
Deutschland bedeuten. Ich möchte betonen, dass ein<br />
vereinigtes Deutschland, auch ein sozialistisches, von der Sowjetunion<br />
als strategische Bedrohung angesehen werden würde.« Mellethin<br />
atmete tief durch, ehe er fort fuhr. Setzte er nun sein Leben<br />
aufs Spiel? »Genosse Staatsratsvorsitzender, ein sowjetischer Erfolg<br />
würde das kapitalistische und das sozialistische Deutschland<br />
in eine Mondlandschaft verwandeln. Mindestens zehn bis dreißig<br />
Prozent unserer Bevölkerung tot, das Land auch bei Ausbleiben<br />
eines westlichen Vergeltungsschlages verseucht. Wir haben heute<br />
erfahren, dass die Amerikaner C-Bomben vom Typ >Bigeye< über<br />
den Luftstützpunkt Ramstein einzufliegen beginnen. Wenn unsere<br />
Alliierten ihre chemischen Waffen einsetzen und sich die Nato<br />
revanchiert, ist nicht ausgeschlossen, dass unser Land, die deutsche<br />
Kultur, aufhören wird zu bestehen. Unter militärischen Gesichtspunkten<br />
ist ein solches Ziel nicht vertretbar, aber ich möchte die<br />
Vermutung äußern, Genosse, dass es sich um ein zusätzliches politisches<br />
Ziel des russischen Plans handeln könnte.«<br />
Bitner blieb ungerührt, und seine Gäste konnten nicht ahnen,<br />
dass ihn ein eiskalter Schauer überlief. Das Treffen der letzten<br />
Woche in Warschau war schon beunruhigend genug gewesen,<br />
133
aber nun sah er die Motive hinter den Versicherungen der sowjetischen<br />
Führung allzu deutlich vor sich.<br />
»Und es besteht keine Möglichkeit, unsere Zivilbevölkerung zu<br />
schützen?« fragte Bitner.<br />
»Genosse.« Der General seufzte. »Diese Kampfstoffe brauchen<br />
nicht eingeatmet zu werden, sondern wirken auch durch Hautkontakt.<br />
Wer eine kontaminierte Fläche berührt, vergiftet sich. Wir<br />
können den Menschen befehlen, zu Hause zu bleiben und Türen<br />
und Fenster zu schließen, aber Häuser und Wohnblocks sind nicht<br />
luftdicht. Außerdem müssen die Leute essen. In Schlüsselindustrien<br />
nuss gearbeitet werden. Ärzte, Sanitäter, Angehörige der Sicherheitskräfte,<br />
viele unserer wertvollsten Bürger, sind am stärksten<br />
exponiert. Diese Aerosole ziehen unsichtbar übers Land und verseuchen<br />
alles - Wiesen, Bäume, Zäune, Mauern, Lastwagen. Gewiß,<br />
der Regen wird viel wegwaschen, aber Tests ergaben schon vor<br />
Jahren, dass sich manche dieser Gifte an verdeckten Stellen wochenund<br />
gar monatelang halten. Wir brauchten Tausende von Entgiftungstrupps,<br />
um unser Land wieder so sicher zu machen, dass die<br />
Bürger unbeschadet zum Markt gehen können. Oberst Mellethin<br />
hat recht: Wenn die Russen ihre C-Waffen einsetzen und die Amerikaner<br />
entsprechend reagieren, können wir von Glück sagen, wenn<br />
in sechs Monaten noch die Hälfte unserer Bevölkerung am Leben<br />
ist. Es ist leichter, die Bürger vor den Auswirkungen von Kernwaffen<br />
zu schützen als vor Gasen.«<br />
Moskau<br />
»Was haben die gesagt?« schrie der Verteidigungsminister fast.<br />
»Unsere Genossen aus dem sozialistischen Bruderstaat DDR<br />
haben uns mitgeteilt, dass sie den Einsatz von C-Waffen auf ihrem<br />
Territorium als schwerwiegende Frage von nationalem Interesse<br />
betrachten müssen«, erklärte der Außenminister trocken. »Darüber<br />
hinaus leitete man uns Gehe<strong>im</strong>dienstmeldungen zu, die deutlich<br />
darlegen, dass der Gebrauch solcher Waffen die Haltung der<br />
Nato nur verhärten und möglicherweise zum Einsatz anderer Massenvernichtungsmittel<br />
führen würde.«<br />
»C-Waffen sind aber Teil des Plans!« wandte der Verteidigungsminister<br />
ein.<br />
134
»Genossen«, merkte Sergetow an, »wir alle wissen, dass der<br />
Einsatz chemischer Kampfstoffe katastrophale Auswirkungen auf<br />
die Zivilbevölkerung hat - würde er also nicht unsere politische<br />
maskirowka entwerten? Behaupten wir nicht, wir lägen nur mit der<br />
Regierung der Bundesrepublik <strong>im</strong> Streit? Wie sähe es aus, wenn wir<br />
schon am ersten Kriegstag kaltblütig Tausende von Zivilisten ausrotteten?«<br />
»Es stellt sich noch eine weitere Frage«, sagte Bromkowski. Er<br />
war zwar alt und gebrechlich, genoss aber dank seiner Erfahrungen<br />
aus dem letzten Krieg gegen die Deutschen Respekt. »Wenn wir<br />
diese Waffen gegen alle Nato-Armeen einsetzen - und wie könnten<br />
wir sie auf deutsche Einheiten beschränken? -, werden Amerika<br />
und Frankreich, die Gas als Massenvernichtungswaffen betrachten,<br />
mit ähnlichen Mitteln antworten.«<br />
»Das Arsenal der Amerikaner ist ein Witz«, erwiderte der Verteidigungsminister.<br />
»Ich habe Studien aus Ihrem Hause gesehen, die etwas anderes<br />
aussagen«, versetzte Bromkowski. »Vielleicht werden Sie die Kernwaffen<br />
der Nato auch komisch finden! Wenn wir Tausende von<br />
westdeutschen Zivilisten töten, wird die Bundesregierung den Einsatz<br />
von A<strong>tom</strong>waffen gegen Ziele auf unserem Territorium fordern.<br />
Glauben Sie vielleicht, der Präsident der Vereinigten Staaten würde<br />
zögern, seine Massenvernichtungswaffen freizugeben, wenn wir<br />
ein paar tausend amerikanische Soldaten umgebracht haben? Genossen,<br />
wir diskutieren diese Frage nicht zum ersten Mal. Der Krieg<br />
gegen die Nato ist eine politische Operation, nicht wahr? Warum<br />
werfen wir mit dem Einsatz solcher Waffen unsere politische Camouflage<br />
weg? Inzwischen steht fest, dass mindestens ein Nato-<br />
Land nicht an dem russisch-deutschen Krieg teilnehmen wird; ein<br />
großer Erfolg unserer politischen Strategie. Mit dem Einsatz von C-<br />
Waffen gehen wir dieses Vorteils verlustig und setzen uns politischen<br />
Gefahren in mehr als einer Richtung aus.<br />
Ich finde, dass das Politbüro die Kontrolle über diese Waffen<br />
behalten sollte. Genosse Verteidigungsminister, wollen Sie uns sagen,<br />
dass der Krieg nur mit Massenvernichtungsmitteln zu gewinnen<br />
ist?« Der Alte beugte sich gr<strong>im</strong>mig entschlossen vor. »Hat sich<br />
die Lage geändert? Sagten Sie nicht, unsere Armeen würden zurückbeordert,<br />
wenn das strategische Überraschungsmoment verlorengeht?<br />
Ist dieser Fall eingetreten?«<br />
135
Das Gesicht des Verteidigungsministers wurde starr. «Die Rote<br />
Armee ist bereit und in der Lage, ihren Auftrag auszuführen. Zum<br />
Rückzug ist es nun zu spät. Auch dies ist eine politische Frage, Petja.«<br />
»Die Nato mobilisiert«, merkte Sergetow an.<br />
»Viel zu spät und nur halbherzig«, gab der Direktor des KGB<br />
zurück. »Ein Land haben wir bereits vom Nato-Bündnis abgespalten.<br />
Andere bearbeiten wir und verbreiten in Europa und Amerika<br />
fleißig Desinformationen über den Bombenanschlag. Der Wille der<br />
Bevölkerung der Nato-Länder ist schwach. Niemand will wegen ein<br />
paar deutschen Mördern in den Krieg ziehen, und die Politiker<br />
werden schon einen Weg finden, sich von einem Konflikt zu distanzieren.«<br />
»Aber nicht, wenn wir Zivilisten mit Gas vergiften.« Der Außenminister<br />
nickte. »Petja und Sergetow haben recht: Der politische<br />
Preis des Einsatzes dieser Waffen ist einfach zu hoch.«<br />
Washington, D. C.<br />
»Aber warum?« fragte der Präsident.<br />
»Das wissen wir nicht, Sir.« Der Direktor der CIA fand die Frage<br />
sichtlich unbequem. »Wir wissen, dass der Bombenanschlag <strong>im</strong><br />
Kreml eine reine Erfindung war -«<br />
»Haben Sie heute früh die Washington Post gesehen? Die Presse<br />
schreibt, man sähe diesem Falk den CIA- oder BND-Agenten schon<br />
von weitem an.«<br />
»Mr. President, in Wirklichkeit war Falk mit Sicherheit ein vom<br />
KGB gesteuerter Schläfer. Die Deutschen haben kaum etwas über<br />
ihn in Erfahrung gebracht. Es hat den Anschein, als sei er vor<br />
dreizehn Jahren plötzlich aufgetaucht und habe zwölf Jahre still<br />
sein Export-Import-Geschäft betrieben. Alles deutet darauf hin,<br />
dass sich die Sowjets auf einen Angriff gegen die Nato vorbereiten.<br />
Wehrpflichtige am Ende ihrer Dienstzeit werden zum Beispiel nicht<br />
entlassen, und es gibt keine Hinweise auf Vorbereitungen für den<br />
neuen Jahrgang, der schon vor Tagen in den Kasernen hätte eintreffen<br />
sollen. Und schließlich wäre da noch der Fall des Speznas-<br />
Majors, den die Deutschen festgenommen haben. Er wurde vor<br />
dem Bombenanschlag in die Bundesrepublik eingeschleust und<br />
hatte Anweisung, eine Nato-Fernmeldezentrale anzugreifen. Was<br />
136
den Grund angeht, Mr. President, den kennen wir wirklich nicht.<br />
Wir können nur die Handlungen der Russen beschreiben, nicht ihre<br />
Motive.«<br />
»Gestern Abend sagte ich <strong>im</strong> Fernsehen, wir bekämen die Lage<br />
mit diplomatischen Mitteln in den Griff -«<br />
»Das mag uns noch gelingen, wenn wir uns direkt mit den<br />
Sowjets in Verbindung setzen«, erklärte der Nationale Sicherheitsberater.<br />
»Aber solange wir keine positive Reaktion bekommen,<br />
müssen auch wir zeigen, dass wir es ernst meinen. Mr. President, die<br />
Einberufung weiterer Reserven ist unumgänglich.«<br />
Nordatlantik<br />
Dwarseen ließen die Julius Fucik mit zehn Grad Schlagseite rollen,<br />
was den Soldaten das Leben schwer machte, wie Kapitän Cherow<br />
feststellte, aber für Landratten hielten sie sich recht ordentlich. Die<br />
Mitglieder seiner Crew baumelten an Tauen über die Bordkanten<br />
und übermalten mit Spritzpistolen das Emblem der russischen Reederei.<br />
Soldaten entfernten mit Schweißbrennern Teile der Aufbauten,<br />
um eine Ähnlichkeit mit der Silhouette der Doctor Lykes, eines<br />
amerikanischen Frachters, herzustellen. Das Achterschiff der Fucik<br />
mit dem Aufzug war bereits schwarz gestrichen worden, und die<br />
Aufbauten trugen eine schwarze Raute, Symbol der US-Reederei.<br />
Trupps veränderten mit vorgefertigten Teilen Farbe und Umriss der<br />
beiden Schornsteine. Mit Hilfe von Leinwandschablonen wurde die<br />
neue, sechs Meter hohe Beschriftung an der Bordwand angebracht.<br />
»Wie lange noch, Käptn?«<br />
»Mindestens vier Stunden. Die Arbeit geht gut voran.« Cherow<br />
konnte seine Besorgnis nicht verbergen. Sie befanden sich weit von<br />
allen Schifffahrtsrouten mitten <strong>im</strong> Atlantik, aber man wusste nie...<br />
»Und wenn ein amerikanisches Flugzeug oder Schiff uns ausmacht?«<br />
fragte General Andrejew.<br />
»Dann werden wir feststellen, wie erfolgreich unsere Löschübungen<br />
waren - und unsere Mission schlägt fehl.« Cherow fuhr mit der<br />
Hand über die polierte Reling aus Teak. Er hatte das Schiff nun seit<br />
sechs Jahren kommandiert und in fast jeden Hafen des Nord- und<br />
Südatlantik gesteuert. »Wir nehmen nun Fahrt auf. In vorlicher See<br />
läuft das Schiff ruhiger.«<br />
137
Moskau<br />
»Wann reisen Sie ab?« fragte Flynn Calloway.<br />
»Bald, Patrick. Sie kommen doch hoffentlich mit?« Die unverheirateten<br />
Kinder der beiden Männer studierten, und ihre Frauen<br />
hatten sie schon am Vortag zurück in den Westen geschickt.<br />
»Ach, ich weiß nicht. Ich bin noch nie davongelaufen.« Flynn<br />
warf einen finsteren Blick auf das leere Podium am anderen Ende<br />
des Raumes. »Es ist mein Beruf, vor Ort zu sein und zu berichten.«<br />
»Aus dem Lefortowo-Gefängnis gibt's nichts zu berichten«, bemerkte<br />
Calloway. »Ist Ihnen ein Pulitzer-Preis denn nicht genug?«<br />
Flynn lachte. »Ich dachte schon, den hätte außer mir jeder vergessen.<br />
Willie, was verschweigen Sie mir?«<br />
»Ohne guten Grund würde ich nicht abreisen, Patrick.« Erst am<br />
Abend zuvor hatte er erfahren, dass die Chancen für eine friedliche<br />
Beilegung des Konflikts knapp fünfzig Prozent betrugen. Zum hundertsten<br />
Mal pries der Reuter-Korrespondent seinen Entschluss, mit<br />
dem britischen Gehe<strong>im</strong>dienst zusammenzuarbeiten.<br />
»Ah, es geht los.« Flynn holte seinen Notizblock hervor.<br />
Der Außenminister kam herein und trat ans Rednerpult. Er sah<br />
ungewöhnlich erschöpft aus, sein Anzug war knittrig, sein Hemdkragen<br />
schmutzig, als hätte er die ganze vergangene Nacht mit dem<br />
Versuch verbracht, die Deutschland-Krise mit diplomatischen Mitteln<br />
beizulegen.<br />
»Meine Damen und Herren, ein Jahr, das so viel versprechend für<br />
die Ost-West-Beziehungen begonnen hat, liegt in Trümmern vor<br />
uns. Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und die anderen<br />
Länder, die unserer Einladung nach Wien gefolgt waren, stehen<br />
kurz vor einem umfassenden Abkommen zur Beschränkung strategischer<br />
A<strong>tom</strong>waffen. Amerika und die Sowjetunion haben so rasch<br />
und kooperativ wie nie zuvor ein Getreidelieferungsabkommen<br />
getroffen, und in diesem Augenblick werden in Odessa am Schwarzen<br />
Meer die ersten Ladungen gelöscht. Der Tourismus aus dem<br />
Westen in die Sowjetunion hat Rekordziffern erreicht, ein Beweis<br />
für die Völkerverständigung <strong>im</strong> Geist der Entspannung. Alle diese<br />
Anstrengungen, das Bemühen, zwischen Ost und West einen gerechten<br />
und dauerhaften Frieden zu schaffen, sind von einer Handvoll<br />
Revanchisten, die aus dem Zweiten Weltkrieg nichts gelernt<br />
haben, zerstört worden.<br />
138
Meine Damen und Herren, der Sowjetunion liegen unwiderlegbare<br />
Beweise vor, dass die westdeutsche Regierung eine Bombe <strong>im</strong><br />
Kreml explodieren ließ, um die Wiedervereinigung Deutschlands<br />
mit Gewalt herbeizuführen. Wir verfügen über gehe<strong>im</strong>e deutsche<br />
Dokumente, die beweisen, dass die westdeutsche Regierung den<br />
Sturz der sowjetischen Regierung plante und beabsichtigte, die<br />
darauf folgenden inneren Wirren zur Wiederherstellung von<br />
Deutschlands Position als Vormacht auf dem Kontinent zu nutzen.<br />
Jeder Europäer weiß, was dies für den Weltfrieden bedeuten würde.<br />
Deutschland ist in diesem Jahrhundert zwe<strong>im</strong>al in mein Land eingefallen.<br />
Über vierzig Millionen Staatsbürger fielen bei der Abwehr<br />
dieser beiden Invasionen, und wir haben auch den Tod von Millionen<br />
anderer Europäer nicht vergessen, die ebenfalls Opfer des<br />
deutschen Nationalismus wurden - Polen, Belgier, Franzosen, Engländer<br />
und Amerikaner. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten wir<br />
alle dieses Problem für endgültig gelöst. In diesem Sinne wurden die<br />
Abkommen geschlossen, die Deutschland und Europa in zwei Einflußsphären<br />
aufteilten und durch die Herstellung eines Gleichgewichts<br />
der Kräfte einen europäischen Krieg unmöglich machten.<br />
Wir wissen, dass die Wiederbewaffnung Deutschlands durch den<br />
Westen als vorgebliche Verteidigungsmaßnahme gegen eine <strong>im</strong>aginäre<br />
Bedrohung aus dem Osten - ungeachtet der Tatsache, dass der<br />
Warschauer Pakt erst nach Gründung der Nato gebildet wurde <br />
den ersten Schritt des Westens zur Wiedervereinigung Deutschlands<br />
als Gegengewicht zur Sowjetunion darstellte. Dass dies eine<br />
unsinnige und überflüssige Politik war, liegt nun auf der Hand. Ich<br />
frage Sie: Wer in Europa will ernsthaft ein wiedervereinigtes<br />
Deutschland? Selbst die Mitglieder der Nato stellten ihre Agitation<br />
in diese Richtung schon vor Jahren ein. Lediglich gewisse Kreise in<br />
Deutschland sehen die Tage deutscher Macht in einem anderen<br />
Licht als wir, die unter ihr zu leiden hatten.<br />
Die Bundesrepublik Deutschland hat offensichtlich gegenüber<br />
ihren westlichen Alliierten den Spieß umgedreht und beabsichtigt,<br />
die Nato als Schild zu benutzen, aus dessen Schutz heraus sie eine<br />
Offensive starten will, deren Ziel nur die Erschütterung des friedenswahrenden<br />
Kräftegleichgewichts sein kann. Obwohl wir dem<br />
Westen schuld an der Entstehung dieser Situation geben könnten,<br />
möchte ich betonen, dass die Sowjetunion weder Amerika noch<br />
seine Nato-Alliierten für sie verantwortlich macht. Auch mein<br />
139
Land hat die bittere Lektion gelernt, dass ein Verbündeter über seine<br />
Freunde herfallen kann, wie ein Hund seinen Herrn anfallen mag.<br />
Die Sowjetunion hat nicht den Wunsch, die dramatischen Fortschritte<br />
dieses Jahres auf dem Gebiet der Beziehungen zum Westen<br />
wegzuwerfen.« Der Außenminister legte eine Pause ein und fuhr<br />
dann fort. »Doch die Sowjetunion kann die Tatsache, dass auf<br />
ihrem Boden eine vorsätzliche Aggression gegen sie begangen<br />
wurde, nicht ignorieren. Die Regierung der Sowjetunion wird deshalb<br />
heute der Regierung in Bonn eine Note zugehen lassen. Als<br />
Preis für unsere Nachsicht, als Preis für die Wahrung des Friedens<br />
fordern wir die sofortige Demobilisierung der westdeutschen Streitkräfte<br />
auf eine mit der Wahrung des inneren Friedens zu vereinbarende<br />
Stärke. Außerdem fordern wir Bonn auf, seine Aggression<br />
einzugestehen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen,<br />
damit das deutsche Volk selbst entscheiden kann, wie gut ihm<br />
gedient worden ist. Schließlich verlangen und erwarten wir, dass die<br />
Regierung der Sowjetunion und die Familien der von revanchistischen<br />
deutschen Nationalisten Hingeschlachteten voll entschädigt<br />
werden. Die Nichterfüllung dieser Bedingungen wird schwerwiegendste<br />
Folgen haben.<br />
Wie ich bereits sagte, haben wir keinen Anlass zu der Vermutung,<br />
dass bei diesem Akt des internationalen Terrorismus eine Komplizenschaft<br />
anderer westlicher Länder besteht. Die Krise ist daher<br />
eine Angelegenheit der Regierung der Sowjetunion und der Regierung<br />
in Bonn. Es ist unsere Hoffnung, dass diese Krise mit diplomatischen<br />
Mitteln beigelegt werden kann. Wir fordern die Regierung<br />
in Bonn auf, die Konsequenzen ihrer Handlungen mit größter<br />
Sorgfalt abzuwägen und den Frieden zu wahren. Mehr habe ich<br />
nicht zu sagen.«<br />
Der Außenminister sammelte sein Manuskript ein und ging. Die<br />
versammelten Reporter unterließen jeden Versuch, ihm Fragen zu<br />
stellen.<br />
Flynn steckte seinen Notizblock in die Tasche und schraubte<br />
seinen Füllhalter zu. Der AP-Reporter war in Phnom Penh zurückgelieben,<br />
um das Eintreffen der Khmer Rouge abzuwarten, und war<br />
dabei fast ums Leben gekommen. Er hatte über Kriege, Revolutionen<br />
und Aufstände berichtet und war dabei zwe<strong>im</strong>al verwundet<br />
worden. Doch Kriegsberichterstattung war etwas für junge Männer.<br />
140
»Wann wollen Sie abreisen?«<br />
»Spätestens Mittwoch. Ich habe bei SAS schon zwei Tickets nach<br />
Stockholm reserviert«, antwortete Calloway.<br />
»Ich schicke ein Telegramm nach New York und lasse das Moskauer<br />
Büro morgen schließen. Willie, ich warte, bis Sie soweit sind,<br />
aber ich kann Ihnen sagen, es ist Zeit zu verschwinden. Über diese<br />
Geschichte berichte ich lieber von einem sichereren Ort aus.«<br />
»Über wie viele Kriege haben Sie berichtet, Patrick?«<br />
»Seit Korea praktisch über jeden.«<br />
USS Pharris<br />
DEFCON-2. GEFECHTSBEREITSCHAFT OPTION BRAVO IN<br />
KRAFT. DIESER SPRUCH MUSS ALS KRIEGSWARNUNG VERSTAN<br />
DEN WERDEN. AUSBRUCH VON FEINDSELIGKEITEN ZWISCHEN<br />
NATO UND WARSCHAUER PAKT NUN WAHRSCHEINLICH,<br />
WENNGLEICH NICHT SICHER. ERGREIFEN SLE ALLE FÜR DIE<br />
SICHERHEIT IHRES SCHIFFES ERFORDERLICHEN MASSNAH<br />
MEN. FEINDSELIGKEITEN KÖNNEN OHNE WIEDERHOLTE WAR<br />
NUNG AUSBRECHEN.<br />
Ed Morris griff in seiner Kajüte zum Telefon. »Rufen Sie den XO in<br />
meine Kammer.«<br />
Der Erste Offizier erschien in weniger als einer Minute. »Wie ich<br />
höre, haben Sie einen heißen Spruch, Sir.«<br />
»DEFCON-2, GB Option Bravo.« Er händigte das Formular mit<br />
dem knapp formulierten Spruch aus. »Wir beginnen sofort mit<br />
Fahrtkondition 3. ASROC- und Torpedostationen werden rund um<br />
die Uhr bemannt.« ASROC war ein U-Jagd-Flugkörper.<br />
»Und was sagen wir den Männern?«<br />
»Ich möchte das erst mit den Offizieren durchgehen und dann<br />
zur Mannschaft sprechen. Spezifische Einsatzbefehle liegen noch<br />
nicht vor. Vermutlich laufen wir zum Geleitschutzdienst entweder<br />
nach Norfolk oder nach New York.«<br />
141
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Gut, Toland, raus damit.« Baker setzte sich zurück.<br />
»Admiral, die Nato hat ihren Bereitschaftsgrad erhöht; vom<br />
Präsident ist DEFCON-2 autorisiert worden. Die Reserveflotte der<br />
Navy wird mobilisiert. >Reforger< beginnt um 0100 Zulu-Zeit. Die<br />
Briten haben Queens Order 2 in Kraft gesetzt. Und auf vielen<br />
Flugplätzen in Deutschland wird es rundgehen.«<br />
»Wann ist Unternehmen Reforger abgeschlossen?«<br />
»Die Operation zur Verstärkung unserer Streitkräfte in Europa<br />
wird acht bis zwölf Tage in Anspruch nehmen, Sir.«<br />
»Soviel Zeit wird uns kaum bleiben.«<br />
»Jawohl, Sir.«<br />
»Berichten Sie über die sowjetische Satellitenaufklärung«, befahl<br />
Baker.<br />
»Admiral, <strong>im</strong> Augenblick haben Sie nur einen Radar-Seeaufklärungssatelliten<br />
oben - Kosmos 1801. Gepaart ist er mit Kosmos<br />
1813, einem elektronischen Späher, der vermutlich reaktorgetrieben<br />
ist und zur Ergänzung des Radarsystems auch über Kameras<br />
verfügt.«<br />
»Davon höre ich zum ersten Mal.«<br />
»Die NSA fing vor mehreren Monaten Hinweise auf ein Videosignal<br />
auf, aber diese Erkenntnis wurde, weil unbestätigt, nicht an die<br />
Navy freigegeben.« Toland verschwieg, dass zu dieser Zeit die<br />
Auffassung vorherrschte, die Marine brauche dies nicht zu wissen.<br />
Toland war anderer Ansicht gewesen. Und <strong>im</strong>merhin war er von<br />
der NSA jetzt vor Ort. »Ich nehme an, dass der Iwan noch weitere<br />
Radarsatelliten auf Lager und startbereit hat. Es wurde eine ungewöhnlich<br />
große Anzahl von Nachrichtensatelliten in niedrige<br />
Umlaufbahnen gebracht, dazu eine Menge elektronische >Vögel< <br />
normalerweise haben sie nur sechs oder sieben oben, inzwischen<br />
aber insgesamt zehn. Somit ist ihre elektronische Aufklärungskapazität<br />
sehr groß. Unsere elektronischen Emissionen können ihnen<br />
nicht entgehen.«<br />
»Und es lässt sich nichts dagegen unternehmen?«<br />
»Vorerst nicht, Sir. Die Air Force verfügt, wenn ich mich recht<br />
entsinne, über sechs oder sieben Anti-Satelliten-Raketen, die jedoch<br />
nur einmal erfolgreich gegen einen echten Satelliten getestet wurden,<br />
und seit vergangenem Jahr ist ein Antisat-Moratorium in<br />
142
Kraft. Vermutlich kann die Air Force versuchen, das Programm zu<br />
reaktivieren, aber das wird einige Wochen dauern. Priorität als<br />
Ziele haben die Radarsatelliten«, schloss Toland hoffnungsvoll.<br />
»Gut. Unser Befehl lautet, bei den Azoren zur Saratoga zu stoßen<br />
und die amphibischen Einheiten der Marineinfanterie nach Island<br />
zu eskortieren. Ich nehme an, dass uns die Russen den ganzen Weg<br />
beobachten werden! Hoffentlich gibt uns die isländische Regierung<br />
Landeerlaubnis, wenn wir dort eintreffen. Ich habe gerade erfahren,<br />
dass man sich dort nicht entscheiden kann, ob es sich um eine<br />
echte Krise handelt oder nicht. H<strong>im</strong>mel noch mal, meinen Sie, die<br />
Nato hält zusammen?«<br />
»Angeblich haben wir Beweise, dass der ganze Zirkus nur ein<br />
Täuschungsmanöver ist. Der Haken ist nur, dass viele Länder den<br />
Russen die Scharade abkaufen, zumindest offiziell.«<br />
»Find ich großartig. Verfeinern Sie Ihre Analyse der Bedrohung<br />
durch sowjetische U-Boote und Flugzeuge permanent. Sowie sich<br />
bei ihren Einheiten auf See die geringste Veränderung ergibt, will<br />
ich informiert werden.«<br />
143
USS Chicago<br />
15<br />
Die Seefestung<br />
»Lotung?« fragte McCafferty leise.<br />
»Fünfzig Fuß unterm Kiel«, antwortete der Navigator. »Wir sind<br />
zwar noch gut außerhalb russischer Gewässer, kommen aber in<br />
zwanzig Meilen ans Schelf heran, Sir.« Im Lauf einer halben Stunde<br />
meldete er nun zum achten Mal, was vor ihnen lag.<br />
McCafferty nickte, wollte nichts sagen, kein unnötiges Geräusch<br />
verursachen. In der Angriffszentrale der Chicago hing die Spannung<br />
so dick wie der Zigarettenrauch, den die Entlüftung nicht<br />
ganz absaugen konnte. Er schaute sich um und stellte fest, dass seine<br />
Besatzungsmitglieder verstohlen mit gehobenen Brauen und leichtem<br />
Kopfschütteln ihre Verfassung verrieten.<br />
Am nervösesten war der Navigator. Gegen ihre Anwesenheit hier<br />
sprach so gut wie alles. Ob Chicago sich in sowjetischen Hoheitsgewässern<br />
befand oder nicht, war eine rechtlich komplizierte Frage.<br />
Im Nordosten lag Kap Kanin, <strong>im</strong> Nordwesten Kap Swiatoy. Die<br />
Sowjets erhoben auf fast das gesamte Gebiet Anspruch als »historische<br />
Bucht«, während die Amerikaner es vorzogen, sich an die<br />
international anerkannte Vierundzwanzig-Meilen-Zone zu halten.<br />
Jedermann an Bord wusste, dass die Russen eher schießen würden,<br />
als eine Entscheidung gemäß internationalem Seerecht einzuholen.<br />
Frage: Würden die Russen sie finden?<br />
Sie fuhren in gerade dreißig Faden tiefem Wasser - und U-Boote,<br />
so wie die großen Haie, sind Kreaturen der Tiefe. Auf der taktischen<br />
Anzeige erschienen drei sowjetische Patrouillenschiffe, zwei Fregatten<br />
der Grischa-Klasse und eine Korvette der Poti-Klasse, alle auf<br />
die Abwehr von U-Booten spezialisiert. Alle waren meilenweit<br />
entfernt, stellten aber dennoch eine echte Bedrohung dar.<br />
Der einzige positive Aspekt war ein Sturm direkt über ihnen. Ein<br />
Zwanzig-Knoten-Wind und strömender Regen störten die Leistung<br />
des Sonars, allerdings auch die ihrer eigenen Anlage, die einzige<br />
sichere Einrichtung zur Informationsbeschaffung.<br />
144
Und dann gab es Unsicherheitsfaktoren. Welche Spürgeräte hatten<br />
die Sowjets in diesen Gewässern? War das Wasser so klar, dass<br />
sie von einem Hubschrauber oder Anti-U-Boot-Flugzeug gesehen<br />
werden konnten? Trieb dort draußen ein Boot der Tango-Klasse<br />
langsam dahin, angetrieben von leisen Elektromotoren? Antworten<br />
auf diese Frage konnten nur das metallische Sirren einer hochdrehenden<br />
Torpedoschraube oder die Explosion einer Wasserbombe<br />
geben. McCafferty wägte diese Gefahren gegen die Priorität des<br />
Blitzbefehls von COMSUBLANT ab: Sofort Einsatzgebiet von Raketen-U-Booten<br />
Rotflotte feststellen.<br />
Diese Formulierung ließ ihm ein wenig Spielraum.<br />
»Wie exakt ist die Trägheitspeilung?« fragte McCafferty so lässig<br />
wie möglich.<br />
»Plusminus zweihundert Meter.« Der Navigator schaute noch<br />
nicht einmal auf.<br />
McCafferty, der die Gedanken des Navigators erahnte,<br />
brummte. Schon seit Stunden war der Eingang einer NAVSTAR-<br />
Satellitenpeilung fällig, doch ein Signal stellte in einem Gebiet, in<br />
dem es von sowjetischen Schiffen nur so w<strong>im</strong>melte, ein zu großes<br />
Risiko dar. Plusminus zweihundert Meter reichte normalerweise<br />
aus - doch nicht in seichten Gewässern getaucht vor einer feindlichen<br />
Küste. Wie exakt waren seine Seekarten? Lagen nicht eingezeichnete<br />
Wracks auf Grund? Selbst wenn seine Daten genau waren,<br />
würde es nach ein paar Meilen so eng werden, dass ein Fehler<br />
von zweihundert Metern Grundberührung, Beschädigung des U-<br />
Bootes und Lärm bedeuten musste. McCafferty zuckte die Achseln.<br />
Für diesen Auftrag war Chicago das beste Boot der Welt. Er tat ein<br />
paar Schritte und lehnte sich in den Sonar-Raum.<br />
»Was treibt unser Freund?«<br />
»Kurs unverändert, Sir, Geräuschpegel ebenfalls. Zuckelt mit<br />
fünfzehn Knoten dahin wie auf einer Vergnügungsfahrt«, sagte der<br />
Sonar-Chef ironisch.<br />
Schöne Vergnügungsfahrt. Die mit Interkontinentalraketen bestückten<br />
Boote der Sowjets liefen in vierstündigen Abständen aus;<br />
und die Mehrzahl befand sich bereits in See. So etwas war noch nie<br />
vorgekommen. Und alle schienen nach Osten zu laufen - nicht wie<br />
gewöhnlich nach Norden oder Nordwesten, um in der Barentsoder<br />
Karasee oder unter der Polkappe zu kreuzen. Diese Information<br />
hatte SACLANT von einer norwegischen P-3-Maschine erhal<br />
145
ten, die Checkpoint Charlie abflog, die Stelle fünfzig Meilen vor der<br />
Küste, an der die sowjetischen Boote <strong>im</strong>mer tauchten. Chicago, das<br />
diesem Gebiet nächste Boot, war zum Aufklären geschickt worden.<br />
Bald hatten sie ein Delta-III geortet und zu verfolgen begonnen,<br />
einen modernen sowjetischen »Boomer«, wie man Raketen-U-<br />
Boote nannte. Be<strong>im</strong> Hinterherfahren waren sie parallel des Schelfs<br />
in hundert Faden Tiefe geblieben... bis ihr Ziel plötzlich nach<br />
Südwesten in flache Gewässer Richtung Mys Swiatoy Nos abdrehte,<br />
was es zur Einfahrt zum Weißen Meer führte, also in rein<br />
sowjetisches Gewässer.<br />
Wie weit konnten sie die Vorfolgung wagen? Und was ging<br />
eigentlich vor? McCafferty kehrte in die Zentrale zurück und ging<br />
ans Periskop.<br />
»Schauen wir uns um«, meinte er. »Sehrohr ausfahren.« Ein<br />
Maat betätigte die hydraulische Anlage, und das Backbord-Suchperiskop<br />
stieg auf. »Stop!« McCafferty ging in die Hocke und fing das<br />
Instrument ab, dessen Aufwärtsbewegung der Obersteuermann<br />
knapp unter der Oberfläche gestoppt hatte. In einer teuflisch unbequemen<br />
Haltung watschelte der Kommandant mit dem Periskop <strong>im</strong><br />
Kreis herum. Am Bugschott war ein TV-Monitor angebracht, verbunden<br />
mit einer ins Sehrohr eingebauten Fernsehkamera. Der<br />
Erste Offizier und ein Obermaat überwachten den Bildschirm.<br />
»Keine Schatten«, sagte McCafferty. Kein Hinweis auf ein Schiff.<br />
»Bestätigt, Sir«, meinte der IO.<br />
»Mit Sonar abklären.«<br />
Vorne lauschte die Sonar-Wache aufmerksam. Kreisende Flugzeuge<br />
erzeugten Lärm, aber in diesem Fall war nichts vernommen<br />
worden - was nicht notwendigerweise bedeutete, dass da draußen<br />
nicht doch hoch über ihnen ein Hubschrauber flog oder ein Boot<br />
der Grischa-Klasse mit abgestellten Dieseln driftete und auf Objekte<br />
wie Chicago lauschte.<br />
»Keine Meldung von Sonar, Sir«, sagte der IO.<br />
»Zwei Fuß höher«, befahl McCafferty.<br />
Wieder betätigte der Obersteuermann den Hebel und ließ das<br />
Sehrohr um sechzig Zent<strong>im</strong>eter ansteigen, knapp über die Wasseroberfläche<br />
in den Wellentälern.<br />
»Sir!« rief der leitende ESM-Techniker. An der Spitze des Sehrohrs<br />
war ein kleines Antennenelement montiert, das Signale zu<br />
einem Breitbandempfänger sandte. Sowie es die Oberfläche durch<br />
146
ach, flammten an der ESM-Konsole drei Warnlichter auf. »Ich<br />
empfange drei - fünf, vielleicht sogar sechs Suchradarsignale auf<br />
dem India-Band.« Der Techniker begann, die Peilungen abzulesen.<br />
McCafferty entspannte sich. Ausgeschlossen, dass ein so kleines<br />
Objekt wie sein Periskop bei diesem Seegang durch Radar geortet<br />
werden konnte. Er drehte das Sehrohr um dreihundertsechzig Grad.<br />
»Ich sehe weder Überwasserschiffe noch Flugzeuge. Wellenhöhe<br />
einsfünfzig. Wind aus Nordwest, zwanzig bis fünfundzwanzig Knoten.«<br />
Er klappte die Griffe hoch und trat zurück. »Sehrohr einfahren.«<br />
Ehe er das zweite Wort ausgesprochen hatte, war die geölte<br />
Stahlsäule in ihrem Schacht verschwunden. Das Sehrohr hatte sich<br />
exakt 5,9 Sekunden über der Oberfläche befunden. Selbst nach<br />
fünfzehn Jahren auf U-Booten fand er <strong>im</strong>mer noch erstaunlich, was<br />
die Männer innerhalb von sechs Sekunden vollbringen konnten.<br />
Der Navigator schaute rasch auf seine Seekarte, und ein Steuermann<br />
half ihm bei der Ermittlung der Ausgangspunkte der Signale.<br />
»Sir.« Der Navigator sah auf. »Richtungen konsistent mit zwei<br />
bekannten Küstenradarstationen; drei Don-2-Anlagen entsprechend<br />
den Richtungen von Sierra-2, 3 und 4.« Er bezog sich auf die<br />
errechneten Positionen der drei sowjetischen Überwasserschiffe.<br />
»Ein unidentifiziertes Signal, Richtung zwei-vier-sieben. Wie sieht<br />
das aus, Harkins?«<br />
»Landgestütztes Oberflächensuchradar, India-Band«, erwiderte<br />
der Techniker und las die Frequenz und Pulsbereitewerte ab.<br />
»Schwaches, unscharfes Signal, Sir. Allerdings eine Menge Aktivität,<br />
Sir, und alle Anlagen sind auf verschiedene Frequenzen eingestellt.«<br />
Die Radarsuche war also wohl koordiniert, damit die Sender<br />
sich nicht gegenseitig störten.<br />
Ein Elektriker spulte das Videoband zurück, damit McCafferty<br />
überprüfen konnte, was er durchs Periskop gesehen hatte. Das Bild<br />
war schwarzweiß; das Band wurde wegen der durch die rasche<br />
Rundumsuche des Kommandanten entstandenen Unscharfen mit<br />
halber Geschwindigkeit abgespielt.<br />
»Schon toll, wie schön nichts aussehen kann, was Joe?« fragte er<br />
seinen Ersten Offizier. Die Wolkendecke hing gut unter tausend Fuß,<br />
und der Seegang hatte das Periskopobjektiv rasch mit Tröpfchen<br />
besprüht. Seit über achtzig Jahren bauen sie jetzt U-Boote, sinnierte<br />
McCafferty, aber eine effiziente Methode zum Klarhalten der Linse<br />
hat noch keiner erfunden.<br />
147
»Das Wasser sieht auch ziemlich trüb aus«, antwortete Joe.<br />
Sichtung durch ein U-Boot-Abwehrflugzeug ist der Alptraum aller<br />
U-Boot-Fahrer.<br />
»Mieses Flugwetter. Keine Sorge, uns sieht keiner«, sagte der<br />
Kommandant so laut, dass alle in der Zentrale es hören konnten.<br />
»Über die nächsten zwei Meilen wird das Wasser langsam tiefer,<br />
Sir«, meldete der Navigator.<br />
»Wie viel?«<br />
»Fünf Faden, Sir.«<br />
McCafferty warf dem IO, der gerade das Steuer überwachte,<br />
einen Blick zu. »Nutzen wir die aus.«<br />
»Aye. Tauchoffizier, langsam zwanzig Fuß tiefer gehen.«<br />
»Ave.« Der Chief gab den Tiefenrudergängern die entsprechenden<br />
Befehle, und in der Zentrale wurde hörbar aufgeatmet.<br />
McCafferty ging wieder nach vorne in den Sonar-Raum. »Was<br />
treiben unsere Freunde, Chief?«<br />
»Die Patrouillenboote klingen noch schwach, Sir, scheinen<br />
Kreise zu fahren - die Richtungen ändern sich entsprechend. Auch<br />
die Schraubenumdrehung des Boomers ist konstant, Sir. Er zuckelt<br />
mit etwa fünfzehn Knoten dahin. Sonderlich leise ist er dabei nicht.<br />
Immer noch eine Menge mechanische Schall<strong>im</strong>pulse. Dem Krach<br />
nach zu schließen, den die da machen, wird dort gewartet. Wollen<br />
Sie mal reinhören, Skipper?« Der Chief hielt einen Kopfhörer hoch.<br />
Sonarsuchpeilungen wurden vorwiegend visuell wahrgenommen <br />
der Bordcomputer wandelte akustische Signale um und ließ sie auf<br />
einem Bildschirm erscheinen. Doch für richtiges Horchen war das<br />
noch <strong>im</strong>mer kein echter Ersatz. McCafferty setzte den Kopfhörer<br />
auf.<br />
Als erstes hörte er das Surren der Reaktorpumpen des Delta. Sie<br />
liefen <strong>im</strong> mittleren Umdrehungsbereich und drückten Wasser aus<br />
dem Reaktor in den Wärmetauscher des Sekundärkreislaufs. Dann<br />
konzentrierte er sich auf die Schraubengeräusche. Das russische<br />
strategische U-Boot war mit zwei fünf schaufeligen Schrauben ausgerüstet,<br />
und er versuchte erfolglos mitzuzählen, wie rasch sie<br />
rotierten. Da musste er sich auf das Wort seines Chiefs verlassen,<br />
wie üblich ... peng!<br />
»Was war das?«<br />
Der Chief wandte sich an einen anderen leitenden Sonar-Operator.<br />
»Hat da wer ein Luk zugeschlagen?«<br />
148
Der Sonarmann First Class schüttelte heftig den Kopf. »Klang<br />
eher, als hätte jemand einen Schraubenschlüssel fallen gelassen.<br />
Und zwar ganz in der Nähe.«<br />
Der Captain musste lächeln. Alle Mann an Bord gaben sich<br />
betont lässig. In Wirklichkeit war jeder so angespannt wie er selbst,<br />
und McCafferty hatte nichts anderes <strong>im</strong> Sinn, als aus diesem verfluchten<br />
Teich zu verschwinden. Selbstverständlich durfte er seine<br />
Crew seine Besorgnis nicht spüren lassen - der Kommandant<br />
musste jederzeit über den Dingen stehen -, aber was ist das für ein<br />
Scheißspiel, sagte er sich. Was haben wir hier eigentlich verloren?<br />
Ich hab keine Lust auf einen Krieg!<br />
Er lehnte sich gegen den Türrahmen knapp vor der Zentrale, nur<br />
knapp zwei Meter von seiner Kammer entfernt, und hätte sich am<br />
liebsten dorthin zurückgezogen, ein, zwei Minuten hingelegt, sich<br />
am Waschbecken erfrischt. Kommt nicht in Frage, dachte er.<br />
Durchhalten, Danny, befahl er sich, fuhr sich mit dem Taschentuch<br />
über die Nase, ließ den Blick mit fast gelangweilter Miene über die<br />
Sonar-Displays gleiten. Der coole Kommandant.<br />
Kurz darauf kehrte McCafferty in die Zentrale zurück. Er hatte,<br />
fand er, gerade genug Zeit <strong>im</strong> Sonar-Raum verbracht, um die Crew<br />
dort zu motivieren, ohne sie unter Druck zu setzen. Er sah sich<br />
lässig um. Der Raum war so überfüllt wie eine irische Bar am St.-<br />
Patricks-Tag. Die Gesichter seiner Männer, nach außen hin kühl,<br />
waren trotz der Kl<strong>im</strong>aanlage schweißnass. Besonders die Tiefenrudergänger<br />
konzentrierten sich auf ihre Instrumente, steuerten das<br />
Boot mit Hilfe eines elektronisch definierten Displays tiefer, überwacht<br />
vom Tauchoffizier, dem dienstältesten Chief auf Chicago.<br />
In der Mitte der Zentrale waren die beiden nebeneinander angebrachten<br />
Angriffsrohre voll eingefahren; neben ihnen stand ein<br />
Steuermannsmaat bereit, um sie gegebenenfalls sofort auszufahren.<br />
Der IO schritt den zur Verfügung stehenden Raum ab, schaute alle<br />
zwanzig Sekunden auf die Seekarte, wenn er am achterlichen Ende<br />
kehrtmachte. Hier gab es nichts zu beanstanden. Es herrschte Spannung,<br />
aber die Arbeit wurde getan.<br />
»Insgesamt sieht es nicht so übel aus«, sagte McCafferty so laut,<br />
dass alle es hören konnten. Die Oberflächenverhältnisse machten<br />
eine Ortung unwahrscheinlich.<br />
»Sonar an Zentrale.«<br />
»Zentrale, aye.« Der Kommandant griff zum Telefon.<br />
149
»Rumpfknistern. Er scheint aufzutauchen. Ja, Ziel bläst jetzt<br />
an, Sir.«<br />
»Verstanden. Halten Sie uns auf dem laufenden, Chief.«<br />
McCafferty legte auf, trat an den Kartentisch. »Wieso jetzt auftauchen?«<br />
Der Navigator schnorrte bei einem Matrosen eine Zigarette.<br />
McCafferty wusste, dass er normalerweise Nichtraucher war. Der<br />
Lieutenant musste husten, bekam von einem Steuermann Zweiter<br />
Klasse einen höhnischen Blick und schaute dann hinüber zum<br />
Kommandanten.<br />
»Sir, hier st<strong>im</strong>mt etwas nicht«, sagte der Lieutenant leise.<br />
»Nur eine Frage«, erwiderte McCafferty. »Warum ist er hier<br />
aufgetaucht?«<br />
»Sonar an Zentrale.« Der Kommandant hob wieder ab. »Sir, der<br />
Boomer scheint seine Tanks Leerzublassen.«<br />
»Sonst noch etwas Ungewöhnliches?«<br />
»Nein, Sir, aber er Muss den größten Teil seiner Pressluftreserven<br />
aufgebraucht haben.«<br />
»Gut, Chief, danke.« McCafferty legte auf und fragte sich, was<br />
das nun wieder zu bedeuten hatte.<br />
»Sir, haben Sie einen solchen Auftrag schon einmal ausgeführt?«<br />
fragte der Navigator.<br />
»Ich habe massenweise russische Boote verfolgt, aber hier drinnen<br />
nie.«<br />
»Das Ziel wird schließlich auftauchen müssen, denn hier an<br />
Terski Bereg entlang ist das Wasser nur sechzig Fuß tief.« Der<br />
Navigator fuhr mit dem Zeigefinger über die Seekarte.<br />
»Und wir müssen dann die Verfolgung aufgeben«, st<strong>im</strong>mte<br />
McCafferty zu. »Aber das ist noch vierzig Meilen hin.«<br />
»Genau.« Der Navigator nickte. »Doch seit fünf Meilen verengt<br />
sich dieser Golf wie ein Trichter, der einem getauchten Boot am<br />
Ende nur noch eine einzige sichere Durchfahrt bietet. Verdammt,<br />
ich weiß auch nicht, was hier los ist.« McCafferty kam nach achtern,<br />
um sich die Karte anzusehen.<br />
»Die ganze Strecke von der Halbinsel Kola aus lief er mit fünfzehn<br />
Knoten. Die nutzbare Tiefe war seit fünf Stunden gleichbleibend<br />
- nahm gerade ein bisschen zu - und scheint sich auch für die<br />
nächsten zwei Stunden nicht zu ändern. Aber er taucht trotzdem<br />
auf«, meinte McCafferty. »Die einzige Veränderung stellt die Breite<br />
150
der Fahrrinne dar, und die liegt noch zwanzig Meilen vor uns -«<br />
McCafferry dachte darüber nach, starrte auf die Karte. Der Sonarraum<br />
meldete sich erneut.<br />
»Zentrale, aye. Was gibt's, Chief?«<br />
»Neuer Kontakt, Sir, Richtung eins-neun-zwo. Ziel als Sierra 5<br />
identifiziert. Überwasserschiff, Doppelschrauben, Dieselantrieb.<br />
Tauchte ganz plötzlich auf, Sir. Klingt nach Natja-Klasse. Leichte<br />
Kursänderung nach Backbord, scheint mit dem Boomer zu konvergieren.<br />
Schraubenumdrehung indiziert, rund zwölf Knoten Fahrt.«<br />
»Was treibt der Boomer?«<br />
»Fahrt und Kurs unverändert, Sir. Abblasen eingestellt. Er läuft<br />
nun an der Oberfläche, Sir, wir hören Stampfen und Durchdrehen<br />
der Schrauben. Moment - gerade hat ein Aktiv-Sonar eingesetzt,<br />
wir empfangen Nachhall, Richtung etwa eins-neun-null, wahrscheinlich<br />
von der Natja. Hochfrequenzsonar jenseits des Hörbereichs,<br />
schätzungsweise zweiundzwanzigtausend Hertz.«<br />
McCafferty hatte plötzlich einen eiskalten Knoten <strong>im</strong> Magen.<br />
»IO, ich übernehme das Ruder.«<br />
»Aye, Sir.«<br />
»Tauchoffizier: Gehen Sie auf sechzig Fuß, gerade hoch genug,<br />
ohne die Oberfläche zu durchbrechen. Observation! Sehrohr ausfahren!«<br />
McCafferty suchte die Meeresoberfläche rasch nach<br />
Schatten ab. »Noch drei Fuß. Okay, <strong>im</strong>mer noch nichts. ESM-<br />
Werte?«<br />
»Inzwischen sieben Aktivradarquellen, Skipper. Positionen mehr<br />
oder weniger unverändert, dazu ein neues Objekt an eins-neuneins,<br />
India-Band. Sieht nach Don-2 aus.«<br />
McCafferty stellte das Periskop auf die zwölffache Vergrößerung.<br />
Das sowjetische Raketen-U-Boot lag extrem hoch <strong>im</strong> Wasser.<br />
»Joe, was sehen Sie?« fragte McCafferty, der eine rasche Gegenbestätigung<br />
haben wollte.<br />
»Eindeutig ein Delta-III. Scheint trocken geblasen zu sein, Sir,<br />
liegt über einen Meter höher als gewöhnlich. Muss eine Unmenge<br />
Pressluft verbraucht haben. Das da vor ihm scheint der Mast der<br />
Natja zu sein, aber genau lässt sich das schwer sagen.«<br />
McCafferty spürte nun, dass Chicago schlingerte. Wellenschläge<br />
gegen das Periskop ließen seine Hände zittern. Die Seen brachen<br />
sich auch am Delta, Wasser strömte in die Flutschlitze in der<br />
Außenhaut entlang der Flanke hinein und wieder heraus.<br />
151
»ESM meldet. Signalstärke nähert sich Ortungswerten«, warnte<br />
der Techniker.<br />
Er hat beide Periskope aufgefahren-, stellte McCafferty fest,<br />
der wusste. dass sein eigenes Sehrohr schon viel zu lange oben<br />
gewesen war. Er verdoppelte die Vergrößerung. Das führte zu<br />
einem Verlust an optischen Details, doch nun erschien der Turm<br />
der Delta <strong>im</strong> Okular. »Brückenposten vollzählig auf dem Turm.<br />
Aber es schaut keiner achteraus. Sehrohr einfahren. Tauchoffizier,<br />
zehn Fuß tiefer gehen. Tiefenrudergänger, gut gemacht. Schauen<br />
wir uns mal das Band an, Joe. Sekunden später erschien auf dem<br />
TV-Monitor das Bild.<br />
Sie lagen zweitausend Meter hinter dem Delta. Rund eine halbe<br />
Seemeile dahinter war der Radardom der Natja sichtbar, die in den<br />
Querseen merklich schlingerte. Zur Aufnahme seiner sechzehn SS-<br />
18-Interkontinentalraketen hatte das russische U-Boot ein buckliges,<br />
abfallendes Achterschiff, das von hinten wie eine Straßenrampe<br />
wirkte. Keine Schönheit, dieses Delta, aber es brauchte nur<br />
lange genug zu überleben, um seine Raketen abzuschießen, und die<br />
Amerikaner bezweifelten nicht, dass diese einwandfrei funktionierten.<br />
»Sehen Sie sich das mal an: Die haben so weit ausgeblasen, dass<br />
die Schrauben halb aus dem Wasser ragen-, kommentierte der IO.<br />
»Navigator, wie weit noch bis zum Flachwasser?"<br />
«In diesem Kanal noch zehn Meilen mit mindestens vierundzwanzig<br />
Faden.-<br />
Warum war das Delta schon so weit draußen aufgetaucht?<br />
McCafferty griff zum Hörer. „Sonar, was treibt Natja?«<br />
„Sir, sie hat ihr Suchradar voll aufgedreht. Nicht auf uns gerichtet,<br />
aber wir empfangen Reflexionen und Nachhall vom<br />
Grund. <br />
Die Natja war ein Minensuchboot, das sicherlich auch den Auftrag<br />
hatte, als Sperrbrecher zu fungieren, der U-Boote in sichere<br />
Gebiete hinein- und wieder herauseskortierte. Und ihr Minensuch-<br />
Sonar <strong>im</strong> VHF-Bereich war aktiv ... ,guter Gott!<br />
„Ruder hart Backbord!« schrie McCafferty.<br />
"Ruder hart Backbord, aye!" Wenn er nicht angeschnallt gewesen<br />
wäre, hatte sich der Rudergänger den Kopf an der Decke<br />
angeschlagen.<br />
„Ein Minenfeld! hauchte der Navigator.<br />
152
Überall in der Zentrale drehten sich die Köpfe.<br />
»Durchaus möglich. McCafferty nickte gr<strong>im</strong>mig. »Wie weit<br />
sind wir noch von der Stelle, an der der Boomer mit der Natja<br />
zusammentraf, entfernt?<<br />
Der Navigator schaute aufmerksam auf die Karte. »Rund vierhundert<br />
Meter. Sir.«<br />
„Maschinen stopp! <br />
Der Rudergänger bediente den Maschinentelegraphen. »Maschinenraum<br />
meldet Stopp, Sir. Kurs eins-acht-null, Sir."<br />
»Gut. Hier sollten wir einigermaßen sicher sein. Man kann wohl<br />
annehmen, dass sich das Delta einige Meilen vor dem Minenfeld mit<br />
dem Minensucher traf, oder? Glaubt hier jemand, der Iwan würde<br />
einen Boomer riskieren?" Rein rhetorische Frage.<br />
Rundum Seufzer der Erleichterung. Chicago verlor rasch an<br />
Fahrt, ging breitseits zum bisherigen Ziel.<br />
»Ruder mittschiffs.« McCafferty befahl Drittelfahrt und griff<br />
nach dem Telefon zum Sonarraum. »Hat sich das Verhalten des<br />
Boomers geändert?«<br />
»Nein, Sir. Kurs konstant eins-neun-null, Fahrt fünfzehn Knoten.<br />
Wir hören <strong>im</strong>mer noch das Aktivsonar der Natja, Kurs einsacht-sechs.<br />
Fahrt gemäß Schraubenumdrehung ebenfalls fünfzehn<br />
Knoten.«<br />
»Navigator, sehen Sie zu, wie wir hier rauskommen. Gehen wir<br />
den Patrouillenbooten aus dem Weg und melden diese Geschichte<br />
so bald wie möglich weiter.«<br />
»Aye. Drei-fünf-acht sieht <strong>im</strong> Augenblick recht gut aus, Sir.« Der<br />
Navigator hatte den Kurs seit zwei Stunden konstant auf den<br />
neuesten Stand gebracht.<br />
»Sir, falls der Iwan hier tatsächlich ein Minenfeld gelegt hat,<br />
befindet es sich teilweise in internationalen Gewässern«, meldete<br />
der IO an. »Gar nicht dumm.«<br />
»Klar. Da die Russen diese Gewässer aber beanspruchen, ist es<br />
halt nur Pech, wenn jemand auf eine Mine läuft -«<br />
»Und dazu einen internationalen Zwischenfall auslöst?« fragte<br />
Joe.<br />
»Wozu aber das Aktiv-Sonar?« wollte der Fernmeldeoffizier<br />
wissen. »Bei klarer Fahrrinne kann man doch nach Sicht navigieren.«<br />
»Und wenn es gar keine klare Fahrrinne gibt?« gab der IO<br />
153
zurück. »Nehmen wir einmal an, sie haben Grundminen gelegt und<br />
in einer Tiefe von, sagen wir mal, fünfzig Fuß Treibminen verankert.<br />
Die Möglichkeit, dass das Ankertau einer Mine vielleicht<br />
etwas zu lang ist, macht sie wohl so nervös, dass sie auf Nummer<br />
Sicher gehen. Und was bedeutet das Ganze?«<br />
»Dass niemand ihre Boomer verfolgen kann, ohne aufzutauchen Der<br />
Lieutenant verstand nun.<br />
»Und das werden wir auch schön bleiben lassen. Kein Mensch<br />
hat je behauptet, der Iwan sei auf den Kopf gefallen. Sein System<br />
hier ist perfekt, denn er bringt alle seine Raketen-Boote dort unter,<br />
wo wir nicht an sie herankommen«, fuhr McCafferty fort. »Von<br />
unserer Position aus schafft es selbst ein SUBROC nicht bis ins<br />
Weiße Meer. Und schließlich: Wenn die Boote auslaufen sollen,<br />
brauchen sie nicht in einer einzigen Fahrrinne herumzumurksen,<br />
sondern können auftauchen und losrauschen. Gentlemen, das bedeutet,<br />
dass sie nicht jedem Boomer ein Jagd-U-Boot zum Schutz<br />
gegen jemanden wie uns zuzuordnen brauchen. Sie bringen alle ihre<br />
strategischen Boote in einer hübsch sicheren Seefestung unter und<br />
haben damit ihre Jagd-Boote für andere Aufgaben frei. Machen<br />
wir, dass wir hier rauskommen.«<br />
Nordatlantik<br />
»Schiff in Sicht, hier spricht ein Flugzeug der US-Navy Backbord<br />
voraus. Bitte identifizieren. Over.« Kapitän Cherow reichte einem<br />
Major der Roten Armee den Hörer der Schiff-zu-Schiff-Funksprechanlage.<br />
»Navy, hier Doctor Lykes.« Für Cherow, der nur gebrochen<br />
englisch sprach, klang der breite Mississippi-Dialekt des Majors<br />
wie Kurdisch. Das nebelgraue Patrouillenflugzeug, das nun ihr<br />
Schiff umkreiste, konnten sie kaum ausmachen.<br />
»Nähere Angaben, Doctor Lykes«, befahl die St<strong>im</strong>me knapp.<br />
»Wir sind aus New Orleans mit allgemeiner Ladung nach Oslo<br />
unterwegs. Worum geht's denn?«<br />
»Sie befinden sich weit nördlich von einem Kurs nach Norwegen.<br />
Erklärung bitte.«<br />
»Navy, lest ihr denn keine Zeitung? Hier wird's bald mulmig,<br />
und unser oller Kahn ist nicht billig. Wir haben Anweisung vom<br />
154
Boss, uns in der Nähe von Freunden zu halten. Schön, euch zu sehn,<br />
Boys. Wollt ihr uns ein Stückchen begleiten?«<br />
»Roger, verstanden, Doctor Lykes, wir teilen Ihnen mit, dass sich<br />
unseres Wissens nach keine U-Boote in diesem Gebiet befinden.«<br />
»Fein, Navy. Fahren wir eben weiter ein bisschen nach Norden<br />
und lassen uns von euch Luftunterstützung geben.«<br />
»Wir können zu Ihrem Geleit kein Flugzeug abstellen.«<br />
»Klar, aber wenn wir euch brauchen, kommt ihr doch, oder?«<br />
»Roger«, st<strong>im</strong>mte Penguin 8 zu.<br />
»Okay, dann fahren wir weiter unseren Nordkurs und drehen<br />
dann nach Osten zu den Färöern ab. Sagt ihr uns Bescheid, wenn die<br />
Banditen auftauchen?«<br />
»Wenn wir welche finden, Doc, versuchen wir erst mal, sie zu<br />
versenken«, übertrieb der Pilot.<br />
»Waidmannsheil, Boy. Out.«<br />
Penguin 8<br />
»Mann, gibt's denn echte Menschen, die so reden wie der?« fragte<br />
sich der Pilot der Orion laut.<br />
»Noch nie von Lykes Lines gehört?« versetzte sein Kopilot lachend.<br />
»Die nehmen nur Leute mit Südstaaten-Akzent. Alte Tradition.<br />
Der Kahn ist aber auf dem falschen Kurs.«<br />
»Sicher, aber bis Geleitzüge zusammengestellt sind, würde ich<br />
auch versuchen, von einem geschützten Gebiet zum anderen zu<br />
hopsen. Wie auch <strong>im</strong>mer, schließen wir mal die Sichtinspektion<br />
ab.« Der Pilot gab Gas und flog näher heran, sein Kopilot griff nach<br />
dem Kennbuch. »Rumpf ganz in Schwarz, mittschiffs steht >Lykes<br />
Lines
zurück. Die beiden anderen Männer, die mit tragbaren Luftabwehrraketen<br />
vom Typ SAM-7 auf sie zielten, sahen die Flieger<br />
nicht. »Viel Glück, Kumpels. Ihr werdet's brauchen.«<br />
MS Julius Fucik<br />
»Der neue Anstrich wird eine visuelle Identifizierung erschweren,<br />
Genosse General«, sagte der Luftabwehroffizier leise. »Soweit ich<br />
sehen konnte, hatten sie keine Luft-Boden-Raketen.«<br />
»Das wird sich rasch genug ändern. Sobald unsere Flotte ausläuft,<br />
werden die Patrouillenflugzeuge bewaffnet. Außerdem: Wie<br />
weit kommen wir, wenn man uns identifiziert hat und andere<br />
Flugzeuge herbeiruft?« Der General sah dem sich entfernenden<br />
Flugzeug nach. Im Verlauf der Episode hatte ihm das Herz bis zum<br />
Hals geschlagen, doch nun konnte er beruhigt zu Cherow auf die<br />
Brückennock gehen. Khakiuniformen <strong>im</strong> amerikanischen Stil waren<br />
nämlich nur an die Offiziere des Schiffes ausgegeben worden.<br />
»Mein Kompl<strong>im</strong>ent an Ihren Sprachenoffizier. Ich nehme an,<br />
dass das, was er da redete, Englisch war?«<br />
Nun, da die Gefahr vorüber war, konnte Andrejew jovial lachen.<br />
»Das hat man mir jedenfalls gesagt. Die Marine hatte eigens einen<br />
Mann mit Spezialkenntnissen angefordert. Es handelt sich um<br />
einen Gehe<strong>im</strong>dienstoffizier, der in den USA gearbeitet hat.«<br />
»Wie auch <strong>im</strong>mer, er hatte Erfolg. Nun können wir sicher auf<br />
unser Ziel zulaufen«, sagte Cherow, klang aber nicht ganz überzeugt.<br />
»Ich freue mich schon aufs Land, Genosse Kapitän.« Der General<br />
fühlte sich auf diesem großen, ungeschützten Ziel nicht sicher<br />
und sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen. Als Infanterist<br />
hatte man wenigstens ein Gewehr, mit dem man sich verteidigen,<br />
gewöhnlich ein Loch, in dem man sich verstecken, und zwei Beine,<br />
auf denen man weglaufen konnte. Auf einem Schiff sah das ganz<br />
anders aus, wie er inzwischen gelernt hatte. Ein Schiff war ein<br />
riesiges Ziel, und dieser Frachter war praktisch wehrlos. Zu seinem<br />
Erstaunen fühlte er sich hier unbehaglicher als in einem Transportflugzeug.<br />
Dort hatte man wenigstens noch einen Fallschirm. Über<br />
seine Fähigkeit, an Land zu schw<strong>im</strong>men, machte er sich keine<br />
Illusionen.<br />
156
Sunnyvale, Kalifornien<br />
»Schon wieder eine«, sagte der Chief Master Sergeant.<br />
Die Sache wurde inzwischen schon langweilig. Der Colonel hatte<br />
noch nie erlebt, dass die Sowjets mehr als sechs Fotoaufklärungssatelliten<br />
<strong>im</strong> Orbit hatten. Nun kreisten dort zehn, dazu zehn elektronische<br />
Datensammler, teils vom Komsodrom Baikonur bei Leninsk<br />
in Kasachstan, teils von Plesetsk in Nordrussland aus gestartet.<br />
»Das ist eine Rakete vom Typ F, Colonel«, sagte der Sergeant<br />
und hob den Blick von der Armbanduhr. »Brenndauer weicht von<br />
der des A-Typs ab.«<br />
Bei diesem russischen Trägersystem handelte es sich um eine<br />
abgewandelte Version der alten Interkontinentalrakete SS-9, und<br />
sie hatte nur zwei Funktionen - Radar-Seeaufklärungssatelliten,<br />
RORSAT genannt, und Anti-Satelliten-Systeme in Umlaufbahnen<br />
zu bringen. Die Amerikaner beobachteten den Start über einen erst<br />
kürzlich in den Orbit gebrachten Aufklärungssatelliten KH-11. Der<br />
Colonel griff nach dem Telefon mit der Standleitung zu NORAD<br />
<strong>im</strong> Cheyenne Mountain.<br />
USS Pharris<br />
Solltest dich hinlegen, auf Vorrat schlafen, dachte Morris, war aber<br />
zu aufgedreht.<br />
USS Pharris fuhr vor der Mündung des Delaware River Achterschleifen.<br />
Dreißig Meilen weiter nördlich wurden die Schiffe der<br />
Marinereserveflotte, die seit Jahren in Bereitschaft gelegen hatten,<br />
seeklar gemacht, mit Panzern, Geschützen und Munition beladen.<br />
Auf dem Suchradar der Pharris erschienen zahlreiche Truppentransportflugzeuge,<br />
die vom Luftstützpunkt Dover starteten. Die<br />
gewaltigen Maschinen konnten Truppen nach Deutschland bringen,<br />
wo ihr Gerät bereits gelagert war, doch wenn die Munition<br />
knapp wurde, musste der Nachschub auf die altmodische Weise<br />
erfolgen, in hässlichen, dicken, langsamen Frachtern - fetten Zielen.<br />
Diese waren inzwischen vielleicht nicht mehr so langsam wie früher<br />
und größer, aber nicht mehr so zahlreich. Im Lauf von Morris'<br />
Karriere in der Navy war die amerikanische Handelsflotte stark<br />
geschrumpft. Nun konnte ein U-Boot ein Schiff versenken und<br />
157
dabei einen so großen Schaden anrichten wie <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg<br />
durch die Vernichtung von vier oder fünf.<br />
Ein weiteres Problem stellten die Besatzungen der Frachter dar,<br />
für die man bei der US-Navy traditionell nichts als Verachtung<br />
übrig hatte. Das Durchschnittsalter der Crews betrug um die fünfzig<br />
Jahre, mehr als das Doppelte als auf jedem Schiff der Marine.<br />
Waren diese Opas den Belastungen des Gefechts gewachsen? fragte<br />
sich Morris. Er musste diesen Gedanken verdrängen. Diese alten<br />
Männer mit studierenden Kindern waren seine Herde. Er war der<br />
Schäfer, und unter der grauen Oberfläche des Atlantiks lauerten<br />
Wölfe.<br />
Keine große Herde. Erst kürzlich hatte er die Zahlen zu sehen<br />
bekommen: 170 in Privatbesitz befindliche Frachter unter amerikanischer<br />
Flagge, Durchschnittsgröße 18 000 BRT. Die Lage katastrophal<br />
zu nennen, war noch eine Untertreibung. Sie konnten es<br />
sich nicht leisten, auch nur ein Schiff zu verlieren.<br />
Morris ging ans Radarsichtgerät der Brücke und sah sich den<br />
Start der Transportflugzeuge vom Stützpunkt Dover an. Jeder<br />
weiße Fleck auf dem Schirm stand für fünfhundert Mann. Was,<br />
wenn ihnen die Munition ausging?<br />
»Noch ein Frachter, Sir.« Der Wachoffizier wies auf einen Punkt<br />
an der K<strong>im</strong>m. »Holländisches Containerschiff. Ich nehme an, es<br />
will Kriegsmaterial laden.«<br />
Morris grunzte. »Wir werden alle Hilfe brauchen, die wir kriegen<br />
können.«<br />
Sunnyvale, Kalifornien<br />
»Eindeutig, Sir«, sagte der Colonel. »Ein sowjetischer Antisat,<br />
dreiundsiebzig Seemeilen hinter einem von unsern Vögeln.«<br />
Der Colonel hatte seinem Satelliten befohlen, die Kameras auf<br />
den neuen Begleiter zu richten. Die Lichtverhältnisse waren ungünstig,<br />
die Umrisse des russischen Killersatelliten aber unverkennbar:<br />
ein fast dreißig Meter langer Zylinder mit einem Raketenmotor an<br />
einem und einer Radarsuchantenne am anderen Ende.<br />
»Was schlagen Sie vor, Colonel?«<br />
»Sir, ich bitte um Genehmigung, meine Vögel nach Belieben zu<br />
manövrieren. Sowie ein Objekt, das einen roten Stern trägt, auf<br />
158
fünfzig Meilen herankommt, werde ich eine Reihe von V-Delta-<br />
Manövern ausführen, um ihre Abfangkoordinaten durcheinanderzubringen.«<br />
»Das wird eine Menge Treibstoff kosten«, warnte der CINC<br />
NORAD.<br />
»Wir haben es hier mit einem doppelten Problem zu tun, General.«<br />
Der Colonel reagierte wie ein Mathematiker. »Option eins:<br />
Wir manövrieren die Vögel und nehmen den Treibstoffverbrauch<br />
in Kauf. Option zwei: Wir lassen sie auf ihren Bahnen und riskieren<br />
Abschüsse. Ist ein russischer Killer erst einmal bis auf fünfzig Meilen<br />
herangekommen, kann er unseren Satelliten innerhalb von fünf<br />
Minuten abfangen und ausschalten.«<br />
»Gut, aber das muss von Washington genehmigt werden. Ich<br />
werde Ihren Vorschlag mit meiner Empfehlung weiterleiten.«<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Admiral, es kam gerade eine bedenkliche Meldung aus der Barentssee.«<br />
Toland las die Nachricht von CINCLANTFLT vor.<br />
»Wie viele U-Boote können sie jetzt auf uns loslassen?«<br />
»Vielleicht dreißig mehr als bisher, Admiral.«<br />
»Dreißig?« Seit einer Woche hatte Baker nur schlechte Nachrichten<br />
erhalten. Diese fand er ganz besonders übel.<br />
Der Verband der N<strong>im</strong>itz, begleitet von denen der Saratoga und<br />
des französischen Trägers Foch, gab einer amphibischen Einheit<br />
der Marineinfanterie, genannt MAU, die die Bodenverbände auf<br />
Island verstärken sollte, Geleitschutz. Eine Fahrt von drei Tagen.<br />
Sollte der Krieg kurz nach Erfüllung dieses Auftrags ausbrechen,<br />
war ihre nächste Aufgabe die Unterstützung des Verteidigungsplans<br />
für die GIUK-Barriere, die kritisch bedeutsame Sperre der<br />
Durchfahrten zwischen Grönland, Island und Großbritannien.<br />
Trägereinsatzgruppe 21 war stark, aber war sie stark genug? Laut<br />
Doktrin musste eine aus vier Trägern bestehende Gruppe dort oben<br />
in der Lage sein zu kämpfen und zu überleben, doch die Flotte war<br />
noch nicht komplett. Toland erhielt Berichte über verzweifelte<br />
diplomatische Bemühungen, den anscheinend kurz vor dem Ausbruch<br />
stehenden Krieg noch zu verhindern. Wie aber würden die<br />
Sowjets auf vier oder mehr Flugzeugträger in der norwegischen See<br />
159
eagieren? Offenbar wollte das in Washington niemand wissen,<br />
aber Toland hatte das Gefühl, dass es darauf auch nicht mehr<br />
ankam. Island hatte die Verstärkungen, die sie gerade eskortierten,<br />
erst vor zwölf Stunden akzeptiert, und dieser Vorposten der Nato<br />
hatte sie auch besonders nötig.<br />
USS Chicago<br />
McCafferty befand sich dreißig Meilen nördlich der Einfahrt zum<br />
Kola Fjord. Nach einer spannungsgeladenen sechzehnstündigen<br />
Fahrt von Kap Swiatoy war die Besatzung relativ froh, nun hier zu<br />
sein. Obwohl es in der Barentssee vor U-Boot-Jägern nur so w<strong>im</strong>melte,<br />
hatten sie sich sofort nach Abgabe ihrer Meldung von der<br />
Zufahrt zum Weißen Meer zurückgezogen, um keinen ernsten<br />
Zwischenfall heraufzubeschwören. Hier hatten sie hundert Faden<br />
Wasser und genug Raum zum Manövrieren. Fünfzig Meilen von<br />
Chicago entfernt sollte sich ein Paar amerikanischer U-Boote befinden,<br />
dazu ein Engländer und zwei norwegische Diesel-Boote. Von<br />
diesen hörten seine Sonarmänner nichts, wohl aber ein Quartett<br />
von Grischas, die <strong>im</strong> Südosten mit Aktivsonar ein Objekt anpeilten.<br />
Die alliierten U-Boote hier hatten den Auftrag zu beobachten und<br />
zu lauschen. Eine fast ideale Mission für sie, denn sie brauchten nur<br />
dahin zu schleichen und Kontakt mit Überwasserschiffen, die sich<br />
schon auf weite Distanz orten ließen, zu meiden.<br />
Sich zu verstecken, war nun sinnlos. McCafferty dachte nicht<br />
daran, seinen Männern die Bedeutung der gerade beobachteten<br />
Konzentration der russischen strategischen Boote vorzuenthalten:<br />
Es hatte den Anschein, als stünde ein Krieg kurz bevor. Die Politiker<br />
in Washington und die Strategen in Norfolk und anderswo mochten<br />
noch ihre Zweifel hegen, doch hier, an der Spitze der Lanze,<br />
diskutierten die Offiziere und Männer der Chicago die Dislozierung<br />
der sowjetischen Schiffe und gelangten zum selben Schluss. Die<br />
Torpedorohre des Bootes waren mit Torpedos vom Typ M-48 und<br />
Harpoon-Raketen geladen. In den vertikalen Raketenabschußrohren<br />
vor dem Druckkörper steckten zwölf Tomahawks. Drei dieser<br />
Marschflugkörper waren mit Kernsprengköpfen zum Einsatz gegen<br />
Landziele ausgerüstet, bei den restlichen neun handelte es sich<br />
um konventionelle Anti-Schiffs-Raketen. Sowie eine Anlage an<br />
160
Bord auch nur das geringste Anzeichen einer Funktionsstörung<br />
zeigte, wurde sie sofort herausgerissen und von einem Techniker<br />
repariert. McCafferty war von seiner Crew angetan und ein wenig<br />
überrascht. Diese Männer waren noch so jung - Durchschnittsalter<br />
einundzwanzig -, passten sich der Lage aber vorzüglich an.<br />
Er stand <strong>im</strong> Sonarraum in der Nähe eines großen Computersystems,<br />
das einen Strom von Unterwassergeräuschen verarbeitete<br />
und best<strong>im</strong>mte Frequenzbänder, die erfahrungsgemäß die akustische<br />
Signatur eines sowjetischen Schiffes markierten, analysierte.<br />
Die Signale erschienen auf einem »Wasserfall-Display« genannten<br />
Bildschirm in Gestalt eines gelben Vorhangs, dessen hellere Linien<br />
die Richtung eines Geräusches, das von Interesse sein mochte,<br />
anzeigten. Vier Linien wiesen auf die Grischas hin, versetzte Punkte<br />
stellten die Peilsignale ihres Aktiv-Sonars dar. McCafferty fragte<br />
sich, hinter wem die Fregatten her waren, doch nur spekulativ,<br />
denn sein Boot wurde nicht angepeilt. Andererseits gab es bei der<br />
Beobachtung der Arbeitsweise des Gegners <strong>im</strong>mer etwas zu lernen.<br />
Ein Team von Offizieren verfolgte in der Zentrale die Bewegungen<br />
der sowjetischen Patrouillenschiffe, hielt sorgfältig ihre Formationsmuster<br />
und Jagdbewegungen für den späteren Vergleich mit<br />
Nachrichtendienstvoraussagen fest.<br />
Am unteren Ende des Schirms erschien eine neue Reihe von<br />
Punkten. Ein Sonarmann drückte einen Knopf für eine selektivere<br />
Frequenzeinstellung, was eine leichte Veränderung auf dem Schirm<br />
auslöste, und stöpselte dann einen Kopfhörer ein. Das Display war<br />
auf schnelle Bilderzeugung geschaltet, und McCafferty sah, wie aus<br />
den Punkten Linien um Richtung eins-neun-acht wurden - der Kola<br />
Fjord.<br />
»Wirrer Krach, Sir«, meldete der Sonarmann. »Ich höre Alfas<br />
und Charlies herauskommen, gefolgt von einem ganzen Rudel<br />
anderer Boote. Das Schraubengeräusch eines Alfas weist auf dreißig<br />
Knoten Fahrt hin. Und dahinter lärmt es gewaltig, Sir.«<br />
Eine Minute später wurde diese Beobachtung vom visuellen Display<br />
bestätigt. Die Frequenz- oder Tonlinien erschienen in den für<br />
best<strong>im</strong>mte Klassen von U-Booten typischen Bändern, und die Boote<br />
verließen alle mit hoher Geschwindigkeit den Hafen. Die Kontaktkurslinien<br />
zeigten an, dass die Boote fächerförmig getaucht ausschwärmten,<br />
was ungewöhnlich war, da sie normalerweise erst<br />
weit vor der Küste unter Wasser gingen.<br />
161
»Über zwanzig Boote, Sir«, sagte der Sonar-Chief leise. »Das ist<br />
eine Großaktion.«<br />
»Allerdings.« McCafferty ging zurück in die Zentrale. Seine<br />
Männer gaben dem Feuerleitcomputer bereits die Positionen der<br />
Kontakte ein und zeichneten am Kartentisch Kurse auf Papier.<br />
Noch hatte der Krieg nicht begonnen, aber es sah aus, als könnte er<br />
jeden Augenblick ausbrechen. Dennoch hatte McCafferty den Auftrag,<br />
sich von sowjetischen Verbänden fernzuhalten, bis das Stichwort<br />
fiel. Das gefiel ihm nicht - besser gleich zuschlagen -, doch<br />
Washington hatte klargestellt, dass Vorfälle, die eine diplomatische<br />
Lösung verhindern könnten, vermieden werden sollten.<br />
Er entfernte sich von der Küste. Nach einer halben Stunde hatte<br />
sich die Lage beruhigt, und McCafferty ließ eine SLOT-Boje ausstoßen.<br />
Dieser schw<strong>im</strong>mende Sender war so programmiert, dass Chicago<br />
dreißig Minuten Zeit hatte, sich aus dem Gebiet zu entfernen.<br />
Dann übertrug er in Impulsen Informationen über ein UHF-Satelliten-Band.<br />
Im Umkreis von zehn Meilen geriet man auf sowjetischen<br />
Schiffen in Panik, weil man zweifellos glaubte, es handele sich um<br />
ein U-Boot. Aus dem Spiel war plötzlich Ernst geworden.<br />
Die Boje arbeitete über eine Stunde lang, sendete kontinuierlich<br />
ihre Daten an einen Nachrichtensatelliten der Nato. Bei Sonnenuntergang<br />
wurden diese Daten an alle Nato-Verbände auf See gefunkt.<br />
Die Russen kamen.<br />
162
USS N<strong>im</strong>itz<br />
16<br />
Erste Schritte - letzte Schritte<br />
Über Lautsprecher war zwar schon vor zwei Stunden der Sonnenuntergang<br />
verkündet worden, aber Bob Toland hatte noch Arbeit<br />
zu erledigen. Sonnenuntergänge auf See, wo die Sonnenscheibe<br />
hinter einem scharfen Horizont versank, weit von der verschmutzten<br />
Großstadtluft entfernt, genoss er <strong>im</strong>mer sehr, doch was er nun<br />
sah, fand er fast ebenso attraktiv. Er stützte sich auf die Reling,<br />
schaute erst hinab auf den Schaum tief unten am schnittigen Rumpf<br />
des Flugzeugträgers und dann, nach kurzer Vorbereitung, zum<br />
H<strong>im</strong>mel. Toland, in Boston geboren und aufgewachsen, hatte erst<br />
bei der Marine die Milchstraße richtig zu sehen bekommen, und<br />
das breite, helle Sternenband war ihm nach wie vor ein Wunder.<br />
Über ihm standen die Sterne, nach denen er mit Sextant und trigonometrischen<br />
Tabellen navigieren gelernt hatte. Heute wendete die<br />
Marine dieses altväterliche Verfahren kaum noch an, sondern navigierte<br />
mit Hilfe von Computersystemen wie Omega und Loran. Die<br />
Schönheit der Sterne aber fesselte ihn nach wie vor. Arcturus, Wega<br />
und Altair funkelten und waren Bezugspunkte am Nachth<strong>im</strong>mel.<br />
Eine Tür ging auf, und ein Matrose, der das lila Hemd eines<br />
Flugzeugbetankers zu tragen schien, trat neben ihn auf die Laufplanke<br />
des Flugdecks.<br />
»Das Schiff ist verdunkelt. Werfen Sie die Zigarette weg«, sagte<br />
Toland, der sich in seiner Einsamkeit gestört fühlte, scharf.<br />
»Verzeihung, Sir.« Der Mann warf den Stummel über Bord und<br />
schaute dann Toland an. »Kennen Sie die Sterne, Sir?«<br />
»Was soll die Frage?«<br />
»Ich bin in New York aufgewachsen, Sir, und nun zum ersten<br />
Mal auf See. So klar habe ich die Sterne noch nie gesehen - und ich<br />
weiß noch nicht einmal, wie sie alle heißen.«<br />
Toland lachte leise. »Ging mir auf meiner ersten Fahrt auch so.<br />
Hübsch, nicht wahr?«<br />
163
»Ja, Sir. Wie heißt dieser da?» Der Junge klang müde; kein<br />
Wunder nach den vielen Flugoperationen dieses Tages. Der Matrose<br />
wies auf den hellsten Fleck am Osth<strong>im</strong>mel.<br />
Bob musste erst kurz nachdenken. »Das ist Jupiter - ein Planet,<br />
kein Fixstern. Mit dem Fernglas können Sie seine Monde sehen <br />
nicht alle, aber vier.» Dann zeigte er dem jungen Mann einige der<br />
Sterne, nach denen man navigierte.<br />
»Und wie geht das, Sir?«<br />
»Man n<strong>im</strong>mt einen Sextanten und best<strong>im</strong>mt ihre Höhe überm<br />
Horizont. Klingt schwieriger, als es ist. Man braucht nur ein bißchen<br />
Übung. Anschließend schlägt man den Winkel in einem Tabellenbuch<br />
nach. So wird schon seit Tausenden von Jahren navigiert.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer, wenn man die genaue Zeit kennt und weiß, wo ein<br />
best<strong>im</strong>mter Stern steht, kann man seine Position recht exakt best<strong>im</strong>men<br />
- bis auf einige hundert Meter, sofern man den Prozess<br />
wirklich beherrscht. Der Standort lässt sich übrigens auch anhand<br />
des Mond- und Sonnenstandes best<strong>im</strong>men. Als erst einmal genau<br />
gehende Uhren erfunden waren, machte die Positionsbest<strong>im</strong>mung<br />
keine Schwierigkeiten mehr.«<br />
»Heutzutage macht man das mit Satelliten, habe ich gehört.«<br />
»Richtig, aber die Sterne sind hübscher.«<br />
»St<strong>im</strong>mt.« Der Matrose setzte sich, legte den Kopf zurück und<br />
schaute auf zu dem Schleier aus weißen Punkten. Hinter ihnen<br />
rauschte das Kielwasser wie eine permanent brechende Welle. Irgendwie<br />
passten der H<strong>im</strong>mel und das Geräusch perfekt zusammen.<br />
»Na, auf jeden Fall hab ich etwas über die Sterne gelernt. Wann<br />
geht's los, Sir?«<br />
Toland schaute auf zum Sternbild Schütze. Dahinter befand sich<br />
das galaktische Zentrum. Manche Astrophysiker vertraten die<br />
Theorie, dort befände sich ein Schwarzes Loch, die destruktivste<br />
aller bekannten Kräfte. Dagegen nahmen sich die Vernichtungsmittel,<br />
die der Mensch beherrscht, kümmerlich aus. Aber zum Töten<br />
genügten sie.<br />
»Bald.«<br />
164
USS Chicago<br />
Das U-Boot fuhr nun weit vor der Küste, fern den dahinjagenden<br />
sowjetischen U-Booten und Überwasserverbänden. Explosionen<br />
waren noch keine vernommen worden, aber lange konnte es nicht<br />
mehr dauern. Das nächste sowjetische Schiff lag dreißig Meilen<br />
entfernt <strong>im</strong> Osten, ein Dutzend andere waren geortet worden. Und<br />
alle peitschten die See mit Aktiv-Sonar.<br />
McCafferty fand seinen Blitz-Einsatzbefehl erstaunlich. Chicago<br />
wurde aus der Barentssee abgezogen und in ein Patrouillengebiet <strong>im</strong><br />
norwegischen Meer verlegt. Auftrag: sowjetische U-Boote auf Südkurs<br />
in den Atlantik behindern. Es war eine politische Entscheidung<br />
getroffen worden: Man wollte den Eindruck, die Nato treibe die<br />
Sowjets in einen Krieg, vermeiden. Mit einer Handbewegung war<br />
der ursprüngliche Plan, die sowjetischen Flotten sozusagen vor der<br />
Tür anzugreifen, vom Tisch gefegt worden. McCafferty fragte sich,<br />
welche weiteren Überraschungen ihm noch bevorstanden. Die Torpedos<br />
und Raketen des U-Bootes waren nun klar zum Abschuss, das<br />
Feuerleitsystem kontinuierlich bemannt, und es waren Wachen unter<br />
Kriegsbedingungen aufgestellt worden. Doch ihr gegenwärtiger<br />
Befehl lautete: Flucht. Der Kommandant verfluchte insgehe<strong>im</strong> die<br />
Leute, die diese Entscheidung getroffen hatten, hoffte aber gleichzeitig,<br />
dass sich der Krieg doch noch irgendwie vermeiden ließ.<br />
Brüssel<br />
»Es muss bald losgehen«, bemerkte der COMAIRCENT, Oberbefehlshaber<br />
der Luftstreitkräfte Europa-Mitte. »Verflucht, so gefechtsbereit<br />
habe ich die Sowjets noch nie erlebt. Sie können nicht<br />
abwarten, bis unsere Reforger-Einheiten voll in Position sind. Sie<br />
müssen zuschlagen, und zwar bald.«<br />
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Charlie, aber wir dürfen<br />
nicht den ersten Schlag führen.«<br />
»Was hört man von unseren Gästen?« Der General der Air Force<br />
bezog sich auf Major Tschernjawins Speznas-Kommandoteam.<br />
»Die rühren sich <strong>im</strong>mer noch nicht.« Eine Einheit der bundesdeutschen<br />
GSG-9 observierte das konspirative Haus kontinuierlich;<br />
ein britisches Team lag auf dem Weg zum vermutlichen Ziel<br />
165
Lammersdorf <strong>im</strong> Hinterhalt. Bei den Überwachungsteams befanden<br />
sich Gehe<strong>im</strong>dienstoffiziere aus den meisten Nato-Ländern, die<br />
in direkter Verbindung mit ihren Regierungen standen. »Und wenn<br />
das nur ein Köder ist, der uns dazu verleiten soll, als erste zuzuschlagen?«<br />
»Das können wir nicht, General. Ich warte auf grünes Licht zum<br />
Start von Operation Traumland, aber das bekommen wir erst,<br />
wenn der Ernstfall feststeht.«<br />
Der SACEUR lehnte sich zurück. Er war in seinem unterirdischen<br />
Befehlsstand gefangen und seit zehn Tagen nicht mehr in seiner<br />
Dienstvilla gewesen.<br />
»Wie rasch können Sie auf meinen Befehl reagieren?«<br />
»Alle meine Vögel sind startbereit, die Besatzungen haben ihre<br />
Einsatzbefehle. Wenn ich sie in Alarmbereitschaft versetze, kann<br />
Traumland dreißig Minuten nach Ihrem Signal anlaufen.«<br />
»Gut, Charlie. Ich habe vom Präsidenten die Ermächtigung,<br />
jedem Angriff zu begegnen. Versetzen Sie Ihre Männer in Alarmbereitschaft.«<br />
»Gemacht.«<br />
Das Telefon des SACEUR ging. Er hob ab, lauschte kurz, sah auf.<br />
»Unsere Gäste setzen sich in Bewegung«, sagte er zum COMAIR<br />
CANT. »Das Kennwort ist Feuerschein.« Alle Nato-Streitkräfte<br />
wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt.<br />
Aachen<br />
Das Speznas-Team verließ das konspirative Haus und fuhr in zwei<br />
kleinen Lieferwagen nach Süden, Richtung Lammersdorf. Da sein<br />
Führer ums Leben gekommen war, waren nun an seinen Stellvertreter,<br />
einen Hauptmann, Kopien der Papiere, derentwegen sein Chef<br />
gestorben war, geschickt worden. Die Männer kannten ihre Aufgabe<br />
genau. Sie waren stumm und angespannt. Der Offizier hatte<br />
sich große Mühe gegeben, seinen Männern zu erklären, dass ihr<br />
Fluchtweg sorgfältig geplant sei, ein weiteres konspiratives Haus<br />
bereitstünde, in dem sie nur fünf Tage lang auf das Eintreffen der<br />
Truppen zu warten brauchten. Sie seien die Elite der Roten Armee,<br />
hatte er ihnen eingeschärft, gründlich für gefährliche Aufträge hinter<br />
den feindlichen Linien ausgebildet und daher dem Staat wert<br />
166
voll. Jeder Mann hatte in den Bergen von Afghanistan Gefechtserfahrung<br />
gesammelt; sie waren trainiert, bereit.<br />
Die Männer lauschten seiner Ansprache so, wie es Elitetruppen<br />
gewöhnlich tun: schweigend. Vor allem ihrer Intelligenz wegen<br />
ausgewählt, wussten sie wohl, dass ihnen nur Mut gemacht werden<br />
sollte. Die Mission hing vom Glück ab, und das hatte sie bereits<br />
verlassen. Major Tschernjawin fehlte, und viele fragten sich, ob das<br />
Unternehmen bereits enttarnt war. Doch einer nach dem anderen<br />
schob diese Gedanken beiseite. Jeder Mann ging bald noch einmal<br />
seine Rolle bei der Zerstörung von Lammersdorf durch.<br />
Die Fahrer waren vom KGB und speziell für den Einsatz <strong>im</strong><br />
Ausland ausgebildet. Sie blieben dicht beieinander, fuhren defensiv,<br />
achteten auf Verfolger. Beide hörten den Polizeifunk ab und standen<br />
über Funk miteinander in Verbindung. Die Mission war vor<br />
einer Stunde von den KGB-Offizieren besprochen worden. Die<br />
Zentrale in Moskau hatte mitgeteilt, die Nato sei noch nicht in<br />
voller Alarmbereitschaft. Der Lenker des ersten Lieferwagens, dessen<br />
Tarnberuf Taxifahrer war, fragte sich, ob die »volle« Alarmbereitschaft<br />
der Nato eine Parade auf dem Roten Platz bedeutete.<br />
»Jetzt biegen sie ab. Wagen drei, aufholen. Wagen eins, biegen Sie<br />
an der nächsten Kreuzung links ab und setzen Sie sich vor sie.«<br />
Oberst Weber benutzte ein Sprechfunkgerät, wie es auch von FIST-<br />
Trupps (Feuerunterstützungsteams) eingesetzt wurde. Der Hinterhalt<br />
war nun schon seit Tagen bereit gewesen, und als die Objekte<br />
aus dem konspirativen Haus aufgetaucht waren, hatte man die<br />
Blitzmeldung sofort in der ganzen Bundesrepublik verbreitet.<br />
Nato-Verbände wurden in volle Gefechtsbereitschaft versetzt,<br />
denn dies konnte nur der erste Schlag eines heißen Krieges sein. Es<br />
sei denn, gestand Weber sich zu, der Speznas-Trupp begab sich nur<br />
von einem sicheren Platz zum anderen, um weiter abzuwarten. Wie<br />
sich die Dinge entwickeln würden, wusste er nicht, aber irgendwann<br />
musste es losgehen.<br />
Die beiden Transporter fuhren nun über die schmalen Straßen des<br />
Naturparks Nordeifel, um dem Militärverkehr auf den Bundesstraßen<br />
auszuweichen, doch in Mulartshütte entdeckte der Fahrer des<br />
ersten Wagens einen Militärkonvoi mit britischen Panzern auf<br />
Tiefladern - neue Challenger. Nun, so dicht an der belgischen<br />
167
Grenze war mit Leoparden der Bundeswehr nicht zu rechnen gewesen.<br />
Es war schon <strong>im</strong>mer ausgeschlossen gewesen, die Bundesrepublik<br />
an der Mobilmachung zu hindern. Er versuchte sich einzureden,<br />
die restlichen Nato-Länder hätten nicht so rasch gehandelt wie<br />
Westdeutschland. Wenn ihre Mission erfolgreich verlief, war die<br />
Kommunikation der Nato schwer gestört; in diesem Fall trafen die<br />
sowjetischen Panzerspitzen noch rechtzeitig ein, um sie zu retten.<br />
Der Konvoi verlangsamte seine Fahrt. Der Fahrer erwog, ihn zu<br />
überholen, doch seine Anweisung lautete: Verhalten Sie sich unauffällig.<br />
»Alles bereit?« fragte Weber in seinem Verfolgerfahrzeug.<br />
»Bereit.« Verflucht komplizierte Operation, dachte Major Armstrong.<br />
Eine Zusammenarbeit von Panzertruppen, SAS und dem<br />
Bundesgrenzschutz. Der Konvoi hielt an einem Rastplatz. Weber<br />
blieb hundert Meter dahinter stehen. Nun lag alles bei dem englischen<br />
Team.<br />
Um die beiden kleinen Lieferwagen herum blitzten Leuchtbomben<br />
auf.<br />
Der KGB-Fahrer verzog schmerzlich das Gesicht und kniff die<br />
Augen zu. Dann sah er, wie keine fünfzig Meter entfernt das Rohr<br />
einer Panzerkanone sich von seiner Auflage hob und direkt auf<br />
seine Windschutzscheibe richtete.<br />
»Achtung!« rief eine St<strong>im</strong>me auf russisch durch ein Megaphon.<br />
»Achtung, Speznas-Soldaten. Sie sind von motorisierten Einheiten<br />
umstellt. Kommen Sie nacheinander und unbewaffnet aus Ihren<br />
Fahrzeugen. Wenn Sie das Feuer eröffnen, werden Sie binnen Sekunden<br />
getötet.« Nun war eine zweite St<strong>im</strong>me zu vernehmen.<br />
»Genossen, hier spricht Major Tschernjawin. Kommt heraus. Ihr<br />
habt keine Chance.«<br />
Die Männer tauschten entsetzte Blicke. Der Hauptmann <strong>im</strong> ersten<br />
Fahrzeug begann, den Sicherungsstift aus einer Handgranate<br />
zu ziehen. Ein Feldwebel sprang ihn an und umklammerte seine<br />
Hände.<br />
»Wir dürfen nicht in Gefangenschaft geraten! So lautet unser<br />
Befehl!« rief der Hauptmann.<br />
»Und ob!« brüllte der Feldwebel zurück. »Los, steigt einzeln aus,<br />
Genossen - mit erhobenen Händen!«<br />
168
Ein Schütze stieg langsam aus der Hecktür des Transporters.<br />
»Kommen Sie auf mich zu«, sagte Tschernjawin von einem Rollstuhl<br />
aus. Der Major hatte genug verraten, um seine Männer, mit<br />
denen er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, zu retten. Es war sinnlos,<br />
sie nun hinschlachten zu lassen. »Man wird Ihnen nichts zuleide<br />
zun. Wenn Sie eine Waffe bei sich haben, werfen Sie sie jetzt weg.<br />
Ich weiß, dass Sie einen Dolch tragen, Schütze Iwanow... gut. Der<br />
nächste.«<br />
Es ging ganz rasch. Ein Team von Männern des SAS und der<br />
GSG-9 sammelte die Sowjets ein, legte ihnen Handschellen an und<br />
führte sie mit verbundenen Augen ab. Bald waren nur noch zwei<br />
übrig. Die Handgranate komplizierte die Situation. Der Hauptmann<br />
hatte inzwischen eingesehen, dass Widerstand sinnlos war,<br />
konnte aber den Sicherungsstift nicht finden. Der Feldwebel rief<br />
Tschernjawin eine Warnung zu, aber der saß <strong>im</strong> Rollstuhl und<br />
konnte nichts unternehmen. Zuletzt kam der Hauptmann heraus.<br />
Am liebsten hätte er mit der Handgranate nach dem Offizier geworfen,<br />
der, wie er glaubte, sein Land verraten hatte, sah aber dann<br />
einen Mann vor sich, der beide Beine in Gips hatte.<br />
»Ich habe eine scharfe Handgranate«, erklärte der Hauptmann<br />
laut. »Ich werfe sie jetzt in diesen Transporter.«<br />
Und ehe ihn jemand daran hindern konnte, tat er das auch. Einen<br />
Moment darauf flog der Lieferwagen in die Luft, und die Karten<br />
und Fluchtpläne des Trupps verbrannten. Zum ersten Mal seit<br />
Wochen grinste Major Tschernjawin breit. »Gut gemacht, Andruschka!«<br />
Zwei andere Speznas-Trupps hatten weniger Glück und wurden in<br />
Sichtweite ihrer Ziele von deutschen Einheiten, die von Tschernjawins<br />
Gefangennahme wussten, abgefangen. Doch es befanden sich<br />
noch weitere zwanzig Gruppen in der Bundesrepublik, und nicht<br />
jede Nato-Einrichtung war rechtzeitig gewarnt worden. Rechts und<br />
links vom Rhein kam es zu erbitterten Feuergefechten. Ein Krieg,<br />
der Millionen in Mitleidenschaft ziehen sollte, begann mit verzweifelten<br />
Nachtkämpfen zwischen Einheiten von Zug- und Kompaniestärke.<br />
169
Deutschland, VR V<br />
17<br />
Die Traumland-Frisbees<br />
Der Ausblick hätte den meisten Piloten Angst eingejagt. Zwölfhundert<br />
Meter über ihm hing eine dichte Wolkendecke. Er flog durch<br />
Schauer, die er in dieser schwarzen Nacht eher hörte als sah, und die<br />
dunklen Silhouetten der Bäume schienen nach seinem dahinjagenden<br />
Kampfflugzeug zu greifen. In einer solchen Nacht flog nur ein<br />
Verrückter so tief - um so besser. Er grinste hinter seiner Sauerstoffmaske.<br />
Colonel Douglas Ellington hielt den Steuerknüppel seines<br />
Kampfflugzeugs F-I9A Ghostrider mit den Fingerspitzen; seine<br />
linke Hand lag auf den parallel angeordneten beiden Schubkontrollhebeln.<br />
Das auf die Windschutzscheibe projizierte Head-up-<br />
Display zeigte 615 Knoten (1 Knoten - 1,852 km) Geschwindigkeit,<br />
hundertsechzig Fuß Höhe und Kurs 013 an. Umgeben waren<br />
die Zahlen von einem monochromen holographischen Bild des vor<br />
ihm liegenden Terrains. Das Bild kam von einer Infrarot-Kamera<br />
<strong>im</strong> Bug des Flugzeugs und wurde von einem unsichtbaren Laserstrahl,<br />
der den Boden achtmal pro Sekunde abtastete, ergänzt. Zur<br />
Erweiterung des Gesichtsfeldes war sein übergroßer Helm mit<br />
einem Nachtsichtgerät ausgerüstet.<br />
»Über uns ist der Teufel los«, meldete sein Kampfbeobachter<br />
vom Rücksitz. Major Don Eisly überwachte nicht nur die Funkund<br />
Radarsignale, sondern auch ihre eigenen Instrumente. »Alle<br />
Systeme weiterhin nominal, Distanz zum Ziel nun neunzig Meilen.«<br />
»St<strong>im</strong>mt", antwortete Douglas »Duke« Ellington, der dem Musiker<br />
sogar ein wenig ähnlich sah.<br />
Ellington mochte diesen Auftrag. Sie flogen gefährlich tief über<br />
die Mittelgebirge Ostdeutschlands, und ihre »Frisbee«, nie höher<br />
als sechzig Meter, hüpfte auf die konstanten Kursänderungen des<br />
Piloten hin auf und ab.<br />
170
Den Namen Ghostrider, »Geisterreiter«, hatte der Maschine die<br />
Herstellerfirma Lockheed verpasst. Die Piloten nannten sie »Frisbee«,<br />
den unter dem Deckmantel der Gehe<strong>im</strong>haltung entwickelten<br />
Stealth-Fighter F-I9A. Das Flugzeug hatte keine scharfen Ecken<br />
und Kanten, die Radarsignale sauber reflektierten. Ihre Düsentriebwerke<br />
mit hohem Nebenstromverhältnis waren auf eine bestenfalls<br />
unscharfe Infrarot-Signatur hin entwickelt worden. Von oben erinnert<br />
der Umriss ihrer Tragflächen an eine Kirchenglocke. Von vorne<br />
gesehen schienen sie sich seltsam Bodenwärts zu krümmen, was ihr<br />
den Spitznamen »Frisbee« eingetragen hatte. Obwohl sie mit modernster<br />
Elektronik voll gestopft war, setzte sie ihre aktiven Systeme<br />
gewöhnlich nicht ein. Radar- und Funkanlagen erzeugen elektronischen<br />
»Lärm«, den ein Feind orten konnte, und die ganze Idee bei<br />
der Entwicklung des Frisbees war ja seine scheinbare Nichtexistenz<br />
<strong>im</strong> Flug gewesen.<br />
Hoch über ihnen blufften Hunderte von Kampfflugzeugen, jagten<br />
über die Grenze, drehten wieder ab; jede Seite versuchte, die<br />
andere zu einem Gefecht zu verleiten. Beide Seiten hatten Radarflugzeuge<br />
zur Steuerung der Luftschlacht starten lassen, um einen<br />
Vorteil in einem Krieg zu gewinnen, von dessen Ausbruch bisher<br />
nur wenige Menschen etwas ahnten.<br />
Und wir landen einen raschen Schlag, dachte Ellington. Endlich<br />
mal was Vernünftiges! In Vietnam hatte er mit Jagdbombern des<br />
Typs F-IIIA über hundert Einsätze geflogen und galt bei der Luftwaffe<br />
als führender Fachmann für gehe<strong>im</strong>e Tiefflugmissionen. Er<br />
fand zwar, dass die Frisbee ansprach wie eine müde Sau, aber das<br />
störte ihn nicht. Besser unsichtbar als agil, fand er und war sich<br />
bewusst, dass er gerade <strong>im</strong> Begriff war, diese Behauptung unter<br />
Beweis zu stellen.<br />
Die Frisbee-Staffel drang nun in den dichtesten Flugabwehrgürtel<br />
der Welt ein.<br />
»Distanz zum Hauptziel nun sechzig Meilen«, berichtete Eisly.<br />
»Alle Bordsysteme weiterhin nominal. Kein Feindradar hat uns<br />
erfasst. Sieht gut aus, Duke.«<br />
»Roger.« Ellington drückte den Knüppel nach vorn, als sie einen<br />
kleinen Berg überflogen hatten, und fing die Maschine fünfundzwanzig<br />
Meter über einem Weizenfeld wieder ab. Der Duke nutzte<br />
seine langjährige Erfahrung und trieb dieses Spiel bis an seine<br />
Grenzen. Ihr Hauptziel war eine sowjetische IL-76 Mainstay, ein<br />
171
AWACS-ähnliches Flugzeug, das in der Nähe von Magdeburg<br />
kreiste, Günstigerweise nur zehn Meilen von ihrem Sekundärziel<br />
entfernt, der Autobahnbrücke über die Elbe bei Hohenwarthe.<br />
Inzwischen wurde der Einsatz haariger. Je näher sie der Mainstay<br />
kamen, desto mehr Radarsignale, deren Intensität <strong>im</strong> Quadrat<br />
zunahm, trafen ihre Maschine. Früher oder später mussten Impulse<br />
zur Mainstay reflektiert werden, die ihre Ortung ermöglichten,<br />
trotz der gekrümmten, in radartransparenter Mischbauweise<br />
hergestellten Tragflächen. Die Stealth-Technologie erschwerte die<br />
Ortung durch Radar nur, machte sie aber nicht gänzlich unmöglich.<br />
Würden sie von der Mainstay entdeckt werden? Und wie<br />
rasch reagierten die Russen dann?<br />
Immer mit der Ruhe, sagte er sich. Fliege so, wie du es trainiert<br />
hast. Sie hatten diesen Einsatz neun Tage lang <strong>im</strong> »Dreamland«<br />
geprobt, einem hochgehe<strong>im</strong>en Übungsgebiet bei dem riesigen<br />
Luftstützpunkt Nellis in Nevada. Selbst eine E-3A Sentry, eine<br />
weitaus bessere Radarplattform als die Mainstay, konnte sie damals<br />
über vierzig Meilen kaum ausmachen.<br />
Es waren fünf Mainstays in der Luft, alle rund hundert Kilometer<br />
östlich der innerdeutschen Grenze. Eine schöne, sichere Distanz,<br />
denn dazwischen befanden sich über dreihundert Kampfflugzeuge.<br />
»Noch zwanzig Meilen, Duke.«<br />
»Gut. Das reicht, Don.«<br />
»Roger. Noch <strong>im</strong>mer weder Feuerleit- noch Suchradar in unsere<br />
Richtung. Viel Geschnatter über Funk, aber vorwiegend von Westen.<br />
Kaum Sprechfunk vom Ziel.«<br />
Ellington senkte die linke Hand, um die vier AIM-9M Luftkampfraketen<br />
Sidewinder unter den Flügeln feuerbereit zu machen.<br />
Die Bordwaffenanzeige blinkte in einem freundlichen, tödlichen<br />
Grün.<br />
»Achtzehn Meilen. Ziel schien normal zu kreisen, keine Ausweichmanöver.«<br />
Zehn Meilen pro Minute, berechnete Ellington, noch eine Minute<br />
und vierzig Sekunden also.<br />
»Sechzehn Meilen.« Eisly las die Werte von der Anzeige eines<br />
Computers ab, der mit einem NAVSTAR-Satelliten-Navigationssystem<br />
in Verbindung stand.<br />
172
Der Mainstay sollte eigentlich keine Chance bleiben, denn die<br />
Frisbee würde erst direkt unterm Ziel in den Steigflug gehen. Vierzehn<br />
Meilen, zwölf, zehn, acht, sechs bis zu dem umgebauten<br />
Transportflugzeug.<br />
»Die Mainstay hat gerade kehrtgemacht - ja, weicht aus. Wir<br />
sind gerade von einem Foxfire überflogen worden«, sagte Eisly<br />
gelassen. Ein Abfangjäger MiG-25 war nun vermutlich auf Anweisung<br />
von IL-76 auf der Suche nach ihnen. Der Foxfire hatte dank<br />
seiner hohen Leistung und Wendigkeit eine gute Chance, sie zu<br />
orten, Stealth-Technologie hin oder her.<br />
»Sind wir erfasst?«<br />
»Nein, noch nicht.« Eislys Blick war auf die Anzeigen des Radarwarnsystems<br />
geheftet. Noch kein Feuerleitradar für Raketen hatte<br />
die Frisbee erfasst. »Wir kommen jetzt unters Ziel.«<br />
»Gut. Gehe in den Steigflug.« Ellington zog den Knüppel leicht<br />
zurück und schaltete die Nachbrenner ein. Die Triebwerke brachten<br />
die Maschine zwar nur auf Mach 1,3, doch gerade jetzt war es<br />
nötig, alle Leistung, die zur Verfügung stand, einzusetzen. Laut<br />
Wetterbericht sollte die Wolkendecke bei zwanzigtausend Fuß enden,<br />
und die IL-76 flog noch fünftausend Fuß höher. Doch nun war<br />
die Frisbee verwundbar. Ihre Triebwerke strahlten die Infrarotsignatur<br />
ihrer vollen Leistung ab - das Stealth-Flugzeug gab seine<br />
Anwesenheit bekannt. Steig schneller, Baby...<br />
»Tallyho!« Ellingtons Jagdruf klang zu laut in der Bordsprechanlage,<br />
als er durch die Wolkendecke brach und ihm die Nachtsichtsysteme<br />
sofort die Mainstay zeigten, die fünf Meilen entfernt<br />
<strong>im</strong> Sturzflug Deckung suchte. Zu spät, denn sie flogen nun mit fast<br />
1600 Stundenkilometern auf ihr Ziel zu. Der Oberst nahm die<br />
Mainstay ins Visier. Mit dem rechten Daumen legte er den Hebel<br />
der Abschussfreigabe um, mit dem Zeigefinger drückte er zwe<strong>im</strong>al<br />
auf den Abzug. Die Sidewinder lösten sich <strong>im</strong> Abstand von einer<br />
halben Sekunde vom Flugzeug. Ihre grellen Abgase blendeten ihn,<br />
doch er ließ sie nicht aus den Augen. Acht Sekunden später hatten<br />
sie ihr Ziel erreicht. In zehn Metern Distanz gingen ihre lasergesteuerten<br />
Annäherungszünder los und erfüllten die Luft mit tödlichen<br />
Splittern. Es ging alles viel zu schnell. Die beiden rechten Triebwerke<br />
der Mainstay explodierten, die Tragfläche löste sich, und die<br />
sowjetische Maschine trudelte rasch ab, verschwand Sekunden<br />
später in den Wolken.<br />
173
Verdammt noch mal, dachte Ellington, als er eine Rolle drehte<br />
und <strong>im</strong> Sturzflug auf die sichere Bodennähe zujagte, das war einfach.<br />
Pr<strong>im</strong>ärziel ausgeschaltet. So, und nun zum schwierigen Teil.<br />
An Bord einer E-3A Sentry, die über Straßburg kreiste, stellten die<br />
Radartechniker mit Befriedigung fest, dass alle fünf sowjetischen<br />
Radarflugzeuge innerhalb von zwei Minuten abgeschossen worden<br />
waren. Sie waren von der Leistung der F-I9A wirklich überrascht.<br />
Der Brigadegeneral, der Operation Traumland befehligte, beugte<br />
sich vor und schaltete sein Mikrophon ein.<br />
»Trompeter, Trompeter, Trompeter«, sagte er und schaltete<br />
dann ab. »Gut, Jungs«, flüsterte er. »Seht zu, dass es sitzt.«<br />
Aus den Wolken taktischer Kampfflugzeuge der Nato, die in<br />
Grenznähe kreisten, lösten sich hundert Tiefflieger, teils F-IIIF<br />
Aardvark, teils Tornado GR.I, schwer beladen mit Treibstoff und<br />
Smart-Bomben, und tauchten ab. Sie folgten der zweiten Frisbee-<br />
Welle, die sich bereits tief in der DDR befand und ausschwärmte,<br />
um Bodenziele anzugreifen. Hinter den Erdkampfflugzeugen begannen<br />
von Sentries überm Rhein gesteuerte Allwetter-Abfangjäger<br />
der Typen Eagle und Phan<strong>tom</strong>, ihre Radargelenkten Luftkampfraketen<br />
auf sowjetische Jäger, die gerade ihren fliegenden Gefechtsstand<br />
verloren hatten, abzufeuern. Und schließlich stieß eine dritte<br />
Gruppe von Nato-Maschinen herab, um Bodenradarstationen, die<br />
als Ersatz für die abgeschossenen Mainstays in Betrieb gesetzt<br />
wurden, anzufliegen.<br />
Hohenwarthe, DDR<br />
Ellington umkreiste sein Ziel in 1000 Fuß Höhe und einer Entfernung<br />
von mehreren Meilen. Es handelte sich um eine Autobahnbrücke<br />
über die Elbe, zwei Bögen, die rund 500 Meter überspannten.<br />
Im Augenblick zeigte ihm die Nachtfernsehkamera seines Zielsuchsystems,<br />
dass auf allen vier Spuren russische Tanks T-8o nach<br />
Westen rollten. Ellington evaluierte das Bild auf seinen TV-Schirm.<br />
Es konnte sich nur um die zweite Angriffswelle handeln, die gegen<br />
die Nato in Marsch gesetzt worden war. Auf Höhe 76 südlich der<br />
Brücke am Ostufer war zu ihrer Verteidigung eine SAM-Batterie<br />
aufgestellt worden, die inzwischen alarmiert sein musste. In seinem<br />
174
Kopfhörer erklang das konstante Piepen des Radarwarngeräts,<br />
denn seine Maschine wurde von zwanzig Luftabwehrstellungen<br />
mit Suchstrahlen bestrichen. Wenn er nur eine gute Reflexion bekam<br />
...<br />
»Was sagt Pave Tack?«<br />
»Nominal«, erwiderte Eisly knapp. Pilot und Kampfbeobachter<br />
standen jetzt unter enormem Stress.<br />
»Anstrahlen», befahl Ellington. Auf dem Rücksitz aktivierte<br />
Eisly den Pave-Tack-Zielortungslaser.<br />
Das komplizierte Pave-Tack-System war in der Nase der Frisbees<br />
eingebaut. Ganz unten befand sich ein drehbarer Turm, der<br />
einen Kohlendioxid-Laser und eine Fernsehkamera enthielt. Mit<br />
einem Joystick richtete der Pilot die Kamera auf die Brücke, gab<br />
dann den Infrarot-Laser frei. Auf der Fahrbahn überm Scheitel des<br />
Nordbogens tauchte ein unsichtbarer Fleck auf, der von einem<br />
Computer dort festgehalten wurde, bis er andere Instruktionen<br />
bekam, ein Videorecorder nahm Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes<br />
auf.<br />
»Ziel illuminiert», sagte Eisly. »Uns trifft <strong>im</strong>mer noch kein Feuerleitradar.«<br />
»Nemo, hier Schatten vier. Ziel illuminiert.«<br />
»Roger.«<br />
Fünfzehn Sekunden später fegte kreischend der erste Aardvark<br />
von Süden her übers Wasser heran, stieg kurz auf und warf eine<br />
einzige lasergesteuerte Paveway-Bombe GBU-I5 ab, ehe er hart<br />
nach Osten abdrehte. Ein optisches Computersystem in der Spitze<br />
der Bombe erkannte den reflektierten Infrarot-Strahl und flog ihn<br />
durch Verstellung des Steuerschwanzes an.<br />
Südlich der Brücke war der Kommandeur der Luftabwehrbatterie<br />
bemüht, sich Klarheit zu verschaffen. Auf seinem Suchradar<br />
tauchte die Frisbee nicht auf. Dass mit Feindflugzeugen zu rechnen<br />
sei, hatte man ihm nicht gesagt, denn der sichere Anflugkorridor<br />
befand sich 25 Kilometer weiter nördlich über dem vorgeschobenen<br />
Luftstützpunkt bei Mahlminkel. Vielleicht kommt der Krach<br />
von dort, dachte er. Es war kein Sonderalarm gegeben worden.<br />
Am Nordhorizont flammte es grellgelb auf. Drei Tornados der<br />
Bundesluftwaffe hatten gerade bei einem einzigen Anflug auf Mahlminkel<br />
Hunderte von Streubomben abgeworden. Ein halbes Dutzend<br />
sowjetischer Suchoi-Kampfflugzeuge ging in Flammen auf<br />
175
und ließ einen Feuerball aus brennendem Treibstoff zum Regenh<strong>im</strong>mel<br />
steigen.<br />
Der Batteriekommandeur zögerte nicht und befahl seinen Männern,<br />
mit dem Feuerleitradar die Umgebung »seiner« Brücken abzutasten.<br />
Einen Augenblick später wurde ein stromaufwärts anfliegender<br />
F-III erfaßt.<br />
»Scheiße!« Der Kampfbeobachter des Aardvark ließ sofort eine<br />
Antiradar-Rakete Shrike auf die SAM-Batterie los, und sicherheitshalber<br />
eine zweite auf das Suchradar, warf noch eine Paveway-<br />
Bombe auf die Brücke ab, und dann wurde der F-III heftig nach<br />
links herumgerissen.<br />
Ein für den Raketenabschuss verantwortlicher Offizier wurde<br />
bleich, als er erkannte, was da wie aus dem Nichts auf seinen<br />
Schirmen aufgetaucht war, und antwortete mit einer Salve von<br />
Boden-Luft-Flugkörpern. Die anfliegenden Maschinen mussten<br />
feindlich sein, und er hatte gerade drei kleinere Objekte ausgemacht.<br />
Seine erste Luftabwehrrakete traf die Hochspannungsleitungen,<br />
die gleich südlich der Brücke über den Fluss geführt wurden. Das<br />
ganze Tal wurde wie von einem Stroboskop erhellt, als die Stromleitungen<br />
funken sprühend in den Fluss fielen. Die beiden anderen<br />
SAM hefteten sich an den zweiten F-III.<br />
Die erste Paveway-Bombe traf präzise den Scheitel des Nordbogens.<br />
Sie war mit einem Verzögerungszünder ausgestattet und<br />
bohrte sich erst tief in den dicken Beton, ehe sie knapp vor dem<br />
Panzer eines Bataillonskommandeurs explodierte. Der Nordbogen<br />
war solide konstruiert und stand schon seit über fünfzig Jahren,<br />
doch 430 Kilo Hochbrisanzsprengstoff rissen ihn auseinander. Im<br />
Nu klaffte eine sechs Meter breite Lücke in dem anmutig geschwungenen<br />
Bogen. Die von dem zweiten Aardvark abgeworfene Bombe<br />
schlug dichter be<strong>im</strong> Ufer ein, und die östliche Hälfte des Bogens<br />
brach zusammen, riß acht Panzer mit in die Elbe.<br />
Die Besatzung des zweiten Aardvark erlebte diesen Anblick jedoch<br />
nicht mehr. Eine der heranjagenden SAM traf ihn breitseits<br />
und riss ihn in Stücke - drei Sekunden, nachdem die Shrike-Raketen<br />
zwei russische Radarfahrzeuge zerstört hatten. Zum Trauern blieb<br />
keiner Seite Zeit. Ein weiterer F-III fegte stromaufwärts, als die<br />
SAM-Besatzungen verzweifelt nach Zielen suchten.<br />
Dreißig Sekunden später war der Nordbogen total zerstört und<br />
176
lag nach den Treffern dreier Smart-Bomben auf dem Grund der<br />
Elbe.<br />
Eisly richtete seinen Laser-Designator nun auf den Südbogen.<br />
Auf diesem stauten sich die Panzer vor einem Mannschaftstransporter<br />
BMP-1, der von der Explosion der ersten Bombe von einem<br />
Brückenbogen zum anderen geschleudert und zerfetzt worden war<br />
und nun brennend auf der Brücke lag. Der vierte Aardvark gab zwei<br />
Bomben frei, die sich unbarmherzig ihrem Ziel näherten, diesmal<br />
einem Laserpunkt auf dem Turm eines festsitzenden Panzers. Brennender<br />
Dieseltreibstoff erhellte den H<strong>im</strong>mel, an dem die von in<br />
Panik geratenen Schützen abgefeuerten SAM-7 Streifen zogen.<br />
Beide Paveway-Bomben detonierten in einem Abstand von<br />
knapp drei Metern und ließen den gesamten Bogen mit einer Kompanie<br />
gepanzerter Fahrzeuge in den Fluss stürzen.<br />
Nur noch eine Aufgabe zu erledigen, sagte sich Ellington - dort!<br />
Auf der parallel zum Fluss verlaufenden Nebenstraße hatten die<br />
Sowjets Ausrüstungsgegenstände zum Brückenschlägen gelagert.<br />
Die Pioniere konnten nicht weit sein. Die Frisbee überflog kreischend<br />
die Kolonne Lastwagen, die jeweils eine Brückenkomponente<br />
trugen, und warf eine Reihe von Leuchtbomben ab, ehe sie<br />
auf Baumwipfelhöhe zurück nach Westdeutschland und damit in<br />
die Sicherheit sauste. Die drei überlebenden Aardvark flogen einzeln<br />
an und warfen jeweils zwei Rockeye-Streubomben, von denen<br />
die Brückenteile in Fetzen gerissen wurden. Dann drehten die F-III<br />
nach Westen ab und folgten dem F-19 nach Hause.<br />
Inzwischen war ein zweites Team F-15 Eagle nach Ostdeutschland<br />
geflogen, um vier Korridore für die zurückkehrenden Nato-<br />
Flugzeuge freizumachen. Sie schössen ihre durch Radar und Infrarot<br />
gelenkten Raketen auf die MiGs ab, die auf die zurückkehrenden<br />
Nato-Jagdbomber zuhielten, doch den Sowjets fehlten nun,<br />
worüber die Amerikaner noch verfügten - ihre AWACS-Flugzeuge.<br />
Das Resultat war dementsprechend. Den sowjetischen Jägern war<br />
nach dem Verlust der Mainstays keine Zeit zur Neugruppierung<br />
geblieben, und ihren Formationen wurde übel mitgespielt. Schl<strong>im</strong>mer<br />
noch, die SAM-Batterien, deren Aufgabe die Unterstützung der<br />
MiGs war, erhielten den Befehl, eindringende Flugzeuge anzugreifen,<br />
und die Boden-Luft-Raketen begannen wahllos eigene Maschinen<br />
vom H<strong>im</strong>mel zu holen. Derweil hielten sich die Nato-Jagdbomber<br />
dicht am Boden.<br />
177
Als die letzte Maschine wieder die Grenze nach Westdeutschland<br />
überflogen hatte, war Operation Traumland genau siebenundzwanzig<br />
Minuten gelaufen. Die Mission war kostspielig gewesen,<br />
denn es waren zwei unersetzliche Frisbees und elf Jagdbomber<br />
verloren gegangen. Trotzdem war sie ein Erfolg. Die Kampfflugzeuge<br />
der Nato hatten über 200 sowjetische Allwetterjäger abgeschossen;<br />
vielleicht 100 weitere waren eigenen SAM-Raketen zum<br />
Opfer gefallen. Die Eliteverbände der sowjetischen Luftverteidigung<br />
waren schwer angeschlagen; aus diesem Grund würde der<br />
Nachth<strong>im</strong>mel über Europa vorerst von der Nato beherrscht werden.<br />
Sechsunddreißig wichtige Brücken waren anvisiert gewesen,<br />
dreißig zerstört, der Rest schwer beschädigt. Den ersten Angriff<br />
der sowjetischen Bodentruppen, der in zwei Stunden beginnen<br />
sollte, würde die Unterstützung der zweiten Welle spezieller SAM-<br />
Einheiten und anderer Nachzügler von entscheidender Wichtigkeit,<br />
die frisch von der Ausbildung in der Sowjetunion herangeführt<br />
worden waren, fehlen. Die Luftstreitkräfte der Nato hatten<br />
ihren wichtigsten Auftrag erfüllt, und die gefürchtete Überlegenheit<br />
der sowjetischen Bodentruppen war entscheidend reduziert.<br />
Das Kräfteverhältnis bei der Landschlacht um Europa betrug nun<br />
fast 1:1.<br />
USS Pharris<br />
An der amerikanischen Ostküste war noch Vortag. USS Pharris<br />
führte um 22 Uhr einen aus dreißig Schiffen und einem Dutzend<br />
Begleitfahrzeugen bestehenden Geleitzug aus der Mündung des<br />
Delaware River.<br />
Kommandant, bitte zum Funkraum«, krächzte die Sprechanlage.<br />
Morris begab sich sofort nach achtern zu dem <strong>im</strong>mer verschlossenen<br />
Funkraum.<br />
»Jetzt wird's ernst.« Der Funkoffizier reichte ihm ein gelbes<br />
Nachrichtenformular.<br />
178<br />
VON: SACLANT<br />
Z0357Z15 JUNI<br />
AN: ALLE SCHIFFE SACLANT<br />
TOP SECRET
1. BEGINNEN SIE UNEINGESCHRÄNKTEN SEE-UND LUFTKRIEG<br />
GEGEN STREITKRÄFTE DES WARSCHAUER PAKTES<br />
2. KRIEGSPLAN GOLF TAK -.<br />
3. TAPFERE HERZEN. SACLANT ENDE.<br />
Kriegsoption TAK das bedeutete den Verzicht auf den Einsatz von<br />
Kernwaffen, wie Morris erfreut feststellte. Die Pharris hatte <strong>im</strong><br />
Augenblick ohnehin keine an Bord. Er hatte nun freie Hand, jedes<br />
Kriegs- oder Handelsschiff des Ostblocks ohne Warnung anzugreifen.<br />
Morris steckte das Formular in die Tasche, ging zurück auf die<br />
Brücke und nahm wortlos das Mikrophon.<br />
»Hier spricht der Kommandant. Achtung: Es ist offiziell. Wir<br />
haben Krieg. Von nun an keine Übungen mehr, meine Herren.<br />
Wenn es jetzt Alarm gibt, heißt das, dass da draußen ein Feind<br />
lauert, der scharf schießt. Das wäre alles.« Er schaute den Wachhabenden<br />
an. »Mr. Johnson, ich wünsche Dauerbetrieb für das<br />
Prairie/Masker-System.«<br />
»Aye, Sir.«<br />
Bei Prairie/Masker handelte es sich um ein System, das die<br />
Horchanlagen von U-Booten stören sollte. Zwei Metallbänder umgaben<br />
vor und hinter dem Maschinenraum den Rumpf der Fregatte.<br />
Dies war Masker. Die Bänder nahmen Druckluft auf und<br />
gaben sie in Millionen winziger Bläschen an das Wasser in der<br />
Umgebung des Schiffes ab. Das Prairie-System kaschierte auf ähnliche<br />
Weise die Schraubenflügel. Die Luftblasen erzeugten eine teilweise<br />
undurchlässige Barriere, die vom Schiff erzeugte Geräusche<br />
einschloss und nur einen Bruchteil des Antriebslärms entweichen<br />
ließ. Somit war das Schiff von einem U-Boot aus nur sehr schwer zu<br />
orten.<br />
»Wenn wir das offene Meer erreicht haben, lassen Sie den<br />
Schwanz und die Nixie raus« - das Schleppsonar und den Torpedoköder<br />
-, »und zwar um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Ich<br />
lege mich jetzt mal kurz hin«, sagte Morris zu seinem WO. »Wenn<br />
sich etwas tut, rufen Sie mich.«<br />
»Aye, aye, Sir.«<br />
Vor ihnen suchte ein Trio von Anti-U-Boot-Flugzeugen des Typs<br />
Orion P-3C das Seegebiet ab. Morris hatte Schlaf nötig, denn es<br />
konnte sein, dass in drei Stunden gleich am Kontinentalschelf ein<br />
U-Boot lauerte. Und für diese Eventualität wollte er ausgeruht sein.<br />
179
Sunnyvale, Kalifornien<br />
Wo hakt's in Washington? fragte sich der Colonel. Alles, was er<br />
brauchte, war ein schlichtes Ja oder Nein. Im Augenblick waren<br />
drei Photoaufklärungssatelliten vom Typ KH (Keyhole, Schlüsselloch)<br />
in der Umlaufbahn, dazu neun Vögel, deren Funktion die<br />
elektronische Überwachung war. Das war die Niedrigfliegende<br />
Konstellation«. Um seine Kommunikations- und Nachrichtensatelliten<br />
in höheren Orbits fürchtete er nicht, aber die zwölf erdnahen<br />
Trabanten, insbesondere die KH, waren wertvoll und verwundbar.<br />
Zwei wurden dicht von russischen Killersatelliten begleitet,<br />
und einer seiner Vögel näherte sich gerade sowjetischem Territorium.<br />
Ein zweiter lag vierzig Minuten hinter ihm. Dem dritten<br />
Keyhole war noch kein Killer zugewiesen worden, doch be<strong>im</strong> letzten<br />
Überflug von Leninsk war eine weitere Rakete vom Typ F auf<br />
der Abschussrampe be<strong>im</strong> Auftanken fotografiert worden.<br />
»Sehen wir uns den Verfolger noch mal an«, befahl er.<br />
Ein Techniker gab die entsprechenden Befehle ein, und eine halbe<br />
Welt entfernt starteten die Lageregelungstriebwerke des Satelliten<br />
und drehten ihn <strong>im</strong> Weltraum herum, um seinen Kameras die Suche<br />
nach dem sowjetischen Killer zu ermöglichen. Er hatte fünfzig<br />
Meilen hinter und neun Meilen unter dem Amerikaner gelegen, war<br />
aber nun verschwunden.<br />
»Sie haben das Ding innerhalb der letzten halben Stunde manövriert.«<br />
Er griff zum Telefon, um dem CINC-NORAD mitzuteilen,<br />
dass er nun beabsichtigte, den Satelliten auf eigene Faust zu bewegen.<br />
Zu spät. Als sich der KH erneut drehte, um seine Kameras auf<br />
die Erdoberfläche zu richten, wurde diese teilweise von einer zylindrischen<br />
Masse verdeckt - dann blitzte es, und das TV-Bild verschwand<br />
vom Schirm.<br />
»Chris, haben Sie die Manövrierbefehle eingegeben?«<br />
»Jawohl, Sir«, erwiderte der Captain und starrte noch <strong>im</strong>mer auf<br />
den Bildschirm.<br />
»Führen Sie sie sofort aus!«<br />
Der Captain drückte an der Computerkonsole die ENTER-Taste.<br />
Während die Triebwerke der Satelliten raffinierte Bahnkorrekturen<br />
auslösten, ging das Telefon des Colonels.<br />
»Argus Control«, antwortete der Colonel.<br />
»Hier CINC-NORAD. Was, zum Teufel, ist da passiert?«<br />
180
»Der russische Killersatellit flog heran und explodierte. Wir<br />
empfangen kein Signal mehr von KH-II, Sir. Ich muss annehmen,<br />
dass sie den Vogel ausgeschaltet haben. Die anderen beiden Keyholes<br />
habe ich gerade angewiesen, mit hundert Fuß pro Sekunde die<br />
Delta-V auszuführen. Und Washington können Sie ausrichten, man<br />
habe zu lange gewartet, Sir.«<br />
181
Kiew, Ukraine<br />
18<br />
Nordlicht<br />
Man hatte beschlossen, alle sowjetischen Frontbefehlshaber über<br />
die Entwicklung in Deutschland zu unterrichten. Alexejew und sein<br />
Vorgesetzter kannten den Grund: Wenn jemand von seinem Posten<br />
abgelöst wurde, musste der neue Mann die Lage kennen. Den<br />
Meldungen des Nachrichtendienstes lauschten sie fasziniert. Niemand<br />
hatte erwartet, dass viele Speznas-Operationen erfolgreich<br />
verlaufen würden, doch es hatte den Anschein, dass es bei einigen<br />
geklappt hatte, besonders in den deutschen Häfen. Dann kam das<br />
nachrichtendienstliche Briefing zu den Brücken über die Elbe.<br />
»Warum hatte man uns davor nicht gewarnt?« schnauzte der OB<br />
Südwest.<br />
»Genosse General«, erwiderte der Luftwaffenoffizier, »unseren<br />
Informationen zufolge war dieses Stealth-Flugzeug nur ein Prototyp<br />
und noch nicht in Dienst gestellt. Irgendwie ist es den Amerikanern<br />
gelungen, zumindest eine Staffel dieser Maschinen zu bauen.<br />
Mit ihrer Hilfe haben sie unsere fliegenden Radarleitstände el<strong>im</strong>iniert<br />
und so den Weg für einen massiven Angriff auf unsere Flugplätze<br />
und Nachschubwege freigemacht. Darüber hinaus haben sie<br />
eine gut geplante Luftschlacht gegen unsere Allwetterjäger ermöglicht.<br />
Ihr Unternehmen war erfolgreich, wenn auch nicht entscheidend.«<br />
»Aha, und der Kommandeur der Luftstreitkräfte West wurde<br />
wegen erfolgreicher Abweisung des Angriffs abgelöst?« fauchte<br />
Alexejew. »Wie viele Maschinen haben wir verloren?«<br />
»Ich bin nicht befugt, das bekannt zu geben, Genosse General.«<br />
»Was haben Sie uns dann über die Brücken zu sagen?«<br />
»Die meisten Elbbrücken wurden mehr oder weniger schwer<br />
beschädigt. Außerdem wurden die in ihrer Nähe stationierten<br />
Übergangsmittel zerstört.«<br />
»Dieser verdammte Idiot - hatte sein Brückengerät direkt neben<br />
182
den Pr<strong>im</strong>ärzielen!« Der OB Südwest schaute zur Decke, als erwartete<br />
er einen Luftangriff auf Kiew.<br />
»Dort verlaufen nun mal die Straßen, Genosse General«, sagte<br />
der Nachrichtendienstoffizier leise. Alexejew scheuchte ihn mit<br />
einer Handbewegung aus dem Raum.<br />
»Kein guter Anfang, Pascha.« Einen General hatte man bereits<br />
abgelöst, den Namen seines Nachfolgers aber noch nicht bekanntgegeben.<br />
Alexejew nickte zust<strong>im</strong>mend und schaute dann auf die Armbanduhr.<br />
»In einer halben Stunde rollen unsere Panzer über die Grenze,<br />
und dann haben wir für die andere Seite ein paar Überraschungen<br />
parat. Ihre Verstärkungen sind erst zur Hälfte in Stellung. Den<br />
psychologischen Bereitschaftsgrad unserer Männer haben sie noch<br />
nicht erreicht. Unser erster Schlag wird schmerzhaft sein.«<br />
Keflavik, Island<br />
»Perfektes Wetter«, verkündete First Lieutenant Mike Edwards<br />
und hob den Blick von der Karte neben dem Faxgerät. »In zwanzig<br />
bis vierundzwanzig Stunden trifft eine kräftige Kaltfront aus Kanada<br />
ein und bringt eine Menge Regen mit, aber heute haben wir<br />
klaren H<strong>im</strong>mel und keine Niederschläge. Winde aus West bis Südwest,<br />
fünfzehn bis zwanzig Knoten. Und viel Sonne«, schloss er<br />
grinsend. Die Sonne war vor fünf Wochen zum letzten Mal aufgegangen<br />
und würde auch <strong>im</strong> Lauf der nächsten fünf nicht richtig<br />
untergehen. Hier auf Island waren sie dem Nordpol so nahe, dass<br />
das Zentralgestirn in einem trägen Kreis über den azurblauen H<strong>im</strong>mel<br />
wanderte, am Nordwesthorizont kurz partiell untertauchte,<br />
aber nie wirklich unterging. Daran musste man sich erst gewöhnen.<br />
»Jägerwetter«, st<strong>im</strong>mte Lieutenant Colonel Bill Jeffers zu, der<br />
Kommandeur des 57. Abfangjagdgeschwaders »Black Knights«,<br />
das sich vornehmlich aus Jägern des Typs F-15 Eagle zusammensetzte,<br />
die keine hundert Meter entfernt <strong>im</strong> Freien standen. In den<br />
Maschinen saßen nun schon seit neunzig Minuten die Piloten in<br />
Startbereitschaft. Vor zwei Stunden war die Warnung eingegangen,<br />
eine große Anzahl sowjetischer Flugzeuge sei von taktischen Stützpunkten<br />
auf der Halbinsel Kola aufgestiegen, Ziel unbekannt.<br />
In Keflavik war <strong>im</strong>mer viel Betrieb, aber in der letzten Woche war<br />
183
es hier zugegangen wie <strong>im</strong> Irrenhaus. Der Flughafen war nämlich<br />
nicht nur ein Stützpunkt der Army und der Navy, sondern zugleich<br />
auch ein überlasteter Zivilflughafen, auf dem viele Verkehrsflugzeuge<br />
zwischenlandeten.<br />
Ergänzt wurde dieser Verkehr seit vergangener Woche durch<br />
bedrohlich aussehende taktische Kampfflugzeuge auf dem Weg von<br />
den Vereinigten Staaten und Kanada nach Europa, mit kriegswichtigem<br />
Gerät überladene Frachtmaschinen und Verkehrsflugzeuge,<br />
voll besetzt mit bleichen Touristen und den Angehörigen amerikanischer<br />
Soldaten, die nun an der Front standen. In Keflavik selbst<br />
waren dreitausend Ehefrauen und Kinder evakuiert worden; der<br />
Stützpunkt war nun kampfbereit. Sollte ein sowjetischer Angriffskrieg<br />
ausbrechen wie ein neuer Vulkan, war Keflavik so gut wie<br />
möglich vorbereitet.<br />
»Mit Ihrer Erlaubnis, Colonel, werde ich das noch einmal mit<br />
dem Kontrollturm besprechen. Die Wettervorhersage für die nächsten<br />
vierundzwanzig Stunden klingt recht solide.«<br />
»Und der Jetstream?«<br />
»Befindet sich dort, wo er schon die ganze Woche über war.<br />
Keine Aussicht auf Änderung.«<br />
»Gut, stoßen Sie zu.«<br />
Edwards setzte seine Mütze auf und ging hinaus. Er trug eine<br />
dünne blaue Offiziersjacke über seinem Drillichanzug <strong>im</strong> Stil der<br />
Marineinfanterie und freute sich nach wie vor, dass die Kleidervorschriften<br />
bei der Air Force ziemlich lässig gehandhabt wurden. Sein<br />
Jeep enthielt den Rest seiner Kampfausrüstung: 38er Revolver und<br />
Gürtel, dazu den Parka, der vor drei Tagen zusammen mit der<br />
Tarnausrüstung ausgegeben worden war. Man hatte an alles gedacht,<br />
sann Edwards, als er den Motor des Jeeps anließ. Sogar an<br />
kugelsichere Westen.<br />
Keflavik muss getroffen werden, sagte er sich. Jeder wusste das,<br />
bereitete sich darauf vor und versuchte, nicht daran zu denken.<br />
Dieser Isolierteste Vorposten der Nato an der Westküste Islands<br />
stellte das verriegelte Tor zum Nordatlantik dar. Wenn der Russe<br />
einen Seekrieg führen wollte, musste Island neutralisiert werden.<br />
Von Keflaviks vier Startbahnen operierten achtzehn Eagle-Abfangjäger,<br />
neun P-3C Orion zur U-Boot-Jagd und, tödlichste Waffe von<br />
allen, drei E-3A AWACS, die Augen der Jäger. Zwei waren <strong>im</strong><br />
Augenblick in der Luft; einer kreiste zwanzig Meilen nordöstlich<br />
184
von Kap Fontur, der andere direkt über Ritstain, das 150 Meilen<br />
nördlich von Keflavik lag. Dies war höchst ungewöhnlich. Wenn<br />
nur drei AWACS zur Verfügung standen, war es schon schwer<br />
genug, eine Maschine permanent in der Luft zu halten. Der Befehlshaber<br />
der Streitkräfte auf Island musste das Ganze sehr ernst nehmen.<br />
Edwards zuckte die Achseln. Wenn tatsächlich sowjetische<br />
Backfire-Bomber auf sie zuhielten, konnte er nichts weiter tun. Er<br />
war der neue Meteorologieoffizier des Geschwaders und hatte<br />
gerade seine Vorhersage abgeliefert.<br />
Edwards stellte seinen Jeep auf dem Parkplatz eines Offiziers am<br />
Tower ab und beschloss, den 38er mitzunehmen. Die Anlage war<br />
nicht eingezäunt, und man konnte nie wissen, ob sich nicht jemand<br />
seine Waffe »ausborgte«. Auf dem Stützpunkt w<strong>im</strong>melte es nur so<br />
von Marineinfanteristen und Militärpolizisten der Air Force, die<br />
mit ihren M-16-Gewehren und den Handgranaten am Gürtel sehr<br />
martialisch aussahen. Er trottete die Außentreppe hoch und fand<br />
<strong>im</strong> Kontrollturm nicht wie gewöhnlich fünf, sondern acht Männer<br />
vor.<br />
»Hi, Jerry«, sagte er zum Chef, Lieutenant Jerry S<strong>im</strong>on von der<br />
Navy. Von den zivilen Fluglotsen, die sonst hier arbeiteten, war<br />
keine Spur zu sehen.<br />
»Morgen, Mike«, witzelte S<strong>im</strong>on zurück. Es war 3 Uhr 15 Ortszeit.<br />
Schöner Morgen. Die Sonne war schon aufgegangen und<br />
schien grell durch die Jalousien an den geneigten Fenstern.<br />
»Wie sieht's aus?« fragte Edwards und trat an seine meteorologischen<br />
Instrumente.<br />
»Beschissen!« erklang es <strong>im</strong> Chor.<br />
»Schön, dass wir alle das Gleichgewicht behalten«, merkte Edwards<br />
an. Der kleine, knochige Offizier war sofort nach seiner<br />
Ankunft vor zwei Monaten von allen akzeptiert worden. Er<br />
stammte aus Eastpoint in Maine und hatte die Akademie der Luftwaffe<br />
absolviert, durfte aber als Brillenträger nicht fliegen. Seine<br />
äußere Erscheinung - einsfünfundsechzig groß, 55 Kilo leicht <br />
flößte niemandem Respekt ein, doch sein ansteckendes Grinsen,<br />
sein unerschöpflicher Vorrat an Witzen und seine anerkannte Fähigkeit,<br />
den wirren Witterungsverhältnissen überm Nordatlantik<br />
einen Sinn zu entnehmen, bewirkten, dass in Keflavik jeder gerne<br />
mit ihm umging.<br />
»MAC Flug fünf-zwei-null, Roger. Roll man los Dicker, wir<br />
185
auchen Platz«, sagte ein müder Lotse. Einige hundert Meter<br />
entfernt begann ein riesiger Transporter C-5A Galaxy auf Startbahn<br />
eins-acht zu beschleunigen. Edwards sah durch ein Fernglas<br />
zu. Man gewöhnte sich nur schwer daran, dass ein solches Monstrum<br />
tatsächlich flog.<br />
»Irgendwelche Nachrichten?" fragte S<strong>im</strong>on Edwards.<br />
»Seit der Meldung aus Norwegen nichts. Viel Aktivität auf<br />
Kola«, erwiderte Edwards und machte sich wieder ans Kalibrieren<br />
seines Digitalbarometers.<br />
Angefangen hatte es vor sechs Wochen. Die auf einem halben<br />
Dutzend Stützpunkte um Seweromorsk stationierten Marineflugzeuge<br />
und Langstreckenbomber hatten fast kontinuierlich geübt<br />
und Missionen mit Angriffscharakter geflogen. Dann hatte vor<br />
zwei Wochen die Aktivität plötzlich nachgelassen. Das war ein<br />
Unheil verkündender Aspekt: Erst wurden alle Besatzungen bis zur<br />
Perfektion gedrillt, dann folgte eine Wartungs- und Instandsetzungsperiode,<br />
in der sichergestellt wurde, dass alle Instrumente und<br />
Flugzeuge voll einsatzbereit waren. Und was trieben die Russen<br />
nun? Flogen sie einen Angriff gegen Bodo in Norwegen? Oder<br />
vielleicht gegen Island?<br />
Edwards nahm einen Blockhalter und bestätigte mit seiner Unterschrift,<br />
die tägliche Überprüfung der Instrumente <strong>im</strong> Tower<br />
vorgenommen zu haben. Die Aufgabe hätte er auch einem Techniker<br />
überlassen können, doch diese Mannschaftsgrade unterstützten<br />
die Flugzeugmechaniker des Jägergeschwaders, und er konnte es<br />
selbst übernehmen. Zudem hatte er so einen Vorwand, den Kontrollturm<br />
zu betreten, und -<br />
»Mr. S<strong>im</strong>on«, sagte der ranghöchste Fluglotse rasch, »ich habe<br />
gerade eine Blitzmeldung von Sentry eins empfangen: Warnung<br />
Rot. Viele Banditen <strong>im</strong> Anflug, Sir, aus Nordnordost - jetzt meldet<br />
sich Sentry zwei. Die haben sie auch erfasst. Klingt nach vierzig bis<br />
fünfzig Banditen, Sir.« Edwards fiel auf, dass anfliegende Feindmaschinen<br />
hier Banditen und nicht wie üblich Zombies genannt wurden.<br />
»Freunde <strong>im</strong> Anflug?«<br />
»Sir, in zwanzig Minuten trifft eine MAC C-141 ein, gefolgt von<br />
acht weiteren in Fünf-Minuten-Intervallen, alle aus Dover.«<br />
»Sagen Sie denen, sie sollen kehrtmachen, und lassen Sie sich das<br />
bestätigen! Keflavik ist bis auf weiteres geschlossen.« S<strong>im</strong>on<br />
186
wandte sich an seinen Telekommunikations-Mann. »Lassen Sie<br />
SACLANT melden, dass wir angegriffen werden. Ich -«<br />
Überall um sie herum blökten Alarmhörner los. Unter ihnen zog<br />
in den Schatten des frühen Morgens das Bodenpersonal mit roten<br />
Fähnchen markierte Sicherungsstifte aus den bereitstehenden Abfangjägern.<br />
Edwards sah, wie ein Pilot einen Styroporbecher leerte<br />
und sich anzuschnallen begann. Die Anlasserwagen neben den<br />
Jägern spuckten Dieselqualm aus und erzeugten Strom zum Starten<br />
der Triebwerke.<br />
»Tower, hier Jäger-Führer. Alarmstart. Macht die Startbahn frei,<br />
Jungs!«<br />
S<strong>im</strong>on griff nach dem Mikrophon. »Roger, Jäger-Führer, die<br />
Startbahnen gehören euch. Ausschwärmen nach Plan Alpha.<br />
Drauf! Out.«<br />
Unter ihnen wurden Kabinenhauben geschlossen, Keile vor Rädern<br />
weggezogen, und der Chef jedes Bodenpersonalteams grüßte<br />
zackig seinen Piloten. Aus dem Schrillen der Düsentriebwerke<br />
wurde ein Donnern, als die Maschinen schwerfällig aus der Aufstellung<br />
anrollten.<br />
»Wo ist Ihre Gefechtsstation, Mike?« fragte S<strong>im</strong>on.<br />
»Im Met-Gebäude.« Edwards nickte und wandte sich zur Tür.<br />
»Viel Glück, Jungs.«<br />
An Bord von Sentry 2. sahen die Radaroperatoren einen weiten<br />
Halbkreis aus Leuchtpunkten auf sich zukommen. Neben jedem<br />
Leuchtpunkt standen »BGR« und Daten über Kurs, Höhe und<br />
Geschwindigkeit. Jeder Punkt oder »Blip« stellte einen Badger-<br />
Bomber Tu-16 der sowjetischen Marineflieger dar. Insgesamt hielten<br />
vierundzwanzig mit 600 Knoten auf Keflavik zu. Angenähert<br />
hatten sie sich <strong>im</strong> Tiefflug, um unter dem Radarhorizont der E-3A<br />
zu bleiben, doch nun, da man sie entdeckt hatte, gingen sie 2oo<br />
Meilen entfernt rasch in den Steigflug. Dieses Einsatzprofil versetzte<br />
die Radaroperatoren in die Lage, sie augenblicklich als<br />
Feinde zu klassifizieren. Vier Eagle flogen gerade Patrouille, standen<br />
jedoch kurz vor der Ablösung und hatten nicht mehr genug<br />
Treibstoff, um mit Nachbrenner auf die Badger loszugehen. Sie<br />
bekamen die Anweisung, dem russischen Bomberverband mit 600<br />
Knoten entgegen zu fliegen. Das Zielerfassungsradar für ihre Luftkampfraketen<br />
konnte die Badger noch nicht erreichen.<br />
Sentry I bei Kap Fontur meldete noch Ärgeres. Die Leuchtflecke<br />
187
auf den Schirmen dieser Maschine stellten überschallschnelle Tu<br />
22M Backfire dar, deren langsamer Anflug auf schwere Zusatzbewaffnung<br />
unter den Flügeln hinwies. Auch hier gingen die Eagle auf<br />
Abfangkurs. Hundert Meilen hinter ihnen wurden die über Reykjavik<br />
patrouillierenden F-15 in der Luft betankt und jagten dann mit<br />
1000 Knoten nach Nordosten, während der Rest der Staffel gerade<br />
startete. Die Radarbilder von beiden AWACS kamen über eine<br />
Digitalverbindung zum Jägerleitstand in Keflavik, damit das Bodenpersonal<br />
den Kampf mitverfolgen konnte. Nun, da die Jäger<br />
nacheinander abhoben, arbeiteten die Crews aller anderen Flugzeuge<br />
wie wild, um ihre Vögel startbereit zu machen.<br />
Dies hatten sie <strong>im</strong> Lauf des vergangenen Monats achtmal geübt.<br />
Manche Crews hatten sogar neben ihren Maschinen geschlafen.<br />
Andere wurden aus ihren nur 400 Meter entfernten Unterkünften<br />
gerufen. Maschinen, die gerade vom Patrouillenflug zurückgekehrt<br />
waren, wurden aufgetankt und von Teams des Bodenpersonals<br />
flugklar gemacht. Wachen von Marineinfanterie und Air Force<br />
eilten auf ihre Posten, wenn sie noch nicht dort gewartet hatten.<br />
Edwards war nun wieder in seinem Dienstz<strong>im</strong>mer und trug<br />
Parka, kugelsichere Weste und den neuen Helm der US-Streitkräfte,<br />
der <strong>im</strong> Stil an den Kopfschutz der Wehrmacht erinnerte.<br />
Edwards ging nach unten in den Leitstand.<br />
»Trennung von Bandit Acht, ein - zwei Raketen abgeschossen.<br />
Laut Computer sind es AS-Vier«, meldete ein Controller in der<br />
Sentry. Der ranghöchste Offizier setzte sich sofort über Funk mit<br />
Keflavik in Verbindung.<br />
MS Julius Fucik<br />
Zwanzig Meilen südwestlich von Keflavik ging es auch auf der<br />
Doctor Lykes zu wie in einem Bienenstock. Nachdem die sowjetischen<br />
Bomberstaffeln ihre Luft-Boden-Raketen abgefeuert hatten,<br />
funkte der Führer ein abgest<strong>im</strong>mtes Codewort, das von der Fucik<br />
empfangen wurde. Ihre Zeit war gekommen.<br />
»Ruder hart Backbord«, befahl Kapitän Cherow. »Gehen Sie in<br />
den Wind.«<br />
Ein ganzes Reg<strong>im</strong>ent Luftlandetruppen, viele seekrank nach zwei<br />
Wochen auf dem riesigen Leichtermutterschiff, luden und prüften<br />
188
Waffen. Die verstärkte Besatzung der Fucik entfernte die Kaschierung<br />
von den » Leichtern
»Immerhin keine A<strong>tom</strong>sprengköpfe«, merkte ein Captain an.<br />
»Die lassen hundert Raketen auf uns los - das reicht auch so«,<br />
versetzte ein anderer.<br />
Edwards betrachtete über die Schulter eines Offiziers hinweg das<br />
Radarbild. Große, sich langsam bewegende Leuchtflecke stellten die<br />
Flugzeuge dar, kleine, schnellere, die mit Mach 2 anfliegenden<br />
Raketen.<br />
»Treffer!« johlte der Radaroperator. Der erste Eagle war bis auf<br />
Raketenreichweite an die Badger herangekommen und hatte einen<br />
mit einem Sparrow-Flugkörper abgeschossen, doch zwei Sekunden<br />
zu spät, denn der Russe hatte seine Luft-Boden-Raketen bereits<br />
abgefeuert. Eine zweite Sparrow verfehlte ein separates Ziel, doch<br />
die dritte schien es erfasst zu haben. Der Flügelmann des ersten Eagle-<br />
Piloten griff gerade einen weiteren Russen an. Die Sowjets haben<br />
diesen Angriff gut durchdacht, überlegte Edwards. Sie attackierten<br />
entlang der ganzen Nordküste und wahrten weite Abstände zwischen<br />
den Bombern, so dass ein einzelner Jäger nie mehr als einen<br />
oder zwei angreifen konnte. Es hatte fast den Anschein, als -<br />
»Hat sich mal jemand Gedanken über die Geometrie dieser<br />
Attacke gemacht?« fragte er.<br />
»Was meinen Sie damit?« Der Captain drehte sich um. »Warum<br />
sind Sie nicht auf Ihrem Posten?«<br />
Edwards ignorierte die Frage. »Besteht die Möglichkeit, dass sie<br />
versuchen, unsere Jäger vom Stützpunkt wegzulocken?«<br />
»Teure Köder.« Der Captain tat die Idee ab. »Sie wollen sagen, sie<br />
hätten ihre Raketen auch schon aus größerer Entfernung abschießen<br />
können. Vielleicht ist ihre Reichweite aber nicht so groß, wie wir<br />
annahmen. Entscheidend ist: Die Raketen sind nun auf dem Weg, die<br />
ersten seit zehn Minuten, die letzten mit einer Verzögerung von fünf<br />
oder sieben. Und wir können nichts dagegen machen.«<br />
»Hm.« Edwards nickte. Das Gebäude, in dem sich die Meteorologie<br />
und der Leitstand befanden, bestand aus Holz und vibrierte,<br />
wenn die Windgeschwindigkeit fünfzig Knoten erreichte. Der Lieutenant<br />
holte ein Kaugummi heraus und steckte es in den Mund. In<br />
zehn Minuten mussten hundert Raketen, jede mit einer Tonne<br />
Hochbrisanzsprengstoff oder einem Kernsprengkopf beladen, auf<br />
sie herabzuregnen beginnen. Das Ärgste würden die Männer <strong>im</strong><br />
Freien abbekommen; die Mannschaftsgrade und das Bodenpersonal,<br />
das versuchte, Flugzeuge klar für den Alarmstart zu machen. Er<br />
190
hatte den Auftrag, niemandem <strong>im</strong> Weg zu stehen. Das beschämte<br />
ihn, und die Angst, die er nun zusammen mit dem Pfefferminzkaugummi<br />
schmeckte, beschämte ihn noch mehr.<br />
Alle Eagle waren nun in der Luft und rasten nach Norden. Die<br />
letzten Backfire-Bomber hatten gerade ihre Raketen abgefeuert und<br />
drehten mit voller Leistung nach Nordwesten ab, während die<br />
Eagle mit zwölfhundert Knoten dahinjagten und aufzuholen versuchten.<br />
Drei Abfangjäger schössen Raketen ab, holten zwei Backfire<br />
vom H<strong>im</strong>mel und beschädigten einen dritten. Die gestarteten<br />
»Zulu«-Jäger konnten die Backfire nicht einholen, wie der befehlshabende<br />
Lotse in Sentry 1 feststellte; er verfluchte sich, weil er sie<br />
nicht auf die älteren, langsameren Badger losgelassen hatte. Nun<br />
befahl er ihnen, langsamer zu fliegen, und ließ sie auf die Überschauschnellen<br />
sowjetischen Raketen zuhalten.<br />
Penguin 8, das erste U-Boot-Abwehrflugzeug P-3C Orion, rollte<br />
nun auf Startbahn 2-2 an. Es war erst vor fünf Stunden von einem<br />
Patrouillenflug zurückgekehrt, und die Besatzung der Turboprop-<br />
Maschine rieb sich noch den Schlaf aus den Augen.<br />
»Sie gehen in den Sturzflug«, meldete der Radar-Operator. Die<br />
erste russische Rakete war nun fast über ihnen und begann den<br />
Zielanflug. Die Eagle hatten zwei anfliegende russische Raketen<br />
abgeschossen, doch da Kurs und Höhen ungünstig gewesen waren,<br />
hatten ihre Sparrows die Mach-2-Geschosse verfehlt oder nicht<br />
einholen können. Die F-15 flogen weit von ihrem Stützpunkt entfernt<br />
über Island Kreise, und die Piloten fragten sich, ob sie überhaupt<br />
noch einen Flugplatz vorfinden würden, auf den sie zurückkehren<br />
konnten.<br />
Edwards zuckte zusammen, als die erste Rakete landete - oder<br />
nicht landete. Der Luft-Boden-Flugkörper hatte einen Radarannäherungszünder<br />
und detonierte zwanzig Meter überm Boden. Die<br />
Folgen waren verheerend. Der Sprengkopf explodierte direkt über<br />
der Flughafenstraße und gerade 200 Meter von ihrem Gebäude<br />
entfernt. Splitter fetzten durch mehrere Häuser, das Schl<strong>im</strong>mste<br />
bekam die Feuerwache ab. Edwards stürzte zu Boden, als Fragmente<br />
die Holzwand durchschlugen. Die Druckwelle riss die Tür<br />
aus den Angeln, Staub erfüllte die Luft. Augenblicke später ging an<br />
einer Esso-Anlage ein Tanklaster in die Luft, sandte einen turmhohen<br />
Feuerball zum H<strong>im</strong>mel und versprühte über Blocks hinweg<br />
brennendes Kerosin. Der Strom fiel auf der Stelle aus. Radar- und<br />
191
Funkgeräte verstummten, es wurde dunkel, und die batteriebetriebene<br />
Notbeleuchtung ging nicht wie erwartet an. Einen Moment<br />
lang fragte sich Edwards entsetzt, ob das erste Geschoß einen<br />
Kernsprengkopf getragen hatte. Die Druckwelle hatte ihm den<br />
Atem genommen; er wusste nun nicht, ob er den Riemen seines<br />
Helmes straffen sollte; die Frage kam ihm in diesem Augenblick<br />
enorm wichtig vor.<br />
In einiger Entfernung schlug eine weitere Rakete ein, gefolgt von<br />
anderen, bis das Getöse zu einer Serie unglaublich lauter Donnerschläge<br />
verschmolz. Edwards bekam vor Staub keine Luft. Ihm<br />
war, als wollten ihm die Lungen bersten, und er rannte instinktiv<br />
zur Tür, um frische Luft zu schnappen.<br />
Eine massive Hitzewand schlug ihm entgegen. Die Esso-Anlage<br />
war ein tosendes Flammenmeer, das bereits das angrenzende Fotolaboratorium<br />
und den Supermarkt des Stützpunktes verschlungen<br />
hatte. Mehr Rauch stieg von den Unterkünften der Mannschaftsgrade<br />
<strong>im</strong> Osten auf. Ein halbes Dutzend startklar aufgereihter<br />
Maschinen würde nie wieder fliegen; ein Sprengkopf war direkt<br />
über der Kreuzung zweier Startbahnen detoniert und hatte die<br />
Tragflächen abgeknickt, als wären sie Spielzeuge. Vor seinen Augen<br />
ging eine zerschmetterte E-3 A Sentry in Flammen auf. Er drehte<br />
sich um und stellte fest, dass auch der Kontrollturm Schaden erlitten<br />
hatte; alle Fensterscheiben fehlten. Edwards rannte auf den Tower<br />
zu und vergaß, seinen Jeep zu nehmen.<br />
Zwei Minuten später betrat er atemlos den Tower und fand die<br />
ganze Besatzung tot vor, von Glassplittern zerrissen. Der Kachelboden<br />
war mit Blut bedeckt. Aus den Lautsprechern der Funkgeräte<br />
ertönte noch Lärm, aber einen Sender, der funktionierte, fand<br />
Edwards nicht.<br />
Penguin 8<br />
»Was, zum Teufel, ist denn das?« rief der Pilot der Orion, zog die<br />
Maschine heftig nach links und erhöhte die Leistung. Er hatte zehn<br />
Meilen von Keflavik entfernt Kreise geflogen und mit angesehen,<br />
wie Rauch und Flammen von seinem Stützpunkt aufstiegen, als<br />
plötzlich vier große Objekte unter ihnen durchgefahren waren.<br />
»Das ist eine -« flüsterte der Kopilot. »Wo wollen die hin?«<br />
192
Die vier Lebeds holperten mit vierzig Knoten über die bis zu<br />
anderthalb Meter hohen Wellen. Auf den etwa fünfundzwanzig<br />
Meter langen und zehn Meter breiten Fahrzeugen befanden sich vor<br />
einem hohen, an ein Flugzeug erinnernden Seitenruder, das die<br />
Insignien der sowjetischen Marine - Hammer und Sichel in Rot<br />
über blauem Band - trug, zwei verkleidete Propeller. Sie waren der<br />
Küste schon so nahe, dass die Orion ihre Bordwaffen nicht mehr<br />
einsetzen konnte.<br />
Der Pilot schaute be<strong>im</strong> Anflug ungläubig hin, und seine letzten<br />
Zweifel nahm ihm ein Feuerstoß aus einer 30 mm Flugzeugabwehrkanone.<br />
Die Garbe ging zwar weit daneben, aber der Pilot riss die<br />
Orion scharf nach Westen herum.<br />
»Tacco, richte Anti-U-Boot-Operationen in Keflavik aus, dass<br />
Besuch unterwegs ist. Vier bewaffnete Luftkissenfahrzeuge unbekannten<br />
Typs, aber Russen - müssen Truppen an Bord haben.«<br />
»Keflavik meldet sich nicht«, antwortete der Kampfbeobachter<br />
dreißig Sekunden später. »Unser Operationszentrum existiert nicht<br />
mehr; auch der Tower ist stumm. Ich versuche, mit den Sentries<br />
Verbindung aufzunehmen. Vielleicht bekomme ich auch Kontakt<br />
mit einem oder zwei Jägern.«<br />
»Gut, aber versuchen Sie weiterhin, Keflavik zu erreichen. Und<br />
schalten Sie das Radar an. Vielleicht finden wir heraus, wo die Kerle<br />
herkommen. Und armieren Sie unsere Harpoons.«<br />
Keflavik, Island<br />
Edwards, der gerade durchs Fernglas den Schaden betrachtete,<br />
hörte den eingehenden Funkspruch - und konnte ihn nicht beantworten.<br />
Er schaute sich um und entdeckte etwas Nützliches - ein<br />
Funkgerät Hammer Ace. Er packte das einem überd<strong>im</strong>ensionalen<br />
Rucksack ähnelnde Gerät und hastete die Treppe hinunter. Nun<br />
musste er die Offiziere der Marineinfanterie finden und warnen.<br />
Die Luftkissenfahrzeuge rasten über die Djupivogur-Bucht und<br />
erreichten knapp eine Meile von dem Luftstützpunkt entfernt festes<br />
Land. Mit Erleichterung stellten die Soldaten fest, dass das Holpern<br />
aufgehört hatte, als die Fahrzeuge ausschwärmten und nebeneinander<br />
mit jeweils 100 Meter Abstand über die steinige, mit Stechginster<br />
bewachsene Ebene auf den Nato-Luftstützpunkt zutobten.<br />
193
»Was zum -« rief ein Corporal der Marines. Wie ein Dinosaurier<br />
erschien ein mächtiges Objekt am Horizont und kam offenbar mit<br />
hoher Geschwindigkeit auf sie zu.<br />
»He, ihr da! Marines! Hierher!« schrie Edwards. Ein Jeep mit<br />
drei Mannschaftsgraden hielt an, raste dann auf ihn zu. »Bringen<br />
Sie mich sofort zu Ihrem Kommandeur!«<br />
»Der ist tot«, erwiderte der Sergeant. »Der Befehlsstand bekam<br />
einen Volltreffer. Ich kann über Funk niemanden erreichen.«<br />
»Funktioniert Ihr Gerät? Passen Sie auf: Von See her rücken<br />
Feinde an. Schlagen Sie Alarm.«<br />
»Jawohl, Sir, aber das Gerät ist nicht auf die Frequenz der<br />
Wachtposten eingestellt.«<br />
»Dann stellen Sie es ein, verdammt noch mal!«<br />
»Jawohl.« Der Sergeant stellte eine andere Frequenz ein.<br />
Die Lebeds hielten in zwei Paaren eine Viertelmeile vom Zaun des<br />
Stützpunktes entfernt an. Die Bugtüren öffneten sich, heraus rollten<br />
jeweils zwei BMD-Schützenpanzer, gefolgt von den Bedienungen der<br />
Mörser, die sofort ihre Waffen aufzustellen begannen. Die 73-mm-<br />
Kanonen und Raketenwerfer auf den Minipanzern nahmen sofort die<br />
Verteidigungsstellungen der Marineinfanterie unter Feuer. Gleichzeitig<br />
gingen die verstärkten Kompanien aus jedem Luftkissenfahrzeug<br />
langsam und geschickt vor, nutzten jede Deckung und die<br />
Feuerunterstützung aus. Der Angriffsverband war aus Einheiten mit<br />
Kampferfahrung in Afghanistan ausgewählt worden; jeder Mann<br />
hatte schon einmal unter Feuer gelegen. Die Lebeds machten sofort<br />
wie Krebse kehrt und jagten zurück zum Meer, um weitere Infanteristen<br />
aufzunehmen. Teile zweier Bataillone der Elite-Luftlandetruppen<br />
griffen bereits eine Kompanie der US-Marines an.<br />
Die verzweifelten Rufe über die Funkgeräte der Züge waren nur<br />
zu deutlich. Mit der Stromversorgung des Stützpunkts waren auch<br />
die Hauptfunkanlagen ausgefallen. Die Offiziere der Marines waren<br />
tot; niemand mehr in der Lage, die Verteidigung zu koordinieren.<br />
»Sergeant, wir müssen machen, dass wir hier wegkommen!«<br />
»Wir sollen fliehen?«<br />
»Wir müssen verschwinden und melden, was hier vorgefallen ist,<br />
damit hier keine Flugzeuge mehr zu landen versuchen. Sieht so aus,<br />
als hätten wir den Stützpunkt verloren. Wie kommt man am<br />
schnellsten nach Reykjavik?«<br />
194
»Aber Sir, es sind doch noch Marines -<br />
»Wollen Sie in russische Gefangenschaft? Wir haben verloren!<br />
Ich habe gesagt, dass wir das melden müssen, und Sie werden tun,<br />
was ich sage, verdammt noch mal!«<br />
»Aye, aye, Sir.«<br />
»Wie sieht's mit Waffen aus?«<br />
Ein Schütze rannte zu einem Marine, der bäuchlings am Boden<br />
lag. Um ihn herum verbreitete sich eine rote Lache, Blut aus einer<br />
unsichtbaren, tödlichen Wunde. Mit dem Sturmgewehr M-16 des<br />
Gefallenen, seinem Tornister und dem Patronengürtel kehrte der<br />
Schütze zu Edwards zurück und übergab ihm die Kollektion. »So,<br />
jetzt haben wir alle eins.«<br />
»Dann nichts wie weg.«<br />
Der Sergeant legte den Gang ein, wendete und hielt auf die<br />
zerstörte Satellitenantenne zu.<br />
MS Julius Fucik<br />
»Flugzeuge gesichtet, Backbord voraus!« schrie ein Ausguck. Cherow<br />
setzte das Fernglas an und fluchte leise. Unter den Tragflächen<br />
der viermotorigen Maschine hingen Raketen.<br />
Penguin 8<br />
»Sieh mal einer an«, sagte der Pilot der Orion leise. »Unser alter<br />
Freund, die Doctor Lykes. Sonst noch etwas in der Nähe, Tacco?«<br />
»Nichts«, erwiderte der Kampfbeobachter, »<strong>im</strong> Umkreis von<br />
hundert Meilen kein einziges anderes Überwasserschiff.« Sie hatten<br />
gerade den Horizont rundum mit dem Suchradar abgetastet.<br />
»Und diese Luftkissenfahrzeuge kamen auch nicht aus einem U-<br />
Boot.« Der Pilot nahm eine Kurveränderung vor, um in zwei Meilen<br />
Entfernung mit der Sonne <strong>im</strong> Rücken an dem Schiff vorbeizufliegen.<br />
Sein Kopilot musterte das Schiff durchs Fernglas. TV-<br />
Kameras an Bord, bedient von den Bordwaffenmannschaften, würden<br />
noch bessere Nahaufnahmen liefern. Zwei Hubschrauber ließen<br />
an Deck ihre Triebwerke warmlaufen. Jemand an Bord der<br />
Fucik geriet in Panik und schoss eine tragbare SAM-7 ab. Der<br />
195
Hitzesensor des Flugkörpers erfasste die Orion nicht, sondern ließ<br />
ihn der Tiefstehenden Sonne entgegenfegen.<br />
MS Julius Fucik<br />
»Idiot!« grollte Cherow. Der Rauch aus dem Raketenmotor kam<br />
dem Flugzeug noch nicht einmal nahe. »Jetzt schießt er auf uns!<br />
Äußerste Kraft voraus! Rudergänger, aufgepaßt!«<br />
Penguin 8<br />
»Schön«, sagte der Pilot und drehte von dem Frachter ab. »Tacco,<br />
wir haben ein Ziel für unsere Harpoons. Hat Keflavik sich gemeldet?«<br />
»Nein, aber Sentry eins gibt Nachrichten nach Schottland weiter.<br />
Keflavik ist von einem Raketenangriff getroffen worden und geschlossen,<br />
ob wir nun den Stützpunkt halten können oder nicht.«<br />
Der Pilot stieß eine knappe Verwünschung aus. »Na schön, den<br />
Piraten da sprengen wir aus dem Wasser.«<br />
»Roger«, erwiderte der Kampfbeobachter. »Verdammt - rotes<br />
Licht für die Backbord-Harpoon. Das Ding lässt sich nicht scharf<br />
machen.«<br />
»Dann fummeln Sie dran rum!« rief der Pilot, doch alle Mühe<br />
war vergeblich. Bei den überhasteten Vorbereitungen zum Start<br />
hatte ein übermüdetes Team vom Bodenpersonal es versäumt, die<br />
Steuerkabel des Geschosses richtig anzuschließen.<br />
»Gut, ich habe wenigstens eine, die funktioniert. Bereit!«<br />
»Feuer!«<br />
Der Flugkörper löste sich von der Tragfläche und fiel zehn Meter,<br />
ehe sein Triebwerk zündete. An der Reling des Sturmdecks der<br />
Fucik standen dicht gedrängt die Fallschirmjäger, viele mit tragbaren<br />
SAM-7, und hofften, die anfliegende Rakete abzuschießen.<br />
»Tacco, versuchen Sie mal, einen F-15 zu erreichen. Der könnte<br />
diesen Kahn mit der Bordkanone bepflastern.«<br />
»Versuch ich schon. Zwei Eagle sind auf dem Weg, haben aber<br />
nur noch wenig Treibstoff. Mehr als ein, zwei Anflüge kriegen wir<br />
nicht hin.«<br />
196
In der Kanzel schaute der Pilot durchs Fernglas zu, wie die weiße<br />
Rakete dicht über den Wellenkämmen dahinjagte.<br />
MS Julius Fucik<br />
»Rakete <strong>im</strong> Anflug, Backbord, dicht überm Horizont.« Wenigstens<br />
taugen unsere Ausgucks etwas, dachte Cherow. Er schätzte die<br />
Distanz zum Horizont ab und gab der Rakete eine Geschwindigkeit<br />
von 1000 Stundenkilometern ...<br />
»Ruder hart Steuerbord!« schrie er. Der Rudergänger wirbelte<br />
das Rad bis zum Anschlag herum und hielt es fest.<br />
»Einer Rakete können Sie nicht davonfahren, Cherow«, sagte<br />
der General leise.<br />
»Weiß ich auch. Aber passen Sie mal auf.«<br />
Das Schiff mit dem schwarzen Rumpf drehte stark nach Steuerbord<br />
ab, legte sich dabei schräg wie ein schleuderndes Auto und<br />
hob so künstlich die Wasserlinie an der verwundbaren Backbordseite.<br />
Unternehmungslustige Offiziere schössen Leuchtkugeln in der<br />
Hoffnung, die Rakete abzulenken, doch deren Mikrochip-Gehirn<br />
konzentrierte sich nur auf den riesigen Blip, den das Suchradar in<br />
der Spitze ausgemacht hatte. Es stellte eine leichte Richtungsänderung<br />
des Ziels fest und änderte den Kurs der Rakete entsprechend.<br />
Eine halbe Meile vom Ziel entfernt wurde die Harpoon, die bisher<br />
drei Meter über der Oberfläche geflogen war, wie vorprogrammiert<br />
hochgezogen. Sofort schössen die Soldaten an Bord der Fucik ein<br />
Dutzend SAM-7 ab. Drei erfassten die heißen Abgase der Harpoon,<br />
konnten aber nicht rasch genug abdrehen, um die anfliegende<br />
Rakete zu treffen, und flogen an ihr vorbei. Die Harpoon ging in<br />
den Sturzflug und sauste auf ihr Ziel zu.<br />
Penguin 8<br />
»Recht so...«, flüsterte der Pilot. Nun konnte sie nichts mehr<br />
aufhalten.<br />
Die Rakete traf den Rumpf der Fucik sechs Meter über der<br />
Wasserlinie und knapp achterlich der Brücke. Der Sprengstoff de<br />
197
tonierte sofort, doch die Rakete selbst bohrte sich weiter in das<br />
Schiff hinein und verbreitete hundert Kilo Treibstoff, der auf dem<br />
untersten Frachtdeck in einem Feuerball explodierte. Im Nu verschwand<br />
das Schiff hinter einer Rauchwolke.<br />
»Tacco, Ihr Vogel hat prächtig getroffen. Sprengstoff detoniert.<br />
Sieht so aus...« Der Pilot schaute angestrengt durchs Fernglas, um<br />
den Schaden abzuschätzen.<br />
MS Julius Fucik<br />
»Aufkommen!« Cherow hatte erwartet, aufs Deck geschleudert zu<br />
werden, doch der Flugkörper war, verglichen mit den 35 000 Tonnen<br />
Masse der Fucik, klein gewesen. Er rannte hinaus auf die<br />
Brückennock, um sich den Schaden anzusehen. Als das Schiff sich<br />
wieder aufrichtete, hob sich das zackige Loch in seiner Flanke zehn<br />
Meter über den Wogen. Aus dem Loch quoll Rauch. Feuer an Bord,<br />
dachte der Kapitän, aber das Schiff ist nicht leckgeschlagen. Nun<br />
drohte nur eine Gefahr. Cherow gab seinen Löschtrupps rasche<br />
Befehle, und der General schickte zur Unterstützung einen seiner<br />
Offiziere mit. Hundert Fallschirmjäger waren <strong>im</strong> Lauf der vergangenen<br />
zehn Tage in Brandbekämpfung auf Schiffen ausgebildet<br />
worden. Nun konnten sie zeigen, was sie gelernt hatten.<br />
Penguin 8<br />
Die Fucik tauchte mit zwanzig Knoten Fahrt aus der Rauchwolke<br />
auf und hatte ein fünf Meter großes Loch in der Seite. Rauch quoll<br />
heraus, doch der Pilot erkannte sofort, dass der Schaden nicht letal<br />
war. Auf dem Oberdeck konnte er viele Männer sehen, die zum Teil<br />
auf Leitern zuliefen, um das Feuer unter Deck zu bekämpfen.<br />
»Wo bleiben die Jäger?« fragte der Pilot. Der Kampfbeobachter<br />
gab keine Antwort, sondern schaltete sein Funkgerät um.<br />
»Penguin Acht, hier Cobra eins. Wir sind zwei Maschinen. Unsere<br />
Raketen haben wir verschossen, aber noch eine volle Ladung<br />
20 Mill<strong>im</strong>eter an Bord. Zwei Anflüge, dann geht's ab nach Schottland.«<br />
»Roger, Cobra Eins. Das Ziel lässt Hubschrauber aufsteigen.<br />
198
Achten Sie auf SAM-Sieben. Die Kerle haben schon mindestens<br />
zwanzig abgeschossen.»<br />
»Roger, Penguin. Meldet sich Keflavik?«<br />
»Sieht so aus, als müssten wir uns bis auf weiteres ein neues Nest<br />
suchen.«<br />
»Roger. Okay, haltet euch klar, wir kommen aus der Sonne und<br />
greifen das Deck an.«<br />
Die Orion flog weiterhin in drei Meilen Abstand Kreise. Ihr Pilot<br />
entdeckte die Eagle erst, als sie das Feuer eröffnete. Die beiden Jäger<br />
flogen dicht nebeneinander und knapp überm Wasser an, und an<br />
ihren Nasen blitzte das Mündungsfeuer ihrer 2o-mm-Bordkanonen<br />
auf.<br />
MS Julius Fucik<br />
An Bord hatte sie niemand kommen gesehen. Einen Augenblick<br />
später schäumte das Wasser an der Flanke der Fucik unter den<br />
ersten Einschlägen auf, dann verschwand das Hauptdeck in einer<br />
Wolke. Ein jäher oranger Feuerball verkündete die Explosion eines<br />
russischen Hubschraubers, und brennendes Kerosin spritzte auf die<br />
Brücke, verfehlte Kapitän und General nur knapp.<br />
»Was war das?« keuchte Cherow.<br />
»Amerikanische Kampfflugzeuge, die ganz tief anflogen. Sie haben<br />
offenbar nur noch ihre Bordwaffen zur Verfügung, denn sonst<br />
hätten sie uns schon längst mit Bomben angegriffen.«<br />
Die Jäger trennten sich, flogen links und rechts am Schiff vorbei,<br />
das mit zwanzig Knoten einen weiten Kreis fuhr. Keine SAM folgte<br />
den Eagle, die drehten, sich wieder formierten und den Bug der<br />
Fucik anflogen. Ihr nächstes Ziel waren die Aufbauten. Einen Augenblick<br />
später wurde die Brücke des Frachters von mehreren<br />
hundert Geschossen durchsiebt. Alle Fenster zersplitterten, der<br />
größte Teil der Brückenbesatzung kam ums Leben, doch das Schiff<br />
blieb nach wie vor seetüchtig.<br />
Cherow sah sich das Gemetzel an. Sein Rudergänger war von<br />
einem halben Dutzend explodierender Geschosse zerrissen worden;<br />
auf der Brücke lebte niemand mehr. Erst nach einigen Sekunden,<br />
nachdem sich der Schock gelegt hatte, spürte er einen lähmenden<br />
Schmerz <strong>im</strong> Bauch und sah, wie sich seine Jacke dunkel verfärbte.<br />
199
»Sie sind getroffen, Käpt'n.« Nur der General hatte die Geistesgegenwart<br />
besessen, hinter etwas Solidem in Deckung zu gehen. Er<br />
sah sich die acht verstümmelten Leichen <strong>im</strong> Ruderhaus an und<br />
wunderte sich über sein Glück.<br />
»Ich muss das Schiff in den Hafen bringen. Gehen Sie nach<br />
achtern, weisen Sie den Ersten Offizier an, mit der Landungsoperation<br />
Fortzufahren. Sie, Genosse General, leiten die Brandbekämpfung<br />
an Deck. Mein Schiff muss unbedingt in den Hafen.«<br />
»Ich schicke Ihnen Hilfe.« Der General rannte hinaus. Cherow<br />
ging ans Steuer.<br />
Keflavik, Island<br />
»Stopp, halten Sie hier an!« schrie Edwards.<br />
»Was gibt's Lieutenant?« fragte der Sergeant und blieb auf dem<br />
Parkplatz stehen.<br />
»Nehmen wir meinen Wagen. Dieser Jeep ist mir zu auffällig.«<br />
Der Lieutenant sprang aus dem Geländewagen und rannte zu seinem<br />
alten Volvo. Die Marineinfanteristen folgten ihm nach kurzem<br />
Zögern. »Los, steigt ein!«<br />
»Sir, was haben wir eigentlich vor?«<br />
»Sergeant, wir müssen aus der Gegend verschwinden. Was, wenn<br />
der Iwan Hubschrauber hat?«<br />
Der Sergeant nickte. »Und was haben wir vor, Sir?«<br />
»Wir fahren bis Hafnarfjördur, lassen den Wagen stehen und<br />
schlagen uns ins Gelände, bis wir einen sicheren Platz finden, von<br />
dem aus wir funken können. Was ich da habe, ist ein Satelliten-<br />
Funkgerät. Washington muss erfahren, was sich hier tut. Wir müssen<br />
daher beobachten, was der Iwan alles anbringt. Unsere Seite<br />
wird zumindest versuchen, diesen Felsen wieder einzunehmen. Sergeant,<br />
unser Auftrag ist zu überleben, Funkverbindung zu halten<br />
und vielleicht zur Rückeroberung beizutragen.« Dieser Gedanke<br />
war Edwards erst vor kurzem gekommen. Würde man überhaupt<br />
versuchen, Island zurückzuerobern? War man in der Lage, es zu<br />
versuchen? Was war ringsum auf der Welt sonst noch schiefgegangen?<br />
Langsam, eins nach dem anderen, sagte er sich. Er für seinen<br />
Teil hatte keine Lust, sich von den Russen gefangen nehmen zu<br />
200
lassen. Wenn es ihnen gelang, Informationen an die Außenwelt zu<br />
funken, mochten sie in der Lage sein, sich für den Angriff auf<br />
Keflavik zu rächen.<br />
Edwards ließ den Motor an und fuhr auf der Staatsstraße 41 nach<br />
Osten. Irgendwo musste er den Volvo abstellen... aber wo? In<br />
Hafnarfjördur gab es ein Einkaufszentrum - und das einzige Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant<br />
auf der ganzen Insel. Das war der<br />
ideale Abstellplatz. Der junge Lieutenant musste wider Willen lächeln.<br />
Sie waren noch am Leben und besaßen eine der gefährlichsten<br />
Waffen - ein Funkgerät. Mit den Problemen, nahm er sich vor,<br />
würde er Fertigwerden, wenn sie sich stellten. Sein Auftrag, entschied<br />
er, am Leben zu bleiben und Meldung zu erstatten. Wenn das<br />
erledigt war, konnten sie ihm ruhig andere Befehle geben. Eins nach<br />
dem anderen, redete er sich <strong>im</strong>mer wieder ein. Hoffentlich weiß<br />
überhaupt ein Mensch, was hier gespielt wird.<br />
Penguin 8<br />
»Sieht so aus, als hätten sie das Feuer unter Kontrolle«, stellte der<br />
Pilot fest.<br />
»Wie haben sie das bloß geschafft? Der Kahn hätte eigentlich in<br />
die Luft gehen sollen.« Sie sahen mit an, wie die vier Luftkissenfahrzeuge<br />
eine weitere Ladung Truppen an Land brachten. Es war dem<br />
Piloten nicht eingefallen, die beiden inzwischen auf dem Flug nach<br />
Schottland befindlichen Jäger die Landungsfahrzeuge statt des<br />
Schiffes angreifen zu lassen. Penguin 8 hatte acht Sonarbojen, vier<br />
Torpedos MK-46 zur U-Boot-Bekämpfung und eine Reihe anderer<br />
High-Tech-Waffen an Bord, die aber gegen ein s<strong>im</strong>ples, großes Ziel<br />
wie diesen Frachter nutzlos waren. Es sei denn, er wollte Kamikaze<br />
spielen. Der Pilot schüttelte den Kopf.<br />
»Wenn Sie nach Schottland wollen: Wir haben für dreißig Flugminuten<br />
Treibstoff«, meldete der Bordingenieur.<br />
»Okay, schauen wir uns noch einmal Keflavik an. Ich gehe auf<br />
sechstausend. Da sollten wir außer Reichweite der SAM sein.«<br />
Binnen zwei Minuten waren sie über der Küste. Ein Lebed näherte<br />
sich der SOSUS- und SIGINT-Station gegenüber Hafnir. Sie<br />
konnten gerade noch Bewegung am Boden und eine dünne Rauchfahne<br />
sehen, die aus dem Gebäude wehte. Von SIGINT (Signal<br />
201
Intelligence) verstand der Pilot nicht viel, doch SOSUS, das Sonar<br />
Überwachungssystem auf dem Meeresboden, war das wichtigste<br />
Mittel zum Aufspüren von Zielen, auf die die Orion dann losgehen<br />
konnte. Die Station unter ihnen deckte die Lücken zwischen Grönland<br />
und Island und zwischen Island und Faröer ab. Die Hauptbarriere<br />
zwischen den russischen U-Booten und den Seewegen des<br />
Nordatlantik war praktisch permanent ausgefallen. Großartig.<br />
Eine Minute später waren sie über Keflavik. Sieben oder acht<br />
Flugzeuge hatten den Start nicht mehr geschafft und brannten. Der<br />
Pilot sah sich durchs Fernglas die Startbahnen an und stellte entsetzt<br />
fest, dass sie weitgehend intakt waren.<br />
»Tacco, stehen Sie in Verbindung mit einer Sentry?«<br />
»Ich kann Ihnen sofort eine geben. Sprechen Sie, Sie haben Sentry<br />
Zwei.«<br />
»Sentry Zwei, hier Penguin Acht. Hören Sie mich? Over.«<br />
»Roger, Penguin Acht, hier spricht der Chefcontroller. Wir orten<br />
Sie über Keflavik. Wie sieht es aus?«<br />
»Acht Vögel brennend am Boden. Die Raketen haben die Startbahnen<br />
nicht beschädigt. Wiederhole: keine Krater in den Startbahnen.«<br />
»Sind Sie ganz sicher, Penguin Acht?«<br />
»Positiv. Schwere Schäden durch Sprengwirkung, aber keine<br />
Löcher <strong>im</strong> Boden. Die nahe gelegenen Treibstofftanks sehen unbeschädigt<br />
aus, und nichts scheint das Tanklager bei Hakotstangar<br />
getroffen zu haben. Wir haben unseren Freunden eine Riesenmenge<br />
Saft und einen intakten Flugplatz hinterlassen. Der Tower steht<br />
noch. Um den Leitstand herum brennt's wie Zunder, aber die<br />
Startbahnen sind eindeutig benutzbar. Over.«<br />
»Und das Schiff, das Sie angegriffen haben?«<br />
»Volltreffer, ich sah den Zielanflug selbst. Zwei F-15 griffen mit<br />
Bordwaffen an, aber das reichte nicht. Vermutlich schafft der Kahn<br />
es in den Hafen. Schätze, dass er versucht, in Reykjavik oder Hafnarfjördur<br />
zu löschen. Muss eine Menge Zeug an Bord haben, ist<br />
rund vierzigtausend Tonnen groß. Noch zwei bis drei Stunden,<br />
dann ist er <strong>im</strong> Hafen, wenn wir ihn nicht versenken können.«<br />
»Verlassen Sie sich nicht darauf. Wie sieht's mit Treibstoff aus?«<br />
»Wir müssen uns sofort auf den Weg nach Stornoway machen.<br />
Meine Kameras haben Aufnahmen von der Umgebung und vom<br />
Schiff gemacht. Mehr können wir jetzt nicht tun.«<br />
202
»Okay, Penguin Acht. Suchen Sie sich einen Landeplatz. Wir<br />
ziehen uns in ein paar Minuten ebenfalls zurück. Viel Glück. Out.«<br />
Hafnarfjördur, Island<br />
Edwards stellte den Volvo an einem Einkaufszentrum ab. Auf der<br />
Fahrt hatte er einige Leute gesehen, die vorwiegend nach Westen in<br />
Richtung Keflavik schauten. Hier schien zum Glück noch niemand<br />
zu sein.<br />
»Wohin jetzt, Lieutenant?« fragte der Sergeant Smith.<br />
»Sergeant, stellen wir mal ein paar Dinge klar. Sie sind der Mann<br />
mit Erdkampferfahrung. Wenn Ihnen etwas einfällt, möchte ich es<br />
erfahren.«<br />
»Nun, Sir, ich würde mich sofort nach Osten absetzen, um<br />
Distanz zwischen uns und den Straßen zu schaffen, und mir dann<br />
einen Platz suchen, an dem Sie am Funkgerät drehen können, und<br />
zwar schnell.«<br />
Edwards schaute sich um. Es war zwar noch niemand auf der<br />
Straße, aber er wollte verhindern, dass sie be<strong>im</strong> Rückzug ins Gelände<br />
beobachtet und verraten wurden. Er nickte, und der Sergeant<br />
ließ einen Schützen vorangehen. Sie nahmen die Helme ab und<br />
hängten sich die Gewehre über, um so harmlos wie möglich auszusehen.<br />
Schöner Kriegsbeginn, dachte Edwards.<br />
MS Julius Fucik<br />
»Gott sei Dank, die Brände sind gelöscht«, verkündete General<br />
Andrejew. »Unsere Ausrüstung hat schweren Schaden erlitten, vorwiegend<br />
durch Löschwasser, aber das Feuer ist aus.« Seine Miene<br />
änderte sich, als er Cherow erblickte.<br />
Der Kapitän war leichenblass. Ein Sanitäter hatte seine Wunde<br />
verbunden, die inneren Blutungen aber nicht ganz stillen können.<br />
Der Mann hielt sich mit Mühe am Kartentisch aufrecht.<br />
»Kurs null-null-drei.«<br />
Der Dritte Offizier stand am Ruder. »Null-null-drei liegt an,<br />
Genosse Kapitän.«<br />
»Sie müssen sich hinlegen«, sagte Andrejew leise.<br />
203
»Erst Muss ich mein Schiff sicher in den Hafen bringen.«<br />
Die Fucik lief fast genau nach Norden und hatte Wind und See<br />
dwars. Wasser leckte in das von der Rakete geschlagene Loch, und<br />
Cherows anfänglicher Opt<strong>im</strong>ismus schwand. Der Einschlag des<br />
Flugkörpers hatte Nähte unter der Wasserlinie aufgerissen, durch<br />
die nun Seewasser ins untere Frachtdeck eindrang, aber bisher<br />
hielten die Lenzpumpen noch mit.<br />
»Käpt'n, Sie müssen ärztlich versorgt werden«, beharrte Andrejew.<br />
»Wenn wir die Landzunge umrundet haben, liegt die beschädigte<br />
Backbordseite in Lee. Dann kann sich jemand um mich kümmern.«<br />
USS Pharris<br />
»Sonarkontakt, möglicherweise U-Boot, an drei-fünf-drei«, verkündete<br />
der Sonarmann.<br />
So geht's los, dachte Morris. Auf der Pharris herrschte Alarmzustand,<br />
seit sie die amerikanische Küste verlassen hatte. Die Fregatte<br />
schleppte eine Batterie passiver Sonar-Sensoren hinter sich her,<br />
befand sich zwanzig Meilen nördlich des Geleitzuges und fuhr nun<br />
gerade über die Kante des Kontinentalschelfs am Lindenkohl-Canyon<br />
in tiefes Wasser. Perfektes Versteck für ein U-Boot.<br />
»Zeigen Sie mal her«, befahl der ASW-Offizier, dessen Funktion<br />
die Leitung der Bekämpfung von Unterseebooten war. Morris hielt<br />
sich zurück und schaute seinen Männern bei der Arbeit zu.<br />
Der Sonarmann wies auf das Wasserfall-Display, das eine Reihe<br />
digitaler Quadrate zeigte, zahlreiche Grünschattierungen auf<br />
schwarzem Hintergrund. Sechs übereinander stehende Quadrate<br />
unterschieden sich von den anderen; ein siebtes kam hinzu. Die<br />
Tatsache, dass sie in einer vertikalen Reihe erschienen, wies darauf<br />
hin, dass das Geräusch von einer konstanten Quelle nordwestlich<br />
des Schiffes erzeugt wurde. Bisher hatten sie nur eine Richtung und<br />
konnten weder die Entfernung abschätzen noch feststellen, ob sie es<br />
mit einem U-Boot zu tun hatten. Das Signal verschwand für eine<br />
Minute, kehrte dann wieder zurück. Dann verklang es ganz.<br />
Morris und sein ASW-Offizier sahen sich die Anzeige des Bathythermographen<br />
an. Alle zwei Stunden warfen sie ein Instrument<br />
204
über Bord, das be<strong>im</strong> Sinken die Wassertemperatur maß und über<br />
Draht zurückmeldete, bis es nach Kappen des Drahtes auf Grund<br />
landete. Die Anzeige stellte eine unregelmäßige Linie dar. Die Wassertemperatur<br />
nahm mit zunehmender Tiefe ab, aber nicht gleichmäßig.<br />
»Könnte wer weiß was sein«, sagte der ASW-Offizier leise.<br />
»Allerdings«, st<strong>im</strong>mte Morris zu und ging zurück ans Sonar-<br />
Display. Der Kontakt war noch da.<br />
Doch wie groß war seine Entfernung? Wasser überträgt Schall<br />
viel besser als Luft, gehorcht aber anderen Gesetzen. Dreißig Meter<br />
unter dem Kiel der Pharris befand sich die »Schicht«, wo sich die<br />
Wassertemperatur abrupt änderte. Einen Teil dieser Schallenergien<br />
konnte zwischen Schichten eingefangen werden und blieb über<br />
enorme Distanzen hinweg intensiv. Die Schallquelle, der sie lauschten,<br />
mochte fünf oder fünfzig Meilen entfernt sein. Nun verschob<br />
sich die Spur auf dem Display etwas nach links, was bedeutete, dass<br />
sie selbst nach Osten abwichen oder dass der Kontakt nach Westen<br />
driftete, beispielsweise ein U-Boot, das he<strong>im</strong>lich hinter seinem Ziel<br />
in Angriffsposition ging.<br />
»Sir«, sagte der ASW-Offizier nach einer Weile, »da sich die<br />
Richtung nicht wahrnehmbar ändert, muss der Kontakt gut fünfzehn<br />
Meilen entfernt sein. Das bedeutet, dass es sich um eine ziemlich<br />
laute Schallquelle handelt, die zu weit entfernt ist, um eine<br />
unmittelbare Bedrohung darzustellen. Sollte es aber doch ein<br />
A<strong>tom</strong>-U-Boot sein, könnten wir nach einem kurzen Spurt eine<br />
Kreuzpeilung vornehmen.«<br />
Morris schaute auf Instrumente am achterlichen Schott. Seine<br />
Fregatte lief mit vier Knoten Fahrt. Er griff zum Telefon.<br />
»Brücke an Gefechtszentrale.«<br />
»Brücke, aye. Hier IO.«<br />
»Joe, gehen wir mal für fünf Minuten auf zwanzig Knoten und<br />
versuchen, eine Kreuzpeilung vorzunehmen.«<br />
»Aye, Sir.«<br />
Eine Minute später spürte Morris eine Veränderung der Bewegungen<br />
seines Schiffes, als die Dampfturbine die Fregatte hart<br />
durch knapp zwei Meter hohe Seen trieb. Er wartete nachdenklich<br />
und wünschte sich eine empfindlichere Sonarbatterie vom Typ 2X,<br />
mit der die Fregatten der Perry-Klasse ausgerüstet wurden.<br />
Nach fünf Minuten wurde die Turbinenleistung verringert, und<br />
205
als das Schiff seine Fahrt verlangsamte, schlug das Muster auf dem<br />
Sonar-Schirm um.<br />
Der Kommandant, sein ASW-Offizier und der Sonar-Operator<br />
beobachteten den Schirm zehn Minuten lang aufmerksam. Die<br />
anomale Schallanzeige tauchte nicht wieder auf. Bei einer Übung zu<br />
Friedenszeiten wären sie zu dem Schluss gekommen, dass es sich um<br />
eine reine Anomalie handelte, vom Wasser erzeugtes Geräusch, das<br />
so plötzlich verschwand, wie es aufgetaucht war, vielleicht ein<br />
kleiner Strudel. Nun trug alles, was sie orteten, potentiell einen<br />
roten Stern und ein Sehrohr.<br />
»Besteht noch Anlass zu der Vermutung, es könnte sich um ein<br />
echtes Ziel handeln?« fragte er den ASW-Offizier.<br />
»Inzwischen nicht mehr, Sir.« Der Offizier fragte sich, ob es<br />
überhaupt richtig gewesen war, den Kommandanten von dem Kontakt<br />
zu unterrichten.<br />
»Gut, das war best<strong>im</strong>mt nicht der letzte blinde Alarm.«<br />
206
19<br />
Wege enden - Wege beginnen<br />
Hafnarfjördur, Island<br />
Sergeant James Smith war Kompanieschreiber und trug als solcher<br />
die Karten seines Chefs bei sich, wie Edwards zu seiner Erleichterung<br />
erfuhr. Weniger erfreut wäre er gewesen, wenn er erfahren<br />
hätte, was Smith von ihrem Unternehmen hielt und wer seiner<br />
Ansicht nach die Gruppe führte. Sie marschierten schweigend nach<br />
Osten, vorbei an einem zwei Kilometer langen Lavafeld, ohne<br />
Ruhepausen einzulegen. Die See hatten sie <strong>im</strong> Rücken, und solange<br />
sie das Wasser sehen konnten, waren sie auch von der Küste aus zu<br />
entdecken. Jede von ihren Stiefeln aufgewirbelte Staubwolke ließ<br />
das Gefühl der Verwundbarkeit intensiver werden, und Schütze<br />
Garcia, der die Nachhut bildete, machte periodisch kehrt und ging<br />
ein paar Meter zurück, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand<br />
folgte. Die anderen schauten voraus, nach links und rechts<br />
und auch nach oben, denn sie waren sicher, dass der Russe einen<br />
oder zwei Hubschrauber mitgebracht hatte.<br />
Die Szenerie erinnerte an eine Mondlandschaft - aus diesem<br />
Grund waren auch die Apollo-Astronauten in Island ausgebildet<br />
worden. Eine leichte Brise strich an den Hängen hoch, die sie<br />
erklommen, und wirbelte Staub auf. Edwards musste niesen.<br />
»Hubschrauber!« rief Garcia.<br />
Der Schütze hatte scharfe Augen. Hören konnten sie die Maschine<br />
noch nicht, aber da hing sie überm Horizont, kam von See<br />
her angeflogen.<br />
»Alles in Deckung. Geben Sie mir das Fernglas, Sergeant.« Smith<br />
warf sich neben ihn und hatte das Fernglas schon angesetzt.<br />
»Ein Hip, Sir. Transporthubschrauber, wahrscheinlich mit<br />
Truppen an Bord.« Er reichte Edwards den Feldstecher.<br />
»Ich glaub's Ihnen«, erwiderte Edwards. Er konnte die ungeschlachte<br />
Maschine gut drei Meilen entfernt auf Hafnarfjördur<br />
zuhalten sehen. »Sieht so aus, als wollten sie zum Hafen. Klar, sie<br />
207
kamen ja mit einem Schiff. Ehe das anlegen kann, muss der Hafen<br />
eingenommen und gesichert werden.«<br />
»Klingt logisch«, st<strong>im</strong>mte Sergeant Smith zu.<br />
Edwards verfolgte den Hubschrauber, bis er hinter einigen Gebäuden<br />
verschwand. Eine Minute später war er wieder in der Luft<br />
und flog zurück nach Nordwesten. Er sah sich den Horizont genauer<br />
an.<br />
»Sieht aus, als käme da ein Schiff.«<br />
MS Julius Fucik<br />
Cherow schleppte sich zum Kartentisch. Die Lenzpumpen wurden<br />
mit dem einströmenden Wasser fast fertig. Der Bug der Fucik lag<br />
einen halben Meter tiefer als normal. Cherow lächelte schwach in<br />
sich hinein. Der General hatte ihn praktisch mit Waffengewalt<br />
gezwungen, sich von einem Sanitäter an einen Plasma-Tropf hängen<br />
und Morphium geben zu lassen. Für letzteres war er dankbar <br />
die Schmerzen waren zwar noch da, aber nicht mehr so unerträglich.<br />
Die Plasmaflasche, die der Sanitäter <strong>im</strong> Ruderhaus hinter ihm<br />
hertrug, ging ihm aber auf die Nerven. Doch Cherow wusste, dass sie<br />
notwendig war, wenn er noch ein paar Stunden länger am Leben<br />
bleiben wollte - und wer weiß, dachte er, wenn der Reg<strong>im</strong>entsarzt<br />
sein Handwerk versteht, komme ich vielleicht sogar durch ...<br />
Nun stand Wichtigeres an. Er hatte sich die Karte des Hafens<br />
genau angesehen. Ihm fehlte ein Lotse. Mit Hafenschleppern war<br />
nicht zu rechnen, und die Mini-Schlepper für die Leichter, die sich<br />
in dem gabelförmigen Heck seines Schiffes befanden, waren zum<br />
Anlegen nutzlos.<br />
Nach dem ersten Erkundungsflug umkreiste der Hubschrauber<br />
sein Schiff. Ein Wunder, dass er überhaupt noch fliegt, dachte der<br />
Kapitän, denn die Schwestermaschine war direkt neben ihm von<br />
den Bordwaffen eines amerikanischen Jägers zerstört worden. Es<br />
war den Mechanikern gelungen, das Feuer rasch zu löschen und<br />
den zweiten Hubschrauber mit einem Wasservorhang zu schützen.<br />
Es waren einige kleine Reparaturen notwendig gewesen, da die<br />
Außenhaut Einschüsse aufwies, aber nun war die Maschine wieder<br />
einsatzbereit, schwebte achterlich der Aufbauten und setzte dann<br />
langsam und schwerfällig auf.<br />
208
»Wie geht es Ihnen, Käpt'n?« fragte der General. Am liebsten<br />
hätte er sich den Mann geschnappt und von seinem Arzt versorgen<br />
lassen, aber wer sollte dann das Schiff in den Hafen bringen?<br />
Kapitän Cherow starb vor seinen Augen, das hatte der Sanitäter<br />
deutlich genug gesagt. Cherow litt an inneren Blutungen, gegen die<br />
Plasma und Verbände nichts ausrichten konnten.<br />
»Haben Ihre Männer die Kampfziele erreicht?« fragte Cherow.<br />
»Den Meldungen zufolge wird auf dem Stützpunkt noch <strong>im</strong>mer<br />
gekämpft, doch wir sollten ihn bald gesichert haben. Der erste<br />
Trupp am Hafen stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. Dort<br />
ist also alles sicher. Sie sollten sich ausruhen, Käpt'n.«<br />
Cherow schüttelte den Kopf wie ein Betrunkener. »Ruhe krieg<br />
ich bald mehr als genug. Nur noch fünfzehn Kilometer. Wir fahren<br />
ohnehin viel zu schnell. Mag sein, dass die Amerikaner Flugzeuge<br />
losgeschickt haben. Noch vor Mittag müssen wir <strong>im</strong> Hafen sein und<br />
Ihre Ausrüstung gelöscht haben. Ich habe zu viele Besatzungsmitglieder<br />
verloren, um jetzt noch zu versagen.«<br />
Hafnarfjördur, Island<br />
»Das müssen wir melden«, meinte Edwards leise. Er schüttelte<br />
seinen Rucksack ab und öffnete ihn. Er hatte einmal einem Mann<br />
be<strong>im</strong> Testen des Funkgerätes zugesehen und festgestellt, dass an der<br />
Seite des Gehäuses eine Gebrauchsanweisung angebracht war. Die<br />
sechsteilige Antenne ließ sich leicht in den Pistolengriff einschieben.<br />
Dann stöpselte er den Kopfhörer ein und schaltete das Funkgerät<br />
an. Er sollte die Antenne, die einer Blüte ähnlich sah, auf den 30.<br />
Meridian ausrichten, aber es fehlte ihm ein Kompass, der ihm zeigte,<br />
wo dieser Meridian war. Smith entfaltete eine Landkarte und<br />
wählte einen Orientierungspunkt in der ungefähren Richtung. Edwards<br />
richtete die Antenne aus und schwenkte sie langsam, bis er<br />
das Zwitschern der Trägerfrequenz des Satelliten hörte.<br />
»Okay.« Edwards stellte einen vorgewählten Kanal ein und ging<br />
durch Umlegen eines Kippschalters auf Sendung.<br />
»Hier spricht Mike Edwards, First Lieutenant, United States Air<br />
Force, Island. Bitte melden, over.« Es tat sich nichts. Edwards las<br />
die Bedienungsanleitung noch einmal durch, um sicherzugehen,<br />
und setzte den Spruch noch dre<strong>im</strong>al ab.<br />
209
»Bitte identifizieren, over.« Endlich hatte eine St<strong>im</strong>me geantwortet.<br />
»Edwards, Michael D., First Lieutenant, US Air Force, Nr. 328-<br />
61-4030. Ich bin der Meteorologie-Offizier der in Keflavik stationierten<br />
57. Abfangjägerstaffel. Wer spricht? Over.«<br />
»Wenn Sie das nicht wissen, haben Sie in diesem Funkkreis nichts<br />
verloren. Machen Sie den Kanal frei, der wird für dienstlichen<br />
Verkehr gebraucht«, erwiderte die St<strong>im</strong>me kalt. Edwards starrte<br />
das Gerät einige Sekunden lang in sprachlosem Zorn an, ehe er<br />
explodierte.<br />
»Hören Sie mal, Sie Arschloch! Der Mann, der mit diesem verdammten<br />
Gerät umzugehen versteht, ist tot, und außer mir haben<br />
Sie niemanden. Der Stützpunkt Keflavik wurde vor sieben Stunden<br />
von den Russen aus der Luft und vom Boden angegriffen. Hier<br />
w<strong>im</strong>melt es nur so vor Feinden, ein russisches Schiff läuft gerade<br />
nach Hafnarfjördur ein, und Sie treiben hier beschissene Wortspiele.<br />
Reißen Sie sich mal zusammen, Mister! Over.«<br />
»Verstanden. Abwarten. Wir müssen erst feststellen, wer Sie<br />
sind.« Keine Spur von Reue.<br />
»Verdammt noch mal, dieser Kasten ist batteriebetrieben. Sollen<br />
sich die Batterien entladen, während Sie in Aktenschränken kramen?«<br />
Nun meldete sich eine neue St<strong>im</strong>me. »Edwards, hier spricht der<br />
ranghöchste Wachoffizier. Beenden Sie die Sendung. Der Gegner<br />
könnte Sie abhören. Wir melden uns in dreißig Minuten wieder.<br />
Out.« Edwards schaltete das Gerät ab. »Los, machen wir, dass wir<br />
weiterkommen. Ich wusste nicht, dass der Gegner dieses Signal<br />
aufspüren kann.«<br />
»Sergeant, halten wir auf diese Höhe hundertzweiundfünfzig zu.<br />
Von dort aus sollten wir einen guten Überblick haben. Außerdem<br />
gibt es auf dem Weg Wasser.«<br />
»Heißes Wasser, Sir, voller Schwefel.«<br />
»Unser Pech.« Edwards trabte langsam los. Als kleiner Junge<br />
hatte er einmal die Feuerwehr rufen müssen. Damals hatte man ihm<br />
geglaubt. Warum nicht jetzt?<br />
210
MS Julius Fucik<br />
Cherow wusste, dass er nun das Werk der Amerikaner zu Ende<br />
führte. In diesen Hafen mit achtzehn Knoten einzufahren war mehr<br />
als leichtsinnig. Der Meeresboden war felsig, und eine Grundberührung<br />
konnte den Boden des Schiffes aufreißen. Doch noch mehr<br />
fürchtete er einen neuen Luftangriff und war sicher, dass nun ein<br />
Schwärm amerikanischer Jäger zu ihm unterwegs war, beladen mit<br />
Raketen und Bomben, die den wichtigsten Auftrag seines Lebens zu<br />
einem Misserfolg machen würden.<br />
»Aufkommen!« rief er.<br />
Vor einigen Minuten hatte er erfahren, dass sein Erster Offizier<br />
den be<strong>im</strong> ersten Jägerangriff erlittenen Verletzungen erlegen war.<br />
Sein bester Rudergänger war vor seinen Augen schreiend gestorben.<br />
Viele seiner besten Matrosen hatten das gleiche Schicksal<br />
erlitten. Nun gab es nur noch einen Mann an Bord, der die für den<br />
Landfall notwendige Positionsbest<strong>im</strong>mung vornehmen konnte.<br />
Doch der Kai war nun in Sicht, und er verließ sich auf sein Seemannsauge.<br />
»Halbe Kraft voraus«, befahl er. Der Rudergänger gab die Anweisung<br />
über den Maschinentelegraphen weiter.<br />
»Ruder hart Steuerbord.« Der Bug des Schiffes schwang langsam<br />
nach rechts herum. Cherow stand in Brückenmitte und nahm sorgfältig<br />
den Kai ins Visier.<br />
Das Schiff bekam Grundberührung. Cherow wurde zu Boden<br />
geschleudert und fluchte laut vor Zorn und Schmerz. Er hatte sich<br />
verkalkuliert. Die Fucik glitt ruckend über den felsigen Grund.<br />
Keine Zeit mehr, auf die Seekarte zu schauen. Wenn die Tide sich<br />
wendete, würden die starken Strudel <strong>im</strong> Hafen das Anlegemanöver<br />
zu einem Alptraum machen.<br />
»Gegenruder.« Eine Minute später war das Schiff wieder frei.<br />
Der Kapitän ignorierte die Leckalarme, die hinter ihm zu tuten<br />
begannen. Der Rumpf war leckgeschlagen, oder bereits geplatzte<br />
Nähte hatten sich weiter geöffnet. Doch das war jetzt nebensächlich.<br />
Der Hafen mit dem aus grob behauenen Steinen bestehenden<br />
Kai war nur noch tausend Meter entfernt. »Aufkommen. Maschinen<br />
stop.«<br />
Doch das Schiff hatte zuviel Fahrt. Die Soldaten an Land erkannten<br />
das und wichen auf dem Kai zurück, weil sie befürchteten, er<br />
211
könne dem Aufprall des Schiffes nicht standhalten. Cherow grunzte<br />
mit gr<strong>im</strong>miger Befriedigung. Noch achthundert Meter.<br />
»Volle Kraft zurück.«<br />
Sechshundert Meter. Das ganze Schiff erbebte, als die Maschinen<br />
seine Fahrt zu vermindern suchten. Es lief mit nun acht Knoten in<br />
einem Winkel von dreißig Grad auf eine Anlegestelle zu. Cherow<br />
trat ans Sprachrohr zum Maschinenraum.<br />
»Auf mein Kommando hin stellen Sie die Maschinen ab, betätigen<br />
den Sprinklerhebel und verlassen den Maschinenraum.«<br />
»Was haben Sie vor?« fragte der General.<br />
»Wir können am Kai nicht anlegen«, erwiderte Cherow schlicht.<br />
»Ihre Soldaten verstehen sich nicht auf die Handhabung der Leinen,<br />
viele meiner Matrosen sind tot.« Cherow hatte eine Anlegestelle<br />
gewählt, deren Tiefe um genau einen halben Meter geringer<br />
war als der Tiefgang der Fucik. Er ging zurück ans Sprachrohr.<br />
»Jetzt, Genossen!«<br />
Tief unten gab der Chefingenieur Befehle. Sein Erster Maschinist<br />
stellte die Diesel ab und eilte zur Fluchtleiter. Der Ingenieur riss am<br />
Nothebel der Löschanlage und folgte ihm, nachdem er sich davon<br />
überzeugt hatte, dass alle seine Männer den Maschinenraum verlassen<br />
hatten.<br />
»Ruder hart Steuerbord.«<br />
Eine Minute später rammte der Bug der Julius Fucik den Kai mit<br />
fünf Knoten. Der Bug wurde eingedrückt, das Schiff schwang nach<br />
rechts und knallte mit der Flanke Funken sprühend auf die Felsen.<br />
Der Aufprall riß den Rumpf an der Steuerbordbilge auf, die unteren<br />
Decks wurden sofort geflutet, und das Schiff sank rasch auf Grund,<br />
der sich knapp unter seinem platten Kiel befand. Die Julius Fucik<br />
war am Ende ihrer letzten Fahrt angelangt, hatte aber ihr Ziel<br />
erreicht.<br />
Cherow winkte dem General zu. »Meine Männer werden zwei<br />
Leichter aussetzen und zwischen Heck und Kai verankern. Sie<br />
können dann mit Hilfe Ihres Brückengeräts Ihre Fahrzeuge vom<br />
Aufzug auf die Leichter und von dort aus an Land schaffen.«<br />
»Kein Problem. Und Sie, Genosse Kapitän, bringe ich zu meinem<br />
Arzt. Keine Widerrede.« Der General gab seiner Ordonnanz einen<br />
Wink, und die beiden Männer führten den Kapitän unter Deck.<br />
Vielleicht war es noch nicht zu spät.<br />
212
Höhe 152, Island<br />
»Ist Ihnen jetzt endlich klar, wer ich bin?« fragte Edwards gereizt.<br />
Störend wirkte sich auch die Verzögerung von einer Viertelsekunde<br />
aus, die das Signal wegen des Umwegs über den Satelliten hatte.<br />
»Jawohl. Der Haken ist nur: Wie sollen wir wissen, dass Sie es<br />
auch wirklich sind?« Der Offizier hatte ein Fernschreiben in der<br />
Hand, das bestätigte, dass ein gewisser First Lieutenant Michael<br />
D. Edwards, USAF, in der Tat ein Meteorologie-Offizier der 57. AJ-<br />
Staffel gewesen war, doch über diese Information konnten die<br />
Russen schon lange vor der Invasion verfügt haben.<br />
»Hören Sie mal, ich sitze hier auf Höhe 152 östlich von Hafnarfjördur,<br />
klar? Hier fliegt ein russischer Hubschrauber rum, und <strong>im</strong><br />
Hafen hat gerade ein dickes Schiff angelegt. Eine Flagge kann ich<br />
nicht erkennen, weil die Entfernung zu groß ist, aber aus New York<br />
ist der Kahn best<strong>im</strong>mt nicht. Die Russen haben den Stützpunkt<br />
zerbombt und sind hier gelandet. Soldaten überall.«<br />
»Berichten Sie von dem Schiff.«<br />
Edwards setzte das Fernglas an. »Schwarzer Rumpf, weiße Aufbauten.<br />
Große Blockbuchstaben auf der Seite, die ich nicht genau<br />
erkennen kann. Das erste Wort fängt mit L an. Sieht aus wie ein<br />
Leichtermutterschiff.«<br />
»Haben Sie russische Truppen gesehen?«<br />
Edwards machte eine Pause, ehe er antwortete. »Nein, aber ich<br />
hörte die Funkmeldungen der Marineinfanterie. Die Marines wurden<br />
überrannt und haben sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich<br />
sehe Menschen am Hafen, kann Ihnen aber nicht sagen, wer sie<br />
sind.«<br />
»Gut, wir werden das überprüfen. Für den Augenblick schlagen<br />
wir vor, dass Sie sich ein schönes Plätzchen suchen und Funkstille<br />
wahren. Wenn wir Kontakt mit Ihnen aufnehmen wollen, senden<br />
wir alle geraden Stunden zur vollen Stunde. Wenn Sie uns sprechen<br />
wollen, sind wir dann empfangsbereit. Verstanden?«<br />
»Roger. Out.« Edwards schaltete ab. »Das kann doch nicht wahr<br />
sein.«<br />
»Kein Mensch weiß, was hier vorgeht, Lieutenant«, merkte<br />
Smith an. »Wie sollen die Bescheid wissen? Wir blicken ja selbst<br />
nicht durch.«<br />
»Kann man wohl sagen.« Edwards packte das Funkgerät weg.<br />
213
»Warum hören diese Idioten nicht auf mich? In zwei Stunden<br />
könnten ein paar Jagdbomber hier sein und dieses verdammte<br />
Schiff kurz und klein bomben. Mann, ist das ein Riesenkahn. Was<br />
bekommt ihr Marines in so ein Schiff an Gerät hinein?«<br />
»Eine ganze Menge«, antwortete Smith leise.<br />
»Glauben Sie, dass die Russen versuchen werden, noch mehr<br />
Truppen zu landen?«<br />
»Das müssen sie zwangsläufig tun. Den Angriff auf Keflavik<br />
führte höchstens ein Bataillon. Wer diese Rieseninsel halten will,<br />
braucht mehr Truppen.«<br />
Hafnarfjördur, Island<br />
Endlich konnte der General an die Arbeit gehen. Seine erste Tat war<br />
das Besteigen des Hubschraubers, der nun vom Kai aus operierte.<br />
Er ließ eine Schützenkompanie zur Sicherung des Hafens zurück,<br />
schickte eine zweite als Verstärkung zum Flughafen Reykjavik und<br />
stellte die letzte zum Ausladen der Divisionsausrüstung ab. Dann<br />
flog er nach Keflavik, um sich einen Überblick zu verschaffen.<br />
Es brannte noch <strong>im</strong>mer. Das Kerosinlager in der Nähe des Stützpunktes<br />
stand in Flammen, aber das fünf Kilometer entfernte<br />
Haupttanklager sah intakt aus und wurde inzwischen von einigen<br />
Männern mit einem Schützenpanzer bewacht. Auf einer der unbeschädigten<br />
Startbahnen traf er sich mit dem Kommandeur der<br />
Landungstruppen.<br />
»Der Luftstützpunkt Keflavik ist fest in unserer Hand!« erklärte<br />
der Mann.<br />
»Wie ist es gegangen?«<br />
»Ein harter Kampf. Die Amerikaner waren unkoordiniert, weil<br />
eine Rakete ihren Befehlsstand getroffen hatte, gaben aber nicht so<br />
leicht auf. Wir haben neunzehn Tote und dreiundvierzig Verwundete.<br />
Die meisten Marineinfanteristen sind gefallen, die Gefangenen<br />
werden <strong>im</strong> Augenblick noch gezählt.«<br />
»Wie viele Soldaten sind entkommen?«<br />
»Keiner, soviel ich weiß. Genau lässt sich das natürlich noch nicht<br />
sagen, aber viele kamen wohl in den Bränden um.« Der Oberst wies<br />
auf die ausgebrannten Gebäude des Stützpunkts. »Wie sieht es auf<br />
dem Schiff aus? Wie ich hörte, bekam es eine Rakete ab.«<br />
214
»Und es wurde obendrein von amerikanischen Jägern mit Bordwaffen<br />
beschossen. Jetzt liegt es am Kai; unsere Ausrüstung wird<br />
ausgeladen. Können wir diesen Flugplatz benutzen?«<br />
»Der Bericht darüber geht gerade ein.« Der Funker des Obersten<br />
reichte ihm sein Telefon. Der Oberst sprach eine Minute lang mit<br />
dem Chef eines fünfköpfigen Luftwaffenteams, das mit der zweiten<br />
Welle eingetroffen war, um den Stützpunkt zu inspizieren.<br />
»Genosse General, Radar- und Funksysteme des Stützpunktes<br />
sind zerstört. Die Startbahnen sind mit Trümmern bedeckt, ihre<br />
Räumung wird einige Stunden in Anspruch nehmen. Auch die<br />
Treibstoffhauptleitung ist an zwei Stellen unterbrochen. Fürs erste<br />
muss Treibstoff mit Tanklastern transportiert werden. Das Team<br />
empfiehlt, den Lufttransport über Reykjavik zu leiten. Haben wir<br />
diesen Flughafen schon genommen?«<br />
»Leider nicht, Genosse. Die Maschinen wurden von unseren<br />
Raketen schwer beschädigt, und jene, die nicht von selbst in Brand<br />
gerieten, zündete das Bodenpersonal an. Wie ich bereits sagte, man<br />
wehrte sich erbittert.«<br />
»Nun gut. Sobald ich die Dinge <strong>im</strong> Griff habe, schicke ich den Rest<br />
Ihrer beiden Bataillone zum Gerät. Das dritte brauche ich <strong>im</strong> Augenblick<br />
noch <strong>im</strong> Hafen. Ziehen Sie die Gefangenen zusammen und<br />
machen Sie sie für den Abtransport bereit. Sie sollen noch heute<br />
ausgeflogen werden. Und ich wünsche, dass sie korrekt behandelt<br />
werden.«<br />
»Jawohl, Genosse General. Und schicken Sie mir bitte Pioniere zur<br />
Reparatur der Treibstoffleitungen.«<br />
»Gut gemacht, Nikolai Gennadjewitsch!«<br />
Der General eilte zurück zu seinem Hubschrauber. Nur neunzehn<br />
Tote. Er hatte mit höheren Verlusten gerechnet. Die Zerstörung des<br />
Befehlsstands der Marines war ein Glückstreffer gewesen. Als sein<br />
Hip wieder am Kai landete, rollten die Fahrzeuge bereits an Land.<br />
Die Leichter des Frachters hatten breite Ladetüren, durch die die<br />
Fahrzeuge gesteuert werden konnten. Am Kai und auf den benachbarten<br />
freien Flächen begannen sich die Einheiten bereits zu formieren;<br />
wie der General feststellte, hatten seine Stabsoffiziere die Lage<br />
<strong>im</strong> Griff. Soweit war Operation Nordlicht ein voller Erfolg.<br />
Nach der Landung wurde der Hip vom Schiff aus betankt. Der<br />
General ging zu seinem Operationsoffizier.<br />
»Der Flughafen Reykjavik ist ebenfalls in unserer Hand, Genosse<br />
215
General", meldete der Mann. »Und dort steht uns ein komplettes<br />
Tanklager zur Verfügung. Sollen die Maschinen der Luftbrücke<br />
dort landen?«<br />
Darüber musste der General erst einmal nachdenken. Reykjavik<br />
war zwar nur ein kleiner Flughafen, aber er wollte nicht warten, bis<br />
die Verstärkung über den größeren Stützpunkt Keflavik eingeflogen<br />
werden konnte. »Ja. Senden Sie das Codewort ans Hauptquartier.<br />
Die Luftbrücke soll sofort eingerichtet werden.«<br />
Höhe 152, Island<br />
»Panzer!« Garcia hatte das Fernglas. »Ein ganzer Haufen mit roten<br />
Sternen drauf. Fahren auf Landstraße einundvierzig nach Westen.<br />
Das sollte unsere Freunde überzeugen, Sir.«<br />
Edwards griff nach dem Feldstecher. Er konnte Kettenfahrzeuge<br />
sehen, aber keine Sterne. »Was ist das für ein Typ? Wie richtige<br />
Panzer sehen die nicht aus.«<br />
»Das sind Schützenpanzer vom Typ BMO oder BMD. Bieten<br />
Platz für einen Zug Soldaten, Bewaffnung: 73-mm-Kanone. Eindeutig<br />
Russen, Lieutenant. Ich habe elf gezählt, dazu rund zwanzig<br />
Lkw mit Soldaten.«<br />
Edwards setzte wieder das Funkgerät zusammen. Garcia hatte<br />
recht: Diesmal hatte er volle Aufmerksamkeit am anderen Ende.<br />
»Gut, Edwards, wen haben Sie bei sich?«<br />
Edwards rasselte die Namen seiner Marines herunter. »Wir<br />
machten uns dünne, ehe die Russen in den Stützpunkt eindrangen.«<br />
»Wo befinden Sie sich jetzt?«<br />
»Auf der Höhe hundertzweiundfünfzig, vier Kilometer östlich<br />
von Hafnarfjördur. Wir können bis zum Hafen sehen. Russische<br />
Kettenfahrzeuge sind unterwegs nach Keflavik, und Lkws - Typ<br />
unbekannt - rollen auf Landstraße einundvierzig in Richtung<br />
Reykjavik. Jungs, schickt uns ein paar Aardvarks vorbei und bombardiert<br />
das Schiff, ehe es seine Ladung gelöscht hat.«<br />
»Die Aardvarks sind <strong>im</strong> Augenblick leider zu beschäftigt. Nur für<br />
den Fall, dass Ihnen noch keiner Bescheid gesagt hat: Vor zehn<br />
Stunden ist in Deutschland der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Wir<br />
wollen versuchen, Ihnen einen Aufklärer zu schicken, aber das<br />
kann eine Weile dauern. Vorerst sind Sie auf sich allein gestellt.«<br />
216
»Schöne Scheiße«, gab Edwards zurück und schaute seine Männer<br />
an.<br />
»Okay, Edwards, nutzen Sie Ihren Grips, vermeiden Sie Feindkontakte.<br />
Wenn ich die Lage richtig beurteile, sind Sie die einzigen<br />
Freundkräfte, die wir bei Keflavik haben. Wir wollen, dass Sie<br />
laufend Meldung machen. Beobachten Sie, gehen Sie sparsam mit<br />
den Batterien um. Immer mit der Ruhe, Jungs. Es kommt Hilfe,<br />
aber das kann noch ein Weilchen dauern. Gehen Sie wie besprochen<br />
alle zwei Stunden zur vollen Stunde auf Empfang. Geht Ihre Uhr<br />
genau?« Und in der Zwischenzeit, dachte der Fernmeldeoffizier,<br />
finden wir heraus, ob du auch wirklich Edwards bist und keine<br />
russische Pistole an der Schläfe hast.<br />
»Roger, sie ist auf Zulu-Zeit gestellt. Wir melden uns wieder.<br />
Out.«<br />
»Noch mehr Panzer!« rief Smith. »Mann, auf dem Kahn ist<br />
allerhand los!«<br />
Hafnarfjördur, Island<br />
Der General konnte kaum glauben, wie glatt alles ging. Als die<br />
Harpoon angeflogen kam, war er vom Scheitern seiner Mission<br />
überzeugt gewesen. Nun aber war ein Drittel seiner Fahrzeuge<br />
bereits vom Schiff gerollt und auf dem Weg zu den Einsatzgebieten.<br />
Nun sollte der Rest seiner Division eingeflogen werden. Dann<br />
folgten weitere Hubschrauber. Im Augenblick aber war er von<br />
hunderttausend nicht unbedingt freundlich gesinnten Isländern<br />
umgeben. Ein paar Unentwegte beobachteten ihn von der anderen<br />
Seite des Hafens aus; er hatte bereits einen Zug losgeschickt, um sie<br />
zu verscheuchen. Wie viele Isländer aber waren nun am Telefon?<br />
War die Satelliten-Bodenstation noch intakt? Riefen sie vielleicht in<br />
den Staaten an, um zu melden, was sich auf Island tut? Sorgen über<br />
Sorgen.<br />
»Genosse General, die Luftbrücke hat begonnen. Vor zehn Minuten<br />
hob die erste Maschine ab, eskortiert von Jägern. In vier<br />
Stunden sollten die Transporter landen«, meldete sein Fernmeldeoffizier.<br />
»Vier Stunden also.« Der General schaute zum blauen H<strong>im</strong>mel.<br />
Wie lange noch, bis die Amerikaner reagierten und eine Staffel<br />
217
Jagdbomber auf ihn los ließen? Er wies auf seinen Operations-<br />
Offizier.<br />
»Hier stehen zu viele Fahrzeuge am Kai herum. Sowie Sie genug<br />
Fahrzeuge für eine Kompanie zusammen haben, lassen Sie sie in<br />
ihre Einsatzgebiete fahren. Wie sieht's auf dem Flughafen Reykjavik<br />
aus?«<br />
»Dort ist eine Kompanie Infanterie in Stellung, eine weitere nur<br />
zwanzig Minuten entfernt. Kein Widerstand. Zivile Luftlotsen und<br />
Bodenpersonal stehen unter Bewachung. Eine Streife in Reykjavik<br />
meldet Ruhe auf den Straßen. Unsere Botschaft meldet, der isländische<br />
Rundfunk habe die Bevölkerung aufgefordert, in den Häusern<br />
zu bleiben. Dem Appell wird auch weitgehend Folge geleistet.«<br />
»Weisen Sie die Streife an, das Fernsprechamt zu besetzen, Rundfunk<br />
und Fernsehen sollen sie in Ruhe lassen, aber das Telefonsystem<br />
müssen wir unter Kontrolle bekommen.« Er drehte sich um<br />
und sah, wie ein Zug Fallschirmjäger mit Gewehr <strong>im</strong> Anschlag<br />
gegen eine Gruppe Schaulustiger vorging. Ein Mann lief wild gestikulierend<br />
auf die Soldaten zu und wurde niedergeschossen. Die<br />
Menge ergriff die Flucht.<br />
Der General fluchte laut. »Stellen Sie sofort fest, wer da geschossen<br />
hat!«<br />
USS Chicago<br />
McCafferty kehrte in die Angriffszentrale zurück. Die Dinge hatten<br />
begonnen, sich ungünstig zu entwickeln. Wer <strong>im</strong>mer die geniale<br />
Idee gehabt hatte, die amerikanischen U-Boote in der Hoffnung,<br />
einen »Zwischenfall« zu vermeiden, aus der Barentssee abzuziehen,<br />
hatte sie weit vom Schuss platziert. Und ausgerechnet zum Zeitpunkt<br />
des Kriegsausbruchs, murrte McCafferty, vergaß aber, dass ihm die<br />
Idee damals gar nicht so übel vorgekommen war.<br />
Hätten sie sich an den Plan gehalten, so hätte die sowjetische<br />
Marine bereits Verluste erlitten. Statt dessen aber war jemand<br />
wegen der neuen Positionierung der sowjetischen strategischen<br />
U-Boote in Panik geraten - mit dem Resultat, dass sie nichts erreicht<br />
hatten. Die sowjetischen Jagd-U-Boote waren aus dem Kola-Fjord<br />
gestürmt, aber nicht wie erwartet nach Süden ins Norwegische<br />
Meer gefahren. Sein Fernsonar meldete mögliche U-Boot-Geräu-<br />
218
sche weit <strong>im</strong> Norden, die sich nach Westen bewegten und dann<br />
verklangen. Aha, dachte er, schickte der Russe seine Boote durch<br />
die Straße von Dänemark? Die SOSUS-Barriere zwischen Island<br />
und Grönland konnte das zu einem kostspieligen Unternehmen<br />
machen.<br />
USS Chicago fuhr in 500 Fuß Tiefe knapp nördlich des 69.<br />
Breitengrades hundert Meilen westlich von Norwegens felsiger<br />
Küste. Zwischen ihm und dem Land operierten die norwegischen<br />
Dieselboote und schützten ihre Küste. Dafür hatte McCafferty<br />
Verständnis, aber es gefiel ihm trotzdem nicht.<br />
Bisher hatte nichts so richtig geklappt, und das machte McCafferty<br />
nervös. Er hatte ein besser ausgerüstetes Boot als der Gegner,<br />
doch wenn die Russen Glück hatten... Er sah seine Männer an.<br />
Wenn er Mist baute, mussten sie alle sterben. Und er auch - in dem<br />
Bewusstsein, sie <strong>im</strong> Stich gelassen zu haben.<br />
»Auf Sehrohrtiefe gehen«, befahl er. »Zeit, auf neue Befehle zu<br />
horchen und eine ESM-Rundumsuche vorzunehmen.«<br />
Keine einfache Prozedur. Das Boot tauchte vorsichtig auf, fuhr<br />
eine Kurve, um sein Sonar sicherstellen zu lassen, dass kein anderes<br />
Schiff in der Nähe war.<br />
»ESM-Antenne ausfahren.«<br />
»Zahlreiche elektronische Emissionen, Sir. Drei Suchgeräte auf<br />
dem J-Band, eine Menge anderes Zeug. Viel Geschnatter auf VHF<br />
und UHF. Bandgeräte laufen.«<br />
Macht Sinn, dachte McCafferty. Doch die Gefahr, dass hier<br />
jemand hinter ihnen her war, schien gering zu sein. »Sehrohr ausfahren.«<br />
Der Kommandant richtete den Ausblick des Periskops nach<br />
oben, um den H<strong>im</strong>mel nach Flugzeugen abzusuchen, und strich<br />
dann rasch den Horizont ab. Dann fiel ihm etwas Seltsames auf. Er<br />
musste den Ausblick nach unten richten.<br />
Keine zweihundert Meter entfernt stieg der grüne Rauch einer<br />
Markierungsboje auf. McCafferty fuhr zusammen und wirbelte das<br />
Instrument herum. Aus dem Dunst kam eine viermotorige Maschine<br />
direkt auf ihn zu.<br />
McCafferty hob die Hand, drehte am Sehrohrrad, fuhr das Instrument<br />
ein. »Alarmtauchen! Äußerste Kraft voraus! Gehen Sie<br />
auf achthundert Fuß!« Verflucht, wo war die Kiste so plötzlich<br />
hergekommen?<br />
219
Die Maschinen des Bootes explodierten gewissermaßen. Auf<br />
einen Schwall von Befehlen hin drückten die Rudergänger ihre<br />
Bedienungshebel bis zum Anschlag durch.<br />
»Torpedo <strong>im</strong> Wasser, Steuerbord!« schrie ein Sonarmann.<br />
McCafferty reagierte sofort. »Ruder hart Backbord!«<br />
»Hart Backbord liegt an!« Der Fahrtenzeiger stand auf zehn<br />
Knoten; die Geschwindigkeit nahm rasch zu. Sie hatten nun eine<br />
Tiefe von 100 Fuß erreicht und tauchten weiter.<br />
»Torpedo Richtung eins-sieben-fünf relativ. Eilt, hat uns aber<br />
noch nicht erfasst.«<br />
»Störer abfeuern.«<br />
Einundzwanzig Meter hinter der Zentrale wurde ein Zylinder<br />
ausgestoßen, der sofort alle möglichen Geräusche zu erzeugen begann,<br />
um den Torpedo anzulocken.<br />
»Störer frei!«<br />
»Ruder fünfzehn Grad Steuerbord.« McCafferty war nun ruhiger.<br />
Dieses Spiel kannte er. »Neuer Kurs eins-eins-null. Sonar, ich<br />
brauche die exakte Richtung des Torpedos.«<br />
»Aye. Torpedo Richtung zwei-null-sechs, kommt von Backbord<br />
nach Steuerbord.«<br />
Chicago hatte nun 200 Fuß erreicht und fuhr in einem Winkel<br />
von zwanzig Grad tiefer. Die Tiefenrudergänger und die meisten<br />
Techniker waren angeschnallt; Offiziere und andere, die sich in der<br />
Zentrale bewegen mussten, hielten sich an Relings und Stützen fest,<br />
um nicht hinzufallen.<br />
»Sonar an Zentrale. Der Torpedo scheint eine kreisförmige Bahn<br />
zu haben. Kommt jetzt von Steuerbord nach Backbord auf, eilt<br />
<strong>im</strong>mer noch, hat uns aber vermutlich nicht erfasst.«<br />
»Gut, melden Sie weiter.« McCafferty kletterte nach achtern<br />
zum Plott. »Sieht nach miesem Abwurf aus.«<br />
»Kann sein«, st<strong>im</strong>mte der Navigator zu. »Aber wie -«<br />
»Muss uns mit dem Magnetanomalie-Detektor geortet haben.<br />
Lief das Band? Ich sah ihn nicht lange genug, um ihn zu identifizieren.«<br />
Er schaute auf den Plott. Sie waren nun anderthalb Meilen<br />
von der Stelle, an der der Torpedo abgeworfen war, entfernt.<br />
»Sonar, was tut der Fisch?«<br />
»Richtung eins-neun-null, direkt achtern. Kreist noch <strong>im</strong>mer,<br />
scheint etwas tiefer zu gehen. Wahrscheinlich ist er vom Störer<br />
angelockt worden und versucht nun, ihn zu treffen.«<br />
220
»Zwei Drittel voraus.« Zeit, es langsamer angehen zu lassen,<br />
dachte McCafferty. Sie hatten sich vom ersten Bezugspunkt entfernt,<br />
und die Besatzung des Flugzeugs würde nun ein paar Minuten<br />
brauchen, um ihren Angriff zu evaluieren, ehe sie aufs neue zu<br />
suchen begann.<br />
»Aye, zwei Drittel voraus. Pendeln auf achthundert Fuß durch.«<br />
»Jetzt könnt ihr wieder schnaufen, Leute«, sagte McCafferty. Es<br />
klang aber nicht so gelassen, wie er es sich gewünscht hätte. Zum<br />
ersten Mal fielen ihm seine zitternden Hände auf. Wie bei einem<br />
Verkehrsunfall, dachte er. Das Zittern kriegt man erst, wenn die<br />
Gefahr vorbei ist.<br />
»Ruder fünfzehn Grad Backbord, Kurs zwei-acht-null.« Nur für<br />
den Fall, dass das Flugzeug noch einen Torpedo abwarf, war es<br />
sicherer, Schlangenlinien zu fahren. Doch die Gefahr sollte nun<br />
vorüber sein. Die ganze Episode hatte weniger als zehn Minuten<br />
gedauert.<br />
Der Kommandant ging ans vordere Schott, spulte das Videoband<br />
zurück und ließ es dann laufen. Erst sah man, wie das Sehrohr die<br />
Wasseroberfläche durchbrach, dann die kurze Rundumsuche,<br />
dann die Markierungsboje. Und dann tauchte das Flugzeug auf.<br />
McCafferty schaltete auf Standbild um.<br />
Die Maschine sah aus wie eine Lockheed P-3 Orion.<br />
»Das ist ja einer von uns!« stellte der Elektriker vom Dienst fest.<br />
McCafferty ging in den Sonarraum.<br />
»Torpedogeräusch klingt achtern ab, Sir. Jagt wahrscheinlich<br />
<strong>im</strong>mer noch dem Störer hinterher.«<br />
»Wie hört er sich an?«<br />
»Klingt ganz so wie unser Mark-46« - der Sonarmann schüttelte<br />
sich- »täuschend ähnlich!« Er ließ sein Tonband zurücklaufen und<br />
das schrille Geräusch des mit zwei Schrauben ausgerüsteten Torpedos<br />
über Lautsprecher wiedergeben. McCafferty nickte und<br />
wandte sich zurück zur Zentrale.<br />
»Okay, mag eine norwegische P-3 gewesen sein, vielleicht aber<br />
auch eine russische May. Die beiden Typen sehen sich sehr ähnlich<br />
und haben die gleiche Aufgabe. Gut gemacht, Leute. Wir verschwinden<br />
jetzt hier.« McCafferty gratulierte sich zu seiner Leistung.<br />
Er war gerade dem ersten Torpedo des Krieges ausgewichen<br />
- abgeworfen von einer Freund-Maschine.<br />
221
USS Pharris<br />
Der Konvoi lag noch <strong>im</strong>mer fünfundzwanzig Meilen hinter der<br />
Pharris, die als Radar-Vorposten fungierte. Ihre Aufgabe war,<br />
U-Boote, die sich an den Geleitzug heranschleichen wollten, zu<br />
orten und zu vernichten. Hierzu »spurtete« die Fregatte mit voller<br />
Fahrt voraus und ließ sich dann kurz treiben, um ihre Sonargeräte<br />
mit dem bestmöglichsten Wirkungsgrad arbeiten zu lassen. Hätte<br />
der Geleitzug mit zwanzig Knoten einen schnurgeraden Kurs eingehalten,<br />
wäre dies unmöglich gewesen. Die in drei Kolonnen formierten<br />
Frachter fuhren jedoch Zickzack, was allen Beteiligten die<br />
Arbeit erleichterte.<br />
Morris trank einen Schluck Coke.<br />
»Signal von der Talbot, Sir«, meldete der Wachoffizier.<br />
Morris erhob sich und ging mit seinem Fernglas hinaus zur<br />
Steuerbordnock. Er war stolz darauf, das Morsealphabet fast<br />
ebenso schnell lesen zu können wie seine Signalgasten.<br />
ISLAND VON SOWJETISCHEN VERBÄNDEN ANGEGRIFFEN UND<br />
NEUTRALISIERT X MIT NOCH ERNSTEREN LUFTANGRIFFEN UND<br />
U-ATTACKEN IST ZU RECHNEN X.<br />
»Sind ja tolle Nachrichten«, kommentierte der IO.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Wie haben die das nur fertig gebracht?« fragte Chip sich laut.<br />
»Kommt jetzt nicht mehr darauf an«, versetzte Toland. »Das<br />
Muss der Chef sofort erfahren.« Er telefonierte kurz und begab sich<br />
dann in die Domäne der Flaggoffiziere.<br />
Beinahe hätte er sich verlaufen. N<strong>im</strong>itz hatte über zweitausend<br />
Räume. Der Admiral bewohnte nur einen, und Toland hatte diesen<br />
nur einmal betreten. Vor der Tür fand er einen Wachposten der<br />
Marines vor. Der Kommandant des Flugzeugträgers, Svenson, war<br />
bereits anwesend.<br />
»Sir, es ging gerade eine Blitzmeldung ein. Die Sowjets haben<br />
Island angegriffen und neutralisiert, könnten auch Truppen gelandet<br />
haben.«<br />
»Verfügen sie dort auch über Flugzeuge?« fragte Svenson sofort.<br />
»Lässt sich nicht sagen. Man versucht, ein Aufklärungsflugzeug<br />
222
Hochzuschicken, wahrscheinlich ein britisches, aber mit eindeutigen<br />
Informationen ist erst in sechs Stunden zu rechnen. Der letzte<br />
Überflug eines Satelliten war vor zwei Stunden, und bis zum nächsten<br />
müssen wir neun Stunden warten.»<br />
»Gut, dann geben Sie mir die Informationen, die Sie haben«,<br />
befahl der Admiral.<br />
Toland ging die dürftigen Daten durch, die er aus Norfolk erhalten<br />
hatte. »Soweit wir es beurteilen können, handelte es sich um<br />
einen recht unkonventionellen Plan, der aber anscheinend Erfolg<br />
hatte.«<br />
»Es hat noch niemand behauptet, dass der Iwan auf den Kopf<br />
gefallen ist«, bemerkte Svenson säuerlich. «Unsere Befehle?«<br />
»Sind noch nicht eingegangen.«<br />
»Wie steht es mit der Truppenstärke auf Island?«<br />
»Darüber liegt noch nichts vor. Die Besatzung der P-3 beobachtete,<br />
wie Luftkissenfahrzeuge <strong>im</strong> Pendelverkehr achthundert Mann<br />
an Land brachten, mindestens ein Bataillon, wahrscheinlich eher<br />
ein Reg<strong>im</strong>ent.«<br />
»Damit wird ein MAU nicht fertig«, meinte Svenson. Eine amphibische<br />
Einheit der Marineinfanterie (Marine Amphibious Unit)<br />
bestand aus einem verstärkten Bataillon.<br />
»Trotz Unterstützung durch drei Träger?« schnaubte Admiral<br />
Baker, wurde dann aber nachdenklich. »Da mögen Sie recht haben.<br />
Wie wirkt sich die Besetzung Islands auf die Luftbedrohung gegen<br />
uns aus?«<br />
»Auf Island waren eine Staffel F-15 und zwei AWACS stationiert;<br />
ein guter Schutz für uns, der nun nicht mehr existiert. Die<br />
Fähigkeit dieser Flugzeuge, uns vor Luftangriffen zu warnen, Störangriffe<br />
zu fliegen und angreifende Verbände zu verfolgen, fehlt uns<br />
jetzt.« Das wollte Svenson gar nicht gefallen. »Wir sollten zwar in<br />
der Lage sein, selbst mit den Backfire fertig zu werden, aber Störangriffe<br />
der Eagles hätten uns diese Aufgabe erleichtert.«<br />
Baker trank einen Schluck Kaffee. »Unser Einsatzbefehl steht<br />
unverändert.«<br />
»Was geht sonst noch auf der Welt vor?« fragte Svenson.<br />
»Schwere Angriffe auf Norwegen, aber Einzelheiten liegen noch<br />
nicht vor. Das gleiche in Deutschland. Die Air Force soll den<br />
Sowjets schwere Verluste zugefügt haben, aber auch hier fehlen<br />
Details. Für eine stichhaltige Einschätzung der Lage ist es zu früh.«<br />
223
»Wenn der Iwan in der Lage war, Norwegen niederzuhalten und<br />
Island zu neutralisieren, hat sich die Luftbedrohung gegen diesen<br />
Kampfverband mindestens verdoppelt«, sagte Svenson. »Ich muss<br />
mit meinen Fliegern sprechen.«<br />
Der Kommandant ging. Admiral Baker schwieg mehrere Minuten<br />
lang. Toland, der noch nicht entlassen worden war, musste<br />
sitzen bleiben. »Keflavik ist also gerade angegriffen worden?«<br />
»Jawohl, Sir.«<br />
»Finden Sie heraus, was sich dort sonst noch tut, und melden Sie<br />
sich wieder bei mir.«<br />
»Jawohl, Sir.« Auf dem Rückweg in sein Nachrichtendienst-<br />
Kabäuschen sann Toland über das nach, was er seiner Frau versichert<br />
hatte: Flugzeugträger sind die am besten geschützten Schiffe<br />
der Marine. Doch nun war der Kommandant besorgt...<br />
Höhe 152, Island<br />
Die leicht zu verteidigende Stellung war ihnen schon fast ein He<strong>im</strong><br />
geworden. Niemand kam ungesehen an Höhe 152 heran, und wer<br />
das versuchte, musste erst ein Lavafeld überqueren und dann einen<br />
kahlen, steilen Hang erkl<strong>im</strong>men. Garcia hatte einen Kilometer<br />
weiter einen kleinen, mit Schmelzwasser gefüllten See gefunden.<br />
»Prächtiges Wasser zum Mixen«, hatte Sergeant Smith bemerkt,<br />
»wenn wir bloß den Bourbon dazu hätten -«<br />
Sie waren hungrig, hatten aber noch für vier Tage Verpflegung,<br />
die aus Delikatessen wie Schmalzfleisch und Bohnen aus der Dose<br />
bestand.<br />
»Weiß hier jemand, wie man ein Schaf brät?« fragte Rodgers, der<br />
einige Kilometer weiter südlich eine große Herde entdeckt hatte.<br />
»Womit denn?« fragte Edwards.<br />
»Hm.« Rodgers schaute in die Runde. Kein Holz zu sehen.<br />
»Warum stehen hier eigentlich keine Bäume?«<br />
»Die Winterstürme sind hier so stark, dass sie selbst einen Zweieinhalbtonner<br />
von der Straße blasen, hab ich selbst gesehen. Da hält<br />
sich kein Baum.«<br />
»Flugzeuge!« Garcia hatte das Fernglas, wies nach Norden. »In<br />
Mengen.«<br />
Edwards nahm den Feldstecher. Er sah Punkte, die rasch Form<br />
224
annahmen. »Sechs große, sehen aus wie die C-141... müßten<br />
demnach IL-76 sein. Vielleicht sind auch ein paar Jäger dabei.<br />
Sergeant, die müssen wir zählen.«<br />
Die Operation dauerte vier Stunden. Zuerst landeten die Jäger,<br />
tankten auf und rollten dann zu einer der kürzesten Startbahnen.<br />
Dann landeten die Maschinen <strong>im</strong> Abstand von drei Minuten, und<br />
Edwards war wider Willen beeindruckt. Die IL-76, Nato-Code<br />
»Candid«, war wie ihr amerikanisches Pendant eine grobschlächtige,<br />
häßliche Maschine. Die Piloten landeten, hielten an und steuerten<br />
auf die Rollbahn, als hätten sie das schon seit Monaten geübt.<br />
Am Terminal des Flughafens wurden sie entladen, rollten dann<br />
weiter, um Treibstoff aufzunehmen, und starteten wieder, fein<br />
säuberlich <strong>im</strong> Zeittakt mit den landenden Transportern. Als Edwards<br />
fünfzig Flugzeuge gezählt hatte, baute er sein Funkgerät auf.<br />
»Hier Edwards, Höhe 152. Hören Sie mich? Over.«<br />
»Roger«, kam sofort die Antwort. »Ihr Codename ist ab sofort<br />
Beagle. Wir sind Doghouse. Erstatten Sie Bericht.«<br />
»Roger, Doghouse. Wir beobachten eine sowjetische Luftbrücke<br />
und haben bisher fünfzig Transportflugzeuge gezählt, Typ India-<br />
L<strong>im</strong>a-72. Sie landen in Reykjavik, werden entladen, starten und<br />
fliegen nach Nordosten ab.«<br />
»Beagle, sind Sie ganz sicher?«<br />
»Ganz sicher, Doghouse. Nach dem Start fliegen sie direkt über<br />
uns weg, und wir haben schriftliche Unterlagen. Im Ernst, fünfzig<br />
Maschinen« - Smith hob den Block -, »Korrektur, dreiundfünfzig,<br />
und das Unternehmen läuft weiter. Außerdem stehen am Ende von<br />
Startbahn vier sechs Einsitzer. Ich kann zwar nicht ausmachen, um<br />
welchen Typ es sich handelt, aber sie sehen eindeutig wie Jäger aus.<br />
Verstanden, Doghouse?«<br />
»Dreiundfünfzig Transportflugzeuge und sechs unidentifizierte<br />
Einsitzer, möglicherweise Jäger. Okay, Beagle, diese Information<br />
muss ganz rasch nach oben. Bleiben Sie, wo Sie sind.«<br />
»Verstanden, Doghouse. Wir bleiben an Ort und Stelle. Out.« Er<br />
nahm den Kopfhörer ab. »Sind wir hier einigermaßen sicher, Sergeant?«<br />
»Klar, Lieutenant«, erwiderte Smith. »So sicher hab ich mich seit<br />
Beirut nicht mehr gefühlt.«<br />
225
Hafnarfjördur, Island<br />
»Eine prächtige Operation, Genosse General.« Der Botschafter<br />
strahlte.<br />
»Ihre Unterstützung war sehr wertvoll«, log der General.<br />
Das Personal der sowjetischen Botschaft in Reykjavik hatte vorwiegend<br />
Gehe<strong>im</strong>dienstfunktion und sofort mit der Verhaftung von<br />
isländischen Politikern begonnen, anstatt etwas Nützliches wie die<br />
Besetzung des Fernmeldeamtes zu unternehmen. Unumgänglich,<br />
fand der General, aber die Methoden der KGB-Teams mißfielen<br />
ihm: Ein Mitglied des isländischen Parlaments Althing war bei der<br />
Festnahme getötet worden, zwei andere hatten Schußwunden erlitten.<br />
Wir gehen besser behutsam mit den Einhe<strong>im</strong>ischen um, dachte<br />
der General, schließlich sind wir nicht in Afghanistan. Die Isländer<br />
hatten keine Kriegertradition und mochten sich kooperativer zeigen,<br />
wenn man sie nicht zu hart anpackte. Für diesen Aspekt der<br />
Operation war aber das KGB zuständig; ein entsprechendes Team<br />
war schon vor der Landung in der Botschaft plaziert worden. »Mit<br />
Ihrer Erlaubnis werde ich mich nun verabschieden.«<br />
Der General erklomm die Jakobsleiter zur Julius Fucik. Be<strong>im</strong><br />
Entladen der Luftabwehrraketen war man auf Probleme gestoßen,<br />
denn die Leichter, die dieses Gerät enthielten, waren von dem<br />
Raketentreffer beschädigt worden.<br />
»Schlechte Nachrichten, Genosse General«, meldete der Kommandeur<br />
der SAM-Einheit. »Wir haben gerade drei funktionsfähige<br />
Raketen.«<br />
»Nur drei?«<br />
»Beide Leichter wurden aufgerissen, als die amerikanische Rakete<br />
uns traf. Einige Flugkörper werden be<strong>im</strong> Aufprall beschädigt,<br />
der Rest vom Löschwasser.«<br />
»Das sind doch transportable Raketen«, wandte der General ein.<br />
»Die Entwicklungsingenieure müssen doch vorausgesehen haben,<br />
dass sie auch mal Wasser abbekommen.«<br />
»Aber kein Salzwasser, Genosse. Es handelt sich hier um die<br />
Heeresversion der Rakete, nicht die gegen Salzwasserkorrosion<br />
geschützte der Marine. Freiliegende Lenkdrähte und die Radarsuchköpfe<br />
wurden schwer beschädigt. Meine Elektriker haben alle<br />
Raketen durchgetestet und nur drei für voll einsatzfähig erklärt.<br />
Der Rest ist ruiniert. Wir müssen Ersatz einfliegen lassen.«<br />
226
Der General musste sich beherrschen. Eine Kleinigkeit, an die<br />
niemand gedacht hatte: Auf Schiffen werden Brände mit Seewasser<br />
bekämpft. Es hätte die Marineversion der Raketen angefordert<br />
werden sollen. Der Teufel steckt eben <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Detail.<br />
»Sonst alles in Ordnung, Oberst?«<br />
»Jawohl, Genosse General. Die Fahrzeuge meines Bataillons sind<br />
bereits zu ihren Stellungen unterwegs und einsatzbereit, sobald die<br />
neuen Raketen eintreffen.«<br />
»Vorzüglich, Genosse Oberst.« Der General kletterte zurück auf<br />
die Brücke und ging seinen Fernmeldeoffizier suchen. Zwei Stunden<br />
später hob bei Murmansk eine mit vierzig SA-11 Boden-Luft-<br />
Raketen beladene Maschine ab und nahm Kurs auf Island.<br />
227
USS N<strong>im</strong>itz<br />
20<br />
Tanz der Vampire<br />
Toland hatte während der vergangenen zwölf Stunden alle Hände<br />
voll zu tun gehabt. Die Daten über Island gingen nur langsam ein<br />
und reichten auch jetzt noch nicht für ein klares Bild. Nach Stunden<br />
der Unschlüssigkeit war der Einsatzbefehl für den Verband verändert<br />
worden. Der Auftrag, Island zu verstärken, hatte sich von<br />
selbst erledigt. Jemand war zu dem Entschluß gelangt, dass sich die<br />
Marines in Deutschland nützlich machen konnten, wenn in Island<br />
schon nichts mehr auszurichten war. Toland hatte damit gerechnet,<br />
dass sie nach Norwegen umgeleitet werden würden, wo bereits eine<br />
amphibische Brigade der Marineinfanterie in Stellung war, doch<br />
der Weg dorthin konnte tückisch sein. Über Nordnorwegen tobte<br />
seit zwanzig Stunden eine heftige Luftschlacht, bei der beide Seiten<br />
Verluste erlitten hatten. Die Norweger waren mit nur knapp hundert<br />
modernen Kampfflugzeugen in den Krieg eingetreten und<br />
schrien um Hilfe, aber bislang stand noch keine zur Verfügung.<br />
»Die Norweger werden glatt aufgerieben«, merkte Toland an,<br />
»und nach Süden gedrängt. Die Russen konzentrieren ihre Angriffe<br />
auf die Stützpunkte <strong>im</strong> Norden und lassen den Norwegern keine<br />
Atempause.«<br />
Chip nickte. »Paßt. Da bekommen ihre Backfire-Bomber freien<br />
Anflug auf uns. Zeit fürs Briefing.«<br />
Toland packte seine Notizen ein und begab sich wieder in die<br />
Domäne der Flaggoffiziere.<br />
»Gut, Commander«, sagte Admiral Baker, »beginnen Sie mit den<br />
Nebenschauplätzen.«<br />
»Im Pazifik scheint sich bislang nicht viel zu tun. Offenbar üben<br />
die Sowjets heftigen Druck auf Japan aus. Dieselbe Geschichte, die<br />
sie der ganzen Welt erzählt haben - das Ganze sei nur eine Verschwörung<br />
der Deutschen.«<br />
»Quatsch«, warf Baker ein.<br />
228
»Sicher, Admiral, aber die Legende klingt so plausibel, dass Griechenland<br />
sich weigert, seinen Bündnisverpflichtungen nachzukommen,<br />
und viele Länder der Dritten Welt kaufen sie den Sowjets voll<br />
ab. Wie auch <strong>im</strong>mer, die Russen deuten an, sie wollten Japan die<br />
Sachalin-Inseln zurückgeben, wenn es mitspielt - oder heftig zuschlagen,<br />
wenn es nicht mitmacht. Endresultat: Japan läßt nicht zu,<br />
dass Stützpunkte auf seinem Territorium für Angriffe gegen die<br />
Sowjetunion benutzt werden. Und was wir in Korea stehen haben,<br />
wird dort gebraucht. Unser einziger Trägerverband <strong>im</strong> Pazifik ist<br />
um die Midway gruppiert. Er ist weit auf See und nicht stark genug,<br />
gegen die Halbinsel Kamtschatka vorzugehen. Luftaktivität <strong>im</strong><br />
südchinesischen Meer westlich der Philippinen, aber bisher noch in<br />
kleinem Maßstab. Offenbar keine sowjetischen Schiffe <strong>im</strong> Marinestützpunkt<br />
Cam Ranh in Vietnam. Im Stillen Ozean ist es also still.<br />
Wie lange, wird sich erweisen.<br />
Im Indischen Ozean wurde Diego Garcia mit Raketen angegriffen,<br />
vermutlich von einem U-Boot. Schäden gering - so gut wie<br />
alles, was dort lag, stach vor fünf Tagen in See.<br />
Keinerlei Aktivitäten an der Südflanke der Nato. Die Türken<br />
werden sich hüten, Rußland auf eigene Faust anzugreifen, und<br />
Griechenland hält sich aus dem »Deutsch-Russischen Disputs wie<br />
man in Athen sagt, heraus. Der Russe hat also an seiner Südflanke<br />
Ruhe. Bisher kämpften die Russen nur in Westeuropa und greifen<br />
anderswo nur best<strong>im</strong>mte amerikanische Einrichtungen an. Der<br />
ganzen Welt versuchen sie weiszumachen, dass sie eigentlich überhaupt<br />
nicht gegen uns kämpfen wollen, und haben amerikanischen<br />
Touristen und Geschäftsleuten in der Sowjetunion Sicherheit garantiert.<br />
In Europa begannen die Operationen mit Attacken von<br />
zwanzig bis dreißig Speznas-Teams in ganz Westdeutschland, die<br />
zum größten Teil vereitelt wurden. Erfolge gab es nur in Hamburg,<br />
wo zwei versenkte Frachter die Hauptfahrrinne und damit den<br />
Hafen blockieren, und in Bremen, wo ein Team die Fahrrinne<br />
teilweise unpassierbar machte und am Container-Terminal drei<br />
Schiffe in Brand setzte. Andere Angriffe galten Kernwaffenlagern,<br />
Fernmeldeeinrichtungen und Tanklagern. Unsere Männer waren<br />
vorbereitet. Wir mussten zwar Verluste hinnehmen, aber die Speznas-Truppen<br />
wurden in den meisten Fällen aufgerieben.<br />
Die sowjetische Armee griff gestern vor Tagesanbruch an. Positiv<br />
ist, dass unsere Air Force ein tolles Ding drehte. Der neue Stealth<br />
229
Jagdbomber, von dem man bisher nur gerüchteweise hörte, ist in<br />
Staffelstärke <strong>im</strong> Einsatz und hat dafür gesorgt, dass hinter den<br />
russischen Linien die Hölle los war. Die Air Force behauptet, so<br />
etwas wie Luftüberlegenheit zu haben, was bedeutet, dass der Iwan<br />
einen schweren Rückschlag erlitten hat. Wie auch <strong>im</strong>mer, dem<br />
ersten russischen Angriff fehlte die erwartete Wucht. Die russischen<br />
Verbände dringen vor, hatten aber bis Mitternacht nur fünfzehn<br />
Kilometer zurückgelegt und wurden an zwei Stellen glatt<br />
gestoppt. Noch keine Meldungen über den Einsatz von A- oder C-<br />
Waffen. Meldungen zufolge gab es auf beiden Seiten schwere Verluste,<br />
besonders in Norddeutschland, wo die Sowjets am weitesten<br />
vordrangen. Hamburg ist bedroht. Der Nord-Ostsee-Kanal wurde<br />
von Luftlandetruppen angegriffen und ist streckenweise in russischer<br />
Hand. Auch in der Ostsee viel Aktivität. Die Dänen und die<br />
Bundesmarine behaupten, mit ihren Schnellbooten einen Angriff<br />
von Verbänden der Sowjetunion und der DDR praktisch abgeschlagen<br />
zu haben, doch auch hier herrscht ziemliche Konfusion.«<br />
Toland fuhr mit der Beschreibung der Lage in Norwegen fort.<br />
»Eine direkte Bedrohung stellen U-Boote und Flugzeuge dar. Unter<br />
Wasser war der Iwan ziemlich geschäftig. Meldungen zufolge<br />
sind zweiundzwanzig Frachter versenkt worden. Der schwerste<br />
Fall war die Ocean Star, ein Passagierschiff unter panamesischer<br />
Flagge, das auf dem Rückweg von einer Mittelmeerkreuzfahrt<br />
achthundert Meilen nordwestlich von Gibraltar von einer Rakete<br />
getroffen wurde. Typ unbekannt, kam aber wahrscheinlich von<br />
einem U-Boot der Juliet-Klasse. Sie geriet in Brand, viele Tote und<br />
Verletzte. Zwei spanische Fregatten sind auf der Suche nach Überlebenden.<br />
In der Nähe unseres Kurses werden drei U-Boote gemeldet; ein<br />
Echo, ein Tango, ein Foxtrott. Mit Island ging auch die SOSUS-<br />
Barriere zwischen Grönland, Island und Großbritannien verloren,<br />
was dem Iwan die Zufahrt zum Nordatlantik erleichtert. SA<br />
CLANT hat U-Boote losgeschickt, um die Lücken zu schließen. Sie<br />
werden sich aber sputen müssen: Zahlreiche sowjetische U-Boote<br />
halten auf die Straße von Dänemark zu.«<br />
»Wie viele U-Boote haben wir versenkt?« fragte Svenson.<br />
»Laut Lajes und Brunswick vier. Die P-3 legten gleich kräftig<br />
los. Bedauerlicherweise wird eine Orion vermißt, und eine andere<br />
wurde von einer U-Boot-gestützten Rakete abgeschossen. Die<br />
230
Hauptbedrohung stellen <strong>im</strong> Augenblick aber Flugzeuge, nicht<br />
U-Boote dar. Morgen könnte das allerdings anders aussehen.»<br />
»Nehmen wir die Tage so, wie sie kommen. Äußern Sie sich zu<br />
Island«, befahl Baker.<br />
»Die Meldungen von gestern waren korrekt. Offenbar wurde<br />
eine Einheit in Reg<strong>im</strong>entstärke von See her gelandet, und der Rest<br />
der Division traf über eine Luftbrücke ein, die um 14 Uhr begann.<br />
Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen alle Truppen an Ort<br />
und Stelle sind.«<br />
»Jäger?« fragte Svenson.<br />
»Keine Meldungen, aber möglich. Island hat vier brauchbare<br />
Flugplätze --<br />
»Falsch, Toland, es sind nur drei«, fuhr Baker barsch dazwischen.<br />
»Mit Verlaub, Sir, es sind vier. Der große Stützpunkt Keflavik<br />
hat fünf Startbahnen, zwei davon über dreitausend Meter lang.<br />
Gebaut wurde die Anlage für unsere Langstreckenbomber B-52.<br />
Der Iwan bekam sie praktisch intakt in die Hand, weil er bei seinem<br />
Angriff die Beschädigung der Startbahn bewußt vermied. Zweitens<br />
gibt es auf Island den Zivilflughafen Reykjavik, längste Startbahn<br />
zweitausend Meter, also für Jäger mehr als ausreichend. Da er von<br />
der Stadt umgeben ist, würde ein Luftangriff Opfer unter der Zivilbevölkerung<br />
bedeuten. Im Norden der Insel befindet sich der befestigte<br />
Landestreifen Akureyri. Be<strong>im</strong> vierten, Admiral, handelt es<br />
sich um den alten Flugplatz Keflavik, drei Meilen südöstlich des<br />
Nato-Stützpunkts, auf der Karte als >außer Betrieb< ausgewiesen.<br />
Von einem Bekannten, der zwei Jahre auf Island diente, hörte ich<br />
aber, dass von dort aus Maschinen wie unsere Transporter C-130<br />
und vielleicht Jäger operieren könnten. Und schließlich verfügt jede<br />
Stadt auf dieser Insel über einen gekiesten Landestreifen für Inlandflüge.<br />
Die MiG-23 und andere russische Kampfflugzeuge, die auch<br />
auf unbefestigten Bahnen landen können, sollten diese benutzen<br />
können.«<br />
»Sie haben aber wirklich nichts als Hiobsbotschaften«, bemerkte<br />
der Befehlshaber der Flieger auf der N<strong>im</strong>itz, CAG genannt. »Wie<br />
sieht es auf dem Stützpunkt mit Treibstoff aus?«<br />
»Das Lager direkt auf dem Stützpunkt wurde zerstört, doch das<br />
Hauptlager blieb so wie der neue Terminal bei Hakotstanger unbeschädigt.<br />
Wir haben den Russen Kerosin für Monate dagelassen.«<br />
231
»Und wie verläßlich sind diese Informationen?» wollte Baker<br />
wissen.<br />
»Es liegt ein Augenzeugenbericht von der Besatzung einer P-3<br />
vor, die sofort nach dem Angriff den Schaden begutachtete. Die<br />
Royal Air Force sandte zwei Aufklärungsflugzeuge. Das erste<br />
machte gute Aufnahmen von Keflavik und Umgebung, das zweite<br />
kehrte nicht zurück.«<br />
Toland nickte. »Die Fotos zeigen Fahrzeuge, die auf die Anwesenheit<br />
einer verstärkten sowjetischen Luftlande-Schützendivision<br />
hinweisen. Der isländische Rundfunk und das Fernsehen senden<br />
nicht mehr. Die Briten melden Kontakte mit Funkamateuren an der<br />
isländischen Küste, aber aus dem Südwesten der Insel kommen<br />
überhaupt keine Nachrichten. Dort lebt der Großteil der Bevölkerung,<br />
und das Gebiet scheint völlig unter sowjetischer Kontrolle zu<br />
sein.«<br />
»Kurz gesagt: Wir haben von den Norwegern keine Luftwarnungen<br />
mehr zu erwarten und auch unseren Vorposten Island verloren.<br />
Gibt es überhaupt etwas Positives?« fragte Svenson.<br />
»Offenbar ja. Wie ich höre, könnte uns eine Einrichtung, die den<br />
Codenamen >Realt<strong>im</strong>e< trägt, möglicherweise vor Luftangriffen<br />
warnen. Wenn starke sowjetische Verbände von Kola starten, sollten<br />
wir das eigentlich erfahren.«<br />
»Und was ist Realt<strong>im</strong>e?« fragte der CAG.<br />
»Das hat man mir nicht verraten.«<br />
»Wahrscheinlich ein U-Boot.« Baker lächelte dünn. »Möge Gott<br />
ihm beistehen, wenn es sendet. Tja, gestern hat der Iwan seine<br />
Bomber auf Island losgelassen. Hat sich jemand gefragt, auf wen er<br />
es heute abgesehen hat?«<br />
»Meiner Einschätzung nach auf uns«, sagte Toland.<br />
»Die Meinung des Fachmanns hört man <strong>im</strong>mer gern«, merkte<br />
der CAG beißend an. »Wir sollten auf Nordkurs gehen und den<br />
Russen eins auf den Deckel geben, aber erst müssen wir mit den<br />
Backfire fertigwerden. Wie stark ist die Bedrohung?«<br />
»Ich gehe davon aus, dass Unterstützung durch Einheiten der<br />
Luftwaffe unterbleibt. Die sowjetischen Marineflieger allein verfügen<br />
über sechs Bomberreg<strong>im</strong>enter, drei mit Backfire, drei mit Badger<br />
ausgerüstet. Ein Reg<strong>im</strong>ent Badger mit Radar-Störanlagen. Ein<br />
Reg<strong>im</strong>ent Aufklärungsflugzeuge vom Typ Bear. Hinzu kommen<br />
Tanker. Ein Reg<strong>im</strong>ent hat siebenundzwanzig Maschinen. Zusam<br />
232
men ergibt das einhundertsechzig Bomber, die ja zwei oder drei<br />
Luft-Boden-Raketen tragen können.«<br />
»Den Badger wird der Weg hierher und zurück, gut viertausend<br />
Meilen, schwerfallen, selbst wenn sie über Norwegen fliegen. Das<br />
sind müde alte Mühlen«, meinte der CAG. »Wie steht es mit den<br />
russischen Satelliten?«<br />
Toland schaute auf die Armbanduhr. »In zweiundfünfzig Minuten<br />
werden wir von einem RORSAT überflogen. Von dem wurden<br />
wir auch vor zwölf Stunden beobachtet.«<br />
»Hoffentlich bekommt die Air Force ihre ASAT bald auf die<br />
Reihe«, sagte Svenson leise. »Wenn die Russen ihre Daten in Echtzeit<br />
über Satellit bekommen, brauchen wir diese verdammten Bears<br />
überhaupt nicht, sondern können unseren Kurs auch so berechnen.<br />
Und die Flugzeit bis hierher beträgt nur vier Stunden.«<br />
»Wie wäre es mit einer Kursänderung während des Satellitendurchlaufs?«<br />
fragte der CAG.<br />
»Hat nicht viel Sinn«, erwiderte Baker. »Wir sind seit zehn<br />
Stunden auf Ostkurs. Das kann ihnen nicht entgangen sein. Mehr<br />
als zwanzig Knoten schaffen wir nicht, was eine Abweichung von<br />
rund achtzig Meilen bedeutet. Wie schnell legt man die in der Luft<br />
zurück - ?«<br />
Höhe 152, Island<br />
Es war Edwards ein kleiner Trost, dass er das Eintreffen der Kaltfront<br />
korrekt vorhergesagt hatte. Dem kalten, stetigen Regen, der<br />
pünktlich um Mitternacht zu fallen begonnen hatte, waren vereinzelte<br />
Schauer gefolgt. Die graue Wolkendecke wurde von einem<br />
Dreißig-Knoten-Wind auf das gebirgige Landesinnere zugetrieben.<br />
»Wo sind die Jäger?« fragte Edwards. Er suchte Reykjavik Airport<br />
mit dem Fernglas ab, konnte aber die am Vorabend gemeldeten<br />
Kampfflugzeuge nicht entdecken. Auch die Transportflugzeuge<br />
waren alle verschwunden. Er sah einen sowjetischen Hubschrauber<br />
und ein paar Panzer. Auf den Straßen, die er überblicken konnte,<br />
herrschte wenig Verkehr. »Hat jemand die Transporter abfliegen<br />
gesehen?«<br />
»Nein, Sir. Bei dem Wetter letzte Nacht hätte die gesamte russische<br />
Luftwaffe ungesehen an- und wieder abfliegen können.« Auch<br />
233
Sergeant Smith ärgerte sich über das Wetter. «Vielleicht stehen die<br />
Maschinen aber auch in den Hangars.«<br />
Vergangene Nacht um 23 Uhr hatten sie einen Lichtstreifen<br />
wahrgenommen, als wäre eine Rakete abgeschossen worden, doch<br />
das Ziel war hinter Regenschleiern verborgen geblieben. Edwards,<br />
der glaubte, es hätte sich auch um einen Blitz handeln können, hatte<br />
die Beobachtung nicht gemeldet.<br />
»Was ist denn das? Best<strong>im</strong>mt kein Panzer. Garcia, schauen Sie<br />
mal hin - fünfhundert Meter westlich vom Terminal.« Der Lieutenant<br />
reichte Garcia das Fernglas.<br />
»Hm, ein Kettenfahrzeug. Hat so etwas wie ein Geschützrohr <br />
nein, das sieht eher nach Raketen aus.«<br />
»Flugabwehrraketen«, kommentierte Smith. »Wetten, dass der<br />
Lichtblitz gestern abend ein Abschuß war?«<br />
»Zeit, dass der E. T. wieder mal anruft.« Edwards baute sein<br />
Funkgerät auf.<br />
»Wie viele Abschußfahrzeuge welchen Typs?« fragte Doghouse.<br />
»Wir sehen nur eins, das vermutlich drei Raketen trägt. Möglicherweise<br />
wurde gestern um 23 Uhr Ortszeit eine abgeschossen.«<br />
»Warum haben Sie das nicht gemeldet?«<br />
»Weil ich nicht wusste, was es war!« Edwards schrie fast. »Verdammt<br />
noch mal, wir melden sonst alles, was wir sehen, aber Sie<br />
glauben uns ohnehin nur die Hälfte!«<br />
»Immer mit der Ruhe, Beagle. Wir glauben Ihnen. Hat sich sonst<br />
noch etwas getan?«<br />
»Im Augenblick kaum Aktivitäten, Doghouse.«<br />
»Verstanden. So, Edwards, bitte antworten Sie nun ganz schnell:<br />
Wie lautet der zweite Vorname Ihres Vaters?«<br />
»Er hat keinen«, gab Edwards zurück. »Was soll -«<br />
»Wie heißt sein Boot?«<br />
»Annie Jay. Verdammt noch mal, was soll das?«<br />
»Was ist mit Ihrer Freundin Sandy passiert?«<br />
Das war ein Dolch <strong>im</strong> Gedärm. »Sie können mich mal!«<br />
»Verstanden«, erwiderte die St<strong>im</strong>me. »Bedaure, Lieutenant, aber<br />
diese Prüfung mussten Sie bestehen. Es liegen keine weiteren Befehle<br />
für Sie vor. Um ganz ehrlich zu sein, hier hat noch niemand entschieden,<br />
was wir mit Ihnen anfangen sollen. Bewahren Sie Ruhe,<br />
meiden Sie Kontakt. Sendeplan unverändert. Wenn man Sie ortet<br />
und zwingt, Funkspiele zu treiben, beginnen Sie jeden Ruf mit<br />
234
unserer Kennung und sagen, es sei alles in bester Ordnung. Verstanden?<br />
Alles in bester Ordnung.«<br />
»Roger. Wenn ich das sage, wissen Sie, dass etwas nicht st<strong>im</strong>mt.<br />
Out.«<br />
Keflavik, Island<br />
Der Major der Luftwaffe stand auf dem zertrümmerten Tower und<br />
war zufrieden, obwohl er seit dreißig Stunden nicht mehr geschlafen<br />
hatte. Keflavik war von den Fallschirmjägern so gut wie intakt<br />
erobert worden. Entscheidend war, dass die Amerikaner alle Gerätschaften<br />
zur Wartung und Instandsetzung in über den Stützpunkt<br />
verteilten Schutzräumen gelagert hatten, und diese waren bei dem<br />
Angriff allesamt unversehrt geblieben. Im Augenblick schoben<br />
sechs Räumfahrzeuge die letzten Trümmer von Startbahn 9. Acht<br />
Tanklastwagen standen gefüllt am Flugplatz, und die Reparatur<br />
der Pipeline sollte bis zum Abend abgeschlossen sein. Dann war<br />
Keflavik ein voll einsatzbereiter sowjetischer Luftstützpunkt.<br />
»Wann treffen unsere Kampfflugzeuge ein?«<br />
»In dreißig Minuten, Genosse Major.«<br />
»Lassen Sie das Radar in Betrieb nehmen.«<br />
Ein Leichter auf der Fucik hatte fast alles Gerät für einen vorgeschobenen<br />
Luftstützpunkt enthalten. Westlich der Kreuzung der<br />
Hauptstartbahnen operierte auf einem Lkw ein Fernradar, und von<br />
einem daneben stehenden Kastenwagen aus konnten Controller<br />
elektronische Gegenmaßnahmen gegen anfliegende Ziele ergreifen.<br />
Auf dem Stützpunkt standen drei geschlossene Lkws mit Ersatzteilen<br />
und Luftkampfraketen, am Vortag waren dreihundert Mann<br />
Wartungspersonal eingeflogen worden. Eine komplette Batterie<br />
SAM-11-Raketen schützte die Start- und Landebahnen, ergänzt<br />
durch acht Flakpanzer und einen Zug Soldaten mit tragbaren SAM<br />
7 gegen tief anfliegende Angreifer. Der Ersatz für die salzwassergeschädigten<br />
Flugkörper war vor wenigen Stunden eingetroffen. Jeder<br />
Nato-Maschine, die über Island auftauchte, stand eine unangenehme<br />
Überraschung bevor, wie in der vergangenen Nacht der Pilot<br />
eines Jaguars der RAF hatte feststellen müssen: Er war vom H<strong>im</strong>mel<br />
geholt worden, ehe er reagieren konnte.<br />
»Startbahn Neun ist klar«, meldete der Funker.<br />
235
»Gut. Jetzt kommt Achtzehn an die Reihe. Bis heute nachmittag<br />
muss jede Bahn einsatzfähig sein.«<br />
Höhe 152, Island<br />
»Was ist das?« Zur Abwechslung war es Edwards, der das Objekt<br />
als erster entdeckte. Die breiten, silbernen Tragflächen eines Badger-Bombers<br />
tauchten zwischen tiefziehenden Wolkenfetzen auf<br />
und verschwanden wieder. Dann kam ein kleineres Flugzeug in<br />
Sicht und wurde wieder von den Wolken verschluckt.<br />
»War das ein Kampfflugzeug?«<br />
»Ich habe nichts gesehen, Sir.« Garcia hatte in die falsche Richtung<br />
geschaut. Über ihnen erklang das typische Geräusch eines mit<br />
geringer Leistung laufenden Turbojets.<br />
Edwards bediente sein Funkgerät inzwischen wie <strong>im</strong> Schlaf.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Es sieht mies aus. Verstanden?«<br />
»Roger, Beagle. Was haben Sie zu melden?«<br />
»Überflüge in Richtung Westen, wahrscheinlich nach Keflavik.<br />
Warten Sie.«<br />
»Ich kann sie hören, aber nicht sehen.« Garcia reichte ihm das<br />
Fernglas.<br />
»Ich sah eine zwe<strong>im</strong>otorige Maschine, wahrscheinlich ein Bomber,<br />
und eine kleinere Maschine, die einem Kampfflugzeug ähnelte.<br />
Triebwerkgeräusche über der Wolkendecke. Keine weiteren Beobachtungen.«<br />
»In Richtung Keflavik, sagten Sie?«<br />
»Richtig. Der Bomber war auf Westkurs und <strong>im</strong> Landeanflug.«<br />
»Können Sie nach Keflavik marschieren und sehen, was sich dort<br />
tut?«<br />
Edwards war sprachlos. Konnte dieser Idiot denn keine Karten<br />
lesen?<br />
»Negativ. Wiederhole: negativ, ausgeschlossen. Over.«<br />
»Verstanden, Beagle. Tut mir leid, aber die Anweisung kam von<br />
oben. Melden Sie sich wieder, wenn Sie bessere Übersicht haben.<br />
Ihr leistet gute Arbeit, Jungs. Haltet die Ohren steif. Out.«<br />
»Die wollten wissen, ob wir mal kurz rüber nach Keflavik latschen<br />
könnten«, verkündete Edwards und setzte den Kopfhörer ab.<br />
»Kommt nicht in Frage, hab ich gesagt.«<br />
236
»Da bin ich aber erleichtert, Sir«, meinte Smith und dachte: Zum<br />
Glück ist dieser Luftwaffentyp kein Vollidiot.<br />
Keflavik, Island<br />
Eine Minute später landete die erste MiG-29 Fulcrum, rollte aus<br />
und hielt vor dem Tower an, wo sie von dem Major empfangen<br />
wurde.<br />
"Willkommen in Keflavik!«<br />
»Großartig. Wo ist die nächste Toilette?« antwortete der Oberst.<br />
Der Major ließ ihn in einen der siebzig von den Amerikanern<br />
zurückgelassenen Jeeps steigen und fuhr zum Tower. Dort waren<br />
die amerikansichen Funkgeräte zerstört worden, die sanitären Anlagen<br />
aber unbeschädigt geblieben.<br />
»Wie viele Maschinen?»<br />
»Sechs«, erwiderte der Oberst. »Eine wurde vor Hammerfest<br />
von einem norwegischen F-16 abgeschossen, eine zweite drehte mit<br />
Triebwerkschaden ab, eine dritte musste in Akureyri landen.«<br />
Sie hatten die Tür erreicht. «Zweite Tür rechts.«<br />
»Danke, Genosse Major!« Der Oberst war drei Minuten später<br />
zurück.<br />
»Trinken Sie einen Kaffee. Der Vormieter war sehr großzügig.«<br />
Der Major schraubte eine amerikanische Thermosflasche auf. Der<br />
Oberst genoß den Kaffee und sah zu, wie seine Kampfflugzeuge<br />
landeten. »Wir haben Luftkampfraketen für Sie und können alle<br />
Maschinen auftanken. Wann sind Sie wieder startbereit?«<br />
»Ich möchte meinen Männern mindestens zwei Stunden zum<br />
Essen und Ausruhen gönnen. Außerdem müssen die Maschinen<br />
nach der Treibstoffaufnahme verteilt werden. Sind Sie bereits angegriffen<br />
worden?«<br />
»Bisher erschienen nur zwei Aufklärer, von denen haben wir<br />
einen abgeschossen. Wenn wir Glück haben -«<br />
»Glück ist etwas für Narren. Die Amerikaner schlagen noch<br />
heute zu. Das würde ich an ihrer Stelle jedenfalls tun.«<br />
237
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Wir haben eine neue Nachrichtenquelle auf Island, Codename<br />
Beagle«, meldete Toland. Sie befanden sich nun in der Gefechtszentrale<br />
des Trägers. »Sie meldete, gestern Nacht seien über achtzig<br />
Transportflugzeuge in Reykjavik gelandet, begleitet von mindestens<br />
sechs Jägern. Das langt für eine Division. Doghouse in Schottland<br />
berichtet, es lägen bislang unbestätigte Meldungen über gerade<br />
landende sowjetische Kampfflugzeuge vor.«<br />
»Muss ein Langstreckentyp sein, Foxhound oder Fulcrum«,<br />
meinte der CAG. »Sofern sie die entbehren konnten. Nun, wir<br />
haben ja vorerst nicht vor, Keflavik einen Besuch abzustatten. Der<br />
Einsatz dieser Maschinen zum Schutz von Bomberverbänden<br />
könnte aber ein Problem werden.«<br />
»Bekommen wir E-3-Unterstützung aus Großbritannien?«<br />
fragte Baker Svenson.<br />
»Vermutlich nicht.«<br />
»Toland, wann rechnen Sie mit dem Eintreffen unserer<br />
Freunde?«<br />
»Der RORSAT überfliegt uns in zwanzig Minuten. Dessen Daten<br />
werden sie abwarten, ehe sie starten. Wenn die Backfire unterwegs<br />
in der Luft betankt werden und mit Höchstgeschwindigkeit fliegen,<br />
müssen wir in zwei Stunden mit ihnen rechnen. Das wäre der<br />
schl<strong>im</strong>mste Fall. Wahrscheinlich ist, dass sie erst in vier bis fünf<br />
Stunden auftauchen.«<br />
»CAG, was haben Sie zu melden?«<br />
Der Kommandant der Flieger sah angespannt aus. »Jeder Träger<br />
hat ein Radarflugzeug vom Typ Hummer in der Luft, jeweils begleitet<br />
von zwei F-14 Tomcat. Zwei weitere Tomcat stehen startbereit<br />
auf den Katapulten. Fünfzehn Kampfflugzeuge stehen bewaffnet<br />
und betankt auf dem Flugdeck. Die Besatzungen haben ihre Einsatzbefehle<br />
erhalten. Ein Prowler kreist über dem Verband. Die A-<br />
Sieben haben zusätzliche Treibstofftanks montiert und können die<br />
Jäger in der Luft betanken. Wir sind bereit. Die Maschinen der Foch<br />
können ebenfalls binnen fünfzehn Minuten in der Luft sein - Crusader;<br />
gute Vögel, geringe Reichweite. Wenn es soweit ist, können<br />
sie unseren Maschinen von oben Beistand leisten.«<br />
238
Kirowsk, UdSSR<br />
Der Radar-Seeaufklärungssatellit RORSAT überflog die Formation<br />
um 3 Uhr 10, erfaßte die Schiffe mit Radar und stellte seine<br />
Kamera auf ihr Kielwasser ein. Fünf Minuten später waren die<br />
Daten in Moskau. Fünfzehn Minuten darauf erhielten auf vier<br />
Luftstützpunkten um die Stadt Kirowsk auf der Halbinsel Kola die<br />
Flugzeugbesatzungen ihre letzten Instruktionen.<br />
Zuerst hoben die Badger ab. Die Bomber waren so schwer beladen,<br />
dass sie nur mühsam an Höhe gewannen. Nördlich von Murmansk<br />
formierten sie sich in der Luft, wandten sich dann nach<br />
Westen, umflogen das Nordkap und hielten nach einer weiteren<br />
Linkskurve auf den Nordatlantik zu.<br />
Zwanzig Meilen vor der Küste Nordrußlands schwebte USS<br />
Narwhal unter der schiefergrauen Meeresoberfläche. Das leiseste<br />
U-Boot der US-Flotte war vorwiegend für die Erkundung der Feindlage<br />
best<strong>im</strong>mt und hielt sich länger vor der russischen Küste auf als<br />
manche Schiffe der sowjetischen Marine. Seine drei dünnen ESM-<br />
Antennen waren ausgefahren, ebenso das Suchsehrohr. Techniker<br />
hörten den Sprechfunkverkehr zwischen den Bombern ab. Drei<br />
Nachrichtendienst-Spezialisten und ein Mann von der Nationalen<br />
Sicherheitsbehörde evaluierten die Stärke der Angriffsverbände<br />
und kamen zu dem Schluß, dass das Risiko einer Warnung über<br />
Funk gerechtfertigt war. Ein weiterer Mast wurde ausgefahren,<br />
eine Antenne auf einen vierundzwanzigtausend Meilen entfernten<br />
Satelliten gerichtet. Die Übertragung dauerte weniger als eine Fünfzehntelsekunde.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
Die Nachricht ging au<strong>tom</strong>atisch an vier verschiedene Fernmeldestationen<br />
weiter und innerhalb von dreißig Sekunden <strong>im</strong> SA-<br />
CLANT-Hauptquartier ein. Fünf Minuten später hielt Toland das<br />
gelbe Formular in der Hand. Er begab sich sofort zu Admiral Baker<br />
und reichte ihm den Spruch: 0418Z REALTIME MELDET START<br />
BOMBERVERBAND 0400 MIT WESTKURS VON KOLA UND STÄRKE<br />
ÜBER FÜNF REG.<br />
Baker schaute auf die Uhr. »Rasche Arbeit. CAG?«<br />
239
Der Kommandant der Flieger schaute auf das gelbe Blatt und<br />
ging ans Telefon. »Schießen Sie die beiden Plus-Fünf los, rufen Sie<br />
die Patrouillen zurück, bringen Sie noch zwei Tomcat und einen<br />
Hummer Plus-Fünf. Zurückkehrende Maschinen müssen sofort<br />
wieder startbereit gemacht werden. Reservieren Sie einen Startkatapult<br />
für Tanker.« Er kam zurück. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir,<br />
möchte ich in einer Stunde noch ein Paar F-I4 und einen Hummer<br />
aufsteigen und alle Jäger Plus-Fünf setzen lassen. Um 0600 Uhr<br />
starten alle Jäger, zusammen mit Tankflugzeugen. Wir werfen<br />
ihnen rund zweihundert Meilen vor dem Verband alles entgegen,<br />
was wir haben, und schlagen sie.«<br />
»Gut. Irgendwelche Kommentare?«<br />
Stevenson schaute nachdenklich auf den Plott, wo schon Kreise<br />
eingezeichnet wurden, die das weitestmögliche Vordringen der sowjetischen<br />
Bomber markierten.<br />
»Haben die Briten die Warnung ebenfalls erhalten?«<br />
»Jawohl, Sir«, antwortete Toland. »Und die Norweger ebenfalls.<br />
Mit einem bißchen Glück können die einen oder anderen den<br />
Feindverband ein bißchen anknabbern oder sich an ihn hängen.«<br />
»Hübsche Idee, aber verlassen Sie sich nicht darauf. Wenn ich<br />
diesen Angriff leitete, würde ich einen weiten Bogen nach Westen<br />
schlagen, nach Süden abdrehen und direkt über Island anfliegen.«<br />
Svenson sah noch einmal auf die Skizzen.<br />
»Glauben Sie, dass Realt<strong>im</strong>e eine Warnung vor Bear-D gefunkt<br />
hätte?«<br />
»Meinen Informationen nach darf Realt<strong>im</strong>e die Funkstille nur<br />
brechen, wenn es um mehr als drei Reg<strong>im</strong>enter geht. Zehn oder<br />
zwanzig Bear reichen da nicht aus.«<br />
Toland nickte zust<strong>im</strong>mend. Der Kampfverband war ein Kreis<br />
von Schiffen, dessen Radius dreißig Meilen betrug. In der Mitte<br />
fuhren die Träger und Truppentransporter, umgeben von neun mit<br />
Raketen bewaffneten Eskorten und sechs auf die U-Boot-Bekämpfung<br />
spezialisierten Schiffen. Auf allen Wasserfahrzeugen herrschte<br />
Radarsendeverbot. Alle elektronischen Informationen gingen von<br />
zwei kreisenden Luftüberwachungsflugzeugen E-2C Hummer aus,<br />
deren Erfassungsbereich einen Halbmesser von vierhundert Meilen<br />
hatte.<br />
Das Drama, das sich nun zu entfalten begann, war komplexer als<br />
das raffinierteste Brettspiel. Über ein Dutzend variabler Faktoren<br />
240
konnten aufeinander einwirken; die Permutationen gingen in die<br />
Tausende. Der Radarerfassungsbereich hing von der Höhe und<br />
folglich von der Entfernung zum Horizont ab, hinter den weder das<br />
Auge noch Radar reichte. Ein Flugzeug konnte sich der Erfassung<br />
entziehen oder sie zumindest hinauszögern, indem es knapp über<br />
den Wellenkämmen flog, doch diese Methode kostete viel Zeit und<br />
Treibstoff.<br />
Der Feind musste den Trägerverband ausmachen, ohne selbst vorher<br />
erfaßt zu werden. Die Russen wussten zwar, wo sich die Trägergruppe<br />
befand, doch diese konnte <strong>im</strong> Lauf der vierstündigen Anflugzeit<br />
die Position gewechselt haben. Ihre Raketen brauchten präzise<br />
Informationen, wenn sie die Pr<strong>im</strong>ärziele des Angriffs, die beiden<br />
amerikanischen und den französischen Träger, treffen wollten.<br />
Um die Jäger des Trägerverbandes auf Gefechtsstation zu bringen,<br />
mussten Kurs und Geschwindigkeit der anfliegenden Bomberschwärme<br />
einigermaßen genau eingeschätzt werden. Auftrag der<br />
Jäger: die Bomber zu sichten und anzugreifen, ehe sie die Flugzeugträger<br />
finden konnten.<br />
Senden oder Nichtsenden, das war für beide Seiten die entscheidende<br />
Frage. Beide Optionen hatten ihre Vor- und Nachteile; eine<br />
»opt<strong>im</strong>ale« Lösung gab es nicht. Fast jedes amerikanisches Schiff<br />
hatte leistungsfähige Radar-Rundsuchgeräte an Bord, die den Bomberverband<br />
schon in zweihundert Meilen Entfernung zu orten in<br />
der Lage waren. Doch diese Signale konnten aus noch größerer<br />
Entfernung erfaßt werden, was den Sowjets unter Umständen die<br />
Möglichkeit gab, den Trägerverband zu umzingeln und dann aus<br />
allen H<strong>im</strong>melsrichtungen anzugreifen.<br />
Nordatlantik<br />
Die sowjetischen Aufklärer Bear-D, zehn insgesamt, zogen südlich<br />
von Island dahin und deckten eine Front von tausend Meilen ab.<br />
Die gewaltigen Propellerflugzeuge waren vollgestopft mit Elektronik<br />
und bemannt mit Spezialisten, die seit Jahren das Aufspüren<br />
amerikanischer Trägerverbände geübt hatten. An Bug, Schwanz<br />
und Flügelspitzen suchten empfindliche Antennen bereits nach den<br />
Signalen amerikanischer Radarsender. Sollten sie eines empfangen,<br />
würden sie heranfliegen, sorgfältig die Position best<strong>im</strong>men, aber<br />
241
außerhalb des geschätzten Erfassungsradius bleiben. Ihre größte<br />
Furcht war, dass die Amerikaner entweder überhaupt kein Radar<br />
einsetzten oder ihre Sender wahllos in unterschiedlichen Zeitabständen<br />
und Positionen ein- und ausschalteten, so dass die Gefahr<br />
bestand, dass die Bear plötzlich und ohne Warnung bewaffneten<br />
Schiffen und Flugzeugen in die Quere kamen. Der Bomber konnte<br />
zwar zwanzig Stunden lang in der Luft bleiben, doch der Preis dafür<br />
war fast völlige Wehrlosigkeit. Er flog zu langsam, um einem<br />
Abfangjäger zu entkommen, und war auch nicht in der Lage, sich<br />
zum Kampf zu stellen. »Wir haben den feindlichen Schlachtverband<br />
ausgemacht«, ging der bittere Witz der Besatzungen: »Doswidanja,<br />
Rodina! Lebwohl, Vaterland!«<br />
Achthundert Meilen nördlich von Island gingen die Badger auf<br />
Kurs eins-acht-null und flogen mit 500 Knoten nach Süden. Den<br />
noch <strong>im</strong>mer gefährlichen Norwegern waren sie ausgewichen; und<br />
sie hofften, dass der Arm der Briten nicht so weit reichte. Dennoch<br />
schauten die Besatzungen <strong>im</strong>mer wieder nervös aus den Fenstern;<br />
die konstant überwachten Sensoren arbeiteten. Mit einem Jagdbomberangriff<br />
auf Island musste jeden Augenblick gerechnet werden;<br />
die Bomberbesatzungen wussten, dass jeder Nato-Pilot sich<br />
seiner Bomben sofort <strong>im</strong> Notwurf entledigen würde, um die<br />
Chance, ein so hilfloses Ziel wie den zwanzig Jahre alten Badger<br />
anzugreifen, nicht zu verpassen. Die Badger waren am Ende ihrer<br />
Lebensdauer angelangt, ihre Tragflächen wiesen Risse auf, die<br />
Turbinenschaufeln in den Triebwerken waren abgenutzt, verminderten<br />
die Leistung und erhöhten den Treibstoffverbrauch.<br />
Zweihundert Meilen hinter ihnen war die Luftbetankung der<br />
Backfire-Bomber abgeschlossen. Die Tu-22M wandten sich nach<br />
Süden, leicht westlich gegen den Kurs der Badger versetzt. Die<br />
Backfire, die unter den Tragflächen je eine AS-6 Kingfish-Rakete<br />
trugen, waren zwar ebenfalls verwundbar, hatten aber dank hoher<br />
Geschwindigkeit auch gegen Jäger eine gute Überlebenschance.<br />
Ihre Crews waren die Elite der sowjetischen Marineflieger.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
Toland ging hinaus, um frische Luft zu schnappen. Es war ein<br />
schöner Morgen; der Sonnenuntergang ließ Wolken wie Wattebäu<br />
242
sche kurz rosa aufleuchten. Am Horizont waren Saratoga und Foch<br />
sichtbar und wirkten selbst über diese Distanz beeindruckend.<br />
Dichterauf durchschnitt die Ticonderoga die anderthalb Meter<br />
hohen Seen; weiß leuchteten die Flugabwehrraketen auf ihren<br />
Zwillingsstartern. Einige Signallampen tauschten Sprüche. Abgesehen<br />
davon waren die Schiffe graue, stumme, wartende Schemen.<br />
Auf dem Deck der N<strong>im</strong>itz standen dicht an dicht die Maschinen,<br />
F-14 Tomcat-Abfangjäger. Zwei befanden sich bereits auf dem<br />
Doppelstartkatapult mittschiffs; die Besatzungen dösten. Die<br />
Kampfflugzeuge trugen Phoenix-Raketen großer Reichweite. Den<br />
A-7 waren unter den Tragflächen keine Waffen, sondern Treibstofftanks<br />
montiert worden, aus denen sie die Jäger in der Luft<br />
betanken konnten. Deckpersonal huschte herum, überprüfte die<br />
Maschinen. Der Träger begann nach Backbord abzudrehen, ging<br />
mit dem Bug zur Startvorbereitung in den westlichen Wind. Toland<br />
schaute auf die Uhr. 0558. Zeit, sich zurück in die Gefechtszentrale<br />
zu begeben. In zwei Minuten sollte auf dem Träger Generalalarm<br />
ausgelöst werden. Er sog noch einmal frische Seeluft ein und fragte<br />
sich, ob er das wohl zum letzten Mal tat.<br />
Nordatlantik<br />
»Kontakt!« rief der Techniker über die Bordsprechanlage des Bear.<br />
»Signale weisen auf einen amerikanischen fliegenden Radarsender<br />
hin, trägergestützt.«<br />
»Geben Sie mir eine Richtung!« befahl der Pilot.<br />
»Geduld, Genosse Major.« Der Techniker nahm eine Feineinstellung<br />
vor. Seine Funk-Interferometer maßen die Zeitabstände<br />
der über die Antennen eingehenden Signale. »Südosten in eins-dreieins.<br />
Signalstärke Eins. Ziemlich weit entfernt. Richtung bislang<br />
unverändert. Ich empfehle, unseren Kurs fürs erste beizubehalten.«<br />
Pilot und Kopilot tauschten stumm einen Blick. Irgendwo links<br />
von ihnen befand sich eine amerikanische Radarmaschine E-2C<br />
Hawkeye mit einer fünfköpfigen Besatzung: zwei Piloten, einem<br />
Radaroffizier und zwei Operatoren. Dieses Flugzeug konnte in<br />
einer Luftschlacht über hundert feindliche Maschinen lenken, einen<br />
mit Raketen bewaffneten Abfangjäger Sekunden nach der Ortung<br />
auf sie loslassen. Wir korrekt sind meine Informationen über das<br />
243
Hawkeye-Radar? fragte sich der Pilot. War sein Bear bereits erfaßt<br />
worden? Die Antwort kannte er. Seine erste Warnung würde das<br />
Feuerleitradar eines angreifenden amerikanischen F-14 Tomcat<br />
sein. Der Bear hielt Kurs eins-acht-null, der Navigator begann, den<br />
Ausgangspunkt des Radarsignals zu berechnen. In zehn Minuten<br />
konnten sie eine akkurate Positionsbest<strong>im</strong>mung haben - sofern sie<br />
so lange überlebten. Und bis dahin wahrten sie Funkstille.<br />
»Ich hab ihn!« meldete der Navigator. »Geschätzte Entfernung<br />
des Kontakts sechshundertfünzig Kilometer, Position 47 Grad<br />
neun Minuten Nord, 34 Grad 50 Minuten West.«<br />
»Weitergeben«, befahl der Pilot. Im Seitenruder des Bear drehte<br />
sich eine HF-Richtantenne in ihrem Gehäuse und sendete die Information<br />
an den Kommandeur des Angriffsverbandes, dessen Bear<br />
hundert Meilen hinter den Aufklärern lag.<br />
Der Kommandeur verglich diese Daten mit den von RORSAT<br />
gelieferten. Vor drei Stunden hatten sich die Amerikaner sechzig<br />
Meilen südlich der geschätzten Position der Hawkeye befunden.<br />
Vermutlich hatten die Amerikaner zwei in der Luft, nordöstlich<br />
und nordwestlich der Formation. Der Trägerverband musste sich<br />
also - hier befinden. Die Badger hielten genau auf ihn zu und<br />
mussten in zwei Stunden in den Radarerfassungsbereich der Amerikaner<br />
eindringen. Es lief alles genau nach Plan.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
Toland betrachtete das Display schweigend. Das Radarbild wurde<br />
von den Hawkeye über eine digitale Funkverbindung zum Träger<br />
übertragen und ermöglichte es dem Befehlshaber des Schlachtverbandes,<br />
alles mitzuverfolgen. Die gleichen Daten gingen an die<br />
Ticonderoga und alle anderen mit dem taktischen Datensystem<br />
ausgerüsteten Schiffe, einschließlich der französischen Einheiten,<br />
die schon vor langer Zeit für eine enge Zusammenarbeit mit der<br />
amerikanischen Marine umgerüstet worden waren. Bisher waren<br />
nur amerikanische Militär- und Zivilflugzeuge zu sehen, die Truppen<br />
und Material nach Europa und Zivilisten zurück in die Staaten<br />
brachten. Diese begannen nun, nach Süden abzudrehen. Die Piloten<br />
der DC-1o und C-5A waren vor einer möglichen Luftschlacht<br />
gewarnt worden und setzten sich vorsorglich ab.<br />
244
Die achtundvierzig Tomcat-Abfangjäger des Verbandes waren<br />
nun fast alle über 300 Meilen auseinandergezogen auf Station.<br />
Jedem der paarweise operierenden Tomcat war ein Tanker zugeordnet.<br />
Die Corsair und Intruder, eigentlich Erdkampfflugzeuge,<br />
trugen überd<strong>im</strong>ensionierte Treibstoffbehälter mit Fangtrichtern an<br />
Schläuchen und hatten schon mit dem Auffüllen der Tomcat begonnen.<br />
Bald kehrten die Corsair zu ihren Trägern zurück, um nachzutanken.<br />
Falls es zu einem Angriff kam, sollten sie sofort von den<br />
Katapulten gestartet werden, um die Feuergefahr, die jedes Flugzeug<br />
darstellte, zu el<strong>im</strong>inieren.<br />
Toland sah dies alles nicht zum ersten Mal, war aber trotzdem<br />
fasziniert. Alles ging so glatt wie be<strong>im</strong> Ballett.<br />
Nordatlantik<br />
Der Kommandeur der Bombergeschwader sammelte rasch Daten<br />
an. Inzwischen waren die Positionen von vier amerikanischen<br />
Hawkeye best<strong>im</strong>mt worden; die Amerikaner hatten ihm unfreiwillig<br />
ein ziemlich genaues Bild vom Standort der Schlachtgruppe<br />
vermittelt. Seine Bear flogen nun einen weiten Halbkreis um die<br />
Amerikaner, und die Badger befanden sich noch dreißig Minuten<br />
Flugzeit vom amerikanischen Radarerfassungsbereich, vierhundert<br />
Meilen von der geschätzten Position der Schiffe entfernt.<br />
»Spruch an Gruppe A: >Feindformation Gitterkoordinaten 456/<br />
810, Geschwindigkeit 20, Kurs eins-null-null. Angriffsplan B um<br />
0615 Zulu-Zeit ausführen.« Gleichlautender Spruch an Gruppe B.<br />
Taktische Kontrolle über Gruppe B geht an den Koordinator Team<br />
Ost über.«<br />
Die Schlacht hatte begonnen.<br />
Die Badger-Crews tauschten erleichterte Blicke. Sie hatten vor<br />
fünfzehn Minuten amerikanische Radarsignale erfaßt und wussten,<br />
dass jeder Kilometer weiter südlich ihre Chance, in einen Schwärm<br />
feindlicher Jäger zu geraten, vergrößerte. In jeder Maschine gaben<br />
Bombenschütze und Navigator den unter den Tragflächen montierten<br />
Kelt-Raketen Angriffsdaten ein.<br />
Achthundert Meilen weiter südwestlich erhöhten die Besatzungen<br />
der Backfire leicht die Triebwerksleistung und legten einen<br />
Kurs auf den vom Kommandeur mitgeteilten Bezugspunkt fest.<br />
245
Nachdem sie den amerikanischen Verband in weitem Bogen umflogen<br />
hatten, standen sie nun unter dem Befehl eines Offiziers an Bord<br />
der ersten Bear, der die Hawkeye mit elektronischen Mitteln erfaßte.<br />
Es lag nun zwar eine verläßliche Position der Nato-Formation<br />
vor, aber sie brauchten genauere Daten, um die Flugzeugträger<br />
orten und angreifen zu können. Erleichtert waren die Besatzungen<br />
nicht, eher erregt. Nun stand ihnen die echte Herausforderung<br />
bevor, der vor einem Jahr formulierte Schlachtplan, der ausschließlich<br />
über Land fünfmal geprobt worden war. Vier Versuche waren<br />
erfolgreich verlaufen.<br />
In achtzig Badger-Bombern schauten die Piloten auf die Uhren<br />
und zählten die Sekunden bis 0614 Zulu-Zeit.<br />
»Feuer!«<br />
Der erste Badger schoß acht Sekunden zu früh ab. Nacheinander<br />
lösten sich die flugzeugförmigen Kelt von ihrer Halterung und<br />
blieben mehrere hundert Fuß <strong>im</strong> freien Fall, bis ihre Turbojet-<br />
Triebwerke ihre volle Leistung erreicht hatten. Auf Autopilot geschaltet,<br />
stiegen die Kelt zurück auf eine Höhe von dreißigtausend<br />
Fuß und flogen mit sechshundert Knoten nach Süden. Die Bomberbesatzungen<br />
sahen ihren Vögeln noch eine Minute lang nach, drehten<br />
dann langsam und elegant ab und flogen in Richtung He<strong>im</strong>at.<br />
Ihr Auftrag war erfüllt. Sechs Badger-J mit starken Störsendern an<br />
Bord flogen sechzig Kilometer hinter den Kelt weiter nach Süden.<br />
Ihre Besatzungen waren nervös, aber zuversichtlich. Amerikanischem<br />
Radar würde das »Durchbrennen« ihrer Störsignale nicht<br />
leichtfallen, und außerdem bekamen die Amerikaner bald genug<br />
Ziele, um die sie sich zu kümmern hatten.<br />
Die Kelts flogen schnurstracks weiter. Sie hatten elektronische<br />
Geräte an Bord, die von einem Sensor <strong>im</strong> Seitenruder au<strong>tom</strong>atisch<br />
in Betrieb gesetzt wurden. Als sie in den theoretischen Radar-<br />
Erfassungsbereich der Hawkeye einflogen, wurden Antwortsender<br />
in ihren Nasen aktiv.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Radarkontakte! Designiert Überfall r, Richtung drei-vier-neun,<br />
Distanz vier-sechs-null Meilen. Zahlreiche Kontakte, Zählung<br />
eins-vier-null Kontakte, Kurs eins-sieben-fünf, Geschwindigkeit<br />
sechshundert Knoten.«<br />
246
Auf dem Hauptplott wurden die Kontakte elektronisch aufgezeichnet,<br />
zwei Plexiglasscheiben zeigten ein weiteres Bild.<br />
»Aha, da kommen sie«, sagte Baker leise. »Pünktlich wie die Uhr.<br />
Kommentare?«<br />
»Ich -« Mehr brachte Toland nicht heraus.<br />
Das Computer-Display wurde weiß.<br />
»Clipper Base, hier Hawk 3. Wir empfangen Störsignale von sechs,<br />
möglicherweise sieben fliegenden Störsendern, Richtung drei-viernull<br />
bis null-drei-null. Störer vermutlich auf Distanz, nicht als<br />
Geleitschutz. Kontakte vorübergehend verloren. Rechnen mit<br />
Durchbrand in zehn Minuten. Erbitte Waffen und Abfangjäger frei.«<br />
Baker schaute hinüber zu seinem Luftoperationsoffizier. »Dann<br />
mal los.«<br />
Der Mann nickte und griff nach einem Mikrophon. »Hawk 3,<br />
hier Clipper-Base. Waffen frei. Ich wiederhole: Waffen frei. Schießt<br />
mir ein paar Bomber ab. Out.«<br />
Svenson sah sich stirnrunzelnd das Display an. »Admiral, unsere<br />
Decks sind praktisch klar. Ich empfehle, den Verband zusammenzuhalten.«<br />
Zur Antwort bekam er ein Nicken. »Clipper Flotte, hier<br />
Clipper Base. Lassen Sie alle verbliebenen Flugzeuge starten.«<br />
Auf einen einzigen Befehl hin machte der gesamte Verband eine<br />
Wendung um hundertachtzig Grad nach links. Feuerleitradaranlagen<br />
wurden nach Norden gerichtet, aber nur in Bereitschaft gehalten.<br />
Dreißig Kommandanten warteten auf den Befehl, sie zu aktivieren.<br />
Nordatlantik<br />
Sie war sauer. Klar, dachte sie, gut genug bin ich schon. Fluglehrerin<br />
auf dem Eagle, Testpilotin, graduierte Ingenieurin, Projektassistentin<br />
be<strong>im</strong> ASAT-Programm - sogar zur Astronautin würde ich<br />
taugen-, aber läßt man mich Kampfeinsätze fliegen? Pustekuchen.<br />
Es ist Krieg, und ich muss Kisten über den Atlantik kutschieren!<br />
»Scheiße.« Sie hieß Amy Nakamura, war Majorin der US Air<br />
Force und hatte dreitausend Jet-Flugstunden hinter sich, zwei Drittel<br />
davon in F-15- Sie war klein und untersetzt, und als eine Schönheit<br />
hatte nur ihr Vater sie einmal bezeichnet. Außerdem nannte er<br />
sie Bunny, sein kleines Kaninchen. Als ihre Kollegen diesen Kosena<br />
247
men erfuhren, verkürzten sie ihn zu Buns. Zusammen mit drei<br />
Männern flog sie brandneue Eagle nach Deutschland, wo sie von<br />
anderen Piloten - Männern! - richtig eingesetzt werden sollten. Die<br />
Maschinen trugen Zusatztanks, um die Strecke ohne Zwischenlandung<br />
zurücklegen zu können, und waren zur Selbstverteidigung mit<br />
je einer Sidewinder-Luftkampfrakete und der üblichen Ladung 2omm-Patronen<br />
für die Bordkanone ausgerüstet.<br />
»He, Buns, checken Sie mal an 3 Uhr!« rief ihr Flügelmann.<br />
Nakamura hatte phänomenal gute Augen, wollte aber nicht<br />
glauben, was sie sah. »Butch, das sind TU-16 Badger! Wo bleibt die<br />
Navy?«<br />
»Ganz in der Nähe. Setzen Sie einen Funkspruch ab.«<br />
»Navy-Verband, Navy-Verband, hier Air Force Überführungsflug<br />
Golf-4-9. Wir sind mit vier Foxtrott-1-5 auf Ostkurs und<br />
haben eine russische Bomberformation in Sicht. Position - Mist,<br />
hören Sie mich? Over.«<br />
»Wer ist denn das?« fragte ein Besatzungsmitglied der Hawkeye<br />
laut.<br />
Der Fernmeldetechniker antwortete: »Golf-4-9, wir brauchen<br />
Autorisation. November 4 Whiskey.« Immerhin konnte das ein<br />
Russe sein, der Radiospiele trieb.<br />
Major Nakamura fluchte leise vor sich hin und fuhr mit dem<br />
Zeigefinger an den Kolonnen der Kommunikations-Codes entlang.<br />
Da! »Alpha 6 Hotel.«<br />
»Golf-4-9, hier Navy Hawk-1, geben Sie Ihre Position durch.<br />
Warnung: Wir greifen diese Badger an. Setzen Sie sich lieber ab.<br />
Bitte bestätigen.«<br />
»Von wegen! Navy, ich sehe drei oder mehr Badger auf Nordkurs,<br />
Position neunundvierzig Nord, dreiunddreißig Ost.«<br />
»Auf Nordkurs?« fragte der Offizier in dem AWACS. »Golf, hier<br />
Hawk-1. Bestätigen Sie Ihre Beobachtungen.«<br />
»Hawk-1, hier Golf, es kommen nun von Süden her ein Dutzend<br />
Badger - ich wiederhole: Tango-Uniform-6 Bomber - auf mich zu.<br />
Wir greifen an. Out.«<br />
Major Amelia »Buns« Nakamura langte nach unten, um ihre<br />
Luftkampfrakete scharfzumachen und das Head-up-Display auf<br />
taktischen Modus umzuschalten. Dann nahm sie mit Radar eine<br />
Freund-Feind-Kennung vor. Keine Antwort. Das genügte.<br />
248
»Frank, Sie greifen mit Ihrem Flügelmann von Osten an. Butch,<br />
folgen Sie mir. Achtet auf euren Treibstoff. Los!«<br />
Für den ersten Anflug wählte Buns ihre Bordkanone und jagte<br />
zweihundert Geschosse in die Kanzel eines Badgers. Der zwe<strong>im</strong>otorige<br />
Bomber geriet sofort außer Kontrolle und wälzte sich auf dem<br />
Rücken wie ein toter Wal. Eins. Major Nakamura johlte vor Entzücken,<br />
zog den Eagle in einen Looping, der sie hart in den Sitz<br />
preßte, und stieß dann auf das nächste Ziel hinab. Die Sowjets<br />
waren nun gewarnt, und der zweite Badger versuchte wegzutauchen,<br />
hatte aber nicht die geringste Chance. Nakamura schoß ihre<br />
Sidewinder ab und sah zu, wie die Rakete ihr Ziel, das linke<br />
Triebwerk des Badger, fand und die ganze Tragfläche abriß. Zwei.<br />
Drei Meilen vor ihr lag ein weiterer Badger. Nur Geduld, sagte sie<br />
sich, du bist viel schneller. Fast vergaß sie, dass der Badger eine<br />
Heckkanzel hatte. Ein sowjetischer Heckschütze erinnerte sie<br />
daran, schoß daneben, jagte ihr aber einen gehörigen Schrecken ein.<br />
Sie riß den Eagle in eine Linkskurve und ging auf Parallelkurs, ehe<br />
sie wieder anflog. Der nächste Feuerstoß ließ den Badger in der Luft<br />
explodieren. Nakamura ging in den Sturzflug, um nicht von<br />
Wrackteilen getroffen zu werden. Der ganze Luftkampf hatte neunzig<br />
Sekunden gedauert. Sie war in Schweiß gebadet.<br />
»Butch, wo sind Sie?«<br />
»Ich hab einen erwischt, Buns!« Der andere Eagle setzte sich<br />
neben ihre Maschine.<br />
Nakamura schaute sich um. Plötzlich war der H<strong>im</strong>mel leer. Wo<br />
waren die anderen?<br />
»Navy Hawk-1, hier Golf, hören Sie mich? Over.«<br />
»Roger, Golf.«<br />
»Okay, Navy. Wir haben gerade vier, wiederhole: vier Badger<br />
abgeschossen.«<br />
»Fünf, Buns!« rief der Führer des anderen Jäger-Paars dazwischen.<br />
»Hier st<strong>im</strong>mt etwas nicht, Sir.« Der Radar-Operator <strong>im</strong> Hawk-1<br />
wies auf sein Sichtgerät. »Diese Kerle sind gerade aus dem Nichts<br />
aufgetaucht und behaupten, ein paar Badger abgeschossen zu haben,<br />
etwa drei- oder vierhundert Meilen von hier.«<br />
»Clipper-Base, hier Hawk-1. Wir hatten gerade Kontakt mit<br />
249
einem Überführungsflug der Air Force. Die Piloten behaupten,<br />
mehrere hundert Meilen nördlich von uns fünf Badger auf Nordkurs<br />
heruntergeholt zu haben. Ich wiederhole: auf Nordkurs.«<br />
Toland zog die Brauen hoch.<br />
»Vermutlich einige, die kehrtmachten«, meinte Baker. »Dicht<br />
am Ende ihrer Reichweite, oder?«<br />
»Jawohl, Sir«, erwiderte der Offizier für Luftoperationen. Diese<br />
Tatsache schien ihm keine Freude zu bereiten.<br />
»Wir haben die Ziele wieder erfaßt«, meldete der Radaroperator.<br />
Die sowjetischen Kelt-Flugkörper waren unbeirrt weitergezogen.<br />
Ihre Radar-Antwortsender ließen sie wie dreißig Meter lange Badger<br />
erscheinen. Spezielle Störgeräte, die Rauschen erzeugten und<br />
sendeten, verwischten sie auf den Radarsichtgeräten noch mehr,<br />
und ihre Autopiloten begannen, abrupte Flugmanöver auszuführen<br />
wie eine Maschine, die versucht, einer Rakete auszuweichen.<br />
»Tallyho!« Die erste, aus zwölf Tomcat bestehende US-Staffel<br />
war nun nur noch hundertfünfzig Meilen entfernt. Die Kelt-Flugkörper<br />
erschienen deutlich auf dem Radarschirm, und die Kampfbeobachter<br />
auf den Rücksitzen gaben rasch die Zielkoordinaten<br />
ein. Die Kelt näherten sich der Reichweite der Luftkampfraketen <br />
und jeder hielt sie für Bomber.<br />
Die Tomcat schössen aus hundertvierzig Meilen eine Salve von<br />
AIM-54C Phoenix Luftkampfraketen ab, die je eine Million Dollar<br />
gekostet hatten. Die Flugkörper rasten mit Mach 5 auf ihre Ziele<br />
zu. In einer knappen Minute hatten achtundvierzig Raketen neununddreißig<br />
Ziele zerstört. Die erste Staffel drehte ab, die zweite ging<br />
in Abschußstellung.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Admiral, hier ist etwas faul», sagte Toland leise.<br />
»Und was wäre das?« Baker war mit der Entwicklung zufrieden.<br />
Feindliche Bomber verschwanden von seinem Schirm wie bei einem<br />
Kriegsspiel.<br />
»Die Russen stellen sich bei diesem Angriff dumm an, Sir.«<br />
»Na und?«<br />
»Das haben sie bisher noch nie getan. Admiral, warum fliegen die<br />
250
251
Backfire nicht mit Überschallgeschwindigkeit? Warum in nur<br />
einem Angriffsverband? Und warum nur in eine Richtung?«<br />
»Treibstoffknappheit«, versetzte Baker. »Die Badger sind an der<br />
Grenze ihrer Reichweite und müssen direkt angreifen.«<br />
»Aber doch nicht die Backfire!«<br />
»Der Kurs st<strong>im</strong>mt, die Stärke des Angriffsverbandes st<strong>im</strong>mt.«<br />
Baker schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem taktischen<br />
Display zu.<br />
Die zweite Jägerstaffel hatte gerade ihre Raketen abgeschossen.<br />
Da sie nicht frontal angegriffen hatten, litt die Treffgenauigkeit.<br />
Mit achtundvierzig Raketen schössen sie vierunddreißig Ziele ab.<br />
Insgesamt waren einhundertsiebenundfünfzig Ziele ermittelt worden.<br />
Tomcat-Staffel drei und vier erschienen gleichzeitig und feuerten<br />
als Gruppe. Als sie ihre Phoenix-Raketen verschossen hatten, waren<br />
noch neunzehn Ziele übrig. Die beiden Jägerstaffeln gingen<br />
näher heran, um die restlichen Ziele mit ihren Bordkanonen anzugreifen.<br />
»Clipper Base, hier SAM-Chef. Ein paar werden durchkommen.<br />
Empfehle die Aktivierung des SAM-Radars.«<br />
»Roger, SAM-Chef. Genehmigung erteilt«, erwiderte der taktische<br />
Koordinator der Trägerflotte.<br />
Nordatlantik<br />
»Luftsuchradar in null-drei-sieben«, stellte der ESM-Offizier eines<br />
Bear fest. »Sie haben uns erfaßt. Ich empfehle, dass wir nun ebenfalls<br />
illuminieren.« Das Big-Bulge-Radar des Bear wurde in Betrieb<br />
gesetzt.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
»Neuer Radarkontakt. Designiert Überfall 2-«<br />
»Was?« schnappte Baker. Gleich daraufging ein Spruch von den<br />
Jägern ein.<br />
»Clipper Base, hier Slugger-Führer. Ich habe mein Ziel in Sicht.«<br />
Der Staffelführer versuchte, das Ziel mit seiner TV-Kamera zu<br />
252
fixieren. Sein nächster Satz klang gequält. »Warnung, Warnung,<br />
das ist kein Badger, sondern ein Kelt! Wir haben auf Flugkörper<br />
geschossen!«<br />
Ȇberfall 2 besteht aus dreiundsiebzig Maschinen, Richtung<br />
zwei-eins-sieben, Distanz eins-drei-null Meilen. Big-Bulge-Radar<br />
aktiv««, sagte der Sprecher in der Gefechtszentrale.<br />
Toland verzog das Gesicht, als die neuen Kontakte auf dem<br />
Display erschienen. »Admiral, man hat uns überlistet.«<br />
Der Taktik-Offizier des Verbandes war bleich, als er sein Mikrophon<br />
einschaltete. »Luftwarnung Rot. Waffen frei! Bedrohungsphase<br />
zwei-eins-sieben. Alle Schiffe wie erforderlich wenden, um<br />
Batterien freizulegen.«<br />
Alle Tomcat waren fortgelockt worden; der Verband stand praktisch<br />
nackt da. Die einzigen bewaffneten Kampfflugzeuge über ihm<br />
waren die acht Crusader der Foch, ein Modell, das die Amerikaner<br />
schon lange außer Dienst gestellt hatten. Auf einen knappen Befehl<br />
von ihrem Träger schalteten sie die Nachbrenner ein und rasten<br />
nach Südwesten, den Backfire entgegen. Zu spät.<br />
Der Bear hatte bereits ein klares Bild der amerikanischen Formation.<br />
Schiffstypen konnten die Russen zwar nicht best<strong>im</strong>men, wohl<br />
aber große von kleinen Schiffen unterscheiden und den Lenkwaffenkreuzer<br />
Ticonderoga an seinen unverwechselbaren Radaremissionen<br />
erkennen. Die Träger konnten nicht weit sein. Der Bear gab<br />
diese Information an seine Kameraden weiter. Eine Minute später<br />
schössen die Backfire ihre hundertvierzig AS-6 Kingfish-Raketen<br />
ab und wandten sich mit hoher Geschwindigkeit zurück nach Norden.<br />
Mit dem Kelt war die Kingfish nicht zu vergleichen. Sie verfügte<br />
über ein Flüssigstoff-Triebwerk, beschleunigte nun auf neunhundert<br />
Knoten und faßte mit dem Suchradar in der Spitze ein<br />
vorprogrammiertes Zielgebiet von zehn Meilen Breite auf. Jedem<br />
Schiff in der Mitte der Formation waren mehrere Raketen zugewiesen<br />
worden.<br />
»Vampire, Vampire!« rief der Sprecher in der Gefechtszentrale<br />
der Ticonderoga. »Zahlreiche Raketen <strong>im</strong> Anflug. Feuer frei.«<br />
Der Luftabwehroffizier des Trägerverbandes ließ das Aegis-System<br />
des Kreuzers auf Au<strong>tom</strong>atik stellen. Die Ticonderoga war<br />
genau für eine solche Situation gebaut worden. Ihr computerunterstütztes<br />
Radarsystem identifizierte die anfliegenden Raketen sofort<br />
als feindlich und ordnete jeder eine Zerstörungspriorität zu. Der<br />
253
Computer arbeitete völlig unabhängig und konnte auf alles schießen,<br />
was sein Elektronengehirn als bedrohlich erachtete. Zahlen,<br />
Symbole und Vektoren zogen über das taktische Hauptdisplay. Die<br />
doppelten Raketenstarter an Bug und Heck wurden auf die ersten<br />
Ziele gerichtet und warteten auf den Feuerbefehl. Aegis war auf<br />
dem neuesten Stand der Technik, das bislang beste SAM-System,<br />
hatte aber eine entscheidende Schwäche: Die Ticonderoga hatte<br />
nur sechsundneunzig Luftabwehrraketen an Bord; <strong>im</strong> Anflug aber<br />
waren hundertvierzig Kingfish. Für diese Eventualität war der<br />
Computer nicht programmiert.<br />
Auf der N<strong>im</strong>itz konnte Toland spüren, wie der Träger brüsk<br />
abdrehte, auf äußerste Kraft voraus ging und mit über fünfunddreißig<br />
Knoten durch den kalten Nordatlantik rauschte. Virginia und<br />
California, ihre beiden Begleitschiffe, hatten die Kingfish ebenfalls<br />
erfaßt und ihre Raketenstarter auf sie gerichtet.<br />
Die Kingfish flogen in achttausend Fuß Höhe, waren nun noch<br />
hundert Meilen entfernt und legten in vier Sekunden eine Meile<br />
zurück. Jede hatte sich nun ein Ziel gesucht, jeweils das größte in<br />
ihrem Blickfeld. Die massivsten Objekte waren die N<strong>im</strong>itz und ihre<br />
Lenkwaffeneskorte.<br />
Die Ticonderoga schoß ihre ersten vier Raketen ab. Die Flugkörper<br />
jagten in die Luft und zogen einen blaßgrauen Rauchschweif<br />
hinter sich her. Sofort wurden die Starter zum Nachladen, das acht<br />
Sekunden dauerte, senkrecht gestellt. Im Durchschnitt feuerte der<br />
Kreuzer alle zwei Sekunden eine Rakete ab. Zwei Minuten später<br />
waren seine Magazine leer. Das Schiff tauchte aus einer gewaltigen<br />
grauen Rauchwolke auf und konnte sich nun nur noch mit seinen<br />
Geschützen verteidigen.<br />
Die SAM fegten mit über zweitausend Meilen in der Stunde ihren<br />
Zielen, die sie mit Hilfe der Reflexionen des Feuerleitradars ihres<br />
Schiffes identifiziert hatten, entgegen. Hundertfünfzig Meter von<br />
den Zielen entfernt, explodierten die Sprengköpfe. Das Aegis-System<br />
zeigte beachtliche Resultate: Über sechzig Prozent der Ziele<br />
wurden zerstört. Auf insgesamt acht Schiffe hielten nun zweiundachtzig<br />
feindliche Raketen zu.<br />
Andere mit Lenkwaffen ausgerüstete Schiffe traten nun in den<br />
Kampf ein. In mehreren Fällen suchten sich zwei oder drei Raketen<br />
dasselbe Ziel und zerstörten es gewöhnlich. Die Zahl der anfliegenden<br />
Vampire sank auf siebzig, dann auf sechzig, fiel aber nicht<br />
254
schnell genug. Allen war nun klar, welchen Zielen der Angriff galt.<br />
Starke Störsender wurden eingeschaltet, Schiffe begannen radikale<br />
Manöver, die an einen stilisierten Tanz erinnerten, und die Gefahr<br />
einer Kollision war nun die geringste Sorge der Kommandanten.<br />
Als die Kingfish bis auf zwanzig Meilen herangekommen waren,<br />
begann jedes Schiff des Verbandes Düppelraketen abzuschießen,<br />
die die Luft mit Millionen von aluminiumbeschichteten Mylar-<br />
Fragmenten erfüllten und Dutzende neuer Geisterziele für die<br />
Feindraketen erzeugten. Einige Kingfish verloren ihre Ziele und<br />
jagten Mylar-Gespenster. Zwei gerieten in Verwirrung und suchten<br />
sich neue Ziele am anderen Ende des Flottenverbandes.<br />
Das Radarbild auf der N<strong>im</strong>itz wurde plötzlich unscharf. Aus<br />
klaren Leuchtflecken, die die Position der Schiffe dargestellt hatten,<br />
wurden formlose Wolken. Konstant blieben nur die Kingfish: umgekehrte<br />
Vs mit Vektoren, die Richtung und Geschwindigkeit anzeigten.<br />
Die letzte SAM-Salve schoß noch drei ab. Nun waren<br />
einundvierzig Vampire übrig. Toland zählte fünf, die auf die N<strong>im</strong>itz<br />
zuhielten.<br />
Oben an Deck verfolgten nun die Defensivwaffen ihre Ziele. Es<br />
handelte sich um CIWS, radargesteuerte Gatling-Maschinenkanonen<br />
20 Mill<strong>im</strong>eter, die anfliegende Raketen über eine Distanz von<br />
unter zweitausend Meter zerstören konnten. Die beiden vollau<strong>tom</strong>atisch<br />
arbeitenden Lafetten auf dem Achterdeck des Trägers hoben<br />
sich und begannen die ersten beiden anfliegenden Kingfish zu<br />
verfolgen. Die Lafette an Backbord feuerte zuerst. Das Radarsystem<br />
erfaßte das Ziel und die Bahn der Geschosse aus Uran, brachte<br />
beide in Einklang.<br />
Die erste Kingfish explodierte achthundert Meter backbords des<br />
Achterschiffs der N<strong>im</strong>itz. Tausend Kilo Sprengstoff ließen das<br />
Schiff erbeben. Toland spürte die Erschütterung und fragte sich, ob<br />
das Schiff einen Treffer abbekommen hatte. Um ihn herum konzentrierten<br />
sich die Männer in der Gefechtszentrale auf ihre Arbeit. Ein<br />
Ziel verschwand vom Bildschirm. Noch vier.<br />
Die nächste Kingfish flog auf den Bug des Trägers zu und wurde<br />
von einem CIWS in der Luft zur Detonation gebracht, aber zu nahe<br />
am Schiff. Trümmer fetzten über das Deck des Trägers und töteten<br />
ein Dutzend Besatzungsmitglieder.<br />
Nummer drei wurde von einer Düppelwolke abgelenkt und<br />
stürzte eine halbe Meile hinter der N<strong>im</strong>itz ins Meer, ließ eine<br />
255
dreihundert Meter hohe Wassersäule aufsteigen und den Träger<br />
vibrieren.<br />
Raketen vier und fünf flogen keine hundert Meter voneinander<br />
entfernt von achtern an. Das achterliche CIWS erfaßte beide,<br />
konnte sich jedoch nicht entscheiden, welches es zuerst angreifen<br />
sollte, ging auf Nullstellung und traf - überhaupt nichts. Die Raketen<br />
schlugen <strong>im</strong> Abstand von einer Sekunde ein, eine an der Backbordseite<br />
des Flugdecks achtern, die andere am Landefangseil 2.<br />
Toland wurde vier Meter weit durch die Luft und gegen eine<br />
Radarkonsole geschleudert. Er sah eine rose Feuerwand, die über<br />
ihn hinwegfegte. Dann folgte der Lärm. Erst der Donner der Explosion.<br />
Dann die Schreie. Das Achterschott der Gefechtszentrale existierte<br />
nicht mehr; dort loderte nun eine Flammenwand. Er floh zur<br />
Tür, die wie durch ein Wunder aufging, und rannte nach Steuerbord.<br />
Die Löschanlage war bereits in Betrieb und besprühte alles<br />
mit Seewasser, das ihm auf der Haut brannte, als er mit angesengten<br />
Haaren und Kleidern den Catgang des Flugdecks erreichte. Ein<br />
Matrose richtete den Strahl eines Wasserschlauches auf ihn, der ihn<br />
beinahe über Bord schleuderte.<br />
Toland fiel auf die Knie und sah über die Reling. Die Foch hatte<br />
<strong>im</strong> Norden gelegen, wie er sich entsann. Nun stieg dort eine Rauchsäule<br />
auf. Gerade detonierte dreißig Meter über dem Flugdeck der<br />
Saratoga die letzte Kingfish. Der Träger wirkte unbeschädigt. Die<br />
achterlichen Aufbauten der Ticonderoga waren von einem Raketentreffer<br />
zerfetzt und brannten. Am Horizont kündete ein Feuerball<br />
von der Zerstörung eines weiteren Schiffs - mein Gott, dachte<br />
Toland, doch nicht die Saipan? Mit zweitausend Marinesoldaten<br />
an Bord...<br />
»Verschwinden Sie hier!« schrie ein Brandbekämpfer ihn an.<br />
Dann erschien noch ein Mann auf dem Steg.<br />
»Toland, sind Sie verletzt?« Es war Captain Svenson, dessen<br />
Hemd zerfetzt war und der an der Brust aus einem halben Dutzend<br />
Schnittwunden blutete.<br />
»Nein, Sir«, antwortete Bob.<br />
» Gehen Sie auf die Brücke und lassen Sie das Schiff an Steuerbord<br />
quer in den Wind bringen. Los!« Svenson sprang hoch aufs Flugdeck.<br />
Toland folgte seinem Beispiel, rannte los, glitt auf dem Löschschaumteppich<br />
aus, fiel hart hin und erreichte dann endlich die<br />
256
Insel, war in einer knappen Minute <strong>im</strong> Ruderhaus. Das Brückendeck<br />
war mit Glassplittern bedeckt. »Wie geht's dem Kommandanten?«<br />
fragte der Erste Offizier.<br />
»Er lebt noch und überwacht achtern die Brandbekämpfung.«<br />
»Und wer sind Sie?« herrschte der IO.<br />
»Toland, Nachrichtendienst. Ich war in der Gefechtszentrale.«<br />
»Dann haben Sie Glück gehabt. Die zweite Rakete schlug fünfzig<br />
Meter neben Ihnen ein. Kam sonst noch jemand raus?«<br />
»Keine Ahnung. Brennt wie Zunder.«<br />
»Sieht aus, als hätten Sie was abbekommen, Commander.«<br />
Bob hatte das Gefühl, mit einer Glasscherbe rasiert worden zu<br />
sein. Als er seine Augenbrauen berührte, zerfielen sie zu Staub.<br />
»Nicht so tragisch. Was kann ich tun?«<br />
Der IO wies auf Tolands Wasserflügel. »Können Sie das Schiff<br />
steuern? Gut, dann mal los. Ist sowieso nichts übrig, mit dem Sie<br />
kollidieren könnten. Ich kümmere mich achtern um die Brandbekämpfung.<br />
Kommunikations- und Radaranlagen sind ausgefallen,<br />
Maschinen und Rumpf aber unversehrt. Mr. Bice hat das Deck, Mr.<br />
Toland überwacht das Steuern«, verkündete der IO be<strong>im</strong> Hinausgehen.<br />
Toland, der seit über zehn Jahren nichts Größeres als einen<br />
Boston Whaler gesteuert hatte, fand sich plötzlich mit der Verantwortung<br />
für einen beschädigten Flugzeugträger betraut. Er nahm<br />
ein Fernglas und schaute sich nach den anderen Schiffen in der<br />
Nähe um. Was er sah, ließ ihn frösteln.<br />
Die Saratoga sah als einziges Schiff intakt aus, doch auf den<br />
zweiten Blick stand ihr Radarmast schief. Die Foch lag viel zu tief<br />
<strong>im</strong> Wasser und brannte vom Bug bis zum Heck.<br />
»Wo ist die Saipan?«<br />
»Flog in die Luft«, erwiderte Commander Bice. »Mein Gott, sie<br />
hatte zweitausendfünfhundert Mann an Bord. Ticonderoga von<br />
einer Rakete beschädigt, die dicht neben ihr explodierte. Foch<br />
bekam drei Treffer ab; sieht aus, als müßte sie aufgegeben werden.<br />
Zwei Fregatten und ein Zerstörer einfach verschwunden. Wer hat<br />
hier Mist gebaut? Sie waren doch in der CIC, oder? Wer hat hier<br />
Scheiße gebaut?«<br />
Die acht französischen Crusader gerieten gerade in Kontakt mit<br />
den Backfire. Die russischen Bomber hatten die Nachbrenner eingeschaltet<br />
und flogen fast so schnell wie die Jäger. Alle Piloten der<br />
257
Träger hatten mitbekommen, dass ihre Schiffe plötzlich nicht mehr<br />
funkten, und aus den kühlen Profis wurden Racheengel. Nur zehn<br />
Backfire befanden sich in ihrer Reichweite. Sechs erwischten sie mit<br />
ihren Raketen und beschädigten zwei andere, dann mussten sie das<br />
Gefecht wegen Treibstoffmangels abbrechen.<br />
USS Caron, das größte unbeschädigte Schiff, verfolgte die Russen<br />
mit Radar und ersuchte Großbritannien, den Bomberverband auf<br />
dem Rückflug mit Jägern abzufangen. Doch damit hatten die Russen<br />
gerechnet, schlugen einen weiten Bogen um die Britischen Inseln<br />
und trafen sich vierhundert Meilen westlich von Norwegen mit<br />
ihren Tankern.<br />
Inzwischen werteten die Sowjets bereits das Resultat des Angriffs<br />
aus. Die erste große Schlacht zwischen modernen Flugzeugträgern<br />
und mit Raketen bewaffneten Bombern war geschlagen worden.<br />
Der Verlierer stand zweifelsfrei fest.<br />
Der Brand auf der N<strong>im</strong>itz war binnen einer Stunde gelöscht. Da alle<br />
ihre Flugzeuge in der Luft gewesen waren, hatte sich nur wenig<br />
brennbares Material an Bord befunden, und die Brandbekämpfungskapazität<br />
des Trägers entsprach der einer Großstadt. Toland<br />
ging zurück auf Ostkurs. Saratoga nahm Flugzeuge auf, betankte<br />
sie und schickte alle außer den Jägern zu Luftstützpunkten an Land.<br />
Die großen Schiffe nahmen Kurs auf Europa, drei Fregatten und ein<br />
Zerstörer blieben zurück, um nach Überlebenden zu suchen.<br />
»Volle Kraft voraus«, befahl Svenson auf der Brücke. »Toland,<br />
wie geht's Ihnen?«<br />
»Keine Klagen.« Jammern war sinnlos. Das Schiffslazarett war<br />
mit Hunderten von Schwerverletzten überfüllt. Über die Zahl der<br />
Toten bestand noch keine Klarheit.<br />
»Sie hatten recht«, sagte der Captain zornig und depr<strong>im</strong>iert. »Die<br />
Russen machen es uns zu leicht, und wir fallen auf den Trick<br />
herein.«<br />
»Wir bekommen best<strong>im</strong>mt noch einmal eine Chance, Captain.«<br />
»Und ob! Wir laufen Southampton an. Mal sehen, ob die Briten<br />
so einen Koloß reparieren können. So, achtern gibt's <strong>im</strong>mer noch<br />
eine Menge zu tun. Können Sie weiter das Steuern überwachen?«<br />
»Jawohl, Sir.«<br />
Die N<strong>im</strong>itz und ihre a<strong>tom</strong>getriebenen Begleitschiffe gingen auf<br />
volle Fahrt Richtung England, fast vierzig Knoten, und ließen den<br />
258
Verband zurück. Eine leichtsinnige Entscheidung, denn die U-Jäger<br />
konnten dieses Tempo nicht mithalten. Andererseits würde ein<br />
U-Boot sehr rasch reagieren müssen, wenn es sie erwischen wollte.<br />
259
Höhe 152, Island<br />
21<br />
Nordischer Hammer<br />
»Das war ein Jäger, und best<strong>im</strong>mt nicht der einzige«, sagte Edwards.<br />
Im Südwesten lockerte sich die Bewölkung auf, am Horizont<br />
leuchtete es blau. Edwards trug Helm und Poncho, saß am<br />
Boden und starrte in die Ferne.<br />
»Da haben Sie wohl recht, Sir«, gab Smith zurück. Der Sergeant<br />
war nervös. Sie saßen nun schon vierundzwanzig Stunden auf<br />
dieser Höhe. Die günstigste Zeit zum Aufbrechen wäre <strong>im</strong> Regen<br />
gewesen, als die Sichtweite nur wenige hundert Meter betragen<br />
hatte. Im Norden ging ein starker Schauer nieder, der ihnen die<br />
Sicht auf Reykjavik nahm. Auch Hafnarfjördur <strong>im</strong> Westen war<br />
kaum auszumachen, was den Sergeant, der wissen wollte, was der<br />
Russe trieb, besorgte. Was, wenn er Edwards' Satelliten-Funkgerät<br />
ortete? Was, wenn Streifen unterwegs waren?<br />
»Lieutenant, auf der einen Seite haben wir Telefonstrippen, auf<br />
der anderen Starkstromleitungen -«<br />
»Wollen Sie etwa sprengen?« fragte Edwards lächelnd.<br />
»Nein, Sir, aber die Russen werden sie best<strong>im</strong>mt durch Streifen<br />
kontrollieren lassen, und für eine Feindberührung ist dies ein ungünstiger<br />
Platz.«<br />
»Richtig - wir sollen beobachten und melden«, erwiderte Edwards,<br />
klang aber nicht sehr überzeugt.<br />
Edwards sah auf die Uhr: 1955 Zulu-Zeit. Doghouse hatte sich<br />
noch nicht gemeldet. Edwards baute das Funkgerät auf. Um 1959<br />
schaltete er es ein und bewegte die Antenne, bis er das Trägersignal<br />
des Satelliten empfing.<br />
»Doghouse ruft Beagle. Doghouse ruft Beagle. Hören Sie mich?<br />
Over.«<br />
»Sieh mal einer an.« Er ging auf Sendung. »Roger, wir empfangen,<br />
Doghouse.«<br />
»Neue Meldungen?«<br />
260
»Negativ, nur Regen. Sichtverhältnisse schlecht.«<br />
Der Fernmeldeoffizier in Schottland schaute auf die Wetterkarte.<br />
Es regnete also tatsächlich. Bislang war er nicht in der Lage gewesen,<br />
seinen Vorgesetzten zu überzeugen, dass man Beagle trauen<br />
konnte. Edwards hatte alle Fragen, die von der Abwehr zusammengestellt<br />
worden waren, korrekt beantwortet. Bei der letzten, seine<br />
Freundin betreffenden Antwort hatte der Zeiger des Streß-Analyzers<br />
ausgeschlagen. Die Emotionen waren also echt gewesen. Hintergrundinformationen<br />
über seinen Werdegang ergaben ein psychologisches<br />
Profil: kein Krieger. Frage: Wie lange konnte der<br />
Junge durchhalten?<br />
Keflavik, Island<br />
Eine MiG war in der Luft. Die anderen standen in den von den<br />
Amerikanern erst kürzlich fertiggestellten Bunkern am Ende der<br />
Startbahn 11. Der Jäger hatte zwei Aufträge. Zum einen sollte er<br />
patrouillieren und <strong>im</strong> Falle einer feindlichen Attacke eingreifen,<br />
zum anderen wurde er sorgfältig von den Radarcontrollern am<br />
Boden verfolgt: Die Geräte mussten justiert werden. So zog das<br />
Kampfflugzeug über dem Stützpunkt Kreise, während die Radar-<br />
Operatoren festzustellen versuchten, ob ihre Instrumente korrekte<br />
Werte anzeigten.<br />
Die Jäger waren bewaffnet und betankt, in ihrer Nähe ruhten<br />
sich die Piloten auf Feldbetten aus. Im Augenblick füllten Tanklaster<br />
die Badger-Bomber, die die Jäger navigatorisch und elektronisch<br />
unterstützt hatten, auf. Bald sollten sie abfliegen und neun<br />
weitere MiG-29 nach Island begleiten.<br />
Inzwischen waren alle Startbahnen bis auf eine geräumt. Die<br />
Trümmer der amerikanischen Flugzeuge hatten Bulldozer vom<br />
Asphalt geschoben. Die Reparatur der Pipeline sollte in einer<br />
Stunde abgeschlossen sein.<br />
»Ein ereignisreicher Tag«, sagte der Major zum Oberst.<br />
»Er ist aber noch nicht zu Ende. Aufatmen kann ich erst, wenn<br />
der Rest des Reg<strong>im</strong>ents hier ist«, erwiderte der Oberst leise. »Die<br />
Amerikaner hätten schon längst angreifen müssen.«<br />
»Wie denn?«<br />
Der Oberst zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Wenn sie den<br />
261
Stützpunkt wirklich ausschalten wollen, belegen sie ihn mit einem<br />
Kernsprengkopf.«<br />
Der feindliche Verband war noch eine Stunde Flugzeit entfernt.<br />
Vor zehn Stunden hatten achtzehn Bomber des Typs B-52H Louisiana<br />
verlassen und waren zum Auftanken auf dem Air-Force-<br />
Stützpunkt Sondrestrom in Grönland zwischengelandet. Fünfzig<br />
Meilen voraus flogen ihnen ein Radarstörflugzeug Raven EF-111<br />
und vier F-4 »Wild Weasel«-.<br />
Die Radargeräte waren halbwegs justiert, und nun machte man sich<br />
daran, die Radar-»Schatten« am Zentralgebirge, die von angreifenden<br />
Flugzeugen ausgenutzt werden konnten, kartographisch zu<br />
erfassen. Zu diesem Zweck rollte nun eine zweite Fulcrum an den<br />
Start.<br />
Ein Operator stieß einen Warnruf aus. Starke elektronische Störgeräte<br />
hatten gerade das klare Bild auf seinem Sichtgerät in eine<br />
trübe Soße verwandelt. Das konnte nur eines bedeuten.<br />
In den unterirdischen Hangars am Ende der Startbahn 11 heulten<br />
die Sirenen los. Piloten, die gedöst oder Domino gespielt hatten,<br />
sprangen auf und eilten an ihre Maschinen.<br />
Der Offizier <strong>im</strong> Tower ging ans Telefon, um die Piloten zu<br />
informieren, und rief dann den Kommandeur der Raketenbatterien<br />
an. »Luftangriff!«<br />
Überall auf dem Stützpunkt begann nun hektische Aktivität. Das<br />
Bodenpersonal startete die Triebwerke, Piloten kletterten in die<br />
Cockpits. Such- und Feuerleitradargeräte der SAM-Batterien wurden<br />
eingeschaltet.<br />
Knapp hinterm Radarhorizont hatten achtzehn B-52 gerade ihre<br />
EMC-Störsysteme in Betrieb genommen. Sie flogen in sechs Gruppen<br />
zu je drei Maschinen an. Die erste fegte <strong>im</strong> Tiefflug über den<br />
Gipfel des Snaefells hundert Kilometer nördlich von Keflavik, der<br />
Rest kam von Westen heran und hielt hinter einem Wall elektronischen<br />
Rauschens auf das Ziel zu.<br />
Der gerade gestartete russische Jäger gewann an Höhe, ließ sein<br />
Radargerät außer Betrieb und suchte den H<strong>im</strong>mel visuell ab, wartete<br />
auf Abfangkoordinaten vom Bodenradar. Seine Kameraden<br />
rollten nun zur Startbahn und stiegen auf. Eine Maschine, die<br />
gerade gelandet war, stand neben einem Tanklaster. Der Pilot<br />
gestikulierte und verfluchte das Bodenpersonal, das verzweifelt<br />
262
emüht war, seinen Jäger aufzutanken und dabei Kerosin auf die<br />
Tragfläche verspritzte. Erstaunlicherweise entzündete sich der<br />
Treibstoff nicht. Ein Dutzend Männer kam mit CO2-Löschern<br />
angerannt, um eine Explosion zu verhindern.<br />
Höhe 152, Island<br />
Edwards riß bei dem unverkennbaren Donnern der Düsenjäger den<br />
Kopf hoch, sah von Osten her eine schwarze Rauchfahne herannahen.<br />
Die Silhouetten jagten eine Meile entfernt an ihnen vorbei,<br />
schwer mit Waffen beladen, und die hochgezogenen Tragflächen<br />
machten die Identifizierung leicht.<br />
»F-4!« schrie er. »Unsere Jungs!«<br />
Es waren Phan<strong>tom</strong>s der Nationalgarde New York, als »Wild<br />
Weasel« zur Ausschaltung von SAM-Batterien angeordnet. Während<br />
sich die Russen auf die Bomber konzentrierten, jagten die<br />
Phan<strong>tom</strong>s <strong>im</strong> Tiefflug über Höhen hinweg und durch Täler, nutzten<br />
das zerklüftete Gelände. Der Kampfbeobachter auf dem Rücksitz<br />
zählte die Radaranlagen der SAM-Batterien und wählte die gefährlichsten<br />
Ziele aus. Als sie bis auf zehn Meter herangekommen<br />
waren, zogen sie die Maschinen hoch und feuerten eine Salve<br />
Antiradar-Raketen Standard-ARM ab.<br />
Die Russen wurden überrumpelt. Sie bemühten sich so angestrengt,<br />
die Bomber mit Raketen unter Feuer zu nehmen, dass sie an<br />
eine Möglichkeit des Angriffs überhaupt nicht dachten. Die anfliegenden<br />
Raketen wurden nicht erfaßt. Drei ARM fanden Ziele,<br />
zerstörten zwei Suchradaranlagen und ein FlaRak-Fahrzeug. Ein<br />
Offizier ließ sein Fahrzeug wenden und versuchte, manuell auf die<br />
neue Bedrohung zu zielen. Die Phan<strong>tom</strong>s störten sein Feuerleitradar<br />
und ließen be<strong>im</strong> Anflug in zehn Meter Höhe Wolken aus<br />
Stanniolstreifen hinter sich zurück. Jeder Pilot raste auf das ihm<br />
zugewiesene Ziel zu und schaute sich dabei rasch um. Einer entdeckte<br />
einen unbeschädigten SAM-Starter, flitzte auf ihn zu, warf<br />
Rockeye-Streubomben, die zu früh landeten, aber über hundert<br />
Kleinbomben verstreuten. Hinter ihm explodierte der SAM-II-Starter,<br />
dessen Besatzung nicht einmal wusste, wie ihr geschah. Tausend<br />
Meter weiter stand ein Flakpanzer, der von dem Phan<strong>tom</strong> mit<br />
Bordwaffen beschossen und schwer beschädigt wurde. Dann sauste<br />
263
der Jäger über den Rest der Halbinsel und ließ Düppel und Leuchtbomben<br />
zurück. Es war eine perfekte Weasel-Mission gewesen. Ehe<br />
die sowjetischen SAM-Besatzungen reagieren konnten, waren alle<br />
vier Maschinen schon wieder verschwunden. Die beiden SAM, die<br />
sie hatten starten können, explodierten in Stanniolwolken, ohne<br />
Schaden anzurichten. Die Batterie hatte zwei Drittel ihrer Starterfahrzeuge<br />
und alle ihre Suchradaranlagen verloren. Drei Flakpanzer<br />
waren ebenfalls zerstört oder beschädigt. Die Bomber waren<br />
nun nur noch zwanzig Meilen entfernt und verwirrten das sowjetische<br />
Radar mit ihren leistungsfähigen EMC-Störsystemen.<br />
Dem Radar der Flakpanzer jedoch, das nach einem neuen System<br />
arbeitete, konnten sie nichts anhaben. Andererseits waren die Flakpanzer<br />
für die Bekämpfung kleinerer Kampfflugzeuge ausgelegt.<br />
Die B- 52 jedoch waren so groß, dass der Leitcomputer sie nicht als<br />
Ziele identifizieren konnte. Der Radarstrahl tastete die Bomber<br />
<strong>im</strong>mer wieder au<strong>tom</strong>atisch ab, aber der Feuerbefehl blieb aus. Die<br />
ganze Elektronik war nutzlos. So schalteten die Bedienungen der<br />
Fla-Kanonen fluchend auf manuell um und nahmen die mächtigen<br />
anfliegenden Ziele ins Visier.<br />
Die Bomber gingen nun bis auf dreihundert Meter herunter, und<br />
ihre Piloten hofften, dem Abwehrfeuer ohne Verluste zu entkommen.<br />
Vor der möglichen Präsenz von Jägern hatte man sie nicht<br />
gewarnt. Ihr Auftrag lautete, Keflavik zu zerbomben, ehe Jäger dort<br />
eintreffen konnten.<br />
Nun war das Überraschungsmoment auf Seiten der Sowjets. Die<br />
Fulcrum kamen <strong>im</strong> Sturzflug aus der Sonne und griffen die Bomber<br />
an. Die nach Süden fliegende Dreiergruppe sah sie gar nicht erst;<br />
zwei B-52 wurden von Raketen getroffen und explodierten in der<br />
Luft. Der dritte forderte über Funk Unterstützung durch Jäger an<br />
und flog ein Ausweichmanöver - zu riskant. Der Pilot zog die<br />
Maschine zu spät hoch, und sie zerschellte nördlich von Keflavik in<br />
einem Feuerball, den Edwards noch aus dreißig Meilen Entfernung<br />
sehen konnte.<br />
Für die russischen Kampfpiloten ging ein Traum in Erfüllung.<br />
Alle acht Maschinen hatten individuelle Ziele, denen sie nun nachjagten.<br />
Die Besatzungen der Bomber hielten weiter auf den Stützpunkt<br />
zu. Zur Flucht war es zu spät; nun konnten sie nur noch nach<br />
Jägern rufen.<br />
Auch die Flak eröffnete nun das Feuer. Ein junger Feldwebel traf<br />
264
einen Bomber, der gerade seine Ladung abwarf. Ein Dutzend Geschosse<br />
fuhr in den Bombenschacht, und die Maschine wurde von<br />
einer ohrenbetäubenden Explosion, die auch einen weiteren B-52<br />
beschädigte, zerrissen. Die Mannschaft an einem SAM-Starter<br />
schaltete das Raketenlenksystem auf Infrarot um und feuerte einen<br />
Flugkörper auf einen Bomber ab. Er traf kurz nach dem Abwurf;<br />
die Tragfläche des B-52 ging in Flammen auf, und das Flugzeug<br />
verlor rasch an Höhe, zog einen schwarzen Rauchteppich hinter<br />
sich her.<br />
Sie sahen es auf ihre Höhe zukommen, ein verwundetes Ungeheuer,<br />
von dessen rechtem Flügel brennender Treibstoff floß. Der<br />
Pilot versuchte, die Höhe zu halten, damit die Besatzung abspringen<br />
konnte, doch alle vier rechten Triebwerke waren ausgefallen,<br />
und die brennende Tragfläche zerbrach. Der Bomber schien in der<br />
Luft zu taumeln, schmierte dann ab und bohrte sich in den Westhang<br />
von Höhe 152. Kein Besatzungsmitglied überlebte. Edwards<br />
brauchte keinen Befehl zu geben. Binnen fünf Minuten hatten seine<br />
Männer ihre Tornister gepackt und flohen <strong>im</strong> Laufschritt nach<br />
Osten.<br />
Die restlichen Bomber waren nun über ihren Zielen. Acht warfen<br />
erfolgreich ihre Bombenladung ab und entfernten sich rasch. Inzwischen<br />
waren fünf von sowjetischen Jägern abgeschossen worden,<br />
und die überlebende Besatzung war verzweifelt bemüht, der unerwarteten<br />
Gefahr zu entkommen. Die Russen, die alle ihre Raketen<br />
verschossen hatten, griffen nun mit Bordkanonen an; ein riskantes<br />
Unterfangen, denn die B-52 hatten Heckkanzeln. Ein Fulcrum<br />
wurde von MG-Geschossen beschädigt und musste abdrehen.<br />
Komplett machte die Verwirrung die Rückkehr der amerikanischen<br />
Phan<strong>tom</strong>s. Sie trugen je drei Sparrow-Luftkampfraketen,<br />
und als deren Zielradar aktiviert wurde, gingen in den Fulcrum die<br />
Warnanlagen los. Die russischen Kampfflugzeuge stoben vor den<br />
zwölf anfliegenden Raketen auseinander und gingen in den Sturzflug.<br />
Vier sausten knapp über Edwards' Gruppe und eine östlich<br />
von Hafnarfjördur abgestürzte B-52 hinweg. Als sie wieder zurückkehrten,<br />
war der H<strong>im</strong>mel leer. Die Phan<strong>tom</strong>s konnten wegen Treibstoffmangel<br />
den Kampf nicht fortsetzen und drehten ab, ohne einen<br />
einzigen Abschuß erzielt zu haben. Die überlebenden Bomber befanden<br />
sich nun in der Sicherheit einer Wolke aus Störsignalen. Die<br />
Sowjets formierten sich und flogen zurück nach Keflavik.<br />
265
Das Resultat der ersten Luftschlacht war gemischt. Die Amerikaner<br />
hatten die Hälfte ihrer Bomber verloren, aber drei von fünf<br />
Startbahnen beschädigt. Den Sowjets war der Großteil einer SAM-<br />
Batterie zerschlagen worden, doch den Stützpunkt Keflavik konnten<br />
sie weiter benutzen. Schon eilte das Bodenpersonal los, um mit<br />
von den Amerikanern zurückgelassenem Material die Startbahn zu<br />
reparieren. Schwere Planierraupen würden den Schutt in die Bombenkrater<br />
schieben und dann mit Schotter und Stahlmatten wieder<br />
eine glatte Oberfläche herstellen. Keflavik war zwar beschädigt,<br />
aber seine Startbahnen sollten bis Mitternacht wieder voll einsatzbereit<br />
sein.<br />
USS Pharris<br />
»Diesmal sieht's ernst aus«, sagte der ASW-Offizier leise. Die Reihe<br />
farbiger Quadrate leuchtete nun schon seit sieben Minuten auf dem<br />
Display des Passiv-Sonar. Die Richtung wanderte langsam nach<br />
achtern ab, als hielte der Kontakt auf den Konvoi zu, nicht auf die<br />
Pharris.<br />
Die Fregatte machte zwölf Knoten Fahrt und hatte das Prairie-<br />
Masker-System eingeschaltet. Heute waren die Sonar-Bedingungen<br />
günstiger. Eine harte Thermokline in zweihundert Fuß Tiefe<br />
schränkte den Wirkungsgrad des Oberflächen-Sonars zwar stark<br />
ein, doch die Pharris schleppte ihre Passiv-Sonar-Batterie unter<br />
dieser Schicht, und die dort herrschende niedrige Wassertemperatur<br />
sorgte für einen vorzüglichen Schallkanal. Besser noch, die<br />
Thermokline war in beiden Richtungen undurchlässig, konnte also<br />
von einem U-Boot-Sonar ebensowenig durchdrungen werden wie<br />
von einem Überwasserschiff. Pharris war von einem U-Boot, das<br />
unter der Schicht fuhr, praktisch nicht zu orten.<br />
»Wie sieht's mit der Positionsbest<strong>im</strong>mung aus?« fragte der Taktische<br />
Gefechtsoffizier (TAO).<br />
»Wird genauer«, antwortete der ASW-Mann. »Bleibt noch die<br />
Frage der Distanz. Unter Berücksichtigung der Wasserbedingungen<br />
und unserer Sonarleistung sollte der Kontakt zwischen fünf und<br />
vierzehn Meilen auf direktem Weg entfernt sein, sich in der ersten<br />
Konvergenzzone befinden.« Eine Konvergenzzone ist ein physikalisches<br />
Phänomen. Schall breitet sich <strong>im</strong> Wasser in alle Richtun<br />
266
gen aus; Lärm aber, der in die Tiefe dringt, wird durch Wassertemperatur<br />
und -druck zu einer Serie von Kurven abgelenkt, die<br />
sich bis zur Oberfläche und anschließend wieder nach unten<br />
krümmen. Die Fregatte selbst konnte das von ihr erzeugte Geräusch<br />
über eine Distanz von vierzehn Seemeilen hören; die Konvergenzzone<br />
hatte die Form eines Kreisringes. Sie begann neunzehn<br />
Meilen entfernt und endete bei einer Distanz von dreihundertzwanzig<br />
Meilen. Der Abstand zum U-Boot war unbekannt,<br />
betrug aber wahrscheinlich weniger als dreiundzwanzig Meilen,<br />
und das war schon zu nahe, denn das Boot konnte sie oder den<br />
Geleitzug, den sie schützten, mit Torpedos oder Schiff-Schiff-Raketen<br />
angreifen.<br />
»Vorschläge, Gentlemen?« fragte Morris. Der TAO sprach als<br />
erster.<br />
»Lassen wir den Hubschrauber starten und den inneren Kreis<br />
abtasten. Eine Orion kann sich mit dem äußeren beschäftigen.«<br />
»Hört sich gut an«, st<strong>im</strong>mte der ASW-Offizier zu.<br />
Fünf Minuten später warf der Hubschrauber der Fregatte fünf<br />
Meilen vor ihr Sonobojen vom Typ Lofar ab. Nach dem Aufprall<br />
auf die Wasseroberfläche stieß diese Miniaturversion eines Passiv-<br />
Sonars in einer einstellbaren Tiefe einen Rundstrahlwandler aus.<br />
In diesem Fall tauchten all diese Geräte unter die Thermokline, um<br />
festzustellen, ob sich das Ziel in der Nähe befand. Die Daten<br />
gingen zurück an die Gefechtszentrale der Pharris: nichts. Das<br />
Display des Passiv-Sonars aber zeigte nach wie vor ein U-Boot an<br />
- oder ein Objekt, das so klang. Der Hubschrauber entfernte sich<br />
weiter und warf dabei Bojen ab.<br />
Dann traf die Orion ein. Die viermotorige Maschine ging über<br />
der von der Fregatte gemeldeten Linie zum Ziel in den Tiefflug.<br />
»Schwaches Signal von sechs, mittelmäßiges von fünf«, meldete<br />
ein Sonar-Operator.<br />
»Roger, bestätigt«, st<strong>im</strong>mte der taktische Koordinator in Bluebird<br />
3 zu. »Wir beginnen jetzt mit der Suche nach magnetischen<br />
Anomalien.«<br />
»Brauchen Sie die Unterstützung unseres Hubschraubers?«<br />
»Ja, aber er soll sich dicht über der Oberfläche halten.«<br />
Sekunden später fegte der SH-2F Sea Sprite der Fregatte nach<br />
Norden und schleppte an einer Trosse den Magnetanomalien-De-<br />
267
tektor hinter sich her. Dieser maß die Störungen <strong>im</strong> Magnetfeld der<br />
Erde, die große Objekte aus Eisen verursachten - wie zum Beispiel<br />
der Stahlrumpf eines U-Bootes.<br />
»Signal von sechs hat nun mittlere Intensität. Signal sieben<br />
gleichbleibend.« Den Männern am Kartentisch bedeutete dies, dass<br />
das U-Boot nach Süden fuhr.<br />
»Ungefähre Entfernung zweiundvierzig- bis fünfundvierzigtausend<br />
Yard, Richtung drei-vier-null bis drei-drei-sechs.« Die Information<br />
wurde sofort an die Orion weitergegeben.<br />
Auf dem Radarschirm sahen sie zu, wie die Orion präzise ein vom<br />
Sonar der Pharris best<strong>im</strong>mtes Quadrat, in dem sich das U-Boot<br />
vermutlich befand, abflog.<br />
»Pharris, hier Bluebird.« Von dieser Tatsache hatte sich Morris<br />
schon vor einer halben Stunde überzeugt.<br />
»Signalstärke sechs n<strong>im</strong>mt zu. Signal fünf nun schwach. Signal<br />
sieben verklingt.« Der Techniker war nun bemüht, gelassen zu<br />
klingen.<br />
»Distanzwerte pendeln sich ein. Geschätzte Geschwindigkeit des<br />
Zieles grob geschätzt acht Knoten. Entfernung dreiundvierzigtausend<br />
Yard.«<br />
»Wanderwelle!« rief der Sonar-Operator des Schiffes. Vom Ziel<br />
war ein metallisches Geräusch ausgegangen: eine zufallende Luke,<br />
ein Werkzeug, die Mündungsklappe eines Torpedorohrs - auf<br />
jeden Fall eindeutig ein von Menschen erzeugter Schall.<br />
»Wanderwelle mechanischen Ursprungs bestätigt, von Bojen<br />
fünf und sechs empfangen«, kam sofort der Spruch vom Flugzeug.<br />
»Bestätigt«, antwortete der TAO der Pharris. »Bekamen wir<br />
auch vom Schleppsonar. Kontakt vermutlich U-Boot.«<br />
»Eindeutig Rotboot-Klassifikation!« tönte es von der Orion zurück.<br />
»Rauchbombe frei! Wir haben einen MAD-Kontakt.« Auf<br />
der Anzeige des Magnetanomalie-Detektors war eine scharfe Spitze<br />
erschienen. Sofort ließ ein Besatzungsmitglied eine Rauchbombe<br />
abwerfen, und die Maschine flog einen engen Kreis, um zur Kontaktstelle<br />
zurückzukehren.<br />
»Position steht fest!« Der taktische Gefechtsoffizier markierte<br />
die Position auf seinem taktischen Display mit einem großen V.<br />
Der Helikopter raste auf den Kontakt zu, über dem die Orion<br />
kreiste, und warf ebenfalls eine Rauchbombe ab.<br />
Die Daten wurden nun an die Bedienungen der Torpedorohre<br />
268
und ASROC-Starter der Fregatte weitergegeben. Beiden Waffen<br />
fehlte die Reichweite, um das Ziel anzugreifen, doch das konnte<br />
sich rasch ändern.<br />
»Nur Geduld«, hauchte Morris auf seinem Sessel in der Gefechtszentrale<br />
und fügte dann lauter hinzu: »Laßt euch Zeit, Leute.<br />
Nageln wir den Kerl erst mal fest, ehe wir schießen.«<br />
Der taktische Koordinator an Bord der Orion st<strong>im</strong>mte zu und<br />
entspannte sich. P-3 und Hubschrauber nahmen <strong>im</strong> Norden eine<br />
weitere MAD-Suche vor. Diesmal bekam die Orion einen Wert.<br />
Noch ein Anflug, und der Kurs des Kontakts war festgestellt.<br />
Anschließend eine Suche von Osten nach Westen - erst erfolglos,<br />
doch nach einer Wiederholung stand fest, dass es sich bei dem<br />
Kontakt um ein U-Boot handelte. Die Leitung der Operation übernahm<br />
nun der taktische Koordinator in der Orion. Die große<br />
Maschine flog in zwei Meilen Entfernung Kreise; der Hubschrauber<br />
ging für seinen letzten Überflug in Position. Der Pilot prüfte<br />
sorgfältig seine taktischen Anzeigen und konzentrierte sich dann<br />
auf den Kreiselkompaß.<br />
Dann begannen Hubschrauber den letzten Anflug, gefolgt von<br />
der Orion. Eine letzte Markierung wurde abgeworfen, eine grüne<br />
schw<strong>im</strong>mende Leuchtbombe. Der Sea Sprite flog eine scharfe<br />
Rechtskurve, um der tief anfliegenden Orion freie Bahn zu geben.<br />
Die Bombenklappen der P-3 öffneten sich, ein Torpedo Mk-46<br />
wurde scharfgemacht.<br />
»Torpedo frei!«<br />
Der Torpedo kam sauber frei. Außerdem warf die Orion eine<br />
weitere Sonoboje ab, diesmal ein DIFAR mit Richtcharakteristik.<br />
»Starkes Signal in eins-sieben-neun.«<br />
Der Torpedo tauchte auf zweihundert Fuß und begann dann mit<br />
Hochfrequenz-Sonar seine kreisförmige Suchfahrt.<br />
Der Besatzung des U-Boots war die Aktivität über der Wasseroberfläche<br />
nicht verborgen geblieben. Das Boot, ein für den Fronteinsatz<br />
zu altes und lautes Foxtrott, lauerte dennoch auf den Geleitzug,<br />
der <strong>im</strong> Süden gemeldet worden war. Sein Sonar hatte einen<br />
Aufschlag an der Oberfläche festgestellt und gemeldet, doch der<br />
Kapitän war mit der Best<strong>im</strong>mung der Position des Geleitzugs, dem<br />
er sich nähern sollte, zu beschäftigt. Das Zielsuchsonar des Torpedos<br />
änderte sich rasch. Auf der Stelle ging das Foxtrott auf äußerste<br />
Fahrt und drehte in einem vorgeplanten Ausweichmanöver hart<br />
269
nach Backbord ab. Die jäh zunehmenden Kavitationsgeräusche<br />
seiner Schrauben wurden von mehreren Sonobojen und dem taktischen<br />
Sonar der Pharris aufgefangen. Der Torpedo war in einem<br />
Such- und Horch-Modus und setzte sowohl aktives als auch passives<br />
Sonar ein, um sein Ziel zu finden. Bei der Vollendung des ersten<br />
Kreises erfaßten die passiven Rezeptoren in der Spitze des Torpedos<br />
das Kavitationsgeräusch und lösten eine Kursänderung aus. Bald<br />
prallten die Impulse vom Heck des U-Boots, das Haken schlug, um<br />
zu entkommen, ab. Der Torpedo schaltete au<strong>tom</strong>atisch auf Dauerpeilen<br />
um, ging auf Höchstgeschwindigkeit und hielt unbarmherzig<br />
wie ein Roboter auf sein Ziel zu.<br />
Die Sonar-Operatoren <strong>im</strong> Flugzeug und auf der Fregatte hatten<br />
die beste Übersicht. Die Kurslinien von U-Boot und Torpedo begannen<br />
zu konvergieren. Das Foxtrott, das mit seinen fünfzehn<br />
Knoten Höchstfahrt dem vierzig Knoten schnellen Torpedo nicht<br />
entkommen konnte, begann eine Reihe von Wendemanövern, doch<br />
der Torpedo ließ sich nicht abschütteln. Be<strong>im</strong> ersten Versuch verfehlte<br />
der Mark-46 sein Opfer um sechs Meter, machte kehrt und<br />
griff erneut an. Und dann beging der Kapitän des U-Bootes einen<br />
Fehler. Anstatt weiter eine Linkskurve zu fahren, ging er auf Gegenkurs,<br />
in der Hoffnung, den Torpedo zu verwirren. Doch er geriet<br />
genau in seine Bahn.<br />
Die Besatzung des Hubschraubers sah das Wasser gleichsam<br />
hochspringen und dann aufschäumen, als die Druckwelle der Explosion<br />
die Oberfläche erreichte.<br />
»Sprengkopf detoniert«, meldete der Pilot. Einen Augenblick<br />
später warf sein System-Operator eine Passiv-Boje ab, die gleich<br />
darauf Geräusche aufnahm.<br />
Das Foxtrott sank. Sie hörten, wie Preßluft in seine Ballasttanks<br />
geblasen wurde, das Surren seiner noch mit voller Kraft laufenden<br />
Elektromotoren, die Schrauben, die sich vergeblich bemühten, das<br />
vollaufende Boot an die Oberfläche zu treiben. Jäh verstummte das<br />
Motorengeräusch. Zwei Minuten später erklang ein metallisches<br />
Kreischen, als die Schotts vom zunehmenden Wasserdruck zerquetscht<br />
wurden.<br />
»Hier Bluebird. Das war eine Versenkung. Können Sie bestätigen?<br />
Over.«<br />
»Roger, Bluebird«, antwortete der ASW-Offizier. »Wir hörten<br />
Preßluft und berstendes Metall. Versenkung bestätigt.«<br />
270
Auf der Brücke überall breites Grinsen. Bald würde der Bootsmannsmaat<br />
die Silhouette eines halben roten U-Bootes neben die<br />
Tür malen. Noch war ihnen nicht aufgegangen, dass mit ihrer Hilfe<br />
gerade hundert junge Männer, die sich kaum von ihnen unterschieden,<br />
vom Wasserdruck in den Tiefen des Nordatlantik zerdrückt<br />
worden waren.<br />
»Was war das?« rief ein Ausguck. »Explosion an Steuerbord<br />
querab!«<br />
Morris schnappte sein Fernglas und eilte durch die offene Tür.<br />
In der Richtung des Geleitzuges stieg eine schwarze Rauchwolke<br />
gen H<strong>im</strong>mel. Es hatte wohl noch jemand seine erste Versenkung zu<br />
verzeichnen.<br />
USS N<strong>im</strong>itz<br />
So viele Schweißgeräte hatte Toland noch nie in Betrieb gesehen.<br />
Unter Leitung des Ersten Offiziers und dreier Sachverständiger<br />
schnitten Besatzungsmitglieder mit Schweißbrennern die beschädigten<br />
Teile des Flugdecks der N<strong>im</strong>itz und seiner Eisenstützen weg.<br />
Was schon schl<strong>im</strong>m ausgesehen hatte, entpuppte sich bei näherer<br />
Inspektion als Katastrophe. Sechs der gewaltigen Stützrahmen unter<br />
dem Flugdeck waren ruiniert, und die Explosion hatte noch zwei<br />
Decks tiefer ihre Wirkung gehabt. Ein Drittel des Hangardecks war<br />
ausgebrannt, der größte Teil der Flugzeugtreibstoffleitungen und<br />
alle Munitionsaufzüge mussten instand gesetzt werden. Die Gefechtszentrale<br />
mit allen Computern und Fernmeldeeinrichtungen<br />
existierte nicht mehr. Alle Landefangseile mussten ausgetauscht<br />
werden. Das Hauptsuchradar war zerstört. Und so ging die Liste<br />
weiter.<br />
Schlepper bugsierten den verwundeten Flugzeugträger in den<br />
Hafen von Southampton. Vor dem schnittigen Rumpf strömte<br />
Wasser in Kaskaden ins Hafenbecken. Experten der Royal Navy<br />
und der Reparaturwerft waren bereits an Bord, inspizierten die<br />
Schäden unter Deck und erstellten einen Katalog der Materialien,<br />
die gebraucht wurden, um das Schiff wieder einsatzfähig zu machen.<br />
Captain Svenson sah zu, wie die Anholtaue an Land geschossen<br />
wurden, wo Männer das Schiff dann festmachten. Inzwischen<br />
stand fest, dass fünfhundert Männer tot und dreihundert verwundet<br />
271
waren, und das war längst noch nicht die endgültige Zahl der<br />
Opfer. Am schl<strong>im</strong>msten waren die Crews auf dem Flugdeck betroffen,<br />
deren Unterstände von den beiden sowjetischen Raketen vernichtet<br />
worden waren. Auch diese mussten ersetzt werden, ehe die<br />
N<strong>im</strong>itz wieder in See gehen und kämpfen konnte.<br />
»Toland, Sie kommen nach Schottland. Unsere Flieger werden<br />
aufgeteilt«, sagte Svenson. »Die Jäger und Hawkeye werden nach<br />
Norden verlegt, wo der Iwan britische Radaranlagen behämmert.<br />
Ich möchte, dass Sie mit den Besatzungen der Jäger zusammenarbeiten<br />
und herauszufinden versuchen, was Iwan mit seinem Badger<br />
vorhat. Die Jagdbomber kommen fürs erste zur taktischen<br />
Luftreserve der Nato.«<br />
»Wann fahre ich ab?« Toland fiel ein, dass er nichts zu packen<br />
hatte. Auch dafür hatten die Kingfish gesorgt. Seine erste Handlung<br />
war dann ein Telegramm an seine Familie: Mir ist nichts passiert.<br />
Island<br />
»Doghouse, hier Beagle. Was, zum Teufel, ist hier gerade passiert?<br />
Over.«<br />
»Beagle, ich bin ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, dass Keflavik<br />
gerade angegriffen worden ist.«<br />
»Kann man wohl sagen. Eben stürzte ein B-52. auf unseren Hügel.<br />
Ich hatte doch Jäger gemeldet. Geben Sie das denn nicht weiter?«<br />
»Ihre Information wurde als unbestätigt behandelt und nicht<br />
weitergegeben, Beagle. Ich war damit nicht einverstanden. Bitte<br />
fahren Sie fort.«<br />
»Ich sah vier, wiederhole: vier sowjetische Einsitzer mit zwei<br />
Seitenrudern. Verstanden?«<br />
»Zwei Seitenruder, verstanden. Gab es bei dem von Ihnen beobachteten<br />
Absturz Überlebende?«<br />
»Negativ. Keine Fallschirme in der Luft, und den Aufprall kann<br />
niemand überlebt haben. Ich sah einen Feuerball am Horizont,<br />
konnte aber nicht beurteilen, was das war. Wie haben sich die<br />
Weasel gehalten?«<br />
»Darf ich nicht sagen, Beagle, aber vielen Dank für den Hinweis<br />
auf die SAM-Batterien.«<br />
272
»Haben Sie Anweisungen für mich?«<br />
»Ihr Status wird <strong>im</strong> Augenblick überprüft. Wir melden uns zur<br />
vollen Stunde wieder.«<br />
»Lieber in zwei Stunden. Wir müssen zusehen, dass wir verschwinden,<br />
ehe der Iwan eine Streife losschickt. Out.«<br />
Sie hatten bereits einen Kilometer zurückgelegt und hielten auf<br />
das unbesiedelte Ödland <strong>im</strong> Osten zu. Links von ihnen war ein<br />
See, an dessen Westufer viele Häuser standen. Hier mussten sie<br />
vorsichtig sein. Im Laufschritt passierten sie eine Hochspannungsleitung<br />
und bogen nach Süden ab, um einen Hügelkamm zwischen<br />
sich und die Ansiedlung zu bringen. Eine Stunde später waren sie<br />
auf dem Lavafeld Holmshraun, einem unglaublichen Felsenmeer<br />
über der Landstraße 1, auf der in beiden Richtungen viel Verkehr<br />
herrschte.<br />
»Und was nun?« fragte Smith spitz.<br />
»Tja, Sergeant, hier sind wir gut getarnt. Ich finde, wir sollten<br />
abwarten, bis es ein bißchen dunkler wird, und dann die Straße<br />
überqueren. Laut Karte ist die Landschaft <strong>im</strong> Norden dünner besiedelt.«<br />
»Was werden unsere Freunde von Doghouse davon halten?«<br />
»Das stellen wir am besten gleich fest.« Edwards schaute auf die<br />
Uhr. Seine Meldung war schon fast zwei Stunden überfällig. Doghouse<br />
war ungehalten.<br />
»Warum haben Sie sich nicht gemeldet?«<br />
»Wir sind gerade acht Kilometer marschiert. Oder sollten wir<br />
vielleicht sitzenbleiben und zusehen, wie die Russen an dem<br />
Wrack herumpulen?«<br />
»Verstanden, Beagle. Wir haben eine Anweisung für Sie. Verfügen<br />
Sie über eine Karte?«<br />
»Ja, 1 : 15 000«<br />
»Gut, dann marschieren Sie nach Grafarholt. Dort gibt es einen<br />
Hügel. Suchen Sie sich in der Nähe einen sicheren Platz und warten<br />
Sie weitere Instruktionen ab.«<br />
»Moment, Doghouse, was wird, wenn der Iwan uns anhand<br />
unserer Funksignale ortet?«<br />
»Ah, es war auch an der Zeit, dass Sie sich danach erkundigen.<br />
Ihr Funkgerät sendet auf UHF, Seitenfrequenz und verschlüsselt,<br />
verfügt also über Tausende von Kanälen. Unwahrscheinlich, dass<br />
jemand per Zufall den richtigen erwischt. Wenn Sie die Richtan<br />
273
tenne benutzen, brauchen Sie zudem nur einen Hügel zwischen<br />
sich und den Russen zu haben. Zufrieden?«<br />
»Einigermaßen.»<br />
»Sonst noch irgendwelche Meldungen?«<br />
»Aktivität auf der Landstraße unter uns. Mehrere grüne Lkw,<br />
sowjetisches Heer. Zahlreiche kleine Flugzeuge. Keine Panzer.«<br />
»Gut. Nehmen Sie sich Zeit, gehen Sie auf Nummer Sicher. Ihr<br />
Auftrag ist, Feindkontakt zu meiden und Meldung zu erstatten.<br />
Wir sind da, wenn Sie uns brauchen. Out.«<br />
In Station »Doghouse«, die sich in Nordschottland befand,<br />
lehnte sich der Fernmeldeoffizier auf seinem Drehsessel zurück.<br />
»Der Junge klingt ein bißchen nervös«, merkte ein Offizier vom<br />
Nachrichtendienst an und griff nach seiner Teetasse.<br />
»Wohl kaum Material für die SAS, was?« kommentierte ein<br />
anderer.<br />
»Urteilen wir nicht überhastet«, meinte ein Dritter. »Er ist intelligent,<br />
sportlich und war geistesgegenwärtig genug, sich zu verziehen,<br />
als Flucht angesagt war. Scheint etwas nervös zu sein, aber in<br />
seiner Lage ist das verständlich.«<br />
Der Erste wies auf die Karte. »Zwölf Stunden für diese kurze<br />
Distanz?«<br />
»Durch hügeliges, offenes Terrain, auf dem eine ganze Division<br />
Fallschirmjäger mit Lkw und Schützenpanzern herumwuselt. Zudem<br />
geht die Sonne nie unter. Was erwarten Sie da von gerade mal<br />
vier Männern?« fragte ein Vierter, der Zivil trug. Er war be<strong>im</strong> 22.<br />
SAS-Reg<strong>im</strong>ent gewesen und <strong>im</strong> Einsatz schwer verwundet worden.<br />
»Wäre der Junge vernünftig, hätte er es schon gestern gesteckt<br />
und sich ergeben. Interessantes Charakterprofil. Wenn er es<br />
schafft, die Höhe rechtzeitig zu erreichen, wird er uns sehr nützlich<br />
sein.«<br />
USS Pharris<br />
Der Geleitzug hatte sich zerstreut. Morris sah auf dem Radar-<br />
Display einen sich vergrößernden Kreis von Schiffen, die nun nach<br />
Osten abzudrehen begannen, um sich wieder zu formieren. Ein<br />
Frachter war versenkt worden, ein anderer kroch schwer beschädigt<br />
zurück nach Westen. Drei Fregatten versuchten, das schuldige<br />
274
U-Boot zu finden. Gallery hatte einen möglichen Kontakt gehabt<br />
und mit einem Torpedo angegriffen, aber erfolglos. Vier Hubschrauber<br />
warfen Sonobojen, in der Hoffnung, ihn wieder zu erfassen,<br />
und ein halbes Dutzend Sonargeräte pingte drauflos, aber <strong>im</strong><br />
Augenblick sah es so aus, als sei das U-Boot der Eskorte entkommen.<br />
»Das hat er geschickt gemacht«, gestand der TAO zu. »Sein<br />
einziger Schnitzer war, dass er das Ende des Konvois angriff.«<br />
»Seine Feuerleitung war nicht gerade sensationell«, meinte Morris.<br />
»Wie ich höre, wurden fünf Fische mit Sonar erfaßt. Gehen wir<br />
von drei Zielen aus. Zwei Treffer für eine Versenkung. Schaden an<br />
einem anderen Schiff. Am dritten muss er glatt vorbeigeschossen<br />
haben. Und was treibt er jetzt wohl?«<br />
»Wetten, dass es ein altes A<strong>tom</strong>-U-Boot ist?« sagte der TAO.<br />
» Sein Feuerleitsystem ist nicht auf dem neuesten Stand, und es kann<br />
nicht schnell fahren und zugleich unentdeckt bleiben. Es holte den<br />
Geleitzug mit Mühe und Not ein und knabberte zwei Schiffe ab. Als<br />
der Konvoi auseinanderstob, war es nicht in der Lage, die Verfolgung<br />
aufzunehmen, ohne sich durch Lärm zu verraten.«<br />
»Und was tat es dann?« fragte der ASW-Offizier.<br />
»Verkroch sich mitten <strong>im</strong> Geleitzug und tauchte dann weg, ging<br />
sozusagen <strong>im</strong> Lärm der trampelnden Herde unter...«<br />
»Es verzog sich also nach Norden.« Morris beugte sich über das<br />
Display. »Die meisten Frachter gingen auf Nordostkurs, als der<br />
Befehl zum Zerstreuen kam. Unser Freund aber fuhr vermutlich<br />
nach Norden, um sich an ein anderes Ziel zu hängen. Mit welchem<br />
Typ haben wir es da zu tun?«<br />
»Laut Nachrichtendienst sind drei Foxtrott, ein November und<br />
vielleicht noch ein weiteres A<strong>tom</strong>-U-Boot in diesem Gebiet. Das<br />
Boot, das wir versenkten, war wahrscheinlich ein Foxtrott; zu<br />
langsam, um dem Geleitzug folgen zu können.« Der ASW-Offizier<br />
schaute auf. »Ein November hätte das aber geschafft. Mit einem<br />
neueren Boot haben wir es also nicht zu tun. Das würde weiterschießen.<br />
Sagen wir: ein November.«<br />
»Gut, nehmen wir an, es fuhr mit sechs oder sieben Knoten nach<br />
Norden und drehte dann nach Osten ab, in der Hoffnung, uns<br />
morgen noch einmal zu erwischen. Wo müßte es sich dann befinden<br />
?«<br />
»Im Augenblick? Hier, Sir.« Der ASW-Offizier wies auf einen<br />
275
Punkt achtzehn Meilen hinter der Fregatte. »Leider können wir<br />
nicht umkehren, um es zu jagen.«<br />
»Nein, aber wir können horchen für den Fall, dass es aufzuholen<br />
versucht.« Morris dachte angestrengt nach. Der Geleitzug sollte in<br />
einer Stunde auf Kurs eins-zwei-null gehen, um sich weiter südlich<br />
der unvermittelt größeren Bedrohung durch sowjetische Langstrekkenbomber<br />
zu entziehen. Bis der Konvoi sich wieder formiert hatte<br />
und alle Schiffe auf Station waren, würde Zeit vergehen - die das<br />
November best<strong>im</strong>mt nutzte, um sich seinem Ziel zu nähern. Und da<br />
die Frachter <strong>im</strong> Zickzack liefen, kamen sie nur mit sechzehn Knoten<br />
voran. Ein November mochte versuchen, sie einzuholen. »Die Operatoren<br />
sollen diesem Sektor ganz besondere Aufmerksamkeit<br />
schenken. Mag sein, dass es wieder auftaucht.«<br />
»Rufen wir eine P-3?« fragte der TAO.<br />
Morris schüttelte den Kopf. »Die werden vorne gebraucht, wo<br />
die Hauptbedrohung ist. Wir haben uns um Verfolger zu kümmern.<br />
Wetten, dass dieser Kerl sich bald an uns hängt?«<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Gute Nachrichten«, meldete der Marineoffizier. »Unsere Bomber<br />
melden die Versenkung von drei Flugzeugträgern, zwei Kreuzern<br />
und zwei Zerstörern.«<br />
Alexejew und sein Vorgesetzter tauschten einen Blick: Die Arroganz<br />
der Kameraden in Blau würde nun unerträglich werden.<br />
»Wie verläßlich sind diese Informationen?« frage der OB Südwest.<br />
»Vor dem Angriff wurden vier flugzeugträgerähnliche Schiffe<br />
fotografiert. Be<strong>im</strong> nächsten Satellitendurchlauf acht Stunden später<br />
war nur noch eines zu sehen. Es fehlten auch zwei Kreuzer und zwei<br />
Zerstörer. Und nachrichtendienstlichen Meldungen zufolge<br />
landete eine große Zahl trägergestützter Flugzeuge auf einem französischen<br />
Luftstützpunkt in der Bretagne. Unsere U-Boote waren<br />
nicht in der Lage, Kontakt mit dem Verband zu bekommen - es hat<br />
den Anschein, als wäre eines versenkt worden -, aber unsere erste<br />
See/Luftschlacht war ein durchschlagender Erfolg. Wir sperren<br />
ihnen den Atlantik, Genossen«, prophezeite der Kapitän zur See.<br />
»Das wird auch nötig sein«, meinte Alexejew.<br />
276
Sein Chef brummte zust<strong>im</strong>mend. Die Entwicklungen in Deutschland<br />
sahen ungünstig aus. Die Luftwaffe war schwerer angeschlagen,<br />
als man befürchtet hatte, und das Resultat war eine Verzögerung<br />
der Landoffensive. Am zweiten Kriegstag waren die Angriffsziele<br />
des ersten nur an einem Frontabschnitt erreicht worden, und<br />
dort hatte der Feind zwanzig Kilometer östlich von Hamburg einen<br />
heftigen Gegenangriff gestartet. Die Panzerverluste waren fünfzig<br />
Prozent höher als erwartet, und viele Einheiten meldeten schwere<br />
Luftangriffe. Bisher war nur die Hälfte der Elbbrücken durch Pontonbrücken<br />
ersetzt worden, die jedoch eine verminderte Tragfähigkeit<br />
hatten. Die Nato-Armeen hatten ihre volle Kampfstärke noch<br />
nicht erreicht. Noch <strong>im</strong>mer trafen amerikanische Verstärkungen<br />
auf dem Luftweg ein und stießen zu ihrer bereitstehenden Ausrüstung.<br />
Die erste sowjetische Angriffswelle musste bluten, die zweite<br />
saß zum größten Teil noch hinter der Elbe fest.<br />
Island<br />
»Dunkler, als es jetzt ist, wird es nicht mehr«, sagte Edwards. Es<br />
herrschte »nautisches Zwielicht«, wie Meteorologen und Seeleute<br />
sagen. Die Sichtweite betrug nur noch wenige hundert Meter; die<br />
Sonne stand knapp unterm Nordwesthorizont. Der Lieutenant<br />
nahm das Funkgerät auf den Rücken und stand auf. Seine Marines<br />
folgten seinem Beispiel und legten so viel Begeisterung an den Tag<br />
wie Kinder auf dem Weg zur Schule.<br />
Sie gingen über leicht abfallendes Gelände auf den Fluß Sudura<br />
zu, der, wie Edwards fand, eher ein mittelgroßer Bach war. Das<br />
Lavafeld bot gute Deckung. Der Boden war mit Felsen übersät,<br />
manche bis zu einem Meter hoch; hier blieb Bewegung dem oberflächlichen<br />
Beobachter verborgen. Edwards konnte nur hoffen, dass<br />
keine Späher in der Nähe waren. Sie hatten eine Anzahl sowjetischer<br />
Streifen beobachtet, vorwiegend auf Militär-Lkws, die alle<br />
dreißig Minuten vorbeikamen. Feste Positionen machten sie nicht<br />
aus. Mit Sicherheit musste das Wasserkraftwerk bei Burfell besetzt<br />
worden sein. Diese Einrichtung war bislang noch nicht bombardiert<br />
worden, denn in den Häusern unter ihnen brannte noch<br />
elektrisches Licht.<br />
Die Felsen wurden kleiner, das Gelände ging in eine Wiese über.<br />
277
Dem Geruch und der Kürze des Grases nach zu urteilen, hatten hier<br />
vor kurzem Schafe geweidet. Die Männer duckten sich instinktiv<br />
und marschierten auf eine geschotterte Straße zu. Hier standen<br />
Häuser und Scheunen weit und unregelmäßig zerstreut. Sie wählten<br />
eine Stelle, an der die Lücke zwischen zwei Gebäuden rund fünfhundert<br />
Meter breit war, und hofften, dank ihrer Tarnanzüge und<br />
des schwachen Lichts unentdeckt zu bleiben. Im Freien war kein<br />
Mensch zu sehen. Edwards ließ seine Gruppe anhalten und sah sich<br />
die nächststehenden Häuser durchs Fernglas genau an. In einigen<br />
brannte Licht, aber es waren nirgends Leute zu sehen. Hatten die<br />
Russen etwa eine Ausgangssperre verhängt? Das bedeutete, dass<br />
jeder, der <strong>im</strong> Freien angetroffen wurde, sofort erschossen werden<br />
konnte. Angenehme Vorstellung, dachte Edwards.<br />
Das Flußufer war steil und mit glatten Steinen bedeckt. Smith<br />
ging als erster hinunter; die anderen lagen mit schußbereiten Waffen<br />
am Südufer. Der Sergeant bewegte sich anfangs nur langsam<br />
und prüfte die Wassertiefe, ehe er mit erhobenem Gewehr ans<br />
andere Ufer eilte. Von dort aus winkte er: Alles klar. Edwards<br />
merkte bald, warum der Sergeant den Fluß so hastig durchwatet<br />
hatte. Das hüfttiefe Wasser war eiskalt, es kam wie die meisten<br />
Gewässer in Island von einem schmelzenden Gletscher. Er stöhnte<br />
und watete mit Gewehr und Funkgerät hoch überm Kopf so rasch<br />
wie möglich hinüber. Eine Minute später stand er am anderen Ufer.<br />
Smith lachte in sich hinein. »Das hat uns wohl alle aufgeweckt.«<br />
»Da friert man sich ja den Arsch ab«, murrte Rodgers.<br />
»Die Luft scheint rein zu sein«, erklärte Edwards. »Hinter dieser<br />
Wiese noch ein Bach, danach müssen wir zwei Straßen kreuzen und<br />
erreichen dann über ein Lavafeld eine Anhöhe. Auf geht's, Männer.«<br />
»Recht so, Lieutenant.« Smith stand auf und marschierte los. Die<br />
anderen folgten ihm in Abständen von fünf Metern. Der Kerl hat's<br />
aber eilig, dachte der Sergeant.<br />
Hier war das Gelände angenehm eben, und das Gras reichte<br />
ihnen bis an die Stiefelschäfte. Sie schritten rasch aus, die Gewehre<br />
schußbereit vor der Brust, und wichen leicht nach Osten ab, um das<br />
Dorf Holmur zu meiden. Der nächste Fluß war seichter als der<br />
Sudura, aber nicht weniger kalt. Nach seiner Durchquerung hielten<br />
sie an und waren nun nur noch zweihundert Meter von der Landstraße<br />
entfernt. Wieder ging Smith als erster voran - diesmal tief<br />
278
geduckt und in kurzen Spurts gefolgt von Pausen, in denen er sich<br />
hinkniete und das Gelände absuchte. Die Männer hinter ihm folgten<br />
seinem Beispiel. Nun sammelte sich die Gruppe fünfzig Meter<br />
von der Straße entfernt <strong>im</strong> hohen Gras.<br />
»So weit, so gut «, meinte Smith. »Wir überqueren die Straße<br />
einzeln <strong>im</strong> Abstand von einer Minute. Ich gehe wieder voran und<br />
warte fünfzig Meter weiter bei diesen Felsblöcken da drüben. Haltet<br />
euch auf der Straße nicht auf - Kopf runter und durch. Wer<br />
etwas kommen sieht, wirft sich so weit wie möglich von der Straße<br />
entfernt auf den Boden. Wenn ihr still liegen bleibt, kann euch<br />
niemand sehen. Seid vorsichtig. Verstanden?« Alle, Edwards eingeschlossen,<br />
nickten zust<strong>im</strong>mend.<br />
Der Sergeant hielt Wort. Nachdem er sich ein letztes Mal umgesehen<br />
hatte, hastete er über die Straße. Eine Minute später folgte<br />
Garcia. Dann kam Rodgers. Edwards zählte bis sechzig und jagte<br />
los. Er stellte mit Erstaunen fest, wie anstrengend das war. Sein<br />
Herz hämmerte vor Angst, als er die Fahrbahn erreicht hatte, und er<br />
blieb mitten auf der Straße wie erstarrt stehen. Aus dem Norden<br />
näherten sich Autoscheinwerfer. Edwards aber stand wie angewurzelt<br />
da und sah mit Entsetzen, wie sie <strong>im</strong>mer näher kamen...<br />
»Los, Lieutenant!« zischte der Sergeant ihm zu.<br />
Edwards schüttelte heftig den Kopf und rannte auf den Sergeant<br />
zu.<br />
»Da kommt was!« stieß er hervor.<br />
»St<strong>im</strong>mt. Immer mit der Ruhe, Sir. Verteilen wir uns. Sucht euch<br />
eine gute Deckung und rührt euch nicht. Und seht zu, dass die<br />
Waffen gesichert sind! Sie bleiben bei mir, Sir.«<br />
Die beiden Soldaten schlugen sich links und rechts ins hohe Kraut<br />
und wurden unsichtbar, als sie sich nicht mehr bewegten. Edwards<br />
legte sich neben Sergeant Smith. »Ob die mich wohl gesehen haben?«<br />
fragte er.<br />
Es war so dunkel, dass er Smiths' wütendes Gesicht nicht sehen<br />
konnte. Der Sergeant erwiderte: »Wahrscheinlich nicht. Aber machen<br />
Sie so was nicht noch einmal, Sir.«<br />
»Das kommt nicht wieder vor. Vergessen Sie nicht, Sergeant, dass<br />
ich kein Marineinfanterist bin.«<br />
»Halten Sie die Ohren offen und tun Sie, was wir sagen, klar?«<br />
flüsterte Smith. »Wir sind Marines und passen schon auf Sie auf.«<br />
Das Scheinwerferpaar näherte sich langsam auf der abschüssigen<br />
279
Straße. Der Fahrer traute wohl dem losen Schotter nicht. Hier<br />
gabelte sich die Straße. Ein Militärfahrzeug, wie sie sahen, denn<br />
seine Scheinwerfer waren bis auf zwei schmale Schlitze mit Klebeband<br />
abgedeckt.<br />
Edwards rührte sich nicht, packte aber den Kunststoffschaft<br />
seines Gewehrs fester. Was, wenn ihn jemand auf der Straße gesehen<br />
und die Russen verständigt hatte? Smith streckte die Hand aus<br />
und drückte Edwards' Gewehrlauf hinunter. »Vorsicht mit dem<br />
Ding, Lieutenant«, flüsterte er.<br />
Zehn Männer sprangen von dem Lkw und verteilten sich keine<br />
fünfzig Meter entfernt auf der Wiese. Wie auf ein Kommando hin<br />
knöpften sie die Hosen auf und erleichterten sich. Edwards musste<br />
sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Als sie fertig waren,<br />
stiegen sie wieder auf den Laster, der sich geräuschvoll entfernte.<br />
Die Marines sammelten sich wieder, als seine Rücklichter unterm<br />
Horizont verschwanden.<br />
»Schade«, merkte Rodgers grinsend an, »dem einen hätt' ich<br />
glatt den P<strong>im</strong>mel abschießen können!«<br />
»Gut gemacht, Leute«, sagte Smith. »Weiter, Lieutenant?«<br />
Edwards, beschämt über seinen Schnitzer, ließ Smith vorangehen.<br />
Sie überquerten die Schotterstraße und hatten hundert Meter<br />
weiter wieder ein Lavafeld erreicht. Sie kletterten über Felsblöcke<br />
ins Ödland. Die nassen Hosen ihrer Kampfanzüge klebten und<br />
trockneten <strong>im</strong> kühlen Westwind nur langsam.<br />
USS Pharris<br />
»Unserem November fehlt die echofreie Beschichtung«, sagte der<br />
ASW-Offizier leise und wies auf das Display. »Das ist er, nehme ich<br />
an, er versucht, den Geleitzug einzuholen.«<br />
»Entfernung rund sechsundvierzigtausend Yard«, erklärte der<br />
TAO.<br />
Fünf Minuten später flog der Hubschrauber der Pharris mit<br />
Volleistung nach Südwesten, und Bluebird 7, eine weitere PC-3<br />
Orion, hielt von Osten her auf den Bezugspunkt zu. Beide Maschinen<br />
flogen tief und hofften, das U-Boot, das zwei ihrer Schutzbefohlenen<br />
versenkt und einen weiteren schwer beschädigt hatte, zu<br />
überraschen. Der Russe hatte seine Geschwindigkeit gesteigert und<br />
280
damit vermutlich einen Fehler begangen. Möglicherweise lautete<br />
sein Befehl, den Geleitzug zu verfolgen und über Funk Positionsmeldungen<br />
zu geben, die andere U-Boote nutzen konnten. Vielleicht<br />
wollte er aber auch nur aufholen, um noch einmal anzugreifen.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer, die Reaktorpumpen seines Bootes liefen und<br />
erzeugten einen Lärm, den der Rumpf nicht dämmen konnte. Er<br />
hatte das Sehrohr ausfahren lassen, und das gab den Maschinen<br />
eine Chance, ihn von oben zu orten.<br />
»Okay, Bluebird, wir sind nur noch drei Meilen vom Bezugspunkt<br />
entfernt. Geben Sie Ihre Position durch.«<br />
»Wir sind zwei Meilen hinter Ihnen, Papa 126. Illuminieren!«<br />
Der System-Operator hob die Abdeckung vom Radarschalter<br />
und legte ihn um. Augenblicklich begann der unterm Bug des<br />
Hubschraubers angebrachte Radarsender Energie auszustrahlen.<br />
»Kontakt! Radarkontakt in eins-sechs-fünf, Distanz elfhundert<br />
Yard!«<br />
»MAD frei!« Der Pilot erhöhte die Triebwerksleistung und raste<br />
auf den Kontakt zu.<br />
»Wir haben ihn auch!« rief der taktische Koordinator zurück.<br />
Neben ihm machte ein Unteroffizier den Torpedo scharf und stellte<br />
eine vorläufige Suchtiefe von hundert Fuß ein.<br />
Die Kollisionswarnleuchten des Hubschraubers flammten in der<br />
Dunkelheit rot auf. Weiteres Versteckspielen war nun sinnlos; das<br />
U-Boot musste die Radarsignale empfangen haben und nun zu<br />
tauchen versuchen. Doch dazu blieb ihm nicht genug Zeit.<br />
»Rauchbombe frei!« rief der System-Operator.<br />
Der Rauch war in der Nacht zwar unsichtbar, doch die kleine<br />
grüne Flamme wirkte in der Finsternis wie ein Leuchtfeuer. Der<br />
Hubschrauber drehte nach links ab und machte der Orion, die nun<br />
nur noch fünfhundert Yard hinter ihm lag, den Weg frei.<br />
Die starken Suchscheinwerfer der P-3C flammten auf und ließen<br />
die verräterische Schaumspur des Sehrohrs sichtbar werden. Die<br />
Bombenklappen der Orion öffneten sich, ein Torpedo und eine<br />
Sonoboje stürzten dem schwarzen Wasser entgegen.<br />
»Positiver Sonarkontakt, eindeutig U-Boot!« verkündete ein<br />
Operator über die Bordsprechanlage. »Torpedo nähert sich rasch<br />
dem Ziel... Sieht gut aus, TAO, <strong>im</strong>mer näher ... Treffer!« Die<br />
Schallspur des Torpedos verschmolz mit der des U-Bootes, und auf<br />
dem Wasserfall-Display erschien ein greller Fleck. An Bord der<br />
281
Orion schaltete ein Operator die Sonoboje von Aktiv- auf Passivmodus<br />
um und zeichnete das nachhallende Grollen der Explosion des<br />
Torpedosprengkopfes auf. Die Schraubengeräusche des Bootes waren<br />
nicht mehr zu vernehmen, und er hörte noch einmal Preßluft<br />
zischen, als es seine letzte Tauchfahrt begann.<br />
»Versenkt!« rief der TAO mit Begeisterung.<br />
«Bestätigt«, sagte Morris über Funk. »Saubere Arbeit, Bluebird.«<br />
» Roger, Pharris. Besten Dank, Sir! Vielleicht bleiben wir noch eine<br />
Weile in der Gegend, Sir. Sieht so aus, als liefe die Aktion nur bei<br />
Ihnen. Out.«<br />
Der TAO war weniger begeistert. »Erwischt haben wir ein lautes<br />
Foxtrott und ein November, dessen Kommandant sich dumm anstellte.<br />
Was, wenn er wirklich nur den Auftrag hatte, dem Geleitzug<br />
zu folgen und Meldung zu erstatten?«<br />
»Kann sein.« Morris nickte. »Wenn der Iwan seine Skipper zu<br />
solchem Unsinn zwingt, wird ihn das eine Menge Boote kosten.<br />
Diese Lektion haben wir auch schon einmal gelernt.«<br />
USS Chicago<br />
McCafferty hatte seinen eigenen Kontakt, den sie nun schon seit<br />
einer Stunde verfolgten. Die Sonar-Operatoren bemühten sich, auf<br />
ihren Schirmen die bewegliche Schallquelle von Hintergrundgeräuschen<br />
zu unterscheiden, und gaben ihre Daten an den Feuerleittrupp<br />
weiter, vier Männer, die sich in einer Ecke der Angriffszentrale<br />
über einen Kartentisch beugten.<br />
Der Kommandant trat zu ihnen. »Was tut sich?«<br />
»Nicht viel, was die Richtung angeht. Er muss weit entfernt sein,<br />
Sir, vielleicht in der dritten Konvergenzzone. Achtzig Meilen also.<br />
Er läuft aber nicht auf uns zu, denn sonst hätten wir das Signal<br />
verloren, als er die Zone verließ.« Dem Ersten Offizier sah man die<br />
Belastung der vergangenen Woche an. »Sir, ich vermute, dass wir<br />
ein A<strong>tom</strong>-U-Boot verfolgen, wahrscheinlich ein lautes. Die akustischen<br />
Verhältnisse sind so gut, dass wir mit drei Konvergenzzonen<br />
herumspielen können. Und ich nehme an, dass es so wie wir ein<br />
best<strong>im</strong>mtes Gebiet patrouilliert. Es könnte sogar hin und her fahren<br />
wie wir. Damit wären die min<strong>im</strong>alen Richtungsänderungen erklärt.«<br />
282
McCafferty runzelte die Stirn. Dies war sein erster echter Kontakt<br />
seit Kriegsausbruch. Er befand sich dicht an der Nordgrenze<br />
des ihm zugewiesenen Gebiets; das Ziel war vermutlich auf der<br />
anderen Seite. Wenn es nun angriff, blieb der größte Teil seines<br />
Sektors ungeschützt.<br />
»Gehen wir auf ihn los«, befahl McCafferty. »Ruder zehn Grad<br />
Backbord, neuer Kurs drei-fünf-eins. Zwei Drittel voraus.«<br />
Chicago ging rasch auf Nordkurs und beschleunigte auf fünfzehn<br />
Knoten, seine »leise« Höchstgeschwindigkeit. Bei diesem Tempo<br />
erzeugte das Boot nur wenig Geräusche und war nur schwer zu<br />
orten, da sein Sonar auch unter diesen Bedingungen noch fünf bis<br />
zehn Meilen weit reichte. Die vier Torpedorohre waren mit einem<br />
Paar Mk-48-Torpedos und zwei Antischiff-Raketen Harpoon geladen.<br />
Ganz gleich, ob es sich bei dem Ziel um ein Überwasserschiff<br />
oder ein U-Boot handelte, Chicago konnte mit ihm fertigwerden.<br />
Grafarholt, Island<br />
»Sie melden sich früher als vereinbart, Beagle«, erwidert Doghouse.<br />
Edwards saß zwischen zwei Felsblöcken gegen einen dritten gelehnt<br />
und hatte das Funkgerät auf dem Schoß. Er hoffte nur, dass er<br />
es in eine sichere Richtung ausgerichtet hatte; die Russen, vermutete<br />
er, saßen vorwiegend an dem Küstenstreifen zwischen Keflavik<br />
und Reykjavik, also weit westlich von der Position des Satelliten.<br />
Unter ihm aber lagen Häuser und Fabriken, und wenn es dort einen<br />
Horchposten gab...<br />
»Wir mussten die Höhe erreichen, ehe es zu hell wurde«, erklärte<br />
der Lieutenant. Die letzten Kilometer hatten sie mit der aufgehenden<br />
Sonne <strong>im</strong> Rücken <strong>im</strong> Laufschritt zurückgelegt. Die Tatsache,<br />
dass die Marines noch heftiger schnaufen mussten als er, war Edwards<br />
nur ein kleiner Trost gewesen.<br />
»Wie sicher ist Ihre Position?«<br />
»Auf der Landstraße unter uns ist Verkehr, aber die Distanz<br />
beträgt gut eine Meile.«<br />
»Okay. Können Sie <strong>im</strong> Süden das Umspannwerk sehen?«<br />
Edwards griff mit einer Hand nach dem Fernglas. Laut Landkarte<br />
hieß die Anlage Artun. »Ja.«<br />
»Wie sieht's bei Ihnen aus, Beagle?«<br />
283
Beinahe hätte Edwards erwidert, es liefe alles bestens, doch dann<br />
sagte er: »Miserabel, ausgesprochen miserabel.«<br />
»Roger, Beagle. Behalten Sie das Umspannwerk <strong>im</strong> Auge. Tut<br />
sich dort etwas?«<br />
»Moment.« Edwards stellte die Antenne ab und sah die Anlage<br />
genauer an. »Ein gepanzertes Fahrzeug, vier bewaffnete Männer.<br />
Sonst nichts.«<br />
»Sehr gut, Beagle. Achten Sie auf die Anlage und machen Sie<br />
Meldung, wenn Boden-Luft-Raketen auftauchen. Wir brauchen<br />
auch Daten für den Fall, dass Sie Kampfflugzeuge sehen. Zählen Sie<br />
Truppen und Fahrzeuge, schreiben Sie alles auf, verstanden?«<br />
»Roger. Wir schreiben alles auf und melden uns.«<br />
» Sie halten sich gut, Beagle. Vergessen Sie nicht, Ihr Auftrag heißt<br />
Beobachten und Melden. Vermeiden Sie Kontakte. Wenn sich<br />
feindliche Truppen auf Sie zubewegen, setzen Sie sich ab. Sie brauchen<br />
dann nicht sofort Meldung zu machen; sehen Sie erst zu, dass<br />
Sie verschwinden. Melden können Sie sich später. So, und jetzt<br />
wahren Sie für eine Weile Funkstille.«<br />
»Roger. Out.« Edwards packte das Funkgerät ein. Das konnte er<br />
inzwischen mit geschlossenen Augen.<br />
»Was gibt's, Lieutenant?« fragte Smith.<br />
Edwards grunzte. »Wir bleiben hier sitzen und behalten das<br />
Umspannwerk da drüben <strong>im</strong> Auge.«<br />
»Erwartet man von uns, dass wir den Strom abschalten?«<br />
»Dafür ist die Anlage zu scharf bewacht, Sergeant«, antwortete<br />
Edwards, streckte sich und schraubte sein Feldflasche auf. Garcia<br />
hielt auf der Anhöhe über ihm Wache, Rodgers schlief. »Was gibt's<br />
zum Frühstück?«<br />
»Ich tausche meine Pfirsiche gegen Erdnußbutter mit Keksen.«<br />
Edwards riß seine Gefechtsration auf und inspizierte den Inhalt.<br />
»Abgemacht.«<br />
284
USS Chicago<br />
22<br />
Nachstöße<br />
Das Boot verlangsamte die Fahrt, um sein Ziel wieder zu erfassen.<br />
Seit einer Stunde war es in großer Tiefe mit fünfzehn Knoten<br />
gefahren und ging nun auf fünfhundert Fuß hoch, mitten in einen<br />
tiefen Schallkanal hinein. McCafferty befahl einen Ostkurs, um<br />
sein Schleppsonar auf das <strong>im</strong> Norden vermutete Ziel zu richten.<br />
Erst nach einigen Minuten war diese Batterie von Sensoren so<br />
ausgerichtet, dass die Sonar-Operation ernsthaft mit der Arbeit<br />
beginnen konnte. Langsam tauchten auf ihrem Display die Daten<br />
auf, aber außer zufälligen Schallmustern war zwanzig Minuten<br />
lang nichts Genaues zu erkennen.<br />
»Gehen Sie auf Antennentiefe. Mal sehen, was sich da oben tut.«<br />
McCafferty trat ans Sehrohr. Die augenblicklich gespannte Atmosphäre<br />
<strong>im</strong> Raum entging ihm nicht. Be<strong>im</strong> letzten Auftauchen waren<br />
sie beinahe versenkt worden. Das Boot wurde in sechzig Fuß Tiefe<br />
eingependelt. Der ESM-Mast durchbrach die Oberfläche, der Elektroniker<br />
meldete nur schwache Signale. Dann wurde das Suchsehrohr<br />
ausgefahren. McCafferty suchte rasch den Horizont ab <br />
nichts in der Luft, nichts auf dem Wasser.<br />
»Gewitter <strong>im</strong> Norden, Linienböen«, sagte er. »Rohr einfahren.«<br />
Der Erste Offizier stieß eine unverständliche Verwünschung aus.<br />
Der Lärm des Gewitters machte die Ortung eines mit E-Motoren<br />
laufenden konventionellen U-Bootes praktisch unmöglich. Er<br />
schaute den Kommandanten an und wartete auf eine Entscheidung.<br />
»Alarmzustand beendet«, meinte McCafferty. »IO, gehen Sie<br />
mit zehn Knoten zurück auf Station. Ich lege mich jetzt mal hin.<br />
Wecken Sie mich in zwei Stunden.«<br />
McCafferty ging die paar Schritte zu seiner Kajüte, wo die ungemachte<br />
Koje heruntergeklappt war. Tochterinstrumente zeigten<br />
Kurs und Fahrt an; auf einem Bildschirm konnte er sich einen<br />
Videofilm ansehen oder das, was man durchs Periskop entdecken<br />
285
mochte. McCafferty, der nun schon seit zwanzig Stunden wach war,<br />
zog die Schuhe aus und legte sich hin, konnte aber nicht einschlafen.<br />
Keflavik, Island<br />
Der Oberst fuhr mit der Hand über die aufgemalte Silhouette eines<br />
Bombers an der Flanke seines Jägers. Sein erster Luftsieg, aufgezeichnet<br />
von den Bordkameras. Zum ersten Mal seit den Gefechten<br />
über Nordvietnam hatte der Pilot der sowjetischen Luftwaffe einen<br />
solchen Sieg errungen, und sein Opfer war ein Bomber gewesen, der<br />
A<strong>tom</strong>bomben aufs Vaterland hätte werfen können.<br />
Auf Island waren nun fünfundzwanzig MiG-29 stationiert. Jeweils<br />
vier waren permanent in der Luft, um den Stützpunkt zu<br />
schützen.<br />
Der Angriff der B-52 hatte ihnen schmerzliche Verluste zugefügt.<br />
Das Hauptradar war leicht beschädigt, aber eine moderne, mobile<br />
Anlage, die zwe<strong>im</strong>al am Tag den Standort wechseln sollte, wurde<br />
noch heute eingeflogen. Er wünschte sich einen fliegenden Radarleitstand,<br />
doch deren Verfügbarkeit war nach den Verlusten über<br />
Deutschland stark eingeschränkt. Was man von der Luftfront<br />
hörte, war depr<strong>im</strong>ierend, aber die beiden Staffeln MiG-29 hielten<br />
sich gut. Der Oberst schaute auf die Uhr. In zwei Stunden sollte er<br />
eine Staffel anführen, die einen kleinen Verband Backfire, der nach<br />
einem Geleitzug suchte, eskortierte.<br />
Grafarholt, Island<br />
»Okay, Doghouse, ich sehe auf den Startbahnen in Reykjavik sechs<br />
Kampfflugzeuge mit roten Sternen. Sie haben zwei Seitenleitwerke<br />
und scheinen mit Luftkampfraketen bewaffnet zu sein. Außerdem<br />
zwei SAM-Starter und eine Art Kanone - Typ Gatling - auf einem<br />
Kettenfahrzeug.«<br />
»Das wäre ein Zulu-Sierra-Uniform 30, Beagle. Unangenehm.<br />
Über diese Dinger müssen wir genau Bescheid wissen. Wie viele<br />
sehen Sie?«<br />
»Nur eins, das auf einem Rasendreieck westlich des Terminals<br />
steht.«<br />
286
»Stehen die Kampfflugzeuge verteilt?«<br />
»Ja, auf jeder Startbahn zwei. Neben jedem Paar sehe ich einen<br />
kleinen Kastenwagen und fünf oder sechs Soldaten. Insgesamt sind<br />
dort schätzungsweise hundert Männer mit zwei gepanzerten Fahrzeugen<br />
und neun Lkw. Sie gehen am Flugplatzzaun Streife und<br />
haben mehrere MG-Stellungen eingerichtet. Die Russen setzten<br />
auch isländische Kurzstreckenflugzeuge als Truppentransporter<br />
ein, heute bereits viermal. Einen russischen Hubschrauber haben<br />
wir seit gestern nicht mehr gesehen.«<br />
»Wie sieht's in Reykjavik aus?« fragte Doghouse.<br />
»Wir haben nur in wenige Straßen Einblick. An einer Kreuzung<br />
steht ein Panzerfahrzeug. Viele Soldaten, kaum Zivilverkehr. Auf<br />
den Straßen nach Osten und Westen viel Aktivität. Es wird viel hin<br />
und her gefahren; sieht nach Streifen aus. Noch etwas: Wir haben<br />
Russen in Zivilfahrzeugen gesehen, aber noch keinen russischen<br />
Geländewagen. Offenbar haben sie die hier weitverbreiteten Fahrzeuge<br />
mit Allradantrieb beschlagnahmt.«<br />
»Weitere Transportflugzeuge?«<br />
»Fünf sind eingetroffen. Der H<strong>im</strong>mel ist klar, und wir können sie<br />
be<strong>im</strong> Landeanflug auf Keflavik beobachten. Vier IL-76 und eine<br />
Maschine, die einer C-I3O ähnlich sah.«<br />
»Kampfflugzeuge in der Luft?«<br />
»Vor zwei Stunden sahen wir eines starten, vermutlich zu einem<br />
Patrouillenflug. Ich würde auch sagen, die Maschinen scheinen <strong>im</strong><br />
Alarmzustand zu sein.«<br />
»Verstanden, Beagle. Ihre Lage?«<br />
»Wir sind gut getarnt, und der Sergeant hat zwei Fluchtwege<br />
erkunden lassen. Bisher haben die Russen noch nicht auf den Busch<br />
geklopft. Wenn sie in unsere Richtung kommen, setzen wir uns ab.«<br />
»Sehr gut, Beagle. Sie werden diese Höhe ohnehin bald verlassen.<br />
Gute Arbeit. Halten Sie die Ohren steif. Out.«<br />
Schottland<br />
»Gut macht der Junge das«, meinte der Major, ein amerikanischer<br />
Offizier in der vom britischen Nachrichtendienst betriebenen Fernmeldeeinrichtung.<br />
»Er hält sich großartig«, bestätigte der ranghöchste Brite nik<br />
287
kend. »Achten Sie darauf, wie streng er zwischen seinen Beobachtungen<br />
und seiner persönlichen Meinung unterscheidet.«<br />
»Ausgerechnet ein Wetterfritze««, schnaubte ein anderer. «Wird<br />
Zeit, dass wir da oben Profis einsetzen.«<br />
»Vielleicht geht das schon morgen. Die Marine will Kommandos<br />
von einem U-Boot absetzen lassen. Truppen brauchen wir dort<br />
vorerst noch nicht zu landen. Reduzieren wir erst einmal ihre<br />
Luftkapazität und machen ihnen das Leben so sauer wie möglich.«<br />
»Damit beginnen wir heute nacht«, erklärte der Major. »Wenn<br />
in Island die Sonne untergeht, setzt Phase 2 von Nordischer Hammer<br />
ein.«<br />
»Hoffentlich klappt die besser als Phase 1.«<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Nun, wie sieht's dort oben aus?« fragte Toland seinen Kollegen<br />
von der Royal Air Force. Vor dem Besteigen der Maschine hatte er<br />
ein Telegramm an seine Frau aufgegeben: BIN UNVERSEHRT UND<br />
FÜR EINE WEILE AN LAND. Hoffendich beruhigte sie das; die Zeitungen<br />
hatten best<strong>im</strong>mt über die Schlacht berichtet.<br />
»Könnte besser sein. Bei der Unterstützung der Norweger haben<br />
wir acht Tornados verloren. Zur Verteidigung ist gerade noch das<br />
Min<strong>im</strong>um an Maschinen übrig; darüber hinaus hat der Iwan begonnen,<br />
unsere nördlichen Radarinstallationen anzugreifen. Das<br />
mit Ihrem Flugzeugträger ist bedauerlich, aber wir sind froh, Sie für<br />
eine Weile zu Gast zu haben.«<br />
Die Abfangjäger und Radarflugzeuge der N<strong>im</strong>itz waren auf drei<br />
RAF-Stützpunkte verteilt worden. Die Wartungsmannschaften trafen<br />
mit Transportflugzeugen ein, und bei der Verlegung der Raketen<br />
hatte es Schwierigkeiten gegeben, aber die F-14 trugen ihre volle<br />
Waffenladung und konnten später mit Sparrow-Luftkampfraketen<br />
der RAF versorgt werden. Da die Jäger nun von Land aus operierten,<br />
war ihre Zuladung an Waffen und Treibstoff höher und damit<br />
ihre Schlagkraft größer als be<strong>im</strong> Start von einem Schiff. Bei den<br />
Piloten herrschte eine miese St<strong>im</strong>mung. Sie hatten ihre Maschinen<br />
und kostbaren Raketen gegen Drohnen eingesetzt und dann bei<br />
der Rückkehr zu ihrem Flottenverband erkannt, welch gräßliche<br />
Folgen ihre Fehlkalkulation gezeitigt hatte. Die Gesamtverluste<br />
288
standen noch nicht fest, doch von der Saipan waren kaum zweihundert,<br />
von der Foch nur tausend Mann mit dem Leben davongekommen;<br />
die blutigste Niederlage in der Geschichte der amerikanischen<br />
Marine. Tausende von Männern tot, und kein einziger Abschuß.<br />
Nur die Franzosen hatten mit ihren zwanzig Jahre alten Crusader<br />
gegen die Backfire Erfolg gehabt, wo die vielgepriesenen Tomcats<br />
versagt hatten.<br />
Toland wohnte dem ersten Briefing bei, das die RAF abhielt. Bei<br />
den Jägerpiloten herrschte Schweigen. Keine Witze, keine geflüsterten<br />
Bemerkungen. Kein Lächeln. Sie wussten zwar, dass sie an dem<br />
Desaster unschuldig waren, aber das schien unwichtig zu sein. Das<br />
Schicksal ihres Schiffes hatte sie erschüttert.<br />
Wie Toland auch. Immer wieder musste er an das zwölf Zent<strong>im</strong>eter<br />
starke Flugdeck denken, zerfetzt und hochgebogen wie Zellophan,<br />
darunter die geschwärzte Höhle, in der einmal Flugzeuge<br />
gestanden hatten. Und an die langen Reihen der Leichensäcke <br />
Seeleute, die an Bord des mächtigsten Kriegsschiffes der Welt gestorben<br />
waren.<br />
»Commander Toland?« Ein Flieger tippte ihm auf die Schulter.<br />
»Würden Sie bitte mitkommen?« Die beiden Männer betraten den<br />
Leitstand, wo die Koordinaten eines feindlichen Bombenverbandes<br />
eingetragen wurde. Ein Flight Lieutenant winkte Toland zu<br />
sich.<br />
»Eine Staffel, vielleicht auch weniger. Eine unserer EP-3 schnüffelte<br />
dort oben herum und hörte ihren Funkverkehr be<strong>im</strong> Auftanken<br />
nördlich von Island ab. Sie haben es best<strong>im</strong>mt auf einen dieser<br />
Geleitzüge abgesehen.«<br />
»Sollen die Tomcats sie auf dem Rückflug abfangen? Die Wahl<br />
des richtigen Zeitpunktes wäre trickreich.«<br />
»Genau. Und noch eine Komplikation: Sie werden Island als<br />
Sammelpunkt benutzen. Inzwischen liegt die Nachricht vor, dass<br />
der Iwan auf zwei isländischen Flugplätzen Jäger stationiert hat.«<br />
»Heißt die Nachrichtenquelle Beagle?«<br />
»Ja.«<br />
»Jäger welchen Typs?«<br />
»Maschinen mit zwei Seitenleitwerken. Könnten MiG-25, -29<br />
oder -31 sein.«<br />
»Best<strong>im</strong>mt Fulcrum«, meinte Toland. »Die anderen sind Abfangjäger.<br />
Bekamen die Besatzungen der B-52. sie zu sehen?«<br />
289
»Nicht genau, und auf den ersten Blick sehen sich diese Typen<br />
sehr ähnlich. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass es sich um Fulcrum<br />
handelt, die der Iwan vernünftigerweise einsetzen wird, um seinen<br />
Bombern einen sicheren Flugkorridor freizuhalten.«<br />
»Mag sein, dass sie auf dem Rückflug in der Luft auftanken<br />
müssen. Sollen wir die Tanker angreifen?"<br />
»Daran hatten wir auch schon gedacht. Aber den Russen steht<br />
eine Million Quadratmeilen Ozean zur Verfügung. Fast unmöglich,<br />
da den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Im Augenblick ist unsere<br />
Hauptaufgabe die Verteidigung. Später mag der Iwan eine Landung<br />
in Norwegen versuchen. Und wenn seine Überwasserflotte<br />
ausläuft, ist es unsere Aufgabe, sie zu zerschlagen.«<br />
USS Pharris<br />
»Luftwarnung, Sir«, sagte der Erste Offizier. »Rund fünfundzwanzig<br />
Backfire auf Südkurs, Ziel unbekannt.«<br />
»Auf den Trägerverband haben sie es best<strong>im</strong>mt nicht abgesehen.<br />
Der hat inzwischen Schutz von Nato-Kampfflugzeugen. Wo sind<br />
die Russen <strong>im</strong> Augenblick?«<br />
»Vermutlich über Island, drei bis fünf Stunden Flugzeit von uns<br />
entfernt. Wir sind zwar nicht der größte Geleitzug in ihrer Reichweite,<br />
aber der exponierteste.«<br />
»Und wir transportieren Kriegsmaterial und haben nur fünf mit<br />
SAM bestückte Schiffe -« Ein abschußreifes Ziel.<br />
Grafarholt, Island<br />
»Kondensstreifen, Doghouse, zwanzig oder so, direkt über uns.«<br />
»Können Sie identifizieren?«<br />
»Negativ. Große Maschinen, Triebwerke nicht sichtbar, sehr<br />
hoch und auf Südkurs. Geschwindigkeit ebenfalls unklar. Wenn sie<br />
schneller als Mach eins flögen, hätten wir inzwischen den Überschallknall<br />
gehört.«<br />
»Wiederholen Sie die Anzahl.«<br />
»Zweiundzwanzig Kondensstreifen, Kurs etwa eins-acht-null.<br />
Alle Jäger stiegen eine halbe Stunde vor dem Überflug von Reykja<br />
290
vik auf und flogen nach Norden. Zurück sind sie noch nicht, und<br />
wir wissen auch nicht, wo sie sind. Die Bomber scheinen keine<br />
Eskorten zu haben. Ansonsten nichts Neues.«<br />
»Roger, Beagle. Sagen Sie Bescheid, wenn die Jäger landen. Wäre<br />
schön, wenn wir etwas mehr über den Zyklus erführen. Out.» Der<br />
Major wandte sich an seinen Sergeant. »Geben Sie das sofort<br />
heraus. Backfire-Verband über Reykjavik auf Südkurs, Kurs vermutlich<br />
eins-acht-null. Wahrscheinlich von Jägern begleitet -«<br />
USS Pharris<br />
Ein guter Tag für Kondensstreifen, stellte Morris fest. In großer<br />
Höhe war die Luft klar und feucht genug, um die Kondensation des<br />
Wasserdampfes in den heißen Flugzeugabgasen auszulösen. Das<br />
sonst auf der Brückennock montierte große Fernglas mit zwanzigfacher<br />
Vergrößerung befand sich nun auf dem Peildeck über den<br />
vorderen Aufbauten, und Ausgucks benutzten es zum Identifizieren<br />
von Flugzeugen. Sie hielten hauptsächlich nach Bears Ausschau, die<br />
Ziele für Backfire-Bomber suchten.<br />
Alle waren angespannt. Die Bedrohung durch U-Boote war an<br />
sich schon schl<strong>im</strong>m genug, doch seit dem schweren Angriff auf die<br />
Trägerflotte war der Geleitzug Luftangriffen praktisch ungeschützt<br />
ausgesetzt. Die Luftabwehrsysteme der Pharris waren so rud<strong>im</strong>entär,<br />
dass das Schiff kaum in der Lage war, sich selbst zu verteidigen.<br />
Mit Boden-Luftraketen bestückte Schiffe lagen nun in einer Linie<br />
nördlich des Geleitzugs und zwanzig Meilen südlich der Fregatte,<br />
die ihre Suche nach U-Booten fortsetzte. Auf der Pharris konnte<br />
man nur die Radarwarninstrumente überwachen und etwaige Daten<br />
über Funk weitergeben. Es war so gut wie sicher, dass der Russe<br />
mit seinem Suchradar »Big Bulge« an Bord der Bears Ziele orten<br />
und klassifizieren würde. Der Kommandant des Geleitzuges plante,<br />
die SAM-Schiffe als zusätzliche, wie Frachter formierte Ziele einzusetzen.<br />
Mit einem bißchen Glück konnte ein besonders neugieriger<br />
Bear sie für unbewaffnete Schiffe halten und sich zu dicht an sie<br />
heranwagen. Nur eine vage Hoffnung, aber die einzige Karte, die<br />
sie ausspielen konnten.<br />
»Kontakt! Big-Bulge-Radar in null-null-neun, Signal schwach.«<br />
Der Bear flog auf Südkurs auf den Geleitzug zu und schaltete sein<br />
291
Radar nur alle zehn Minuten für hundertzwanzig Sekunden ein.<br />
Bald wurde <strong>im</strong> Westen ein weiterer geortet. Nachdem die Positionen<br />
feststellt worden waren, ging über Satellit ein Funkspruch mit<br />
der dringenden Bitte um Unterstützung an den CINC-LANTFLT in<br />
Norfolk. Zehn Minuten später traf die Antwort ein: Keine Kräfte<br />
zu Ihrer Unterstützung verfügbar.<br />
Die Lafette der Pharris wurde bemannt, Abwehrraketensysteme<br />
und das Radar der Gatling-Kanone achtern in Bereitschaft versetzt.<br />
Andere Radaranlagen blieben abgeschaltet. Die Radaroperatoren<br />
in der Gefechtszentrale saßen nervös auf ihren Plätzen, spielten an<br />
den Schaltern und lauschten den ESM-Meldungen.<br />
»Inzwischen haben sie uns wohl beide erfaßt.«<br />
Morris nickte. »Und dann kommen die Backfire.«<br />
Der Kommandant dachte an die Schlachten, die er an der Marineakademie<br />
studiert hatte - zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als<br />
die Japaner noch Luftüberlegenheit hatten, als die Deutschen mit<br />
Langstreckenflugzeugen vom Typ Kondor Geleitzüge ausmachten<br />
und ihre Position weitermeldeten, ohne dass die Alliierten etwas<br />
dagegen unternehmen konnten. Er hatte nie erwartet, sich in einer<br />
ähnlichen Zwangslage zu finden. Wie konnte sich eine solche taktische<br />
Situation vierzig Jahre später wiederholen? Absurd, sagte sich<br />
Morris. Absurd und furchteinflößend.<br />
»Bear in Sicht, knapp über Horizont in zwei-acht-null«, meldete<br />
der Sprecher.<br />
Der TAO schaute hinüber zu Morris. »Vielleicht kommt er in<br />
Schußweite.«<br />
»So dumm ist der nicht.«<br />
»Lassen wir die Radaranlagen aus. Vielleicht gerät er doch in<br />
Raketenreichweite.«<br />
»Er wird versuchen, sich ein Bild von der Verteidigungskapazität<br />
des Konvois zu machen«, meinte Morris leise. »Vorerst sieht er nur<br />
dunkle Flecken, die Kielwasser nach sich ziehen. Warten wir mal<br />
ab, wie neugierig dieser Bursche ist.«<br />
»Das Flugzeug hat gerade den Kurs geändert«, meldete der Sprecher.<br />
»Dreht nach Osten ab, hält auf uns zu.«<br />
»Luftangriff Steuerbord! Volle Kraft voraus! Neuer Kurs einsacht-null!«<br />
befahl Morris sofort. Er ging auf Südkurs, um den Bear<br />
näher an die SAM-Schiffe heranzulocken. »Ziel illuminieren! Feuer<br />
frei! Angreifen, wenn er in Reichweite ist.«<br />
292
Pharris drehte hart nach links ab. Das Fünf-Zoll-Geschütz auf<br />
dem Vorschiff drehte sich <strong>im</strong> Uhrzeigersinn, das Feuerleitradar<br />
lieferte Zielkoordinaten, und das lange Geschütz ging auf eine<br />
Elevation von dreißig Grad, erfaßte das Ziel. Der Raketensender<br />
achtern verhielt sich ähnlich.<br />
»Zielhöhe dreitausend Fuß, Entfernung fünfzehn Meilen.«<br />
Noch hatte der Kommandant des Geleitzuges die Raketen nicht<br />
zum Start freigegeben. Der Russe sollte seine Geschosse erst abfeuern,<br />
ehe er wusste, was wirklich auf seinem Weg lag. Die Daten von<br />
der Schlacht der Träger waren bereits an die Flotte gegangen. Die<br />
russischen Luft-Boden-Raketen waren verhältnismäßig leicht zu<br />
treffen, da sie geradewegs auf ihre Ziele zuflogen, aber man musste<br />
blitzartig reagieren, denn sie waren sehr schnell. Er sagte sich, dass<br />
der Bear wohl noch die Ziele evaluierte und sich über die Kampfkraft<br />
der Eskorten noch nicht <strong>im</strong> klaren war. Je länger er <strong>im</strong><br />
Ungewissen blieb, desto besser, denn die Backfire waren weit von<br />
ihren Stützpunkten entfernt und hatten nicht genug Treibstoff, um<br />
sich lange über ihren Zielen aufzuhalten.<br />
»Feuer!« rief der TAO.<br />
Das Geschütz der Pharris schoß nun alle zwei Sekunden eine<br />
Granate ab. Der Bear war knapp in Reichweite, und die Chance<br />
eines Treffers war nur gering, aber es war an der Zeit, ihm eine<br />
Warnung zu geben.<br />
Die ersten fünf Geschosse kamen nicht heran und explodierten<br />
eine Meile vor dem Bomber. Doch die nächsten drei detonierten<br />
schon näher, eines sogar nur zweihundert Meter von seiner linken<br />
Tragfläche entfernt. Der sowjetische Pilot wich instinktiv nach<br />
links aus. Das war ein Fehler. Er konnte nämlich nicht wissen, dass<br />
die nächste Linie von Frachtern Raketen trug.<br />
Sekunden später wurden zwei Lenkkörper gestartet, und der<br />
Bear wich <strong>im</strong> Tiefflug aus, streute Stanniolstreifen und jagte auf die<br />
Pharris zu. Bei seinem Anflug schoß die Fregatte zwanzig weitere<br />
Granaten ab. Zwei mochten ihn beschädigt haben, doch Resultate<br />
waren nicht sichtbar. Gleich darauf heulten die Raketen los, winzige<br />
weiße Pfeile, die graue Raschwolken hinter sich herzogen. Eine<br />
verfehlte ihr Ziel und explodierte in einer Düppelwolke, aber die<br />
zweite detonierte nur hundert Meter von dem Bomber entfernt. Der<br />
Sprengkopf expandierte wie eine Uhrfeder, löste sich in Tausende<br />
von Fragmenten auf, und einige fuhren in die linke Tragfläche des<br />
293
Bombers. Ein Triebwerk des mächtigen Turboprop-Flugzeugs fiel<br />
aus, die Tragfläche wurde schwer beschädigt, aber es gelang dem<br />
Piloten, die Maschine knapp außerhalb der Reichweite des Geschützes<br />
der Pharris abzufangen. Er flog nach Norden und zog eine<br />
schwarze Rauchwolke hinter sich her.<br />
Der andere Bear blieb auf Distanz. Der erste Pilot hatte gerade<br />
eine Lektion verpaßt bekommen, die er an den Nachrichtendienstoffizier<br />
seines Verbandes weitergeben würde.<br />
»Weitere Radarsignale!» warnte der ESM-Techniker. »Zehn <br />
vierzehn - achtzehn!« rief der Operator des Suchradars.<br />
»Radarkontakte in null-drei-vier, Entfernung 180 Meilen. Vier,<br />
nun sechs Ziele. Kurs zwei-eins-null, Geschwindigkeit sechshundert<br />
Knoten.«<br />
»Das sind die Backfire.«<br />
»Radarkontakt! Vampire, Vampire! Raketen <strong>im</strong> Anflug!«<br />
Morris bekam eine Gänsehaut. Die Eskorten aktivierten ihre<br />
Radaranlagen. Raketen wurden auf die anfliegenden Ziele gerichtet.<br />
Die Pharris aber ging auf äußerste Kraft und Nordkurs, um sich<br />
aus dem vermutlichen Zielgebiet der Raketen zu entfernen.<br />
»Die Backfire machen kehrt, der Bear hält seine Position. Wir<br />
empfangen Sprechfunkverkehr. Nun dreiundzwanzig Raketen <strong>im</strong><br />
Anflug. Alle Kontakte ändern die Richtung und halten auf den<br />
Geleitzug zu«, sagte der TAO. »Sieht aus, als hätten wir's geschafft.«<br />
In der Gefechtszentrale wurde hörbar ausgeatmet. Morris sah<br />
aufs Radardisplay und empfand nur geringe Erleichterung. Die<br />
Raketen kamen aus Nordosten; SAM stiegen auf und flogen ihnen<br />
entgegen. Wieder erhielt der Geleitzug den Befehl, sich zu zerstreuen.<br />
Neun der dreiundzwanzig sowjetischen Rakten durchbrachen<br />
den SAM-Sperrgürtel und gingen auf den Konvoi nieder.<br />
Sieben Frachter wurden getroffen.<br />
Alle sieben gingen verloren. Einige zerbrachen auf der Stelle<br />
unter dem Hammerschlag der Tausend-Kilo-Sprengköpfe. Der<br />
Rest blieb gerade noch so lange schw<strong>im</strong>mfähig, dass die Besatzungen<br />
sich retten konnten. Der Geleitzug war mit dreißig Schiffen aus<br />
dem Delaware gekommen. Nun waren es nur noch zwanzig. Und<br />
vor ihnen lagen noch knapp fünfzehnhundert Meilen auf offener<br />
See.<br />
294
Grafarholt, Island<br />
Zwei Backfire mussten wegen Treibstoffmangels in Keflavik landen.<br />
Hinter ihnen lag der beschädigte Bear, umkreiste den Stützpunkt,<br />
bis die Backfire die Landebahn freigemacht hatte. Edwards<br />
meldete ihn als Propellermaschine mit einem beschädigten Triebwerk.<br />
Die Sonne stand tief überm Nordwesthorizont und ließ den<br />
Bomber vor dem kobaltblauen H<strong>im</strong>mel gelblich aufleuchten.<br />
»Bleiben Sie auf Sendung, Beagle«, befahl Doghouse. Drei Minuten<br />
später wurde Edwards der Grund für diese Anweisung klar.<br />
Diesmal wurden die Sowjets nicht durch Störversuche aus der<br />
Distanz gewarnt. Acht FB-III kamen vom Zentralmassiv der Insel<br />
über die Felsen herangefegt, donnerten <strong>im</strong> Tiefflug über die Sohle<br />
des Selja-Tales und waren dank ihrer grüngrauen Camouflage für<br />
die höher kreisenden sowjetischen Jäger fast unsichtbar. Das erste<br />
Paar drehte nach Westen ab; <strong>im</strong> Abstand von einer Meile folgte ein<br />
zweites. Die restlichen vier umflogen den Südhang des Hus.<br />
Smith entdeckte die Doppelleitwerke als erster. Als auch Edwards<br />
sie ausmachte, ging das erste Flugzeug in den Steilflug und<br />
warf zwei TV-gelenkte Bomben ab. Der Flügelmann tat das gleiche;<br />
dann drehten beide Angreifer nach Norden ab. Die vier Bomben<br />
trafen das Umspannwerk, und ringsum gingen die Lichter aus, als<br />
sei ein einziger Schalter umgelegt worden. Das zweite Aardvark-<br />
Paar kam über die Landstraße 1, sauste <strong>im</strong> Zielanflug über die<br />
Dächer von Reykjavik. Der Pilot gab seine beiden Smart-Bomben<br />
frei; sein Flügelmann hielt auf das Tanklager am Hafen zu. Augenblicke<br />
später flogen die Tower und ein Hangar in die Luft, und<br />
Rockeye-Streubomben brachten die Treibstofftanks zur Explosion.<br />
Die überrumpelten russischen Flak- und Flarak-Bedienungen feuerten<br />
zu spät.<br />
Auch die Truppen auf dem Stützpunkt Keflavik wurden überrascht,<br />
erst vom plötzlichen Stromausfall, dann von den Bombern,<br />
die eine Minute später eintrafen. Auch hier waren der Kontrollturm<br />
und die Hangars Pr<strong>im</strong>ärziele und wurden von Tausend-Kilo-Bomben<br />
zerschmettert. Das zweite Team wählte als Ziel für seine Rockeye-Bomben<br />
zwei abgestellte Backfire und einen Flarak-Panzer,<br />
belegte dann die Start- und Rollbahnen mit medizinballgroßen<br />
Minibomben. Anschließend schalteten die FB-III die Nachbrenner<br />
ein und flogen nach Westen, verfolgt von Abwehrfeuer, Raketen <br />
295
und Jägern. Sechs Fulcrum stießen auf die hinter einem schützenden<br />
Vorhang aus elektronischen Störgeräuschen abfliegenden Aardvark<br />
herab.<br />
Von der Last ihrer Waffen befreit flitzten die amerikanischen<br />
Bomber mit siebenhundert Knoten knapp über den Wellenkämmen<br />
dahin, doch die Fulcrum hatten eine etwas höhere Höchstgeschwindigkeit<br />
und holten langsam auf. Hundert Meilen vor der Küste<br />
durchbrannte ihr Raketen-Radar die amerikanische Störbarriere.<br />
Zwei Jäger feuerten sofort ihre Luftkampfraketen ab; die amerikanischen<br />
Piloten rissen ihre Maschinen hoch und gingen dann sofort<br />
wieder in den Sturzflug, um sie abzuschütteln. Ein FB-III wurde<br />
getroffen und trudelte ins Meer, und die Sowjets wollten gerade eine<br />
zweite Salve abschießen, als ihre Warngeräte ansprachen.<br />
Vier amerikanische Phan<strong>tom</strong>s lauerten <strong>im</strong> Hinterhalt. Im Nu<br />
hielten acht Sparrow-Raketen auf die Fulcrum zu. Nun mussten die<br />
Sowjets fliehen. Sie machten kehrt und jagten mit Nachbrenner<br />
zurück nach Island. Eine MiG-29 wurde abgeschossen, eine zweite<br />
beschädigt. Der ganze Luftkampf hatte nur fünf Minuten gedauert.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Das Umspannwerk ist weg, von den<br />
Aardvark einfach plattgewalzt. Ein Riesenbrand am Südwestrand<br />
des Flughafens. Vom Tower steht nur noch die Hälfe. Zwei Hangars<br />
sehen beschädigt aus. Zwei, vielleicht auch drei Zivilmaschinen<br />
brennen. Die Jäger starteten vor einer halben Stunde.« Auf den<br />
Straßen unter Edwards' Position rasten Fahrzeuge hin und her. Zwei<br />
hielten einen Kilometer von ihm entfernt an und ließen Truppen<br />
absitzen. »Doghouse, es ist an der Zeit, dass wir von diesem Hügel<br />
verschwinden.«<br />
»Roger, Beagle. Begeben Sie sich nach Nordwesten zu Höhe 482<br />
und melden Sie sich in zehn Stunden wieder. Und jetzt nichts wie los!<br />
Out.«<br />
Keflavik, Island<br />
Die MiG landeten auf der noch intakten Startbahn 18, der längsten<br />
des Stützpunkts. Kaum waren sie ausgerollt, da begann das Bodenpersonal<br />
auch schon, sie für weitere Kampfeinsätze bereitzumachen.<br />
Der Oberst war überrascht, den Stützpunktkommandeur<br />
noch lebend vorzufinden.<br />
296
»Wie viele haben Sie erwischt, Genosse Oberst?«<br />
»Nur einen, und ich habe eine Maschine verloren. Hatten Sie<br />
denn nichts auf dem Radar?« fragte der Oberst erbost.<br />
»Keine Spur. Sie flogen in zwei Gruppen von Norden an und<br />
nahmen sich erst Reykjavik vor. Die Kerle müssen zwischen den<br />
Felsblöcken durchgeflogen sein«, fauchte der Major und wies auf<br />
das große Radarfahrzeug zwischen zwei Startbahnen. »Erstaunlich,<br />
das haben sie völlig übersehen.«<br />
»Wir müssen es an eine hohe Stelle verlegen. Mit einem fliegenden<br />
Radarleitstand können wir nicht rechnen, und diese Tiefflugangriffe<br />
zermürben uns. Wie schwer sind die Schäden?«<br />
»Die kleinen Bomben haben viele Löcher in die Startbahnen<br />
gerissen, aber das läßt sich binnen zwei Stunden reparieren. Der<br />
Verlust des Kontrollturms schränkt unsere Fähigkeit ein, eine große<br />
Anzahl von Flugzeugen operieren zu lassen. Mit dem Strom fielen<br />
auch die Treibstoffpumpen der Pipeline und best<strong>im</strong>mt auch die<br />
Telefonzentrale aus.«<br />
Er zuckte die Achseln. »Wir können uns umstellen, aber das<br />
Ganze bringt große Unannehmlichkeiten. Wir müssen die Jäger<br />
verteilen und Alternativen für die Treibstoffversorgung finden. Die<br />
nächsten Ziele sind best<strong>im</strong>mt die Tanklager.«<br />
»Hatten Sie sich das denn so leicht vorgestellt, Genosse?« Der<br />
Oberst warf einen Blick auf zwei heftig brennende Tu-22M Backfire.<br />
Der beschädigte Bear setzte gerade auf. »Die Amerikaner<br />
wählten genau den richtigen Zeitpunkt und erwischten uns, als die<br />
Hälfte meiner Jäger vor der Nordküste einen Bomberverband eskortierte.<br />
Vielleicht war das nur Glück, aber an so etwas glaube ich<br />
nicht. Ich wünsche, dass die Umgebung der Flugplätze nach feindlichen<br />
Infiltranten abgesucht wird. Was, zum Teufel, ist das?«<br />
Keine sechs Meter von ihm entfernt lag eine Minibombe auf dem<br />
Beton. Der Major nahm eine Kunststoffflagge aus dem Jeep und<br />
stellte sie neben der Bombe auf.<br />
»Diese Dinger sind zum Teil mit Verzögerungszündern ausgestattet.<br />
Meine Männer sind bereits auf der Suche nach ihnen. Keine<br />
Sorge, Genosse, Ihre Jäger sind sicher gelandet, Ihre Abstellplätze<br />
geräumt.«<br />
Der Oberst wich ein paar Schritte zurück. »Und was fangen Sie<br />
mit diesen Dingern an?«<br />
»Das haben wir bereits geübt. Sie werden von einem speziell<br />
297
ausgerüsteten Bulldozer von der Rollbahn geschoben. Manche explodieren<br />
dabei, manche nicht. Was nicht von selbst losgeht, bringt<br />
ein Scharfschütze zur Detonation.«<br />
Der Oberst warf noch einen Blick auf die Minibombe und ging<br />
zurück zu seiner Maschine. Er hatte den Major unterschätzt.<br />
USS Pharris<br />
Am Westhorizont brannte noch ein Frachter, der schon vor zwei<br />
Stunden aufgegeben worden war. Noch mehr Tote, dachte Morris.<br />
Nur die Hälfte der Frachterbesatzungen war gerettet worden, und<br />
für eine gründlichere Suchaktion fehlte die Zeit. Der Geleitzug war<br />
ohne ein spezielles Seerettungsschiff ausgelaufen, und die Hubschrauber,<br />
obgleich sie viele aus dem Wasser geholt hatten, wurden<br />
für die U-Boot-Bekämpfung gebraucht. Er hielt eine Meldung in der<br />
Hand, derzufolge in Lajes stationierte Orion-Maschinen ein strategisches<br />
U-Boot der Echo-Klasse verfolgt und wahrscheinlich zur<br />
Strecke gebracht hatten.<br />
Der Verlust Islands jedoch war eine Katastrophe, deren D<strong>im</strong>ensionen<br />
erst jetzt sichtbar wurden. Die sowjetischen Bomber hatten<br />
freien Flug für Angriffe auf die Handelsschiffahrtswege. Schon<br />
jagten ihre U-Boote durchs Kattegatt, während die Marinen der<br />
Nato-Länder versuchten, durch Umgruppierung ihrer U-Boote die<br />
verlorene Barriere zu ersetzen - jene Barriere, von der das Schicksal<br />
der Geleitzüge abhing. Bis Island neutralisiert oder, besser noch,<br />
zurückerobert war, hing der Ausgang der dritten Atlantikschlacht<br />
bestenfalls in der Schwebe.<br />
298
USS Pharris<br />
23<br />
Resultate<br />
Die Lage hatte sich wieder beruhigt. Ein relativer Begriff: Noch<br />
<strong>im</strong>mer stießen Backfire durch die Lücke über Island, doch an diesem<br />
Nachmittag griffen sie einen anderen Geleitzug an und versenkten<br />
elf Frachter. Alle nach Osten fahrenden Konvois wichen<br />
nach Süden aus und nahmen eine längere Reise nach Europa in<br />
Kauf, um die Bedrohung aus der Luft zu reduzieren. Die Verluste<br />
waren schwer gewesen - fast sechzig Schiffe versenkt -, aber eine<br />
Route weiter südlich bedeutete wenigstens, dass die sowjetischen<br />
Bomber nur je eine Rakete tragen konnten anstatt zwei.<br />
Bei der Mannschaft begann sich die Belastung bemerkbar zu<br />
machen. Die Männer, denen es an Schlaf und ordentlichen Mahlzeiten<br />
mangelte, wurden angespannt und reizbar, stolperten über<br />
Türschwellen, ein typisches Zeichen der Erschöpfung. Ernstere<br />
Fehler mussten zwangsläufig folgen.<br />
»Brücke, hier Gefechtszentrale. Sonarkontakt, möglicherweise<br />
U-Boot, in null-null-neun.«<br />
»Da geht's schon wieder los«, sagte der Offizier, der das Steuern<br />
überwachte. Zum vierundzwanzigsten Mal auf dieser Fahrt hasteten<br />
die Männer der Pharris auf ihre Gefechtsstationen.<br />
Diesmal dauerte es drei Stunden. Da keine Orion zur Verfügung<br />
standen, stellten die anderen Eskorten Morris und seiner Crew ihre<br />
Hubschrauber zur Verfügung. Dieser U-Boot-Fahrer aber verstand<br />
sein Geschäft. Be<strong>im</strong> ersten Verdacht, dass er geortet worden war <br />
möglicherweise hatte sein Sonar einen Hubschrauber erfaßt oder<br />
das Platschen einer fallenden Sonoboje -, tauchte er tief und begann,<br />
auf verwirrende Weise zu spurten und sich dann wieder<br />
treiben zu lassen, die Thermokline zu durchbrechen und wieder<br />
unter sie einzutauchen wie ein springender Tümmler - in Richtung<br />
Konvoi. Der Kommandant dieses Bootes dachte nicht an Flucht.<br />
Sein Boot tauchte auf dem taktischen Display auf und verschwand<br />
299
wieder, näherte sich, verwischte seine Position aber so geschickt,<br />
dass kein Torpedoschuß möglich war.<br />
»Und weg ist er«, meinte ein ASW-Offizier nachdenklich. Eine<br />
vor zehn Minuten abgeworfene Sonoboje hatte ein schwaches Signal<br />
empfangen, zwei Minuten lang gehalten und dann wieder<br />
verloren. »Der Typ ist Klasse.«<br />
»Und viel zu nahe«, bemerkte Morris. Wenn das U-Boot seinen<br />
Südkurs beibehielt, musste es nun in Reichweite des Aktiv-Sonars<br />
der Fregatte kommen. Bislang hatte die Pharris ihre Anwesenheit<br />
nicht verraten. Angesichts der Hubschrauber musste der Kommandant<br />
des U-Bootes wissen, dass Überwasserschiffe zur Stelle waren,<br />
doch mit einer nur zehn Meilen von seiner Position entfernten<br />
Fregatte rechnete er wohl kaum.<br />
Morris warf dem ASW-Offizier einen Blick zu. »Bringen wir<br />
unser Temperaturprofil auf den neuesten Stand.«<br />
Dreißig Sekunden später wurde eine bathythermographische<br />
Sonde über Bord geworfen. Das Instrument maß die Wassertemperatur<br />
und ließ die Werte auf einem Display <strong>im</strong> Sonar-Raum erscheinen.<br />
Die Wassertemperatur war der wichtigste, die Sonarleistung<br />
beeinflussende Umweltfaktor. Überwasserschiffe maßen sie periodisch,<br />
Unterseeboote aber kontinuierlich - wieder ein Vorteil für<br />
den Feind unter Wasser.<br />
»Na bitte!« Morris wies aufs Display. »Die Gradiente ist nun viel<br />
steiler. Dieser Kerl nutzt sie aus, bleibt dem tiefen Kanal fern und<br />
spurtet wahrscheinlich über der Schicht, wo wir nicht mit ihm<br />
rechnen. Fein...«<br />
Weitere von den Hubschraubern abgeworfene Sonobojen meldeten<br />
ein Ziel, das sich nach Süden bewegte, auf die Pharris zu. Morris<br />
beschloß, zehn Minuten zu warten.<br />
»Brücke, hier GZ. Neuer Kurs null-eins-eins«, befahl er dann<br />
und ließ sein Schiff auf die vermutete Position des U-Boots zuhalten.<br />
Die Pharris glitt mit nur fünf Knoten leise durch die ruhige See.<br />
Das taktische Display war nutzlos. Verwirrt von zahlreichen<br />
kurzen, wahrscheinlich auch teils falschen Meldungen der Sonobojen,<br />
stellte der Computer ein Ziel dar, das hundert Quadratmeilen<br />
groß war. Morris ging hinüber an den Kartentisch. »Kommentare?«<br />
»Fährt er vielleicht in geringer Tiefe? Das widerspräche der<br />
sowjetischen Doktrin.«<br />
300
»Stellen wir das einmal fest. Yankee-Suche.«<br />
Der ASW-Offizier gab den Befehl sofort weiter. Yankee-Suche<br />
bedeutete den Einsatz des Aktiv-Sonars. Morris ließ sich auf ein<br />
Risiko ein. Befand sich das U-Boot näher, als er vermutete, verriet<br />
er die Position seines Schiffes und provozierte einen Angriff, dem er<br />
wenig entgegenzusetzen hatte. Der Sonar-Operator schaute aufmerksam<br />
auf seinen Bildschirm. Die ersten fünf Impulse blieben<br />
ohne Echo. Nach dem sechsten erschien ein heller Fleck auf dem<br />
Schirm.<br />
»Kontakt - positiver Sonar-Kontakt, als U-Boot evaluiert.«<br />
»Drauf!« befahl Morris.<br />
Der Feststofftreibsatz eines ADROC zündete und jagte das Projektil<br />
gen H<strong>im</strong>mel. Drei Minuten später war Brennschluß; die<br />
Rakete folgte nun einer ballistischen Bahn, bis sich dreihundert<br />
Meter über Wasser der Torpedo löste und an einem Fallschirm<br />
niederging.<br />
»Er hat den Kurs geändert«, warnte der Sonar-Operator. »Ziel<br />
dreht ab und macht größere Fahrt. Ah, Torpedo ist nun <strong>im</strong> Wasser<br />
und pingt. Schlug nahe be<strong>im</strong> Ziel ein.«<br />
Der TAO ignorierte diese Meldung. Drei Hubschrauber hielten<br />
nun auf den Bezugspunkt zu, um den Kontakt festzunageln, falls<br />
der Torpedo das Ziel verfehlte. Er ließ hart nach Steuerbord abdrehen,<br />
um das Passiv-Sonar auf das U-Boot zu richten, das nun mit<br />
großer Geschwindigkeit versuchte, dem Torpedo auszuweichen,<br />
und dabei viel Lärm machte. Der erste Hubschrauber war zur Stelle<br />
und warf eine Boje ab.<br />
»Doppelschrauben und Kavitationslärm. Klingt wie ein Charlie<br />
mit AK«, meldete der Deckoffizier. »Der Torpedo hat es wahrscheinlich<br />
erfaßt.«<br />
Der Torpedo schaltete vom Aktiv-Passiv-Modus auf ein kontinuierliches<br />
Peilsignal um und stieß in die Tiefe. Die Waffe verlor kurz<br />
die Spur des U-Bootes, als es die Thermokline durchbrach, erfaßte<br />
es aber wieder, als auch sie in das kältere Wasser der Tiefe eindrang.<br />
Das U-Boot stieß ein Lärminstrument ab, das aber versagte. Ein<br />
zweites wurde nachgeladen, doch zu spät. Der Torpedo traf die<br />
Backbordschraube des U-Bootes und explodierte.<br />
»Treffer!« rief ein Mann des Sonar-Temas. »Sprengkopf detoniert.«<br />
»Treffer, Detonation«, bestätigte die Crew eines Hubschraubers.<br />
301
»Achtung, Maschinen des Ziels noch nicht zum Stillstand gekommen<br />
... zusätzliche Antriebsgeräusche ... Rasseln. Preßluftgeräusche,<br />
er bläst an. Ziel taucht auf. Luftblasen an der Oberfläche.<br />
Verdammt, da ist er!«<br />
Der Bug des Charlie durchbrach sechs Meilen von der Fregatte<br />
entfernt die Oberfläche. Drei Hubschrauber umkreisten das verwundete<br />
Boot wie Wölfe; die Pharris ging auf Nordkurs, hielt auf<br />
ihr Ziel zu und richtete den Fünfzöller darauf. Das war überflüssig.<br />
Vorn ging ein Luk auf, Männer begannen hastig herauszuklettern.<br />
Andere erschienen auf dem Turm und sprangen ins Wasser, als der<br />
Maschinenraum des Bootes vollzulaufen begann. Zehn kamen frei,<br />
ehe das U-Boot über das Heck versank. Wenige Sekunden später<br />
kam ein weiterer Mann an die Oberfläche, aber das war auch alles.<br />
Die Hubschrauber warfen Schw<strong>im</strong>mwesten ab, zwei Überlebende<br />
wurden mit der Rettungswinde an Bord gehievt. Morris<br />
überwachte die Operation von der Brücke aus. Rasch wurde das<br />
Rettungsboot zu Wasser gelassen. Die russischen Seeleute waren<br />
benommen und leisteten keinen Widerstand. Bald hing das Boot<br />
wieder an den Davits und wurde hochgehievt.<br />
Mit dieser Möglichkeit hatte niemand ernsthaft gerechnet. Ein<br />
Torpedovolltreffer sollte zur sofortigen Versenkung eines U-Bootes<br />
führen. Was fange ich mit Gefangenen an? dachte Morris. Er musste<br />
entscheiden, wo er sie unterbringen, wie er sie behandeln sollte.<br />
Und war jemand an Bord, der das Russische beherrschte, um sie zu<br />
vernehmen? Morris übergab an seinen Ersten Offizier und eilte<br />
nach achtern.<br />
Dort standen bereits Matrosen, die ungeschickt ihre Gewehre M<br />
14 hielten und das Rettungsboot neugierig anstarrten. Besonders<br />
beeindruckend sahen die Sowjets nicht aus. Morris zählte drei<br />
Offiziere. Einer war vermutlich der Kommandant. Er flüsterte<br />
Bootsmann Clarke einen Befehl zu. Clarke holte die Pfeife aus der<br />
Tasche und grüßte den sowjetischen Kommandanten wie einen<br />
Würdenträger.<br />
Morris trat vor und half dem erstaunten Russen aus dem Rettungsboot.<br />
»Willkommen an Bord, Captain. Ich bin Commander Morris,<br />
US-Navy.«<br />
Morris schaute sich rasch nach den verblüfften Gesichtern seiner<br />
Mannschaft um. Doch sein Trick wirkte nicht. Der Russe verstand<br />
302
entweder kein Englisch oder hatte die Geistesgegenwart, so zu tun.<br />
Er sagte etwas in seiner Muttersprache, und Morris, der erkannte,<br />
dass ein anderer die Vernehmung würde durchführen müssen, ließ<br />
seinen Bootsmann abtreten. Die Russen kamen unter Deck ins<br />
Lazarett.<br />
Morris kehrte zurück auf die Brücke und ließ Entwarnung geben.<br />
Dann rief er den Kommandanten des Geleitzugs an und meldete,<br />
dass er Gefangene gemacht hatte.<br />
»Pharris«, erwiderte der Commodore, »malen Sie ein goldenes<br />
U-Boot auf Ihren ASROC-Starter. Ausgezeichnet, Ed. Richten Sie<br />
das der ganzen Mannschaft aus. Was die Gefangenen betrifft,<br />
melde ich mich wieder. Out.«<br />
Kiew, Ukraine<br />
Alexejew schaute sich die nachrichtendienstlichen Meldungen auf<br />
seinem Schreibtisch an. Sein Chef war zu einer Lagebesprechung<br />
nach Moskau gefahren.<br />
»Geht es in Deutschland denn nicht gut voran?« fragte Hauptmann<br />
Sergetow.<br />
»Nein. Den Stadtrand von Hamburg hätten wir sechsunddreißig<br />
Stunden nach Beginn der Offensive erreichen sollen. Wir stehen<br />
aber noch längst nicht dort, und Nato-Flugzeuge haben der dritten<br />
Stoßarmee mörderische Verluste zugefügt.« Er machte eine Pause<br />
und starrte auf die Landkarte. »Wenn ich der Befehlshaber der<br />
Nato wäre, würde ich hier noch einen Gegenangriff starten.«<br />
»Vielleicht sind sie dazu nicht in der Lage. Ihr erster Gegenangriff<br />
wurde zurückgeschlagen.«<br />
»Gewiß, aber um den Preis einer dez<strong>im</strong>ierten Division und sechzig<br />
Flugzeugen. Auf solche Siege können wir verzichten. Im Süden<br />
sieht es kaum besser aus. Die Nato tauscht geschickt Gelände gegen<br />
Zeit und kämpft dort, wo sie seit dreißig Jahren geübt hat. Unsere<br />
Verluste sind fast doppelt so hoch wie erwartet. Auf die Dauer<br />
halten wir das nicht durch.« Alexejew lehnte sich depr<strong>im</strong>iert zurück<br />
und wünschte sich, seine Truppen selber führen zu können.<br />
»Und die Verluste der Nato?«<br />
»Sind vermutlich schwer, und man geht erstaunlich verschwenderisch<br />
mit den Waffen um. Die Deutschen haben zu viel in die<br />
303
Verteidigung von Hamburg investiert und teuer dafür bezahlen<br />
müssen. Wenn ich an ihrer Stelle nicht die Kraft zu einem Gegenangriff<br />
hätte, würde ich mich zurückziehen. Eine Stadt ist die Störung<br />
des Gleichgewichts einer Front nicht wert. Das haben wir <strong>im</strong> Fall<br />
von Kiew gelernt -«<br />
»Und Stalingrad, Genosse General?«<br />
»Dieser Fall lag anders, Hauptmann. Dennoch ist es erstaunlich,<br />
wie die Geschichte sich wiederholen kann«, murmelte Alexejew<br />
und musterte die Wandkarte. Dann schüttelte er den Kopf. Dieser<br />
Plan konnte keinen Erfolg haben, weil Westdeutschlands Straßennetz<br />
zu dicht war. »Das KGB meldet, die Nato habe nur noch für<br />
zwei, höchstens drei Wochen Munition. Das wird der entscheidende<br />
Faktor sein.«<br />
»Und wie sieht es bei uns in punkto Nachschub und Treibstoff<br />
aus?« fragte der junge Hauptmann. Zur Antwort erhielt er einen<br />
finsteren Blick.<br />
Island<br />
Zum Glück gab es Wasser. Tausendjährige Gletscher schmolzen<br />
und füllten die Bäche mit kristallklarem, köstlichem Wasser. Leider<br />
war das Wasser eiskalt und Furten nur schwer zu finden.<br />
»Nur noch Verpflegung für einen Tag, Lieutenant«, merkte<br />
Smith am Ende der Mahlzeit an.<br />
»Tja, über dieses Problem werden wir nachdenken müssen.«<br />
Edwards sammelte seinen Abfall ein. Garcia sollte ihn vergraben,<br />
was nicht einfach war. Edwards hörte be<strong>im</strong> Aufbauen seines Funkgeräts<br />
spanische Flüche und das Scharren eines Klappspatens <strong>im</strong><br />
losen Geröll von Höhe 482.<br />
»Doghouse, hier Beagle, uns gehen die Rationen aus. Over.«<br />
»Bedauerlich, Beagle. Vielleicht schicken wir euch ein paar Pizzen<br />
vorbei.«<br />
»Witzbold«, meinte Edwards, ohne die Sprechtaste betätigt zu<br />
haben. »Was wollen Sie jetzt von uns?«<br />
»Was sehen Sie <strong>im</strong> Augenblick?«<br />
»In zwei Meilen Entfernung einen unbefestigten Weg, der bergab<br />
nach Norden führt. Dann vielleicht einen Bauernhof - gepflügte<br />
Felder, aber ich kann nicht erkennen, was da wächst. Westlich von<br />
304
uns eine Schaffarm, die wir auf dem Weg hierher passiert haben.<br />
Massenweise Schafe. Vor zehn Minuten fuhr ein Laster über die<br />
Straße nach Westen. In der Luft haben wir heute noch nichts<br />
beobachtet, aber das wird sich wohl ändern. Zivilisten bleiben auf<br />
ihren Höfen, kein Zivilverkehr auf den Straßen. Das wäre alles.<br />
Den Aardvark-Piloten können Sie ausrichten, das Umspannwerk<br />
sei total <strong>im</strong> E<strong>im</strong>er. Seit dem Angriff haben wir kein elektrisches<br />
Licht mehr gesehen.«<br />
»Verstanden, Beagle. Marschieren Sie nun nach Norden in Richtung<br />
Hvammsfjördur, umgehen Sie die Buchten. In zehn, zwölf<br />
Tagen sollten Sie dort sein. Lassen Sie sich Zeit, melden Sie alles,<br />
was Ihnen interessant vorkommt. Bitte bestätigen.«<br />
»Roger, Doghouse, wir sollen bis Ende nächster Woche am<br />
Hvammsfjördur sein und uns in der Zwischenzeit wie üblich melden.<br />
Sonst noch etwas?«<br />
»Seien Sie vorsichtig. Out.«<br />
»Hvammsfjördur?« fragte Smith. »Das sind ja einhundert Meilen<br />
Luftlinie!«<br />
»Wir sollen Umwege nach Osten machen, um Kontakte zu vermeiden.«<br />
»Zweihundert Meilen also ... in diesem Dreck.« Smith zog eine<br />
finstere Miene. »Wie lange brauchen wir da? Eine Woche? Zehn<br />
oder elf Tage?«<br />
Edwards nickte versonnen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie weit<br />
Hvammsfjördur entfernt war.<br />
»Das wird hart, Mr. Edwards.« Der Sergeant schlug eine Landkarte<br />
auf. »Sehen Sie, ich habe noch nicht einmal Karten vom<br />
ganzen Küstenabschnitt. Und hier, an dieser Stelle, gehen die Höhenzüge<br />
und Täler von diesem Berg aus wie die Speichen eines<br />
Rades. Das bedeutet, wir müssen viel klettern. Und die Straßen, die<br />
flacherem Gelände folgen, können wir nicht benutzen.«<br />
Edwards rang sich ein Grinsen ab. »Ist das zuviel verlangt? Man<br />
hört doch <strong>im</strong>mer, wie fit die Marines sind.«<br />
Smith, der jeden Morgen fünf Meilen joggte, hatte den kleinen<br />
Schwächling von der Air Force noch nie trainieren sehen. »Okay,<br />
Mr. Edwards. Es ist ja noch keiner <strong>im</strong> Schweiß ersoffen, wie es<br />
heißt. Auf die Beine, Männer, man hat uns eine kleine Wanderung<br />
befohlen.« Rodgers und Garcia tauschten Blicke. Wer einen Offizier<br />
mit »Mister« anredete, meinte das nicht als Kompl<strong>im</strong>ent. Smith<br />
305
aber sagte sich, dass er der Insubordination nur schuldig war, wenn<br />
der fragliche Offizier auch wusste, dass er beleidigt worden war.<br />
Keflavik, Island<br />
Bei der Zusammenstellung der Hubschrauber gab es Verzögerungen.<br />
Die schweren AN-22 Transportflugzeuge hatten zwei Mi-24<br />
Kampfhubschrauber gebracht, selbst für dieses viermotorige Monstrum<br />
eine gewaltige Ladung, aber zuwenig. Mit einer IL-76 waren<br />
Techniker und Besatzungen eingetroffen. Der General zuckte vielsagend<br />
die Achseln. Kein Plan war perfekt. Man würde eben mehr<br />
Helikopter einfliegen müssen, dazu Radarfahrzeuge und SAM-<br />
Starter. Die Amerikaner schienen entschlossen zu sein, ihm den<br />
Aufenthalt auf Island so unangenehm wie möglich zu machen, und<br />
er brauchte mehr Gerät, um ihnen entgegenzutreten.<br />
Und dann diese Scheißer vom KGB, die behaupteten, die Insel<br />
befrieden zu müssen. Island war doch friedfertig genug. Bisher war<br />
es nirgends zu bewaffnetem Widerstand gekommen. Aber das war<br />
dem KGB nicht genug. Jetzt Muss eine ganze Kompanie meiner<br />
Fallschirmjäger die armen, harmlosen Teufel bewachen! dachte er<br />
wütend.<br />
Das Heulen eines Triebwerks riß ihn aus seinen Gedanken. Der<br />
Rotor eines MI-24 Hind begann sich zu drehen. Ein Offizier lief auf<br />
ihn zu.<br />
»Genosse General, mit Ihrer Erlaubnis werden wir nun einen<br />
unbewaffneten Testflug durchführen. Waffen nehmen wir nach der<br />
Rückkehr an Bord.«<br />
»Gut, Genosse Hauptmann, aber sehen Sie sich die Höhen um<br />
Keflavik und Reykjavik an. Wann ist die zweite Maschine startklar?«<br />
»In zwei Stunden.«<br />
»Gut gemacht, Genosse Hauptmann.«<br />
Eine Minute später hob der schwere Kampfhubschrauber ab.<br />
»Deckung! Keine Bewegung!« schrie Garcia. Das Ungeheuer kam<br />
ihnen zwar nicht besonders nahe, aber sein Anblick genügte schon.<br />
»Was ist das?«<br />
»Ein Hind, Kampfhubschrauber, ähnelt unserem Cobra. Unan<br />
306
genehm, Lieutenant. Hat acht Soldaten an Bord und einen ganzen<br />
Haufen Raketen und Kanonen. Praktisch ein fliegender Panzer, so<br />
gut wie unverwundbar.«<br />
Der Mi-24 umflog den Hügel, den sie gerade überquert hatten,<br />
und verschwand dann nach Süden.<br />
»Hat uns wohl nicht gesehen«, meinte Edwards.<br />
»Sorgen wir dafür, dass es so bleibt. Und lassen Sie Ihr Funkgerät<br />
erst mal in Ruhe. Melden wir diesen Vogel erst, wenn wir ein Stück<br />
weiter sind, klar?«<br />
Edwards nickte zust<strong>im</strong>mend.<br />
Bitburg<br />
Colonel Ellington wachte um achtzehn Uhr auf, rasierte sich und<br />
ging nach draußen, wo die Sonne noch hoch am Abendh<strong>im</strong>mel<br />
stand. Er neigte nicht zur Schwarzseherei, aber es fiel ihm schwer,<br />
den Verlust eines Viertels seiner Männer innerhalb einer einzigen<br />
Woche zu verkraften. Vietnam lag zu weit zurück; er hatte schlicht<br />
vergessen, wie gräßlich Verluste sein konnten.<br />
Doch ihr Einsatz zeigte Wirkung. Jede Nacht hoben die schwarzgrünen<br />
Frisbees ab, um ausgewählte Ziele anzugreifen, und den<br />
Russen war <strong>im</strong>mer noch keine Gegenmaßnahme eingefallen.<br />
Das Briefing dauerte eine Stunde. Heute nacht sollten zehn Maschinen<br />
in Paaren fünf Ziele attackieren. Der schwierigste Auftrag<br />
fiel Ellington als Führer zu. Aufklärungen hatten Hinweise auf ein<br />
Treibstofflager westlich von Wittenberg gegeben, das den russischen<br />
Vorstoß auf Hamburg unterstützte, und die Deutschen wollten<br />
es ausgeschaltet sehen. Sein Flügelmann sollte mit Durandal-<br />
Bomben anfliegen, er würde mit Rockeyes folgen.<br />
Er sah sich die topographische Karte genau an. Das Gelände<br />
war eben. Kaum Berge oder Hügel, hinter denen man sich verstekken<br />
konnte, aber wenn er auf Baumwipfelhöhe flog, fiel er kaum<br />
auf. Er wollte das Ziel von hinten, also von Osten, anfliegen. Es<br />
wehte ein kräftiger Westwind, und wenn er sich aus Lee näherte,<br />
hörten ihn die Verteidiger vermutlich erst, wenn seine Bomben<br />
schon frei waren. Nach dem Einsatz wollte er sich nach Südwesten<br />
entfernen. Gesamtdauer des Einsatzes: fünfundsiebzig Minuten. Er<br />
berechnete die erforderliche Treibstoffladung und vergaß wie <strong>im</strong><br />
307
mer nicht, den Luftwiderstand der flügelmontierten Bomben mit<br />
einzukalkulieren. Dem Min<strong>im</strong>albedarf fügte er noch genug Treibstoff<br />
für fünf Minuten Flug mit Nachbrenner hinzu - sollte es zu<br />
einem Luftkampf kommen - und zehn Minuten für die Warteschleife<br />
über Bitburg. Als er zufrieden war, ging er frühstücken. Bei<br />
jedem Bissen Toast ließ er den Einsatz vor sich ablaufen wie einen<br />
Film. Er stellte sich jeden Vorfall, jedes Hindernis, jede FlaRak-<br />
Batterie vor, die es zu meiden galt. Dann kalkulierte er aufs Geratewohl<br />
Unsicherheitsfaktoren ein. Welchen Effekt würde ein<br />
Schwärm Kampfflugzeuge überm Ziel haben? Wie sah das Ziel<br />
be<strong>im</strong> Anflug aus? Aus welcher Richtung würde er anfliegen, falls<br />
ein zweiter Angriff erforderlich war? Major Eisly saß schweigend<br />
neben seinem Kommandanten, wusste, was hinter dessen ausdruckslosem<br />
Gesicht vorging, und nahm <strong>im</strong> Geist ebenfalls Berechnungen<br />
vor.<br />
Sie flogen fünfzig Meilen weit nach Ostdeutschland hinein und<br />
drehten dann bei Rathenow nach Norden ab. Weit hinter der<br />
Grenze waren zwei sowjetische Mainstay in der Luft, geschützt von<br />
wenigen Flanker-Abfangjägern. Die beiden Frisbees hielten sich aus<br />
dem Radarbereich der fliegenden Leitstände, und wenn sie <strong>im</strong><br />
Tiefflug über Straßen hinwegjagten, taten sie das in einer Richtung,<br />
die von ihrem Ziel wegführte. Städte und feindliche Depots, wo es<br />
SAM-Batterien geben konnte, mieden sie.<br />
Auf einem Kartendisplay am Armaturenbrett des Piloten zeigten<br />
die Trägheitsnavigationssysteme ihr Vorankommen an. Die Entfernung<br />
zum Ziel schrumpfte rasch, als das Flugzeug in eine weite<br />
Kurve nach Westen ging.<br />
Mit fünfhundert Knoten flitzten sie über Wittenberg. Die Infrarotkameras<br />
erfaßten Tanklastwagen, die sich auf verschiedenen<br />
Straßen aufs Ziel zubewegten. Da! Zwischen den Bäumen standen<br />
mindestens zwanzig Tanklaster, die aus dem unterirdischen Treibstofflager<br />
gefüllt wurden.<br />
»Ziel in Sicht. Angriff nach Plan.«<br />
»Roger«, bestätigte Schatten 2.. »Ich habe sie in Sicht.«<br />
Der Duke zog seine Maschine nach links und machte seinem<br />
Flügelmann den Weg für den ersten Anflug frei. Schatten 2 war<br />
inzwischen die einzige verbliebene Maschine, die mit den Aufhängungen<br />
für die schweren Bomben ausgerüstet war.<br />
308
»Verdammt!« Das Display des Duke zeigte einen SA-II-Starter<br />
genau <strong>im</strong> Flugpfad seiner Maschine. Die Raketen zielten nach<br />
Nordwesten. Der Oberst riß seine Maschine hart nach rechts<br />
herum und fragte sich, wo die anderen Fahrzeuge der Raketenbatterie<br />
standen.<br />
Schatten 2 sauste übers Ziel. Der Pilot warf seine vier Bomben<br />
und flog weiter nach Westen. Hinter ihm vereinzelte Feuerstöße,<br />
aber zu spät.<br />
Die französischen Durandal-Bomben, für den Einsatz gegen betonierte<br />
Startbahnen gedacht, wurden <strong>im</strong> Sturzflug von Raketenmotoren<br />
noch beschleunigt und waren für unterirdische Treibstofflager<br />
ideal. Sie explodierten nicht be<strong>im</strong> Aufprall, sondern bohrten<br />
sich über einen Meter in den Boden und detonierten erst dann. Drei<br />
fanden unterirdische Tanks. Die Sprengwirkung der Durandal war<br />
nach oben gerichtet und riß einen Krater auf, durch den brennender<br />
Treibstoff an die Luft gelangen konnte.<br />
Was nun kam, war fast so spektakulär wie eine Kernexplosion.<br />
Drei weiße Flammensäulen schössen in die Luft und ließen <strong>im</strong><br />
Umkreis von Hunderten von Metern brennenden Treibstoff niederregnen.<br />
Alle Fahrzeuge wurden in Flammen gehüllt, und nur die<br />
Soldaten in der Nähe des Zaunes kamen mit dem Leben davon.<br />
Sekunden später flogen Treibstoffbehälter aus Gummi in die Luft,<br />
brennender Dieseltreibstoff und Benzin verbreiteten sich <strong>im</strong> Wald<br />
und lösten weitere Explosionen aus. Druckwellen zerrten heftig an<br />
Ellingtons Maschine.<br />
»Donnerwetter«, sagte er leise. Laut Plan sollte er mit seinen<br />
Streubomben entzünden, was die Durandals aufgerissen hatten.<br />
»Die Rockeyes sind wohl überflüssig, Duke«, meinte Eisly.<br />
Ellington, von der heftigen Explosion fast geblendet, zwinkerte<br />
und flog so tief wie möglich. Dann stellte er fest, dass er einer Straße<br />
folgte.<br />
Der sowjetische Oberbefehlshaber der Westfront war bereits wütend,<br />
und was er <strong>im</strong> Osten sah, verbesserte seine Laune nicht. Er<br />
hatte gerade in Zarrentin mit dem Kommandeur der 3. Stoßarmee<br />
gesprochen und erfahren, dass sich der Angriff auf Hamburg in<br />
Sichtweite der Stadt erneut festgefahren hatte. Erbost, weil seine<br />
stärkste Panzerformation ihr Angriffsziel nicht erreichen konnte,<br />
hatte er den Kommandeur auf der Stelle abgelöst und war auf dem<br />
309
Rückweg zu seinem Gefechtsstand. Was er nun sah, konnte nur<br />
eines seiner großen Treibstofflager sein, das in die Luft flog. Der<br />
General fluchte, stand auf und öffnete die Dachluke seines gepanzerten<br />
Gefechtswagens. Am unteren Ende des Feuerballs tauchte<br />
ein schwarzer Schemen auf.<br />
Und was haben wir da? fragte Ellington. Sein TV-Display zeigte<br />
vier gepanzerte Fahrzeuge, darunter einen Flarak-Panzer! Er warf<br />
seine vier Rockeye-Bomben ab und wandte sich dann nach Süden.<br />
Die Kameras <strong>im</strong> Heck nahmen das Resultat auf. Die Rockeyes<br />
platzten auf und verteilten ihre Minibomben über die Straße. Sie<br />
detonierten be<strong>im</strong> Aufprall.<br />
Der OB West starb den Soldatentod. Als letzte Tat packte er ein<br />
Maschinengewehr und schoß auf das Flugzeug. Wenige Meter von<br />
seinem Fahrzeug entfernt gingen vier Minibomben nieder. Ihre<br />
Splitter fetzten durch die dünne Panzerung und töteten alle Insas-<br />
USS Chicago<br />
Das U-Boot kam langsam an die Oberfläche und fuhr dabei Spiralen,<br />
um mit Sonar die ganze Umgebung abzutasten, ehe es wieder<br />
auf Sehrohrtiefe ging. Erst wurde der ESM-Mast ausgefahren und<br />
schnüffelte nach feindlichen elektronischen Signalen, dann folgte<br />
das Suchperiskop. Der Kommandant suchte rasch rundum H<strong>im</strong>mel<br />
und Meer ab, sein Erster Offizier beobachtete über den TV-Monitor<br />
mit. Alles schien in Ordnung zu sein. Seegang mäßig, Dünung<br />
einsfünfzig hoch, Schönwetterwolken am klaren blauen H<strong>im</strong>mel.<br />
Ein wunderschöner Tag - wäre nicht Krieg gewesen.<br />
»Okay, senden«, befahl McCafferty, ohne das Auge vom Sehrohr<br />
zu nehmen. Nachdem ein Maat die UHF-Antenne ausgefahren<br />
hatte, verkündete <strong>im</strong> Funkraum hinter der Angriffszentrale ein<br />
Licht »Sendung frei«.<br />
Sie waren mit ihrer Kennung QZB über ELF (Ultralangwelle) an<br />
die Oberfläche befohlen worden. Der Funker schaltete seinen Sender<br />
an, stellte das UHF-Satellitenband ein und tippte QZB. Keine<br />
Antwort. Er warf seinem Nachbarn einen Blick zu und wiederholte<br />
310
die Prozedur. Wieder verpaßte der Satellit das Signal. Der Funker<br />
holte tief Luft und versuchte es ein drittes Mal. Zwei Sekunden<br />
später druckte der »heiße« Printer in der Ecke eine verschlüsselte<br />
Antwort aus. Der Fernmeldeoffizier gab den Befehl in eine Chiffriermaschine<br />
ein, und aus einem anderen Drucker kam der Klartext:<br />
TOP SECRET<br />
VON: COMSUBLANT<br />
AN: USS CHICAGO<br />
I. II50ZI9 JUNI AUSLAUF KOLA GR AMPH VERBAND ROTE<br />
FLOTTE GEMELDET. ZUSAMMENSTZG IO PLUS AMPHIB FZ UND<br />
15 PLUS. KAMPFSCHIFFE INCL KIROW, KIEW. STARKE ASW<br />
LUFTUNTERSTÜTZUNG. U-UNTERSTÜTZUNG ZU ERWARTEN.<br />
WESTKURS, GROSSE FAHRT.<br />
2. ANGRIFFSZIEL DES VERB WAHRSCH BOD0.<br />
3. FAHREN SIE SCHNELLSTENS NACH 7ON 16W.<br />
4. ANGREIFEN UND VERNICHTEN. KONTAKT NACH MÖGLICH<br />
KEIT VOR ANGRIFF MELDEN. ANDERE U-BOOTE NATO IN DIE<br />
SEM GEBIET. LUFTUNTERSTÜTZUNG MÖGLICH ABER IM AUGEN<br />
BLICK UNWAHRSCHEINLICH.<br />
5. NÄHERE ANGABEN ZUR POSITION DES VERB FOLGEN.<br />
McCafferty las die Nachricht kommentarlos durch und reichte sie<br />
dann dem Navigator. »Wie lange brauchen wir, wenn wir fünfzehn<br />
Knoten laufen?«<br />
» Rund elf Stunden.« Der Navigator griff nach seinem Stechzirkel<br />
und maß die Entfernung auf der Karte. »Wenn die Russen nicht<br />
fliegen, sind wir lange vor ihnen da.«<br />
»Joe?« McCafferty warf seinem IO einen Blick zu.<br />
»Gefällt mir. Direkt an der Hundert-Faden-Kurve, das Wasser ist<br />
dort ein bißchen quirlig, einmal wegen des Golfstroms, zum ändern<br />
wegen Süßwasser aus den Fjorden. In Küstennähe werden den<br />
Russen die norwegischen Diesel-U-Boote gefährlich, weiter draußen<br />
die Nato-Boote mit Nuklearantrieb. Ich möchte wetten, dass sie<br />
uns genau vor die Rohre laufen.«<br />
» Gut, gehen Sie auf neunhundert Fuß und Ostkurs. Entwarnung.<br />
Die Männer sollen sich ausruhen und etwas essen.«<br />
Zehn Minuten später lief Chicago mit fünfzehn Knoten in Rich<br />
311
tung null-acht-eins durch tiefes, aber vom Golfstrom erwärmtes<br />
Wasser, das die Ortung durch ein Überwasserschiff praktisch unmöglich<br />
machte. Die Maschinen konnten das Boot bei dieser geringen<br />
Geschwindigkeit mit abgeschalteter Reaktorpumpe antreiben.<br />
Das Kühlwasser <strong>im</strong> Reaktor zirkulierte also nur mittels natürlicher<br />
Konvektion, und die Hauptgeräuschquelle war el<strong>im</strong>iniert. Chicago<br />
war in seinem Element, ein lautloser Schatten, der durchs schwarze<br />
Wasser glitt.<br />
Die St<strong>im</strong>mung der Mannschaft hatte sich leicht gebessert. Nun<br />
hatte man endlich einen Auftrag, einen gefährlichen zwar, aber<br />
einen, für den man ausgebildet worden war. Befehle wurden ruhig<br />
und präzise ausgeführt. In der Messe spielten Offiziere Ortungs- und<br />
Angriffsprozeduren durch, die sie schon längst auswendig kannten,<br />
und mit Hilfe des Computers wurden zwei Übungen s<strong>im</strong>uliert.<br />
Man suchte die Seekarten nach Stellen ab, an denen besonders<br />
ungünstige Wasserverhältnisse ein gutes Versteck boten. Im Torpedoraum<br />
zwei Decks unter der Angriffszentrale testeten Seeleute die<br />
Elektronik der grünen Torpedos Mark 48 und der Harpoon-Flugkörper.<br />
Eine Waffe hatte einen elektronischen Defekt; zwei Torpedogasten<br />
nahmen sofort eine Schutzplatte ab, um eine Komponente<br />
zu ersetzen. Auf ähnliche Weise prüfte man die Tomahawk-Marschflugkörper<br />
in ihren vertikalen Abschußrohren <strong>im</strong> Bug. Schließlich<br />
s<strong>im</strong>ulierte das Waffenleit-Team mit dem Computer Mk-117 einen<br />
Angriff, um sicherzustellen, dass alle Bordsysteme funktionsfähig<br />
waren. Die Mannschaft tauschte opt<strong>im</strong>istische Blicke. Immerhin<br />
war es ja nicht ihre Schuld, dass der Russe so dumm gewesen war,<br />
ihnen in die Nähe zu kommen. Und vor ein paar Tagen war es ihnen<br />
gelungen, in Rußland praktisch an Land zu gehen - unentdeckt! Der<br />
Alte war ein echter Profi.<br />
USS Pharris<br />
Be<strong>im</strong> Abendessen ging es, gelinde gesagt, peinlich zu. Die drei<br />
russischen Offiziere saßen am Ende des Tisches, waren sich der<br />
beiden bewaffneten Wächter und des Smutje, der in der Kombüse<br />
auffällig mit einem langen Messer hantierte, durchaus bewußt. Ihr<br />
Essen wurde den Russen von einem finster blickenden siebzehnjährigen<br />
Matrosen serviert.<br />
312
»Nun«, meinte Morris umgänglich, »spricht jemand englisch?«<br />
»Ich«, meldete sich einer. »Mein Kommandant hat mich angewiesen,<br />
Ihnen für die Rettung unserer Männer zu danken.«<br />
»Sagen Sie ihm, er hätte großes Geschick bewiesen.« Morris goß<br />
Salatsoße auf und wartete auf die Übersetzung. Seine Offiziere<br />
behielten die Gäste scharf <strong>im</strong> Auge. Ed Morris wandte mit Bedacht<br />
den Blick ab und stellte fest, dass seine Bemerkung die gewünschte<br />
Wirkung zeigte. Am anderen Ende des Tisches kam es zu einem<br />
raschen Wortwechsel.<br />
»Mein Kommandant möchte wissen, wie Sie uns gefunden haben.<br />
Den Hubschraubern sind wir doch entkommen, oder?«<br />
»St<strong>im</strong>mt«, erwiderte Morris. »Wir verstanden das System nicht,<br />
nach dem Sie operierten.«<br />
»Wie haben Sie uns dann geortet?«<br />
»Ich wusste, dass Sie zuvor von der Orion angegriffen worden<br />
waren und mit hoher Geschwindigkeit fuhren, um uns einzuholen.<br />
Der Angriffswinkel war vorhersehbar.«<br />
Der Russe schüttelte den Kopf. »Was für ein Angriff? Wer hat<br />
uns angegriffen?« Er wandte sich an seinen Kommandanten und<br />
sprach etwa dreißig Sekunden lang.<br />
Es muss da draußen noch ein Charlie sein, dachte Morris, es sei<br />
denn, er lügt uns an. Jemand, der Russisch kann, sollte unten mit<br />
den Mannschaftsgraden sprechen. Verflucht, warum habe ich niemanden<br />
an Bord, der diese Sprache beherrscht?<br />
»Mein Kommandant sagt, Sie irren sich. Unser erster Kontakt<br />
war ein Hubschrauber. Mit einem Schiff haben wir nicht gerechnet.<br />
Ist das eine neue Taktik?«<br />
»Nein, das üben wir schon seit Jahren.«<br />
»Und wie haben Sie uns gefunden?«<br />
»Wissen Sie, was ein Schleppsonar ist? Damit haben wir Sie<br />
erfaßt - drei Stunden vor dem Torpedoschuß.«<br />
Der Russe machte große Augen. »So gut ist Ihr Sonar?«<br />
»Manchmal.« Auf die Übersetzung hin gab der russische Kommandant<br />
einen knappen Befehl, und die Konversation fand ein<br />
Ende. Morris fragte sich, ob sein Funktechniker bereits ein Mikrophon<br />
ins Quartier der Russen eingebaut hatte. Ihre Gespräche<br />
konnten wichtige Hinweise für den Nachrichtendienst der Flotte<br />
enthalten. Zunächst aber wollte er dafür sorgen, dass seine Gäste es<br />
bequem hatten. »Wie ist das Essen auf einem russischen U-Boot?«<br />
313
»Nicht so wie hier«, erwiderte der Navigator nach Absprache<br />
mit seinem Vorgesetzten. »Gut, aber anders. Wir bekommen mehr<br />
Fisch und weniger Fleisch. Und trinken Tee, keinen Kaffee.«<br />
Ed Morris stellte fest, dass seine Gäste mit kaum verhohlenem<br />
Gusto zulangten. Auch auf unseren U-Booten gibt es nicht genug<br />
frisches Gemüse, sagte sich Morris. Sein Funktechniker betrat die<br />
Messe und blieb an der Tür stehen. Morris winkte ihn zu sich.<br />
Der Mann reichte seinem Kommandanten ein Formular, auf dem<br />
in Druckschrift SONDERAUFTRAG AUSGEFÜHRT stand. Die Quartiere<br />
der Russen waren nun alle verwanzt. Morris ließ den Techniker<br />
abtreten und steckte das Papier ein. Sein Bootsmann hatte<br />
wundersamerweise zwei Flaschen Schnaps aufgetrieben - wo,<br />
wollte Morris erst gar nicht wissen -, die heute abend zu den<br />
Russen gelangen sollten. Er hoffte, dass der Alkohol ihnen die<br />
Zungen lösen würde.<br />
314
USS Pharris<br />
24<br />
Vergewaltigung<br />
Morris hätte den Maschinen am liebsten zugewinkt. Das Patrouillenflugzeug<br />
der französischen Marine signalisierte, dass sie sich <strong>im</strong><br />
Schutz eines Luftstützpunktes an Land befanden. Ein russischer U-<br />
Boot-Kommandant musste schon viel Mut haben, um hier, wo<br />
französische Dieselboote den Geleitzug abschirmten und mehrere<br />
ASW-Flugzeuge ihn beschützten, irgendwelche Spiele zu treiben.<br />
Die Franzosen hatten auch einen Hubschrauber losgeschickt, der<br />
die russischen Gefangenen abholte. Sie kamen nach Brest, um dort<br />
von Angehörigen der Nato-Nachrichtendienste verhört zu werden.<br />
Darum beneidete Morris sie nicht. Festgehalten wurden sie dann<br />
nämlich von den Franzosen, die nach dem Verlust eines Trägers<br />
üble Laune hatten.<br />
Die Pharris war <strong>im</strong> Begriff, ihren Geleitzug an britische und<br />
französische Eskorten zu übergeben und einen vierzig Frachter<br />
starken Konvoi nach Amerika zu übernehmen. Ihre ASW-Taktik<br />
hatte bislang recht gut funktioniert. Mit der Pharris als Sonar-<br />
Vorposten und starker Unterstützung durch die Orion hatten sie bis<br />
auf eines alle angreifenden sowjetischen U-Boote abgefangen.<br />
Aber auf dem Rückweg musste das noch besser klappen, denn die<br />
Bedingungen waren härter. Auf der ersten Fahrt hatten die Russen<br />
nur einen Bruchteil ihrer U-Boote gegen sie einsetzen können. Der<br />
Rest brach nun durchs Kattegatt. Den U-Boot-Kräften der Nato,<br />
die die Durchfahrt zu sperren versuchten, fehlten nun die Abfangvektoren<br />
von der SOSUS-Barriere und auch die Orion, die auf für<br />
U-Boote unerreichbare Ziele hinabstoßen konnten. Gut, die Pharris<br />
und die anderen Eskorten würden Versenkungen erzielen, aber<br />
genug? Wieviel größer würde diese Woche die Bedrohung sein?<br />
Ein Drittel des Geleitzugs war Luftangriffen zum Opfer gefallen.<br />
Waren diese Verluste erträglich? Er fragte sich, wie die Besatzungen<br />
der Frachter dies aushielten. Am Horizont kam der Konvoi in Sicht.<br />
315
USS Chicago<br />
»Da sind sie also.«<br />
Eine breite weiße Speiche auf dem Schirm stellte Breitbandrauschen<br />
in drei-zwei-neun dar. Das konnte nur der sowjetische Verband<br />
sein, der auf Bodo zuhielt.<br />
»Wie weit entfernt? fragte McCafferty.<br />
»Mindestens zwei Konvergenzzonen, Sir, vielleicht auch drei.<br />
Die Signalstärke nahm erst vor vier Minuten zu.«<br />
»Lassen sich Schraubenumdrehungszahlen identifizieren?«<br />
»Nein, Sir.« Der Sonarmann schüttelte den Kopf. »Im Augenblick<br />
hören wir nur undifferenziertes Geräusch. Wir haben versucht,<br />
Einzelfrequenzen herauszuisolieren, aber auch hier nur<br />
Chaos. Im Augenblick hören wir nur eine trampelnde Herde.«<br />
McCafferty nickte. Die dritte Konvergenzzone war gut hundert<br />
Meilen entfernt. Über solche Distanzen verloren akustische<br />
Signale an Schärfe, so dass sich ihre Richtung nur grob best<strong>im</strong>men<br />
ließ.<br />
»Westkurs, zwanzig Knoten«, befahl McCafferty. Als das Boot<br />
dahinjagte, behielt McCafferty die Anzeige des Bathythermographen<br />
<strong>im</strong> Auge. Solange die Wassertemperatur unverändert blieb,<br />
konnte er den guten Schallkanal nutzen. Doch die Werte begannen<br />
zu variieren. Das Boot verlangsamte rasch seine Fahrt, und McCafferty<br />
ging zurück in den Sonarraum.<br />
»So, und wo sind sie jetzt?«<br />
»Wir haben sie! Genau dort in drei-drei-zwo.«<br />
»IO, tragen Sie die Position ein und setzen Sie eine Kontaktmeldung<br />
auf.«<br />
Zehn Minuten später ging die Meldung über Satellit ab. In der<br />
Antwort wurde Chicago der Angriff befohlen: AUF DIE DICKEN<br />
KONZENTRIEREN.<br />
Island<br />
Der Hof war drei Meilen entfernt. Durch den Feldstecher sah<br />
Edwards ein Fachwerkhaus, Scheunen und Hunderte von Schafen<br />
auf der Weide am Bach. »Ende der Fahnenstange«, meinte er nach<br />
einem Blick auf die Karte. »Wird auch Zeit, dass wir was zu essen<br />
316
ekommen. Wir folgen der Senke nach rechts und halten die Böschung<br />
zwischen uns und der Farm, bis wir auf eine halbe Meile<br />
herangekommen sind.«<br />
»Okay, Sir«, st<strong>im</strong>mte Sergeant Smith zu. Die vier Männer setzten<br />
sich mühsam auf und hängten sich ihr Gerät um. Sie waren seit<br />
zweieinhalb Tagen fast ununterbrochen marschiert und befanden<br />
sich nun rund fünfunddreißig Meilen nordöstlich von Reykjavik.<br />
Auf ebenen Straßen war dieses Marschtempo moderat, <strong>im</strong> Gelände<br />
aber strapaziös - insbesondere, da sie auf Hubschrauber achten<br />
mussten, die inzwischen das Gelände abflogen. Vor sechs Stunden<br />
hatten sie ihre letzten eisernen Rationen verzehrt. Die körperliche<br />
Anstrengung und die niedrigen Temperaturen zehrten an ihrer<br />
Energie. Immer wieder hatten sie sechshundert Meter hohe Ausläufer<br />
des Gebirges zu überwinden.<br />
Doch sie schleppten sich weiter, angetrieben von mehreren<br />
ingen. Zum einen fürchteten sie, von Soldaten der sowjetischen<br />
Division, deren Eintreffen sie beobachtet hatten, geschnappt zu<br />
werden. Keiner von ihnen hatte Lust auf eine Kriegsgefangenschaft<br />
in Rußland. Zum anderen hatten sie Angst zu versagen <br />
sie hatten einen Auftrag, und kein Zuchtmeister ist strenger als<br />
der eigene Stolz. Edwards hatte den anderen Männern ein Beispiel<br />
geboten, und die Marines konnten sich kaum von einem<br />
Meteorologen der Luftwaffe etwas vormachen lassen. So kam es,<br />
dass sich die vier Männer fast zu Tode marschierten - angetrieben<br />
von ihrem Ego.<br />
»Dann haben wir wenigstens bessere Deckung«, meinte Edwards.<br />
»Warten wir ab, bis es anfängt. Verdammt, ich wusste<br />
ja nicht, wie unangenehm dieses permanente Tageslicht ist. Ist<br />
irgendwie pervers, dass die Sonne einfach nicht untergehen<br />
will.«<br />
»Allerdings. Und ich hab noch nicht mal 'ne Zigarette«, grollte<br />
Smith.<br />
»Schon wieder Regen?« fragte Garcia.<br />
»Gewöhnen Sie sich dran«, versetzte Edwards. »Im Durchschnitt<br />
hat der Juni siebzehn Regentage. Die Niederschläge waren in diesem<br />
Jahr besonders ausgiebig. Warum steht das Gras wohl so<br />
hoch?«<br />
»Gefällt es Ihnen hier etwa?« fragte Garcia verdutzt. Mit Puerto<br />
Rico hatte Island sehr wenig gemeinsam.<br />
317
»Mein Vater ist Hummerfischer in Maine. Als Kind fuhr ich mit<br />
ihm hinaus, wann <strong>im</strong>mer ich konnte, und das Wetter war <strong>im</strong>mer so<br />
wie hier.«<br />
»Was machen wir, wenn wir das Haus dort unten erreichen,<br />
Sir?« Smith brachte sie zurück zum aktuellen Thema.<br />
»Wie bitten um Lebensmittel -«<br />
»Bitten?« fragte Garcia überrascht.<br />
»Allerdings. Was wir bekommen, bezahlen wir - und bedanken<br />
uns schön«, sagte Edwards. »Benehmt euch anständig, Männer.<br />
Wir wollen doch vermeiden, dass der Mann später den Iwan anruft.«<br />
Er sah seinen Männern ins Gesicht. Dieser Gedanke hatte sie<br />
alle ernüchtert.<br />
Es begann zu tröpfeln. Zwei Minuten später fiel dichter Regen,<br />
der die Sichtweite auf wenige hundert Meter reduzierte. Edwards<br />
raffte sich mühsam auf, zwang die Marines, seiHallom Beispiel zu<br />
folgen. Sie marschierten bergab, als die Sonne <strong>im</strong> Nordwesten<br />
hinter einen Hügel glitt. Dieser Hügel - morgen würden sie ihn<br />
wahrscheinlich überwinden müssen - kam Edwards wie ein Berg<br />
vor. Einen Namen hatte er auch, aber keiner konnte ihn aussprechen.<br />
Als sie das Bauernhaus fast erreicht hatten, war es so gut wie<br />
dunkel, und <strong>im</strong> Regen betrug die Sichtweite nun nur noch achtzig<br />
Meter. Kurz vor dem Hof entdeckte Smith ein Licht.<br />
»Auto!« rief er. Alle warfen sich zu Boden und zielten instinktiv<br />
mit ihren Gewehren auf die beiden hellen Punkte am Horizont.<br />
»Immer mit der Ruhe, Jungs. Dieser Weg hier zweigt von der<br />
Landstraße ab, und - verfluchte Scheiße!« Die Lichter waren nicht<br />
der Biegung der Küstenstraße gefolgt, sondern kamen nun auf den<br />
Hof zu. War das ein Wagen oder ein Kettenfahrzeug? »Verteilt<br />
euch!«<br />
Edwards lag auf dem Bauch, stützte sich auf die Ellbogen und<br />
schaute durchs Fernglas. Das Tarnmuster ihrer Kampfanzüge<br />
machte sie bei Tag fast unsichtbar, solange sie sich nicht bewegten,<br />
und bei Nacht glichen sie durchsichtigen Schatten.<br />
»Sieht aus wie ein Kleinlaster mit Allradantrieb«, meinte Edwards.<br />
Die Lichter kamen langsam auf das Bauernhaus zu, vier Männer<br />
stiegen aus, und einer blieb kurz vor den Scheinwerfern stehen, ehe<br />
sie ausgeschaltet wurden.<br />
»Mist!« zischte Smith.<br />
318
»Hm, sieht aus wie vier oder fünf Russen. Holen Sie Garcia und<br />
Rodgers, Sergeant.« Edwards hielt das Fernglas aufs Haus gerichtet.<br />
Drinnen war nur schwaches Licht. Die Russen - er zählte fünf <br />
gingen um das Haus herum. Wie Einbrecher, dachte er. Suchen sie<br />
nach uns? Wohl kaum, dann hätten sie wohl mehr aufgeboten als<br />
nur fünf Mann in einem Geländewagen. Interessant. Wollten sie<br />
plündern?<br />
»Was gibt's, Sir?« fragte Smith.<br />
»Fünf Russen, die in die Fenster gucken - Spanner? He, einer hat<br />
gerade die Tür eingetreten. Leute, das gefällt mir nicht. Ich -«<br />
Ein Schrei bestätigte ihn - der schrille Schrei einer Frau. Die<br />
Männer, die ohnehin schon froren, bekamen eine Gänsehaut.<br />
»Gehn wir mal ein bißchen näher ran«, sagte Edwards. »Bleibt<br />
zusammen und wachsam.«<br />
»Warum ausgerechnet jetzt, Sir?« fragte Smith scharf.<br />
»Weil ich es so will«, versetzte Edwards und steckte das Fernglas<br />
ins Futteral. »Folgen Sie mir.«<br />
Im Haus ging ein zweites Licht an und schien herumgetragen zu<br />
werden. Edwards lief so tief geduckt, dass ihm der Rücken<br />
schmerzte. Zwei Minuten später war er nur noch wenige Minuten<br />
von dem Fahrzeug und kaum zwanzig Meter von der Haustür<br />
entfernt.<br />
»Sir, Sie werden leichtsinnig«, warnte Smith.<br />
»Mag sein, aber die Russen auch. Wetten, dass -«<br />
Glas splitterte, ein Schuß hallte durchs Halbdunkel, gefolgt von<br />
einem schrecklichen schrillen Schrei und zwei weiteren Schüssen.<br />
Es wurde wieder geschrien.<br />
»Was geht hier vor?« fragte Garcia heiser.<br />
Eine rauhe Männerst<strong>im</strong>me brüllte etwas auf russisch. Die Haustür<br />
ging auf, vier Männer kamen heraus, besprachen sich kurz und<br />
gingen dann paarweise an die Fenster links und rechts, schauten<br />
hinein. Wieder ein Schrei, und nun war allen klar, was hier vorging.<br />
»Diese Schweine«, bemerkte Smith.<br />
»Allerdings. Zeit, dass wir etwas unternehmen«, meinte Edwards.<br />
»Einwände?« Smith nickte nur. »Gut. Smith, Sie kommen mit mir;<br />
wir übernehmen die linke Seite. Garcia und Rodgers schlagen einen<br />
Bogen und schleichen sich von rechts ans Haus an. In genau zehn<br />
Minuten greifen wir an. Wenn ihr sie lebendig erwischt, soll's mir<br />
recht sein. Wenn nicht, besorgt's ihnen.«<br />
319
Wieder ein Schrei, dann Stille. Edwards und Smith machten einen<br />
langen Umweg, krochen um einen Traktor und andere landwirtschaftliche<br />
Geräte herum. Als sie ins Freie kamen, stand nur ein<br />
Russe vorm Haus. Wo ist der andere? fragte sich der Lieutenant.<br />
Was nun? Du musst dich an den Plan halten. Alles hängt von dir ab.<br />
»Ich gehe los«, flüsterte Edwards, legte sein M-16 hin und zog<br />
sein Messer.<br />
Der russische Soldat machte es ihm leicht, denn er stand auf<br />
Zehenspitzen und verfolgte die Vorgänge <strong>im</strong> Haus. Drei Meter<br />
hinter ihm richtete sich Edwards auf und schlich Schritt für Schritt<br />
auf ihn zu. Erst jetzt wurde ihm klar, dass der Mann einen Kopf<br />
größer war als er.<br />
Drinnen musste es eine Unterbrechung gegeben haben. Der Soldat<br />
nahm eine Zigarettenpackung aus der Tasche, drehte sich halb<br />
um und riß ein Streichholz an, bekam dabei Edwards aus dem<br />
Augenwinkel zu sehen. Der Lieutenant sprang los und bohrte dem<br />
massiven Mann das Messer in die Kehle. Der Russe wollte aufschreien,<br />
doch Edwards rang ihn zu Boden und hielt ihm die Hand<br />
auf den Mund, stach ein zweites Mal zu. Das Opfer wurde schlaff.<br />
Edwards wischte das Messer am Hosenbein ab und schaute<br />
durchs Fenster. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, stockte ihm der<br />
Atem.<br />
»He da!« wisperte Garcia. Zwei russische Soldaten fuhren<br />
herum und schauten in die Mündungen zweier M-16. Ihre eigenen<br />
Gewehre hatten sie <strong>im</strong> Auto gelassen. Garcia machte eine Geste<br />
zum Boden, und die beiden legten sich gehorsam auf den Bauch.<br />
Rodgers suchte sie nach Waffen ab und ging dann ums Haus<br />
herum, um Meldung zu machen.<br />
»Wir haben sie beide lebendig erwischt, Sir.« Er stellte überrascht<br />
fest, dass der Lieutenant Blut an den Händen hatte.<br />
»Ich gehe rein«, sagte Edwards zu Smith. Der Sergeant nickte.<br />
»Ich gebe Ihnen von hier aus Feuerschutz. Rodgers, Sie folgen<br />
ihm.«<br />
Der Lieutenant trat durch die halboffene Tür. Das Wohnz<strong>im</strong>mer<br />
war leer und dunkel. Aus dem Nebenz<strong>im</strong>mer drang schweres Atmen<br />
und ein schwaches Licht. Edwards ging darauf zu - und stand<br />
einem Russen gegenüber, der sich gerade die Hosen zuknöpfte.<br />
Keine Zeit zum Überlegen. Edwards rammte dem Mann das<br />
Messer unter die Rippen, zog es heraus und stach noch einmal zu.<br />
320
Der Fallschirmjäger wollte ihn abwehren, wurde aber von seinen<br />
Kräften verlassen und brach zusammen. Ein Schatten bewegte sich.<br />
Edwards hob den Kopf und sah einen Mann mit einer Pistole auf<br />
sich zustolpern - und dann zerrissen Schüsse die Stille. Drei Geschosse<br />
aus Rodgers' M-16 bewirkten, dass der Russe die Pistole<br />
fallen ließ. »Alles klar, Skipper?« So nannten sie ihn zum ersten<br />
Mal.<br />
»Ja.« Edwards kam auf die Beine und ließ Rodgers den Russen in<br />
Schach halten, hob die Pistole auf und betrachtete den Mann, den er<br />
erstochen hatte. Das sympathische slawische Gesicht war vor Überraschung<br />
und Schmerz verzerrt, die Feldbluse blutgetränkt.<br />
»Sind Sie verletzt?« fragte Rodgers und drehte sich zu der Frau<br />
um.<br />
Edwards sah sie nun zum zweiten Mal: ein hübsches Mädchen<br />
am Boden. Das zerrissene wollene Nachthemd bedeckte nur knapp<br />
eine Brust; der Rest ihres Körpers, an dem schon Blutergüsse sichtbar<br />
wurden, war nackt. Hinten in der Küche sah Edwards eine<br />
zweite, ältere Frau reglos am Boden liegen. Er ging hinein und<br />
entdeckte einen Mann und einen Hund, ebenfalls tot - Herzschuß.<br />
Rodgers stieß den Russen zu Boden und plazierte die Bajonettspitze<br />
in seinen Lenden.<br />
Edwards kam zurück in die Wohnstube und kniete sich neben die<br />
blonde junge Frau. Ihr Gesicht war von Schlägen angeschwollen,<br />
und sie atmete stoßweise. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein.<br />
Edwards stand auf, sah sich um, nahm ein Tischtuch und deckte sie<br />
zu. »Schon gut. Sie leben ja noch. Jetzt sind Sie sicher. Keine<br />
Angst.« Er strich ihr sanft über die Wange und half ihr auf.<br />
»Oben alles klar, Sir.« Smith kam mit einem Bademantel von<br />
einer Inspektion zurück. »Geben Sie das der Frau zum Anziehen.<br />
Haben die Kerle sonst noch etwas gemacht?«<br />
»Ihre Eltern und den Hund erschossen. Sergeant, durchsuchen<br />
Sie die Russen, besorgen Sie Lebensmittel und was sonst nützlich<br />
sein könnte. Wir müssen uns beeilen. Haben Sie Verbandszeug?«<br />
»Klar, Skipper.« Smith warf ihm ein Päckchen mit Binden und<br />
Desinfektionsmittel zu und ging dann hinaus, um nach Garcia zu<br />
sehen.<br />
»So, und wir machen Sie jetzt oben ein bißchen sauber«, sagte<br />
Edwards zu der jungen Frau, legte ihr den Arm um die Schultern<br />
und half ihr die enge Holztreppe hinauf. Sie war nur eine Handbreit<br />
321
kleiner als er, hatte porzellanblaue Augen und eine blasse, fast<br />
durchsichtige Haut. Ihr Bauch wölbte sich leicht.<br />
Oben in einem kleinen Z<strong>im</strong>mer setzte sie sich aufs Bett.<br />
»Wer sind Sie?« stammelte sie auf englisch.<br />
»Amerikaner. Wir konnten be<strong>im</strong> Angriff auf Keflavik entkommen.<br />
Wie heißen Sie?«<br />
»Vigdis Agustdottir.« Vigdis, Tochter des Agust, der nun tot in<br />
der Küche lag.<br />
Er stellte die Petroleumlampe auf den Nachttisch und versorgte<br />
das Mädchen. Vigdis musste sich heftig gewehrt haben, mindestens<br />
ein Dutzend Schläge eingesteckt haben. »Sie können nicht hierbleiben«,<br />
sagte er dann. »Wir müssen weiter. Und Sie kommen am<br />
besten mit.«<br />
»Aber -«<br />
»Tut mir leid. Be<strong>im</strong> Angriff der Russen habe ich auch Freunde<br />
verloren. Zwar nicht meine Eltern -« Er ergriff ihre Hand. »Kommen<br />
Sie, wir nehmen Sie mit. Haben Sie irgendwo Familie? Wenn<br />
Sie hierbleiben, werden Sie umgebracht. Haben Sie mich verstanden?«<br />
Sie nickte heftig.<br />
»Ja. Aber lassen Sie mich jetzt bitte einen Augenblick allein.«<br />
»Gut. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie uns.« Edwards ging<br />
zurück ins Erdgeschoß, wo Smith das Kommando übernommen<br />
hatte. Auf dem Boden knieten mit verbundenen Augen drei gefesselte<br />
und geknebelte Männer. Garcia bewachte sie. Rodgers war in<br />
der Küche, Smith sortierte auf dem Tisch Gegenstände aus.<br />
»Okay, was haben wir hier?«<br />
Smith musterte seinen Offizier fast liebevoll. »Nun, Sir, einen<br />
russischen Leutnant, einen toten Feldwebel, einen toten Schützen<br />
und zwei lebendige. Das da hatte der Leutnant bei sich.«<br />
Edwards nahm die Landkarte entgegen und entfaltete sie.<br />
»Großartig!« Die Karte war mit handschriftlichen Anmerkungen<br />
versehen.<br />
»Wir haben ein zweites Fernglas und ein paar Rationen. Sehen<br />
aus wie Dreck, sind aber besser als nichts. Nicht übel, Skipper. Fünf<br />
Russen erwischt, nur drei Patronen verschossen.«<br />
»Was nehmen wir mit, J<strong>im</strong>?«<br />
»Nur etwas zu essen, Sir. Natürlich könnten wir zwei Gewehre<br />
mitgehen lassen, aber wir haben auch so schon genug zu schleppen.<br />
Kommt die Frau mit?«<br />
322
»Es bleibt uns nichts anderes übrig.«<br />
»St<strong>im</strong>mt.« Smith nickte. »Hoffentlich ist sie gut zu Fuß. Sieht<br />
einigermaßen fit aus, abgesehen von der Tatsache, dass sie schwanger<br />
ist. Im vierten Monat, würde ich sagen.«<br />
»Schwanger?« fuhr Garcia herum. »Das Schwein hat eine<br />
Schwangere vergewaltigt?« Er murmelte eine spanische Verwünschung<br />
vor sich hin.<br />
»Hat einer etwas gesagt?« fragte Edwards.<br />
»Keinen Ton«, erwiderte Garcia.<br />
»Smith, gehen Sie das Mädchen holen. Sie heißt Vigdis.«<br />
»Wird gemacht, Sir.«<br />
»Das also ist das Schwein.« Auf Garcias Nicken hin trat Edwards<br />
vor den Mann und nahm ihm Augenbinde und Knebel ab. Er war in<br />
seinem Alter und schwitzte. »Sprechen Sie Englisch?«<br />
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur Deutsch.«<br />
Edwards hatte diese Sprache zwar zwei Jahre lang in der High<br />
School gelernt, verspürte aber plötzlich keine Lust mehr, mit dem<br />
Mann zu reden. Er hatte beschlossen, ihn zu töten, und wollte keine<br />
Beziehung herstellen, die nachher sein Gewissen belastete.<br />
Smith führte Vigdis die Treppen hinunter. »Sie hat ordentliche<br />
Sachen, Skipper, gut eingelaufene Schuhe. Wir können ihr best<strong>im</strong>mt<br />
eine Feldflasche, einen Parka und einen Tornister besorgen.<br />
Eine Haarbürste und Kosmetikkram hat sie auch dabei. Ich besorge<br />
uns jetzt noch Seife und einen Rasierer.«<br />
»Gut, Sergeant.« Edwards wandte sich an Vigdis. »Wir brechen<br />
bald auf.« Dann drehte er sich wieder zu dem Russen um.<br />
»Warum?« fragte er, nur ihr zuliebe.<br />
Der Leutnant wusste, was ihm bevorstand, und zuckte die Achseln.<br />
»Afghanistan.«<br />
»Skipper, das sind Kriegsgefangene«, platzte Rodgers heraus.<br />
»Sie können sie doch nicht einfach -«<br />
»Gentlemen, ich klage Sie unter Kriegsrecht der Vergewaltigung<br />
und des zweifachen Mordes an. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung<br />
vorzubringen? Nein? Sie sind hiermit schuldig gesprochen<br />
und zum Tode verurteilt.« Mit der linken Hand stieß Edwards den<br />
Kopf des Leutnants zurück, seine Rechte holte aus und schlug dem<br />
Mann den Knauf des Messers gegen die Luftröhre. Der Todeskampf<br />
dauerte mehrere Minuten. Alle sahen zu, niemand ließ sich<br />
Mitleid anmerken.<br />
323
»Bedaure, dass es nicht schneller ging, Vigdis, aber dieses Ungeheuer<br />
tut keinem mehr was.« Das Mädchen ging wieder nach oben,<br />
vermutlich, um sich zu waschen. Edwards wandte sich den beiden<br />
anderen Russen zu. Er konnte sich nicht mit Gefangenen belasten,<br />
und was die Gruppe getrieben hatte, lieferte ihm einen leidlichen<br />
Vorwand. Andererseits hatten diese zwei dem Mädchen nichts<br />
angetan, und -<br />
»Darum kümmere ich mich, Sir«, sagte Garcia, der hinter den<br />
knienden Gefangenen stand, leise. Sie hatten keine Chance. Garcia<br />
stieß erst dem einen, dann dem anderen seitlich das Messer durch<br />
den Hals. Beide fielen um und starben rasch.<br />
Garcia und Edwards gingen in die Küche, um sich die Hände zu<br />
waschen.<br />
»Okay, laden wir sie in ihren Geländewagen, fahren sie zurück<br />
zur Landstraße und täuschen einen Unfall vor«, meinte Edwards<br />
anschließend. »Besorgen Sie mir ein paar Schnapsflaschen. Es soll<br />
so aussehen, als hätten die Kerle getrunken.«<br />
»Kein Problem.« Rodgers hielt eine Flasche Wodka hoch.<br />
Edwards warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Flasche, verdrängte<br />
den Gedanken aber sofort wieder. »Typisch«, meinte er.<br />
»Wenn ich mich nicht irre, war das eine Streife oder die Wache an<br />
einer Straßenkreuzung. Wenn wir Glück haben, finden ihre Bosse<br />
nie heraus, dass wir etwas mit der Sache zu tun hatten.«<br />
»Lieutenant«, gab Smith zu bedenken, »dann müssen wir<br />
aber –«<br />
»Richtig. Sie und Rodgers bleiben hier und bereiten alles vor.<br />
Wenn Sie etwas Brauchbares finden, packen Sie es ein. Wenn ich<br />
zurück bin, müssen wir uns sputen.«<br />
Edwards und Garcia warfen die Leichen auf die Ladefläche und<br />
fuhren dann rasch zur Landstraße. Wo diese an einer Steilküste<br />
entlangführte, hielten sie an und schafften die Leichen auf die Sitze.<br />
Nachdem Garcia einen Kanister Benzin in das Fahrzeug entleert<br />
hatte, schoben sie es an den Abgrund und warfen eine russische<br />
Granate hinein, als es zu rollen begann. Sie rannten zurück zum<br />
Hof, wo alles bereit war.<br />
»Miss Vigdis, wir müssen das Haus anzünden«, erklärte Smith<br />
gerade. »Sonst merken die Russen nämlich, was hier vorgefallen ist.<br />
Ihre Eltern sind tot, aber Sie wollen doch best<strong>im</strong>mt am Leben<br />
bleiben, oder?«<br />
324
Vigdis stand noch so unter Schockeinwirkung, dass sie kaum<br />
Widerstand leistete.<br />
»Los geht's, Leute«, befahl Edwards. Bald musste jemand auf das<br />
brennende Fahrzeug aufmerksam werden, und wenn man einen<br />
Hubschrauber schickte... »Garcia, Sie kümmern sich um die Frau.<br />
Smith bildet die Nachhut. Rodgers, Sie gehen voran. In den nächsten<br />
zwei Stunden müssen wir sechs Meilen schaffen.«<br />
Smith wartete zehn Minuten und warf dann eine Handgranate<br />
ins Haus. Das Petroleum, das er <strong>im</strong> Erdgeschoß verteilt hatte,<br />
entzündete sich sofort.<br />
USS Chicago<br />
Der Kontakt war inzwischen sehr viel besser. Ein Schiff hatten sie<br />
als Lenkwaffenzerstörer der Kaschin-Klasse identifiziert, der seinen<br />
Schraubengeräuschen nach zu schließen etwa einundzwanzig Knoten<br />
Fahrt machte. Die führenden Einheiten der sowjetischen Formation<br />
waren nun siebenunddreißig Meilen entfernt. Es schienen<br />
zwei Gruppen zu sein - eine, die aufgefächert die zweite abschirmte.<br />
McCafferty ließ den ESM-Mast ausfahren. Es wurde<br />
reger Funkverkehr empfangen, aber damit hatte er gerechnet.<br />
»Sehrohr ausfahren.« McCafferty nahm eine kurze Rundumsuche<br />
vor und klappte dann die Griffe hoch. »Heute gibt's Betrieb«,<br />
meinte er. »Ich habe zwei Bear-F gesehen, einen <strong>im</strong> Norden, den<br />
anderen <strong>im</strong> Westen. Beide waren zwar noch weit entfernt, aber ich<br />
wette, dass sie Sonobojen abwerfen. IO, gehen Sie auf fünfhundert<br />
Fuß, Fahrt fünf Knoten. Lassen wir sie mal an uns herankommen.«<br />
»Sonar an Zentrale.«<br />
»Zentrale, aye«, erwiderte McCafferty.<br />
»Aktive Sonobojen <strong>im</strong> Westen, insgesamt sechs, sehr schwach.«<br />
Der Sonar-Chief gab die Richtungen der Signalquellen durch.<br />
»Noch <strong>im</strong>mer kein Aktiv-Sonar vom Zielverband, Sir.«<br />
»Danke.« Chicago tauchte in einem Winkel von fünfzehn Grad<br />
ab. McCafferty behielt die Anzeige des Thermobathygraphen <strong>im</strong><br />
Auge. In zweihundert Fuß Tiefe begann die Wassertemperatur<br />
rapide zu sinken - innerhalb eines Bereiches von siebzig Fuß um<br />
zwölf Grad. Eine kräftige Schicht, unter der sie sich gut verstecken<br />
konnten, und kaltes Wasser, das für gute Sensorleistungen sorgte.<br />
325
Vor zwei Stunden hatte er einen Torpedo aus einem Rohr entfernen<br />
und durch zwei Harpoon-Flugkörper ersetzen lassen. Nun<br />
blieb ihm zwar nur noch ein Torpedo zum sofortigen Einsatz gegen<br />
ein Unterwasserziel, aber er konnte nun eine Salve von drei Raketen<br />
und seine Tomahawk-Marschflugkörper auf Überwasserschiffe<br />
loslassen. Eigentlich hätte er schon jetzt feuern und treffen können,<br />
aber McCafferty wollte keine Rakete an ein kleines Patrouillenfahrzeug<br />
verschwenden, wenn weiter draußen ein Flugzeugträger<br />
und ein Schlachtkreuzer auf ihn warteten. Individuelle Ziele waren<br />
nicht leicht zu identifizieren, aber für einfache Aufgaben waren<br />
Boote der Klasse 688 auch nicht gedacht. Er ging in den Sonarraum.<br />
Der Chief entdeckte ihn aus dem Augenwinkel. »Sir, mag sein,<br />
dass ich die Kirow habe. Sechs Impulse von einem Niederfrequenz-<br />
Sonar. Ich glaube, das ist sie, in null-drei-neun. Versuche nun, ihre<br />
Maschinensignatur zu isolieren. Und wenn - ah, rechts werden<br />
weitere Sonobojen abgeworfen.« Auf dem Display tauchten neue<br />
Lichtflecke weit rechts der ersten Kette auf.<br />
»Wirft er sie in Winkeln, Chief?« fragte McCafferty. Zur Antwort<br />
bekam er ein Lächeln und ein Nicken. Wenn die Sowjets ihre<br />
Sonobojen in Pfeilform links und rechts der Formation auslegten,<br />
konnte das nur bedeuten, dass sie direkt auf Chicago zuhielten. Das<br />
Boot brauchte also nicht zu manövrieren, sondern nur still zu<br />
bleiben wie ein Grab.<br />
»Sie scheinen sie abwechselnd über und unter der Thermoklinen<br />
zu positionieren, Sir, und in recht großem Abstand.« Der Chief<br />
steckte sich eine Zigarette an, ohne den Blick vom Bildschirm zu<br />
wenden. Sein Aschenbecher quoll über.<br />
»Gut gemacht, Barney.« Der Kommandant klopfte seinem Sonar-Chief<br />
auf die Schulter und ging zurück in die Gefechtszentrale,<br />
wo der Feuerleittrupp bereits die neuen Kontakte auf eine Karte<br />
eintrug. Der Abstand zwischen den Sonobojen schien gut zwei<br />
Meilen zu betragen. Und wenn die Sowjets sie über und unter der<br />
Schicht deponierten, konnte Chicago die Chance haben, zwischen<br />
einem Paar hindurchzuschleichen. Ein weiteres Problem war die<br />
Präsenz passiver Bojen, die man nicht orten konnte.<br />
»Gehen Sie auf zweihundert Fuß; horchen wir mal kurz über der<br />
Schicht.« Das Manöver zahlte sich sofort aus.<br />
»Direktlinie zum Ziel«, verkündete der Sonar-Chief. Nun konnten<br />
sie von sowjetischen Schiffen ausgestrahlte Schallenergie direkt<br />
326
erfassen, ohne sich auf die wechselhaften Konvergenzen verlassen<br />
zu müssen.<br />
»Sir, uns steht ein neuer Sonobojen-Abwurf bevor. Bisher betrugen<br />
die Zeitabstände fünfzehn Minuten, diesmal dürften die Dinger<br />
näher niedergehen.«<br />
»Wieder das Niederfrequenz-Sonar«, warnte ein Operator.<br />
»Diesmal in drei-zwei-null. Signal schwach. Kontakt als Kreuzer<br />
Kirow klassifiziert. Moment, noch einer. Aktiv-Sonar <strong>im</strong> mittleren<br />
Frequenzbereich in drei-drei-eins, wandert von Backbord nach<br />
Steuerbord. Klassifiziert als ASW-Kreuzer der Kresta-II-Klasse.«<br />
McCafferty ließ sein Boot so dicht über der Thermokline, dass<br />
es, falls notwendig, binnen Sekunden daruntertauchen konnte.<br />
Auf dem taktischen Display begannen die Dinge sich nun zu entwickeln.<br />
Die Richtung der Kirow war mit einer annähernden Genauigkeit<br />
best<strong>im</strong>mt, die fast einen Schuß möglich gemacht hätte,<br />
doch es fehlten noch Daten zur Distanz.<br />
Chicago begann, einen Zickzackkurs zu fahren, was auch eine<br />
Änderung der Richtungen seiner Sonarkontakte zur Folge hatte.<br />
Mit Hilfe der Kursabweichung des Bootes wurde eine Basislinie<br />
zur Best<strong>im</strong>mung der Distanz zu den verschiedenen Kontakten erstellt<br />
- <strong>im</strong> Grunde eine s<strong>im</strong>ple Trigonometrieaufgabe, die aber<br />
dennoch Zeit in Anspruch nahm, weil Geschwindigkeit und Kurs<br />
der beweglichen Ziele geschätzt werden mussten. Selbst Computerunterstützung<br />
vermochte den Prozeß nur geringfügig zu beschleunigen,<br />
und ein Steuermannsmaat war ganz besonders stolz<br />
auf seine Fähigkeit, den Computer mit dem Rechenschieber zu<br />
schlagen.<br />
Die Spannung nahm zu, pendelte sich dann ein. Jahre der Ausbildung<br />
zahlten sich jetzt aus. Daten wurden in Sekundenschnelle<br />
verarbeitet, eingezeichnet und in Aktion umgesetzt. Die Mannschaft<br />
schien mit dem Gerät eins zu werden und ihre Emotionen<br />
zu verdrängen; nur der Schweiß auf ihren Stirnen verriet, dass sie<br />
Menschen und keine Maschinen waren. Sie hingen nun ganz von<br />
den Sonar-Operatoren ab. Schallenergie war ihre einzige Orientierungshilfe,<br />
und jede neue Peilung löste fieberhafte Aktivität aus.<br />
Fest stand, dass ihre Ziele <strong>im</strong> Zickzack liefen, was die Entfernungsbest<strong>im</strong>mungen<br />
noch weiter komplizierte.<br />
»Sonar an Zentrale! Aktive Sonarboje dicht an Backbord, vermutlich<br />
unter der Thermokline.«<br />
327
»Ruder hart Backbord, zwei Drittel voraus», befahl der Erste<br />
Offizier sofort.<br />
McCafferty betrat den Sonarraum und setzte sich Kopfhörer auf.<br />
Die Peilsignale waren laut, klangen aber irgendwie verzerrt. Falls<br />
sich die Boje unter der Schicht befand, konnten die nach oben<br />
ausgestrahlten Signale sein Boot kaum erfassen. »Signalstärke?«<br />
fragte er.<br />
»Intensiv«, versetzte der Sonar-Chief. »Möglich, dass sie uns<br />
erfaßt haben. Noch fünfhundert Yard weiter, und wir entwischen<br />
ihnen.«<br />
»Gut, aber die können nicht alle Bojen zugleich überwachen.«<br />
Der IO ließ Chicago um tausend Yard ausweichen und dann<br />
wieder auf den ursprünglichen Kurs zurückkehren. Über ihnen<br />
kreiste ein Bear-F mit zielsuchenden Torpedos und einer Besatzung,<br />
deren Aufgabe es war, auf die Signale der Sonobojen zu horchen.<br />
Wie gut waren die Bojen und die Männer? Drei angespannte Minuten<br />
verstrichen ereignislos.<br />
»Ein Drittel voraus, Kurs drei-zwei-eins«, befahl der Erste Offizier.<br />
Die erste Bojenlinie hatten sie nun durchbrochen; drei weitere<br />
lagen zwischen ihnen und dem Ziel. Die Distanzen zu drei Eskorten<br />
standen praktisch fest, aber die Entfernung zur Kirow war noch<br />
unklar.<br />
»Okay, Leute, die Bear haben wir hinter uns. Eine Sorge weniger.<br />
Distanz zum nächsten Schiff?« fragte McCafferty einen Offizier.<br />
»Sechsundzwanzigtausend Yard. Vermutlich ein Sowremenny.<br />
Fünftausend Yard östlich von ihr liegt die Kresta und peilt mit<br />
Rumpf- und VDS-Sonar.« McCafferty nickte. Das VD-Sonar (variable<br />
Tiefe) befand sich best<strong>im</strong>mt unter der Thermokline, und<br />
seine Chance, sie zu orten, war gering.<br />
»Sonar an Zentrale! Torpedos <strong>im</strong> Wasser in drei-zwo-null, Richtung<br />
ändert sich - Achtung, zahlreiche Aktivsonar-Signale. Zunehmendes<br />
Schraubengeräusch von allen Kontakten.« McCafferty war<br />
schon vor Ende der Meldung <strong>im</strong> Sonarraum.<br />
»Ändern die Torpedos die Richtung?«<br />
»Ja! Wandern von links nach rechts - verdammt, jemand greift<br />
die Russen an. Treffer!« Der Chief wies auf das Display. Von dem<br />
Leuchtfleck, der die Kirow darstellte, gingen nun drei grelle Speichen<br />
aus. Das Display zeigte jäh ein Chaos. In den Segmenten für<br />
hohe und mittlere Frequenzen erschienen Aktiv-Sonar-Linien, die<br />
328
an Helligkeit zunahmen, als die Schiffe mehr Fahrt machten und zu<br />
manövrieren begannen.<br />
»Sekundärexplosion am Kontakt -Mann! Zahlreiche Explosionen<br />
<strong>im</strong> Wasser. Vielleicht Wasserbomben. Koch ein Torpedo, wandert<br />
von rechts nach links.«<br />
Das Display war nun so komplex, dass McCafferty nicht mehr<br />
folgen konnte. Der Chief erweiterte die Zeitskala, um ihm die<br />
Interpretation zu vereinfachen, doch nur er und seine erfahrenen<br />
Operatoren verstanden diese Abläufe.<br />
»Sir, es sieht so aus, als wäre jemand in den Verband eingedrungen<br />
und habe drei Volltreffer auf der Kirow erzielt. Diese beiden<br />
Schiffe hier scheinen auf etwas zuzulaufen; das ist best<strong>im</strong>mt der<br />
Angreifer. H<strong>im</strong>mel, sehen Sie sich bloß die Explosionen an!«<br />
McCafferty begab sich nach achtern. »Sehrohrtiefe!« befahl er.<br />
Chicago fuhr steil aufwärts und lag nach einer Minute dicht unter<br />
der Oberfläche.<br />
Am Horizont sah er etwas, das einem Mast ähnelte, und in dreizwo-null<br />
eine schwarze Rauchsäule. Es waren über zwanzig Radarund<br />
zahlreiche Sprechfunkgeräte in Betrieb.<br />
»Sehrohr einfahren! Haben wir Zielkoordinaten?«<br />
»Nein, Sir«, antwortete der IO. »Als die Ziele zu manövrieren<br />
begannen, gingen alle unsere Daten zum Teufel.«<br />
»Distanz zur nächsten Sonobojen-Linie?«<br />
»Zwei Meilen. Wir sind so positioniert, dass wir durch eine Lücke<br />
stoßen können.«<br />
»Gehen Sie auf achthundert Fuß. Äußerste Kraft voraus.«<br />
Chicago wurde von seinen Maschinen auf dreißig Knoten beschleunigt.<br />
Der IO tauchte auf achthundert Fuß ab und unter einer<br />
auf oberflächennahe Suche eingestellten Sonoboje hindurch.<br />
McCafferty sah am Kartentisch zu, wie sich sein Boot dem feindlichen<br />
Verband <strong>im</strong>mer mehr näherte. Die hohe Geschwindigkeit<br />
reduzierte die Sonar-Leistung auf praktisch null, aber bald drang<br />
der Schall explodierender Munition durch die Rumpfhaut. So jagte<br />
Chicago zwanzig Minuten lang <strong>im</strong> leichten Zickzackkurs dahin,<br />
um russischen Sonobojen auszuweichen. Inzwischen brachte der<br />
Feuerleittrupp die Zielkoordinaten kontinuierlich auf den neuesten<br />
Stand.<br />
»Gut, ein Drittel voraus, zurück auf Sehrohrtiefe. Klar zum<br />
Angriff.«<br />
329
Das Sonar-Bild wurde rasch klarer. Die Sowjets versuchten nach<br />
wie vor verzweifelt, das Boot zu finden, das auf ihr Flaggschiff<br />
gefeuert hatte. Die Leuchtspur eines Schiffes war ganz verschwunden<br />
- mindestens ein Ziel war also versenkt oder kampfunfähig<br />
geschossen worden. Die Explosionen und das schrille Heulen angreifender<br />
Torpedos klangen nun bedenklich nahe.<br />
»Sehrohr ausfahren!« McCafferty suchte den Horizont ab. »Ich<br />
- Teufel noch mal!« Der TV-Monitor zeigte einen Bear, der nur<br />
eine halbe Meile entfernt auf den Verband zuhielt. Er sah sieben<br />
Schiffe, vorwiegend Mastspitzen, aber ein Zerstörer der Sowremenny-Klasse<br />
lag tief <strong>im</strong> Wasser. Die Rauchsäule war nun verschwunden.<br />
»Radarantenne ausfahren, Gerät in Bereitschaft.«<br />
Ein Maat schaltete die Stromversorgung des Oberflächen-Suchradars<br />
ein und hielt es in Bereitschaft.<br />
»Aktivieren, zwe<strong>im</strong>al Rundumsuche«, befahl McCafferty. Nun<br />
drohte echte Gefahr, denn die Sowjets würden mit Sicherheit das<br />
Radarsignal des U-Bootes orten und angreifen.<br />
Das Gerät blieb insgesamt zwölf Sekunden lang aktiv und zeichnete<br />
sechsundzwanzig Ziele auf den Schirm; zwei davon dicht<br />
beieinander in der vermuteten Position der Kirow.<br />
Der Radar-Operator las Entfernungen und Richtungen ab, die in<br />
den Mk-117 Feuerleitcomputer eingegeben wurden, der dann die<br />
Harpoon-Flugkörper mit Zielkoordinaten versorgte. Der Waffenoffizier<br />
prüfte seine Statusanzeige und wählte dann die beiden<br />
vielversprechendsten Ziele für die Raketen aus.<br />
»Eingestellt!«<br />
»Rohre fluten.« McCafferty sah zu, wie der Operator an der<br />
Bordwaffenkonsole die Startsequenz durchging. »Mündungsklappen<br />
offen.«<br />
»Zielkoordinaten geprüft und gültig«, sagte der Waffenoffizier<br />
ruhig. »Feuerfolge: zwei, eins, drei.«<br />
»Feuer!« befahl McCafferty.<br />
»Feuer zwei.« Das Boot erbebte, als Preßluft das Geschoß aus<br />
dem Rohr trieb. Wasser rauschte in den Hohlraum. »Feuer eins ...<br />
Feuer drei. Zwei, eins und drei los, Sir. Klappen geschlossen, Rohre<br />
werden zum Nachladen ausgepumpt.«<br />
»Mark-48 nachholen. Tomahawks zum Abschuß klarmachen!«<br />
befahl McCafferty.<br />
330
»Sehrohr ausfahren!« Der Obersteuermann wirbelte das Rad<br />
herum. McCafferty sah die Rauchspur der letzten Harpoon. Er<br />
klappte die Griffe hoch und trat zurück.<br />
»Hubschrauber <strong>im</strong> Anflug! Alarmtauchen, AK voraus!« Das U-<br />
Boot jagte in die Tiefe. Ein sowjetischer ASW-Hubschrauber hatte<br />
den Raketenabschuß entdeckt und raste auf sie zu.<br />
»Hart Backbord.«<br />
»Hart Backbord, aye!«<br />
»Tiefe hundert Fuß, Fahrt fünfzehn Knoten«, meldete der IO.<br />
»Und da ist er schon«, sagte McCafferty. Die Peilsignale vom<br />
Aktiv-Sonar des Hubschraubers hallten durch den Rumpf. »Gegensteuern,<br />
Lärminstrument ausstoßen.« Der Kommandant beorderte<br />
sein Boot zurück auf Ostkurs und ließ be<strong>im</strong> Durchbrechen der<br />
Thermokline die Geschwindigkeit herabsetzen. Mit einem bißchen<br />
Glück würden die Sowjets die Signale des Lärminstruments für<br />
Kavitationsgeräusche eines U-Bootes halten und angreifen, während<br />
Chicago sich unbehelligt entfernte.<br />
»Sonar an Zentrale, Zerstörer nähert sich aus drei-drei-neun.<br />
Hört sich an wie ein Sowremenny - achtern ein Torpedo <strong>im</strong> Wasser.<br />
Torpedo entfernt sich in achterlicher Richtung, wird schwächer.«<br />
»Sehr gut.« McCafferty nickte. »Der Hubschrauber hat das<br />
Lärminstrument angegriffen. Eine Sorge weniger. Ein Drittel voraus,<br />
gehen Sie auf tausend Fuß.«<br />
Der Sowremenny machte ihm nur wenig Kummer, aber die<br />
neuen sowjetischen Zerstörer der Udaloy-Klasse waren mit einem<br />
Niederfrequenz-Sonar ausgerüstet, das unter best<strong>im</strong>mten Bedingungen<br />
die Thermokline durchdringen konnte. Außerdem hatten<br />
sie zwei Hubschrauber und weitreichende, dem amerikanischen<br />
ASROC-System überlegene Raketentorpedos an Bord. Ba-wah!<br />
Niederfrequenz-Sonar. Sie waren be<strong>im</strong> ersten Peilversuch erfaßt<br />
worden. Würde das Gerät Chicagos Position an den Udaloy weitermelden?<br />
Oder hatte die neue Gummibeschichtung des U-Bootes die<br />
Ortung verhindert?<br />
»Ziel in drei-fünf-eins. Schraubengeräusche lassen auf verminderte<br />
Fahrt schließen - zehn Knoten«, meldete Sonar.<br />
»Aha, er läuft langsamer und sucht nach uns. Sonar, wie stark<br />
war dieser Impuls?«<br />
»An der Grenze des Ortungsbereiches, Sir. Empfing wahrschein<br />
331
lieh kein Echo von uns. Kontakt manövriert, liegt jetzt in drei-fünfdrei.<br />
Peilt weiter, sucht aber in Osten und Westen. Ein zweiter<br />
Hubschrauber in null-neun-acht aktiv. Seine Boje ist unter der<br />
Schicht, sendet aber nur schwach.«<br />
»IO, gehen Sie auf Westkurs. Wir wollen versuchen, seewärts<br />
einen Haken um sie zu schlagen und uns von Westen her an die<br />
Landungsschiffe heranzuschleichen.« McCafferty ging zurück in<br />
den Sonarraum. Er war versucht, den Udaloy anzugreifen, konnte<br />
aber in dieser Tiefe keinen Torpedo abfeuern, ohne einen gefährlich<br />
hohen Anteil seiner Preßluftreserven aufzubrauchen. Zudem hatte<br />
er den Auftrag, Großschiffe anzugreifen und nicht Eskorten. Dennoch<br />
gab sein Feuerleittrupp Zielkoordinaten ein für den Fall, dass<br />
der russische Zerstörer versenkt werden musste.<br />
»Was für ein Salat«, schnaufte der Chief. »Das Wasserbombardement<br />
<strong>im</strong> Norden hat etwas nachgelassen; Peilung auf diese Kontakte<br />
pendelt sich ein. Entweder sind sie wieder auf ihrem ursprünglichen<br />
Kurs, oder sie entfernen sich. Au, hier kommen wieder<br />
Sonobojen.«<br />
McCafferty steckte den Kopf in die Zentrale. »Gehen Sie auf<br />
Südkurs. Zwei Drittel voraus.«<br />
Die nächste Sonoboje traf direkt über ihnen die Oberfläche. Ihr<br />
Wandler wurde an einem Kabel bis unter die Thermokline hinabgelassen<br />
und begann sofort au<strong>tom</strong>atisch zu peilen.<br />
»Diesmal kriegen sie uns best<strong>im</strong>mt, Sir!«<br />
McCafferty befahl eine Kursänderung nach Westen und volle<br />
Kraft voraus. Drei Minuten später fiel ein Torpedo ins Wasser, der<br />
entweder von dem Flugzeug oder dem Udaloy stammte, aus einer<br />
Entfernung von einer Meile nach ihnen zu suchen begann und dann<br />
abdrehte. Wieder waren sie von der echofreien Gummibeschichtung<br />
gerettet worden. Vor sich orteten sie das Tauchsonar eines<br />
Hubschraubers. McCafferty wich ihm nach Süden aus, wusste, dass<br />
er von der sowjetischen Flotte abgedrängt wurde, ohne <strong>im</strong> Augenblick<br />
etwas dagegen unternehmen zu können. Nun waren zwei<br />
Hubschrauber hinter ihm her, und für ein U-Boot war es keine<br />
leichte Aufgabe, gleich zwei Tauchsonargeräte zu schlagen. Offenbar<br />
hatten sie den Auftrag, ihn zu vertreiben. Er aber konnte nicht<br />
rasch genug manövrieren, um an ihnen vorbeizukommen. Nachdem<br />
er sich zwei Stunden lang abgemüht hatte, gab er die Verfolgung<br />
endgültig auf. Inzwischen war der sowjetische Verband außer<br />
332
Sonarreichweite und nahm letzten Meldungen zufolge Kurs auf<br />
Andoya.<br />
Trotzdem fluchte McCafferty. Er hatte zwar alles richtig gemacht,<br />
den äußeren Verteidigungsring der Sowjets durchbrochen<br />
und wusste auch mit dem Zerstörerschirm fertigzuwerden. Aber es<br />
war ihm jemand zuvorgekommen, hatte die Kirow angegriffen <br />
sein Ziel! - und ihm alles vermasselt. Seine drei Harpoons hatten<br />
vermutlich Ziele gefunden, sofern sie nicht vom Russen abgeschossen<br />
worden waren - doch er war nicht in der Lage gewesen, die<br />
Treffer zu beobachten. Sofern es überhaupt welche gegeben hatte.<br />
Der Kommandant von Chicago verfaßte seine Kontaktmeldung an<br />
COMSUBLANT und fragte sich, weshalb einfach nichts klappen<br />
wollte.<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Da haben sie aber noch einen schönen Weg vor sich«, meinte der<br />
Jägerpilot.<br />
»Allerdings«, st<strong>im</strong>mte Toland zu. »Unserer letzten Meldung zufolge<br />
musste der Verband nach Südosten abdrehen, um einem<br />
U-Boot-Angriff auszuweichen. Inzwischen ist er vermutlich wieder<br />
auf Südkurs, doch wo er sich genau befindet, wissen wir nicht. Die<br />
Norweger schickten ihre letzte RF-5 los, doch die verschwand. Wir<br />
müssen die Russen angreifen, ehe sie Bod0 erreichen. Aber dazu<br />
müssen wir erst einmal herausfinden, wo sie sind.«<br />
»Keine Informationen von Spähsatelliten?«<br />
»Nein.«<br />
»Okay. Ich fliege sie mit einer Aufklärungsgondel an, das dauert<br />
hin und zurück vier Stunden. Nach rund dreihundert Meilen brauche<br />
ich ein Tankflugzeug. Geht das klar?«<br />
»Kein Problem«, meinte der Group Captain der RAF. »Aber<br />
seien Sie vorsichtig; morgen benötigen wir alle Tomcats als Eskorten<br />
für den Angriffsverband.«<br />
»In einer Stunde bin ich soweit.« Der Pilot entfernte sich.<br />
»Viel Glück«, sagte der Group Captain leise. Dies war nun schon<br />
der dritte Versuch, die sowjetische Landungsflotte aus der Luft zu<br />
orten. Nach dem Verschwinden der norwegischen Aufklärungsmaschine<br />
hatten es die Briten mit einem Jaguar versucht, doch auch der<br />
333
lieb verschollen. Die offenkundigste Lösung wäre die Entsendung<br />
einer Hawkeye mit dem Angriffsverband gewesen, doch die Briten<br />
ließen nicht zu, dass sich die E -2 zu weit von ihrer Küste entfernten.<br />
Großbritanniens Radareinrichtungen waren schwer angeschlagen;<br />
man brauchte die Hawkeye für die Verteidigung der Inseln.<br />
»So schwer hätte es doch eigentlich nicht sein sollen«, bemerkte<br />
Toland. Hier bot sich die goldene Gelegenheit, der sowjetischen<br />
Flotte einen schweren Schlag zu versetzen. War die Position des<br />
Verbandes erst einmal ermittelt, konnte er bei Tagesanbruch angegriffen<br />
werden. Die Aufgabe der Aufklärung wäre eigentlich den<br />
Norwegern zugefallen, doch mit der praktischen Vernichtung der<br />
norwegischen Luftwaffe in der ersten Kriegswoche hatte man bei der<br />
Nato nicht gerechnet. Ihre einzigen taktischen Erfolge hatten die<br />
Sowjets auf See erzielt. Während sich der Landkrieg in Deutschland<br />
auf eine Hi-Tech-Pattsituation zubewegte, waren die vielgepriesenen<br />
Marinen der Nato bisher von ihren sowjetischen Gegenspielern<br />
ausmanövriert und deklassiert worden. Die Einnahme Islands war<br />
ein Meisterstück gewesen. Noch <strong>im</strong>mer war die Nato verzweifelt<br />
bemüht, die Grönland-Island-England-Barriere mit U-Booten, denen<br />
eigentlich andere Aufträge zufallen sollten, wieder zu errichten.<br />
Die russischen Backfire reichten weit in den Atlantik hinein und<br />
griffen täglich einen Geleitzug an, und die Hauptmacht ihrer U-<br />
Boote war noch nicht einmal dort eingetroffen. Die Kombination<br />
dieser beiden Faktoren konnte zur Blockade des Atlantiks führen,<br />
und dann mussten die Armeen der Nato trotz ihrer bisher brillanten<br />
Leistungen unterliegen.<br />
Die Sowjets mussten an der Einnahme von Bod0 in Norwegen<br />
gehindert werden. Waren dort erst einmal russische Flugzeuge in<br />
Stellung, konnten sie Schottland angreifen, Ressourcen von der<br />
Front in Deutschland abziehen und Versuche, Bomberverbände auf<br />
dem Weg zum Atlantik abzufangen, verhindern. Toland schüttelte<br />
den Kopf. War die russische Flotte erst einmal ausgemacht, konnten<br />
ihr schwere Schläge versetzt werden. Dazu hatte die Nato die<br />
richtigen Waffen; sie konnte ihre Raketen außerhalb der SAM-<br />
Reichweite abfeuern, so wie die Russen es bei ihren Angriffen auf die<br />
Geleitzüge taten. Es war höchste Zeit, dass sich das Blatt wendete.<br />
Erst hob das Tankflugzeug ab; eine Stunde später folgte der<br />
Tomcat. Toland und sein britischer Kollege hielten in der Nachrichtendienstzentrale<br />
ein Nickerchen, als ein Wachoffizier eintraf.<br />
334
»Ihr Tomcat ist <strong>im</strong> Landeanflug, Commander.« Der RAF-Sergeant<br />
reichte Bob eine Tasse Tee.<br />
»Danke, Sergeant.« Toland fuhr sich über sein unrasiertes Gesicht<br />
und beschloß, auf eine Rasur zu verzichten.<br />
Der F-14 schwebte ein. Sein Pilot rollte in einen gehärteten<br />
Hangar und stieg rasch aus. Techniker nahmen bereits die Filmkassette<br />
aus der Kameragondel.<br />
»Keine Spur von dem Flottenverband!« sagte er sofort. Hinter<br />
ihm kletterte der Kampfbeobachter aus der Maschine.<br />
»Jäger in Massen!« meinte der Mann vom Rücksitz.<br />
»Einen habe ich erwischt«, fügte der Pilot hinzu. »Aber kein<br />
Hinweis auf die Flotte, weder visuell noch auf Infrarot oder Radar <br />
nur jede Menge Jäger. Sieben Schwärme, überwiegend MiG-23,<br />
glaube ich. Keine Sichtungen, aber zahlreiche Signale von High-<br />
Lark-Radar. Einer kam uns etwas zu nahe, den musste ich mit einer<br />
Sparrow belegen. Die Explosion haben wir gesehen; ein klarer<br />
Abschuß. Wie auch <strong>im</strong>mer, nach Bod0 fahren unsere Freunde<br />
nicht.«<br />
»Und bei Skagen haben Sie kehrtgemacht?«<br />
»Uns ging der Film aus, Treibstoff wurde knapp. Ernsthaft begann<br />
die Opposition durch Jäger erst nördlich von Bodo. Ich finde,<br />
wir sollten uns einmal bei And0ya umsehen - aber dazu brauchte<br />
man eine SR-17 mit der entsprechenden Reichweite.«<br />
»Unwichtig«, meinte der Group Commander. »Für einen massierten<br />
Einsatz dort oben brauchten unsere Maschinen Tankflugzeuge,<br />
und die sind zum größten Teil anderswo <strong>im</strong> Einsatz.«<br />
335
Island<br />
25<br />
Trecks<br />
Nachdem sie die Wiese hinter sich gelassen hatten, ging es wieder<br />
durch Gelände, das die Landkarte als Ödland bezeichnete, und bald<br />
begann der Anstieg zum 210 Meter hohen Glymsbrekkur. Der<br />
Regen hatte nicht nachgelassen, und das Zwielicht zwang ihnen<br />
eine langsame Gangart auf. Viele große Steine, auf die sie treten<br />
wollten, waren lose. Man verlor leicht das Gleichgewicht; ein Sturz<br />
konnte tödlich sein. Immer wieder knickten ihre Knöchel auf dem<br />
unebenen Grund um; selbst die fest geschnürten Stiefel schienen<br />
nicht mehr zu helfen.<br />
Nach sechs Tagen <strong>im</strong> Hinterland begannen Edwards und seine<br />
Marines zu verstehen, was körperliche Erschöpfung bedeutete. Bei<br />
jedem Schritt beugte sich das Knie ein wenig zu weit - mit dem<br />
Ergebnis, dass der nächste viel anstrengender war. Die Tragriemen<br />
ihrer Tornister schnitten schmerzhaft ein. Ihre Arme schmerzten <br />
vom Tragen der Waffe und dem <strong>im</strong>mer wieder notwendigen Zurechtrücken<br />
ihrer Ausrüstung. Sie ließen die Köpfe hängen. Nur mit<br />
Mühe schauten sie auf und in die Runde. Es bestand <strong>im</strong>mer die<br />
Möglichkeit, dass sie in einen Hinterhalt gerieten.<br />
Der Feuerschein des brennenden Hauses verschwand hinter<br />
einem Bergkamm. Bislang hatten weder Hubschrauber noch Fahrzeuge<br />
den Brand inspiziert. Doch wie bald würde man die Streife<br />
vermissen? fragten sich alle.<br />
Alle - außer Vigdis. Edwards ging hinter ihr, lauschte ihrem<br />
Atem, hörte sie hin und wieder schluchzen, wusste aber nicht, was er<br />
ihr sagen sollte. Hatte er das Richtige getan? Hatte er einen Mord<br />
begangen, oder war die Tat ein Notbehelf gewesen oder ein Akt der<br />
Gerechtigkeit? Er verdrängte die vielen Fragen. Nun kam es nur<br />
aufs Überleben an.<br />
»Zehn Minuten Rast!« rief er.<br />
Sergeant Smith schaute sich nach den anderen um und setzte sich<br />
336
dann neben seinen Lieutenant. »Wir sind gut vorangekommen, Sir,<br />
vier oder fünf Meilen in zwei Stunden, und könnten jetzt ein bißchen<br />
langsamer gehen.«<br />
Edwards lächelte schwach. »Bleiben wir doch einfach hier und<br />
bauen uns ein Haus.«<br />
»War mir auch recht, Skipper«, erwiderte Smith lachend.<br />
Der Lieutenant schaute kurz auf die Karte und verglich sie mit<br />
dem sichtbaren Gelände. »Umgehen wir dieses Moor links? Laut<br />
Karte ist dort ein Wasserfall, der Skulafoss. Die Klamm scheint<br />
recht tief zu sein. Wenn wir Glück haben, finden wir dort eine<br />
Höhle. Wenn nicht, sind wir in den tiefen Schatten der Klamm<br />
wenigstens vor Hubschraubern sicher. Wie weit wäre das? Fünf<br />
Stunden?«<br />
»So ungefähr«, meinte Smith nickend. »Wären Straßen zu überqueren?«<br />
»Nein, es sind nur Fußwege eingezeichnet.«<br />
»Klingt gut.« Smith drehte sich zu dem Mädchen um, das sich<br />
gegen einen Felsen lehnte und ihnen stumm zuhörte. »Wie fühlen<br />
Sie sich?« fragte er sanft.<br />
»Müde.« Ihr Tonfall sagte aber mehr, fand Edwards; sie klang<br />
ton- und emotionslos. War das gut oder schlecht? fragte er sich.<br />
Ihre Eltern waren vor ihren Augen ermordet worden, sie selbst<br />
hatte man brutal vergewaltigt. Was gingen einem da für Gedanken<br />
durch den Kopf? Er beschloß, sie abzulenken.<br />
»Kennen Sie sich in der Gegend gut aus?« fragte er.<br />
»Vater ging hier angeln und nahm mich oft mit.« Sie neigte das<br />
Gesicht in den Schatten. Ihre St<strong>im</strong>me brach, und sie begann leise zu<br />
schluchzen.<br />
Edwards hätte sie am liebsten in den Arm genommen und ihr<br />
gesagt, jetzt sei alles in Ordnung, befürchtete aber, das Ganze nur<br />
noch schl<strong>im</strong>mer zu machen. Und wer nahm ihm wohl ab, dass alles<br />
in Ordnung war?<br />
»Wie steht es mit der Verpflegung, Sergeant?«<br />
»Konserven für vier Tage, Sir. Ich habe das Haus gründlich<br />
abgesucht«, flüsterte Smith. »Ich fand auch zwei Angelruten und<br />
ein paar Köder. Wenn wir uns Zeit nehmen, können wir uns selbst<br />
versorgen. Die Gewässer hier sind fischreich, eine Menge Forellen<br />
und Lachse. Angeln macht Spaß, hab ich gehört. Aber ich konnte<br />
mir das nie leisten. Sagten Sie nicht, Ihr Vater sei Fischer?«<br />
337
»Hummerfischer. Was konnten Sie sich nicht leisten?«<br />
»Lieutenant, wer hier oben angeln will, muss zweihundert Dollar<br />
hinlegen«, erklärte Smith, »und das ist bei meinem Sold nicht drin.<br />
Aber wenn der Angelschein so teuer ist, muss es doch eine Menge<br />
Fische geben, oder?«<br />
»Denkbar«, st<strong>im</strong>mte Edwards zu. »So, brechen wir wieder auf.<br />
Wenn wir den Berg da drüben erreicht haben, legen wir uns aufs<br />
Ohr und ruhen uns aus.«<br />
»Soll mir recht sein, Skipper. Aber vielleicht kommen wir dann<br />
nicht rechtzeitig nach -«<br />
»Zum Teufel, dann verspäten wir uns eben! Ab jetzt wird nach<br />
anderen Regeln gespielt. Es kann sein, dass der Iwan nach uns sucht.<br />
Also machen wir langsam. Und wenn das unseren Freunden am<br />
Radio nicht gefällt, haben sie Pech gehabt. Vielleicht kommen wir<br />
mit Verzögerung ans Ziel, aber wir schaffen es.«<br />
»Genau, Skipper. Garcia! Sie gehen voran. Rodgers, Sie bilden<br />
die Nachhut. Fünf Stunden noch, Marines, dann können wir pennen.«<br />
USS Pharris<br />
Gischt peitschte Morris ins Gesicht, aber er genoß das Gefühl. Der<br />
Geleitzug mit Ballast beladener Frachter lief einem mit vierzig<br />
Knoten heranfegenden Sturm entgegen. Die See hatte einen häßlichen,<br />
schaumigen Grünton. Seine Fregatte erklomm die steilen<br />
Flanken endloser Wellenberge und stürzte dann wieder von ihnen<br />
herunter. Das ging nun schon seit sechs Stunden so. Die Bewegungen<br />
des Schiffes waren brutal. Jedesmal, wenn sich der Bug ins<br />
Wasser bohrte, hatte man das Gefühl, jemand sei voll auf die<br />
Bremse gestiegen. Die Männer hielten sich an Stützen fest und<br />
glichen breitbeinig das Schlingern aus. Wer an Deck stand, wie<br />
Morris, trug Schw<strong>im</strong>mweste und Jacke mit Kapuze. Ein Gutteil der<br />
Crew schlief.<br />
Gefechte waren bei solchem Wetter praktisch unmöglich. U-<br />
Boote orteten ihre Ziele vorwiegend mit Sonar, und der Lärm der<br />
aufgewühlten See übertönte jegliche Schiffsgeräusche. Ein ganz<br />
besonders aggressiver U-Boot-Kommandant konnte versuchen, auf<br />
Sehrohrtiefe zu fahren und sein Suchradar einzusetzen, doch damit<br />
338
iskierte er, dass sein Boot die Oberfläche durchbrach und vorübergehend<br />
außer Kontrolle geriet. Wollte ein U-Boot ein Schiff orten,<br />
musste es praktisch auf Tuchfühlung gehen. Auch Luftangriffe<br />
machten ihnen <strong>im</strong> Augenblick keine Sorgen; die zahllosen hohen<br />
Wellenkämme mussten die Suchköpfe feindlicher Raketen verwirren.<br />
Was sie selbst anging, war das Bugsonar praktisch nutzlos, da es<br />
sich in einem Bogen von zwanzig Grad auf und ab bewegte und hin<br />
und wieder ganz aus dem Wasser auftauchte. Das Schleppsonar<br />
befand sich in einigen hundert Fuß Tiefe in stillem Wasser und<br />
funktionierte daher in der Theorie recht gut, doch in der Praxis<br />
musste ein U-Boot große Fahrt machen, um sich von dem heftigen<br />
Hintergrundgeräusch abzuheben. Der Hubschrauber der Pharris<br />
konnte unter diesen Bedingungen zwar starten, aber nicht wieder<br />
landen. Gefahr drohte einem U-Boot von der Fregatte nur, wenn es<br />
sich in Reichweite der Raketentorpedos ASROC (fünf Meilen)<br />
befand. Zwei P-3 Orion operierten über dem Konvoi, aber Morris<br />
beneidete ihre Besatzungen, die in knapp tausend Fuß Höhe von<br />
den Turbulenzen durchgeschüttelt wurden, kein bißchen.<br />
Der Sturm bedeutete für alle eine Atempause in der Schlacht. Die<br />
Russen mussten es besser haben. Ihre Langstreckenflugzeuge wurden<br />
vermutlich am Boden gewartet, und die Sonar-Crews ihrer U-<br />
Boote konnten in vierhundert Fuß Tiefe gemütlich arbeiten.<br />
»Kaffee, Sir?« Chief Clarke kam mit einer Tasse aus dem Ruderhaus.<br />
»Danke.« Morris nahm die Tasse und leerte sie halb. »Wie hält<br />
sich die Mannschaft?«<br />
»Die Jungs sind so müde, dass sie noch nicht mal mehr kotzen.«<br />
Clarke lachte. »Pennen wie die Murmeltiere. Wann hört das<br />
schlechte Wetter endlich auf?«<br />
»Aufklaren soll es erst in zwölf Stunden. Diesem Tief folgt ein<br />
Hoch.« Die Wettervorhersage war gerade aus Norfolk eingegangen.<br />
Das Sturmtief zog nach Norden. Anschließend war mit zwei<br />
Wochen überwiegend klarem Wetter zu rechnen. Großartig.<br />
Der Chief lehnte sich nach Backbord, um zu sehen, ob die Fittings<br />
auf dem Vordeck noch sicher waren. Bei jeder dritten oder vierten<br />
See bohrte sich der Bug der Pharris tief in eine Wellenflanke, und sie<br />
nahm grünes Wasser über. Es war Aufgabe des Chiefs, dafür zu<br />
sorgen, dass alles, was an Deck verzurrt war, auch fest saß. Die<br />
339
Pharris war bei der letzten Überholung mit einem höheren Bugkorb<br />
ausgerüstet worden, der dieses Problem zwar reduzierte, aber nicht<br />
ganz ausschalten konnte. Seeleute wissen schon seit Urzeiten, dass<br />
die See tödlich ist, wenn man ihr nicht den nötigen Respekt zollt.<br />
Clarkes geübtes Auge nahm hundert Einzelheiten wahr. Dann<br />
drehte er sich wieder um. »Sie scheint das gut abzuwettern.«<br />
»Meinetwegen kann die See den ganzen Weg lang so toben«,<br />
meinte Morris, nachdem er seine Tasse geleert hatte. »Wenn sich<br />
der Sturm verzogen hat, müssen wir eine Menge verstreuter Frachter<br />
einsammeln.«<br />
Clarke nickte. Position halten war in diesem schweren Wetter<br />
nicht einfach. »So weit, so gut, Sir. Bislang hat sich noch nichts<br />
gelockert.«<br />
»Wie sieht's auf dem Achterdeck aus?«<br />
»Kein Problem, Sir. Ich habe einen Mann aufgestellt, der die<br />
Dinge <strong>im</strong> Auge behält. Solange wir keine größere Fahrt machen<br />
müssen, sollte alles halten.« Beide wussten, dass das ausgeschlossen<br />
war. Sie liefen zehn Knoten; viel schneller kam die Fregatte in dieser<br />
groben See ohnehin nicht voran. »So, ich sehe jetzt achtern nach<br />
dem Rechten.«<br />
»Okay.« Morris schaute nach oben, um sich davon zu überzeugen,<br />
dass seine Ausgucks noch auf Position waren. Wahrscheinlich<br />
oder nicht, hier draußen drohten Gefahren - alle möglichen.<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Ah, Andoya. Sie waren also doch nicht nach Bodo unterwegs«,<br />
meinte Toland, der gerade eine Satellitenaufnahme von Norwegen<br />
studierte.<br />
»Kennen Sie die Stärke der gelandeten Truppen?«<br />
»Mindestens eine Brigade, Group Captain, vielleicht sogar eine<br />
Division. Viele Kettenfahrzeuge und SAM-Starter. Auf dem Flugplatz<br />
sind bereits Jäger stationiert; Bomber werden folgen. Diese<br />
Bilder sind eine Stunde alt.« Die russische Flotte war schon wieder<br />
auf dem Rückweg zum Kola Fjord; der Brückenkopf konnte nun<br />
auf dem Luftweg verstärkt werden. Toland fragte sich, was aus dem<br />
norwegischen Reg<strong>im</strong>ent geworden war, das dort gestanden hatte.<br />
»Von dort aus können sie uns mit ihren Blinder-Bombern errei<br />
340
chen. Die Dinger fliegen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit an<br />
und sind teuflisch schwer abzufangen.« Die Russen hatten begonnen,<br />
Radaranlagen der RAF entlang der schottischen Küste systematisch<br />
anzugreifen - mit Luft-Boden-Raketen, von U-Booten gestarteten<br />
Cruise-Missiles und Kampfbombern. Letztere waren von<br />
Tornados der RAF zur Hälfte abgeschossen worden, größtenteils<br />
auf dem Rückflug. Die zwe<strong>im</strong>otorigen Blinder-Bomber konnten<br />
ihre schwere Bombenladung nach schnellem, tiefem Anflug abwerfen.<br />
Deshalb hat es der Russe auf Andoya abgesehen, dachte Toland:<br />
der perfekte vorgeschobene Luftstützpunkt, leicht von Basen<br />
in Nordrußland zu versorgen, und von in Schottland stationierten<br />
Jagdbombern nur zu erreichen, wenn sie in der Luft betankt wurden.<br />
»Hin kommen wir schon«, meinte Toland. »Aber dann müßte<br />
die Hälfte unserer Kampfflugzeuge Treibstofftanks statt Waffen<br />
tragen.«<br />
»Ausgeschlossen, die werden nie aus der Reserve freigegeben.«<br />
Der Group Captain schüttelte den Kopf.<br />
»Dann werden wir starke Patrouillen über den Faröern fliegen<br />
müssen, was uns von Island ablenkt.« Toland schaute vom Tisch<br />
auf in die Runde. »Wie entreißen wir den Kerlen die Initiative? Wir<br />
reagieren doch nur auf ihre Aktionen und kommen nicht zur Ausführung<br />
unserer eigenen Pläne. So verliert man Kriege, meine Herren.<br />
Wegen dieses Tiefs über dem Atlantik läßt der Iwan seine<br />
Backfire am Boden. Morgen fliegt er dann wieder Angriffe gegen<br />
unsere Geleitzüge. Andoya können wir nicht angreifen, auf Island<br />
nicht viel ausrichten - sollen wir denn einfach hier sitzen und uns<br />
Gedanken über die Verteidigung von Schottland machen?«<br />
»Wenn wir dem Iwan die Luftherrschaft überlassen -«<br />
»Wenn der Iwan unsere Geleitzüge versenkt, verlieren wir den<br />
Krieg, Group Captain!« betonte Toland.<br />
»Korrekt, Bob. Die Frage ist nur: Wie kommen wir an die Backfire<br />
heran? Die scheinen direkt über Island anzufliegen. Ihre Routen<br />
kennen wir zwar, aber die sind best<strong>im</strong>mt von MiGs geschützt.«<br />
»Gut, dann versuchen wir es auf indirekte Weise und gehen auf<br />
ihre Tankflugzeuge los.«<br />
Zwei Jägerpiloten hatten bislang schweigend zugehört.<br />
»Und wie sollen wir die finden?« fragte nun einer.<br />
»Ohne Sprechfunkverkehr lassen sich über dreißig Bomber nicht<br />
341
etanken«, sagte Toland. »Ich habe russische Luftbetankungsoperationen<br />
über Satellit abgehört und weiß, dass gequatscht wird.<br />
Schicken wir doch einen Elektronik-Aufklärer nach Norden und<br />
stellen fest, wie aufgetankt wird. Und lassen wir ein paar Tomcats<br />
den Tankern auf dem Rückflug auflauern.«<br />
»Erst zuschlagen, wenn der Bombenverband schon betankt ist?«<br />
meinte ein Pilot nachdenklich.<br />
»Damit verhindern wir den Angriff von heute nicht, bereiten den<br />
Russen aber morgen Kopfschmerzen. Wenn wir nur einmal Erfolg<br />
haben, werden sie vielleicht ihre Operationsweise ändern und reagieren<br />
dann zur Abwechslung einmal auf uns.«<br />
Island<br />
Wie schwer das Gelände war, konnte die Landkarte nicht vermitteln.<br />
Der Skula-Fluß stürzte durch eine Reihe von Schluchten, und<br />
die Wasserfälle erzeugten einen feinen Nebel, in dem sich in der<br />
Morgensonne ein Regenbogen wölbte. Edwards, der Regenbögen<br />
<strong>im</strong>mer gemocht hatte, fand das depr<strong>im</strong>ierend, denn es bedeutete<br />
den Abstieg an einer feuchten, glitschigen Felswand.<br />
»Haben Sie sich schon einmal als Bergsteiger versucht, Lieutenant?«<br />
fragte Smith.<br />
»Nein, in so einer Wand war ich noch nie. Und Sie?«<br />
»Gewiß, be<strong>im</strong> Training, aber den Abstieg übten wir nur selten.<br />
Sie brauchen keine Angst vorm Abrutschen zu haben; unsere Stiefelsohlen<br />
halten gut. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie auf festen Grund<br />
treten. Und machen Sie langsam. Garcia steigt als erster ab. Das<br />
gefällt mir hier. Sehen Sie das Becken da unten? Da gibt es Fische,<br />
und in diesem Loch entdeckt man uns best<strong>im</strong>mt nicht.«<br />
»Gut. Sie helfen der Frau.«<br />
»Okay. Garcia, Sie gehen voran. Rodgers, Sie bilden die Nachhut.«<br />
Smith hängte sich das Gewehr über und ging zu Vigdis.<br />
»Schaffen Sie das?« fragte er und hielt ihr die Hand hin.<br />
»Ich war schon einmal hier«, erwiderte sie und lächelte fast <br />
aber dann fiel ihr ein, wer ihr diese Stelle gezeigt hatte. Sie ergriff die<br />
ausgestreckte Hand nicht,<br />
»Sehr gut, Miss Vigdis. Vielleicht machen Sie uns noch etwas vor.<br />
So, und jetzt aufgepaßt!«<br />
342
Die fünfundzwanzig Kilo schweren Tornister machten den Abstieg<br />
beschwerlich. Es war nicht leicht, unter dieser Last das Gleichgewicht<br />
zu halten, und wer die Marines aus einiger Entfernung<br />
beobachtete, musste sie für alte Omas halten, die eine vereiste Straße<br />
überquerten. Stellenweise war die Steilwand fast vertikal. Hin und<br />
wieder gab es schmale Pfade, die das Rotwild getrampelt hatte.<br />
Zum ersten Mal wirkte sich die Erschöpfung zu ihrem Vorteil aus.<br />
Wären sie frischer gewesen, hätten sie best<strong>im</strong>mt versucht, rascher<br />
voranzukommen. Nun aber war jeder Mann am Ende seiner Kraft<br />
und fürchtete seine eigene Schwäche mehr als den Fels. Sie brauchten<br />
eine Stunde, schafften es aber zum Boden der Schlucht, ohne<br />
Ernsthafteres als Abschürfungen an den Händen und blaue Flecken<br />
davonzutragen.<br />
Einen Lagerplatz fanden sie auf einem Felsvorsprung drei Meter<br />
überm Wasser und dicht bei dem höheren östlichen Steilufer. Edwards<br />
schaute auf die Uhr. Seit über sechsundfünfzig Stunden<br />
waren sie nun auf den Beinen.<br />
Zuerst aßen sie. Edwards schlang den Inhalt einer Dose hinunter,<br />
ohne erst nachgesehen zu haben, was er da zu sich nahm. Dann<br />
stieß ihm Fisch auf. Smith ließ die beiden Marines zuerst schlafen<br />
und gab Vigdis seinen Schlafsack. Zum Glück schlief sie fast so<br />
schnell ein wie die beiden Soldaten. Der Sergeant erkundete kurz<br />
die Umgebung. Edwards schaute ihm verblüfft zu: Wie konnte der<br />
Mann noch Energie haben?<br />
»Das ist ein guter Platz, Skipper«, verkündete der Sergeant<br />
schließlich und ließ sich neben seinem Offizier zu Boden fallen.<br />
»Zigarette?«<br />
»Danke, ich bin Nichtraucher. Sagten Sie nicht, Sie hätten keine<br />
mehr?«<br />
»Richtig, aber Vigdis' Vater war Raucher, und ich fand ein paar<br />
Packungen.« Smith steckte sich mit einem Zippo, der die Insignien<br />
der Marineinfanterie trug, eine filterlose Zigarette an. »Ah, das tut<br />
gut!« seufzte er nach dem ersten Zug.<br />
»Ich schlage vor, dass wir uns hier einen Tag lang ausruhen.«<br />
»Klingt gut.« Smith lehnte sich zurück. »Sie haben sich gut<br />
gehalten, Lieutenant.«<br />
»Ich war als Kadett Langstreckenläufer - zehntausend Meter, ab<br />
und zu ein Marathonlauf.«<br />
Smith bedachte ihn mit einem giftigen Seitenblick. »Soll das<br />
343
edeuten, dass ich versucht habe, es einem Marathonläufer zu<br />
zeigen?«<br />
»Und es ist Ihnen auch gelungen.« Edwards massierte sich die<br />
Schultern und fragte sich, ob der Schmerz an den Stellen, wo die<br />
Tornisterriemen eingeschnitten hatten, jemals wieder abklingen<br />
würde. Dann fiel ihm etwas ein. »Sollte nicht jemand Wache stehen?«<br />
»Hatte ich mir auch überlegt«, erwiderte Smith, der sich den<br />
Helm über die Augen gezogen hatte. »Hier können wir uns das<br />
sparen. Entdecken kann uns nur ein Hubschrauber, der direkt über<br />
uns schwebt. Die nächste Straße ist zehn Meilen entfernt.«<br />
Edwards war schon eingeschlafen.<br />
Kiew, Ukraine<br />
»Iwan Michailowitsch, sind Ihre Sachen gepackt?« fragte Alexejew.<br />
»Jawohl, Genosse General.«<br />
»Der OB West wird vermißt, verschwand auf dem Weg von der<br />
dritten Stoßarmee zu einem vorgeschobenen Hauptquartier. Vermutlich<br />
kam er bei einem Luftangriff um. Wir übernehmen das<br />
Kommando.«<br />
»Einfach so?«<br />
»Von wegen!« versetzte Alexejew zornig. »Man brauchte sechsunddreißig<br />
Stunden, um zu dem Schluß zu gelangen, dass er wahrscheinlich<br />
tot ist. Der Idiot hatte gerade den Kommandeur der<br />
dritten Stoßarmee abgelöst, verschwand dann, und sein Stellvertreter<br />
wusste nicht, was er anfangen sollte. Ein geplanter Angriff fand<br />
nicht statt, und während unsere Leute auf Befehle warteten, starteten<br />
die Deutschen einen Gegenangriff!« Alexejew schüttelte wütend<br />
den Kopf und fuhr ruhiger fort: »Na, jetzt wird der Feldzug<br />
wenigstens von Soldaten geführt und nicht von politisch zuverlässigen<br />
Hurenböcken.«<br />
Wieder einmal fiel Sergetow der puritanische Zug seines Vorgesetzten<br />
auf. »Wie lautet unser Auftrag?«<br />
»Der General übern<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Befehlsstand das Kommando, und<br />
wir besuchen in der Zwischenzeit die Divisionen an der Front und<br />
informieren uns über die Lage. In zwei Stunden fliegen wir los.«<br />
344
»Am Tag?« fragte Hauptmann Sergetow überrascht.<br />
»Tagsüber scheint es sicherer zu sein. Die Nato behauptet, den<br />
Nachth<strong>im</strong>mel zu beherrschen. Unsere Leute sagen zwar das Gegenteil,<br />
fliegen uns aber am Tag. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlußfolgerungen,<br />
Genosse Hauptmann.«<br />
Luftstützpunkt Dover, Delaware, USA<br />
Eine Transportmaschine vom Typ C-5A stand wartend vor ihrem<br />
Hangar. In ihrem riesigen Laderaum arbeiteten vierzig Männer <br />
teils Marineoffiziere in Uniform, teils Zivilpersonen, die Overalls<br />
mit dem Emblem von General Dynamics trugen - an Tomahawk-<br />
Marschflugkörpern. Eine Gruppe nahm die schweren Anti-Schiff-<br />
Sprengkörper heraus und ersetzten sie durch etwas anderes; die<br />
andere hatte die schwierige Aufgabe, die Lenksysteme auszutauschen.<br />
Anstelle der auf Schiffe ausgerichteten Zielsuchelektronik<br />
wurden nun Terrainfolgesysteme eingebaut, welche man nur in mit<br />
Kernsprengköpfen ausgerüsteten Flugkörpern zum Einsatz gegen<br />
Landziele benutzte. Die Geräte, fabrikneu und originalverpackt,<br />
mussten geprüft und justiert werden. Die Aktion war streng gehe<strong>im</strong>.<br />
Empfindliche elektronische Instrumente gaben dem Lenksystem<br />
vorprogrammierte Informationen ein; andere Testgeräte prüften<br />
die von den Bordcomputern generierten Befehle. Es war nur genügend<br />
Personal für die Prüfung von jeweils drei Raketen vorhanden;<br />
jeder Test nahm eine Stunde in Anspruch. Hin und wieder schaute<br />
ein Mann hinüber zu der noch <strong>im</strong>mer wartenden riesigen C-5<br />
Galaxy, deren Besatzung ungeduldig auf und ab ging. Flugkörper,<br />
die die Prüfung bestanden hatten, wurden mit Fettstift markiert<br />
und behutsam in ihre Abschußrohre geladen. Fast ein Drittel der<br />
Lenksysteme mussten ersetzt werden. Manche hatten völlig versagt,<br />
andere hatten kleine Fehler, die aber doch ernst genug waren, um<br />
Austausch anstelle von Nachstellung zu rechtfertigen. Welches Ziel<br />
verlangte solche Präzision? fragten sich die Techniker von General<br />
Dynamics. Insgesamt nahm die Arbeit siebenundzwanzig Stunden<br />
in Anspruch, sechs mehr als erwartet. Rund die Hälfte der Männer<br />
bestieg das Flugzeug, das zwanzig Minuten später nach Europa<br />
startete. Sie schliefen in ihren Sitzen und waren zu erschöpft, um<br />
über die Gefahren, die ihrer harrten, nachzudenken.<br />
345
Skulafoss, Island<br />
Edwards fuhr aus dem Schlaf hoch. Die Marines waren noch<br />
schneller auf den Beinen und hasteten mit ihren Waffen in Dekkung,<br />
suchten den Rand ihrer kleinen Klamm ab. Vigdis schrie.<br />
Edwards stellte seine Waffe ab und ging zu ihr.<br />
»Ist ja gut, Vigdis, ist ja gut.«<br />
»Meine Eltern«, sagte sie schweratmend, »sie haben meine Eltern<br />
umgebracht. Und dann - die Soldaten -«<br />
»Die tun Ihnen nichts mehr.« Er schaute ihr ins Gesicht und<br />
wusste nicht, was er von ihrem Ausdruck halten sollte.<br />
»Sie kommen wieder«, sagte sie, »best<strong>im</strong>mt.«<br />
»Keine Angst, die sind alle tot. Und jetzt tut Ihnen niemand mehr<br />
etwas.«<br />
Sie nickte ruckartig. »Bleiben Sie bei mir. Ich habe Angst, allein<br />
zu sein.«<br />
»Was gibt's?« rief Smith.<br />
»Sie hatte einen bösen Traum«, erwiderte Edwards, erhob sich<br />
und sagte zu Vigdis: »Versuchen Sie jetzt zu schlafen. Wir sind bei<br />
Ihnen. Sie brauchen uns nur zu rufen.«<br />
Fünf Minuten später waren ihre Augen geschlossen, und ihr<br />
Atem ging regelmäßig. Edwards versuchte sie nicht anzusehen. Was<br />
sollte sie von ihm denken, wenn sie plötzlich aufwachte und<br />
merkte, dass er sie anstarrte? Wenn sie empört war, hatte sie Grund<br />
dazu, gestand sich Edwards. Wäre er ihr vor zwei Wochen in der<br />
Offiziersmesse begegnet... er, ein junger, ungebundener Mann, sie<br />
eine junge, offenbar ungebundene Frau. Nach dem zweiten Glas<br />
wäre es sein Hauptziel gewesen, sie in sein Quartier abzuschleppen.<br />
Leise Musik... Wie hübsch würde sie ausgesehen haben, wenn sie<br />
ein bißchen schamhaft aus ihren modischen Kleidern schlüpfte.<br />
Statt dessen war sie bei ihrer ersten Begegnung nackt gewesen und<br />
von Kratzern und Blutergüssen entstellt. Seltsam, dachte Edwards<br />
nun, wenn ein anderer auch nur versucht, sie anzurühren, bringe<br />
ich ihn ohne Zögern um. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen,<br />
mit ihr zu schlafen - was sein einziger Gedanke gewesen wäre,<br />
hätten sie sich unter anderen Umständen getroffen. Was wäre aus<br />
ihr geworden, wenn ich das Haus hätte links liegen gelassen? fragte<br />
er sich. Tot wäre sie, wie ihre Eltern. In ein paar Tagen würde<br />
jemand sie gefunden haben... so wie man Sandy entdeckt hatte.<br />
346
Und das war der Grund, aus dem Edwards den russischen Leutnant<br />
getötet und seinen langsamen Todeskampf genossen hatte. Schade<br />
nur, dass keiner der anderen -<br />
Smith winkte ihm zu. Edwards erhob sich leise und ging zu ihm<br />
hinüber.<br />
»Garcia hat Wache. Wenn das ein echter Alarm gewesen wäre,<br />
lebten wir jetzt alle nicht mehr. Zeit, dass wir uns wieder wie<br />
Marines benehmen.«<br />
»Wir sind zu erschöpft, um gleich wieder aufzubrechen.«<br />
»St<strong>im</strong>mt, Sir. Geht es der Frau besser?«<br />
»Sie hat Schl<strong>im</strong>mes hinter sich. Hoffentlich bekommt sie keinen<br />
Nervenzusammenbruch, wenn sie aufwacht.«<br />
Smith steckte sich eine Zigarette an. »Sie ist jung und faßt sich<br />
vielleicht wieder, wenn wir ihr eine Chance geben.«<br />
»Sie meinen, wir sollen ihr etwas zu tun geben?«<br />
»Ja, Skipper. Geht uns doch genauso: Wer beschäftigt ist, hat<br />
keine Zeit zum Grübeln.«<br />
Edwards schaute auf die Uhr. Ganze sechs Stunden Schlaf hatte<br />
er abbekommen. Er hatte steife Beine, fühlte sich ansonsten aber<br />
besser als erwartet. Das war natürlich eine Illusion. Er brauchte<br />
weitere vier Stunden Schlaf und eine ordentliche Mahlzeit, ehe er<br />
weitermarschieren konnte. »Wir brechen erst um elf auf. Ruhen wir<br />
uns noch etwas aus, essen wir etwas Anständiges.«<br />
»Klingt vernünftig. Wann nehmen Sie Kontakt mit Doghouse<br />
auf?«<br />
»Das hätte ich schon vor Stunden tun sollen, aber ich hatte keine<br />
Lust, die Felswand hochzuklettern.«<br />
»Lieutenant, ich bin zwar nur ein Stoppelhopser, aber warum<br />
gehen Sie nicht einfach eine halbe Meile stromabwärts? Dort müßten<br />
Sie Ihre Satelliten anpeilen können.«<br />
Edwards drehte sich um und schaute nach Norden. In der Tat,<br />
der Mann hatte recht. Er schüttelte ärgerlich den Kopf, stellte fest,<br />
dass der Sergeant pfiffig grinste, nahm das Funkgerät auf den Rükken<br />
und zog los.<br />
»Sie sind sehr spät dran, Beagle«, sagte Doghouse sofort. »Wie<br />
ist Ihr Status?«<br />
»Miserabel. Wir hatten einen Zusammenstoß mit einer russischen<br />
Streife.« Edwards berichtete zwei Minuten lang eingehend<br />
von dem Vorfall.<br />
347
»Beagle, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Sie haben<br />
den ausdrücklichen Befehl, Feindkontakte zu vermeiden. Wie können<br />
Sie jetzt sicher sein, dass niemand von Ihrer Existenz weiß?<br />
Over.«<br />
»Sie sind alle tot. Wir haben ihr Fahrzeug in den Abgrund geschoben<br />
und angezündet, um einen Unfall vorzutäuschen. Erledigt,<br />
Doghouse. Wir sind jetzt zehn Kilometer von der Stelle entfernt,<br />
ruhen uns heute aus und brechen morgen wieder auf. Dieser<br />
Marsch kann länger dauern, als wir erwarten. Das Gelände ist<br />
teuflisch, aber wir tun, was wir können. Sonst keine Meldungen.«<br />
»Gut. Ihr Befehl ist unverändert. Und spielen Sie bitte nicht noch<br />
einmal den edlen Ritter. Bestätigen.«<br />
»Roger. Out.« Be<strong>im</strong> Einpacken des Funkgerätes lächelte Edwards<br />
vor sich hin. Als er wieder zu den anderen stieß, sah er, dass<br />
Vigdis sich <strong>im</strong> Schlaf rührte. Er legte sich neben sie, wahrte aber mit<br />
Bedacht Distanz.<br />
Schottland<br />
»Spielt sich auf wie John Wayne, der die weißen Siedler vor den<br />
Indianern rettet!«<br />
»Wir waren nicht dabei«, gab ein anderer zu bedenken. »Über<br />
eine Distanz von tausend Meilen sollte man kein Urteil fällen. Der<br />
Mann war vor Ort und sah, was sich abspielte. Außerdem: Welche<br />
wichtige Information über Iwans Truppen hat er uns da geliefert?«<br />
»Nun, es ist bekannt, dass die Sowjets Zivilisten nicht gerade mit<br />
Samthandschuhen anfassen«, erklärte der Erste.<br />
»Andererseits aber sind sowjetische Luftlandetruppen für ihre<br />
strenge Disziplin bekannt. Solches Verhalten deutet aber nicht auf<br />
eine Elitetruppe hin«, meinte ein ehemaliger Major der SAS. »Das<br />
mag sich später als wichtig erweisen. Wie ich schon früher sagte,<br />
macht sich dieser Edwards gut«, setzte er ohne eine Spur von<br />
Selbstgefälligkeit hinzu.<br />
348
Stendal, DDR<br />
26<br />
Impressionen<br />
Der Hinflug war schon unangenehm genug gewesen. Je vier Stabsoffiziere<br />
waren in leichten Bombern <strong>im</strong> Tiefflug zu einem Militärflugplatz<br />
östlich von Berlin gebracht worden und alle heil angekommen,<br />
doch Alexejew fragte sich, zu welchem Grad das vom<br />
Geschick der Piloten oder vom Glück abhing. Nato-Flugzeuge<br />
hatten dem Flugplatz ganz eindeutig kürzlich einen Besuch abgestattet,<br />
und der General bezweifelte bereits die Behauptung seiner<br />
Kollegen von der Luftwaffe, man beherrsche zumindest am Tag den<br />
H<strong>im</strong>mel. Ein Hubschrauber brachte seine Gruppe von Berlin zum<br />
vorgeschobenen Befehlsstand des OB West bei Stendal: Alexejew<br />
war der erste hohe Offizier, der den Bunkerkomplex besuchte, und<br />
war von dem, was er vorfand, nicht besonders angetan. Die Stabsoffiziere<br />
waren zu sehr mit den Aktivitäten der Nato-Kräfte beschäftigt<br />
und kümmerten sich nicht genug um die der Roten Armee.<br />
Noch hatte man die Initiative nicht verloren, doch Alexejews erster<br />
Eindruck war der einer echten Gefahr. Er ließ sich den Operationsoffizier<br />
kommen und begann Informationen über den Verlauf des<br />
Feldzugs zu sammeln. Eine halbe Stunde später traf sein Vorgesetzter<br />
ein und nahm Alexejew sofort mit in sein Dienstz<strong>im</strong>mer.<br />
»Nun, Pascha?«<br />
»Ich muss mir umgehend die Front ansehen. Im Augenblick laufen<br />
drei Vorstöße, und ich muss wissen, wie sie sich entwickeln. Bei<br />
Hamburg wurde erneut ein deutscher Gegenangriff zurückgeschlagen,<br />
aber diesmal fehlen uns die Kräfte, um den Erfolg auszunutzen.<br />
Am nördlichen Frontabschnitt besteht <strong>im</strong> Augenblick eine Pattsituation.<br />
Weiter als hundert Kilometer sind wir bisher nicht vorgedrungen.<br />
Unser Zeitplan ist völlig durcheinandergeraten, die Verluste<br />
sind viel höher als erwartet - auf beiden Seiten, aber schl<strong>im</strong>mer<br />
bei uns. Wir haben die Wirksamkeit der Panzerabwehrwaffen der<br />
Nato stark unterschätzt. Unsere Artillerie war nicht in der Lage, sie<br />
349
niederzuhalten und unseren Verbänden einen Durchbruch zu ermöglichen.<br />
Die Luftstreitkräfte der Nato machen uns schwer zu<br />
schaffen, besonders nachts. Verstärkungen kommen nicht so zügig<br />
wie erwartet an die Front. An den meisten Abschnitten haben wir<br />
noch die Initiative, aber das kann sich innerhalb weniger Tage<br />
ändern, wenn uns der Durchbruch nicht gelingt. Wir müssen eine<br />
Schwachstelle in den feindlichen Linien finden und bald einen<br />
koordinierten Großangriff starten.«<br />
»Wie ist die Lage bei der Nato?«<br />
Alexejew zuckte die Achseln. »Sie hat alle verfügbaren Kräfte <strong>im</strong><br />
Feld. Verstärkungen treffen aus Amerika ein, doch nicht so reibungslos<br />
wie erwartet. Ich habe den Eindruck, dass für sie die Lage<br />
an mehreren, von uns jedoch bisher nicht identifizierten Stellen sehr<br />
gespannt ist. Wenn wir eine solche Stelle finden und ausnützen,<br />
sollte ein Durchbruch mit mehreren Divisionen möglich sein. Die<br />
deutsche Forderung nach Vorneverteidigung zwingt die Nato-<br />
Kräfte zu dem Versuch, uns überall aufzuhalten. Wir machten 1941<br />
diesen Fehler auch und mussten teuer bezahlen.«<br />
»Wann wollen Sie die Front besichtigen?«<br />
»So bald wie möglich. Ich nehme Hauptmann Sergetow mit -«<br />
»Den Sohn des Manns vom Politbüro? Pascha, wenn ihm etwas<br />
passiert...«<br />
»Er ist ein Offizier der Roten Armee, ganz gleich, wer sein Vater<br />
ist. Ich brauche ihn.«<br />
»Meinetwegen. Halten Sie mich über Ihren Standort auf dem<br />
laufenden und schicken Sie mir Ihre Leute. Zeit, dass in diesem<br />
Saftladen aufgeräumt wird.«<br />
Alexejew orderte einen neuen Kampfhubschrauber Mi-24. Hoch<br />
oben deckte ein Schwarm Mig-21 den Hubschrauber des Generals,<br />
der knapp über den Baumwipfeln flog. Alexejew lehnte einen Sitzplatz<br />
ab und hockte sich lieber an die Tür, um ungehindert hinausschauen<br />
zu können. Auf das, was er sah, war er nicht vorbereitet.<br />
Auf den Straßen standen ausgebrannte Panzer und Laster. Die<br />
wichtigsten Straßenkreuzungen hatten die Nato-Flugzeuge besonders<br />
gründlich zerstört. Eine Panzerkompanie, die hinter einer zerbombten<br />
Brücke auf Reparatur gewartet hatte, war el<strong>im</strong>iniert worden.<br />
Die verkohlten Überreste von Flugzeugen, Fahrzeugen und<br />
Männern hatten die schöne deutsche Landschaft in einen Schrottplatz<br />
für High-Tech-Waffen verwandelt. Als sie die Grenze nach<br />
350
Westdeutschland überflogen, wurde es noch schl<strong>im</strong>mer. Jede<br />
Straße war umkämpft worden, jedes Dorf. Vor einem Dorf zählte er<br />
zwölf abgeschossene Panzer. Den Ort selbst hatten Artillerieeinschläge<br />
und Brände fast völlig zerstört. Fünf Kilometer westlich die<br />
gleiche Szene, und Alexejew erkannte, dass be<strong>im</strong> Vorstoß über zehn<br />
Kilometer auf einer einzigen Straße ein ganzes Panzerreg<strong>im</strong>ent<br />
verlorengegangen war. Nun sah er Nato-Gerät - einen deutschen<br />
Kampfhubschrauber, nur noch an seinem aus einem Aschenkreis<br />
aufragenden Heckrotor zu erkennen, ein paar Panzer und Mannschaftstransportwagen.<br />
Die von beiden Seiten unter Einsatz aller<br />
Mittel und allen Könnens hergestellten stolzen Fahrzeuge lagen<br />
über die Landschaft verstreut wie aus Autofenstern geworfener<br />
Abfall. Der General wusste, dass die Sowjets mehr Gerät opfern<br />
konnten, aber wieviel mehr?<br />
Der Hubschrauber landete an einem Waldrand. Zwischen den<br />
Bäumen versteckte Flaks verfolgten ihn bis zum Aufsetzen. Er und<br />
Sergetow sprangen aus der Maschine, liefen geduckt unter dem<br />
noch laufenden Hauptrotor in den Wald. Dort fanden sie einen<br />
Gefechtsstand.<br />
»Willkommen, Genosse General«, grüßte ein Oberst, dessen<br />
Gesicht schmutzig war.<br />
»Wo ist der Divisionskommandeur?«<br />
»Ich musste den Befehl übernehmen. Der General fiel vorgestern<br />
unter feindlichem Artilleriefeuer. Wir müssen den Befehlsstand<br />
zwe<strong>im</strong>al am Tag verlegen, weil der Feind ihn mit <strong>im</strong>mer größerem<br />
Geschick aufspürt.«<br />
»Ihre Lage?« fragte Alexejew knapp.<br />
»Die Männer sind erschöpft, aber noch kampfbereit. Wir erhalten<br />
nicht genug Luftunterstützung, und nachts lassen uns die Jäger<br />
der Nato nicht zur Ruhe kommen. Die Kampfkraft der Division ist<br />
auf die Hälfte reduziert; unsere Artillerie liegt bei einem Drittel der<br />
Sollstärke. Inzwischen haben die Amerikaner ihre Taktik geändert<br />
und greifen nicht die Panzerspitzen, sondern erst aus der Luft<br />
unsere Artillerie an. Letzte Nacht erlitten wir schwere Verluste.<br />
Gerade, als ein Reg<strong>im</strong>ent zum Angriff antrat, vernichteten vier<br />
Erdkampfflugzeuge fast ein ganzes Bataillon Artillerie auf Selbstfahrlafetten.<br />
Der Angriff schlug fehl.«<br />
»Wie war's mit Tarnung?« schnauzte Alexejew.<br />
»Des Teufels Großmutter mag wissen, warum das nicht funktio<br />
351
niert«, versetzte der Oberst. »Die feindlichen Radarflugzeuge sind<br />
offenbar in der Lage, unsere Fahrzeuge zu orten - wir haben alles<br />
probiert, Stören, Köder. Manchmal klappt das, manchmal nicht.<br />
Der Gefechtsstand der Division ist zwe<strong>im</strong>al angegriffen worden.<br />
Majore befehligen meine Reg<strong>im</strong>enter, Hauptleute die Bataillone.<br />
Die Nato konzentriert sich bei ihren Angriffen auf die Kommandeure,<br />
und diese Taktik wirkt. Jedesmal, wenn wir auf ein Dorf<br />
treffen, müssen sich meine Panzer durch einen Schwärm von Raketen<br />
kämpfen. Wir haben versucht, das Panzerabwehrfeuer mit Raketenwerfern<br />
und Artillerie zu unterdrücken, aber wenn wir uns die<br />
Zeit nehmen, jedes Gebäude, das in Sicht kommt, in die Luft zu<br />
jagen, kommen wir nie voran.«<br />
»Was fehlt Ihnen?«<br />
»Massive Luftunterstützung. Wenn Sie mir helfen, die uns gegenüberstehenden<br />
Verbände zu zerschlagen, bekommen Sie Ihren<br />
Durchbruch!« Zehn Kilometer hinter der Front wartete eine Panzerdivision<br />
darauf, dass eben diese Einheit eine Bresche in feindliche<br />
Linien schlug -doch wie sollte sie einen Durchbruch ausnutzen, der<br />
nie erzielt wurde?<br />
»Wie steht es mit der Logistik?«<br />
»Könnte besser sein, aber wir bekommen genug Nachschub für<br />
das, was von der Division übrig ist. Für eine intakte Division würde<br />
es aber nicht reichen.«<br />
»Was tun Sie <strong>im</strong> Augenblick?«<br />
»In zwei Stunden greifen wir mit zwei Reg<strong>im</strong>entern ein Dorf<br />
namens Bieben an. Wir schätzen die Feindstärke auf zwei dez<strong>im</strong>ierte<br />
Infanteriebataillone, unterstützt von Panzern und Artillerie.<br />
Bieben beherrscht eine Straßenkreuzung, die wir einnehmen müssen.<br />
Das versuchten wir vergangene Nacht. Heute soll es klappen.<br />
Wollen Sie die Aktion beobachten?«<br />
»Ja.«<br />
»Dann lasse ich Sie nach vorne bringen. Den Hubschrauber<br />
vergessen wir, es sei denn, Sie sind lebensmüde. Außerdem« - der<br />
Oberst lächelte - »kann ich ihn gut zur Unterstützung des Angriffs<br />
brauchen. Sie können in einem Schützenpanzer an die Front fahren.<br />
Dort ist es aber gefährlich, Genosse General«, warnte der Oberst.<br />
»Macht nichts. Sie beschützen uns ja. Wann geht es los?«<br />
352
USS Pharris<br />
Die ruhige See ermöglichte der Pharris wieder Zickzackkurs. Die<br />
Hälfte der Mannschaft tat Dienst, das Passiv-Sonar wurde geschleppt,<br />
der Hubschrauber stand startbereit auf der Landeplattform.<br />
Seine Besatzung lag <strong>im</strong> Hangar und döste. Auch Morris war<br />
in seinem Ledersessel auf der Brücke eingeschlafen und schnarchte<br />
zur Erheiterung der Männer vernehmlich.<br />
»Sir, Spruch von CINCLANTFLT.«<br />
Morris sah benommen zu dem Verwaltungsunteroffizier auf und<br />
zeichnete das Formular ab. Ein hundertfünfzig Meilen nördlich von<br />
ihnen nach Osten laufender Geleitzug wurde angegriffen. Er ging<br />
an den Kartentisch, um sich die Distanzen anzusehen. Die U-Boote<br />
dort stellten für ihn keine Bedrohung dar. Noch vierzig Stunden bis<br />
Norfolk, wo sie bunkern, verschossene Munition ersetzen und<br />
binnen vierundzwanzig Stunden wieder auslaufen würden.<br />
»Was ist das?« rief ein Matrose laut und deutete auf eine niedrige<br />
weiße Rauchfahne.<br />
»Eine Rakete!« antwortete der Wachhabende. »Alarm! Alle<br />
Mann auf Gefechtsstation! Sir, uns hat eine Meile voraus ein Cruise<br />
Missile auf Südkurs passiert.«<br />
Morris fuhr hoch und blinzelte. » Signal auf den Geleitzug, Radar<br />
aktivieren, Düppel abfeuern.« Er rannte auf die Leiter zur Gefechtszentrale<br />
zu. Ehe er dort eintraf, ging der durchdringende Alarm <strong>im</strong><br />
Schiff los. Achtern jagten zwei Super-RBOC-Raketen gen H<strong>im</strong>mel<br />
und umgaben die Fregatte mit einer Wolke von Stanniolstreifen.<br />
»Fünf <strong>im</strong> Anflug«, sagte ein Radar-Operator. »Eine Rakete hält<br />
auf uns zu. Richtung null-null-acht, Distanz sieben Meilen, Geschwindigkeit<br />
fünfhundert Knoten.«<br />
»Brücke, hart Backbord auf null-null-acht«, befahl der TAO.<br />
»Zum Abschießen von Düppel klarmachen. Luftabwehrfeuer frei.«<br />
Das Fünf-Zoll-Geschütz drehte sich leicht und schoß mehrere<br />
Granaten ab, die der anfliegenden Rakete jedoch nicht nahe kamen.<br />
»Distanz nun zwei Meilen«, meldete der Radarmann.<br />
»Noch vier Super-RBOC abschießen.«<br />
Morris hörte die Raketen starten. Auf dem Radar erschienen die<br />
Stanniolstreifen als undurchsichtige Wolke,die das Schiff einhüllte.<br />
»Rakete in Sicht!« rief ein Ausguck. »An Steuerbord voraus,<br />
verfehlt uns wahrscheinlich - ja, passiert uns achtern.«<br />
353
Die Aluminiumwolke hatte das Geschoß verwirrt. Wäre sein<br />
Gehirn des Denkens fähig gewesen, hätte es sich gewundert, weshalb<br />
es nichts traf. So aber suchte sich sein Radarkopf, als plötzlich nur<br />
noch klarer H<strong>im</strong>mel vor ihm lag,'ein neues Ziel in fünfzehn Meilen<br />
Entfernung.<br />
»Sonar«, befahl Morris. »Suchen Sie in null-null-acht. Dort liegt<br />
ein mit Raketen bewaffnetes U-Boot.«<br />
»Wir peilen, Sir. Nichts in dieser Richtung.«<br />
»Es schoß eine Rakete ab, die mit fünfhundert Knoten dicht über<br />
der Oberfläche flog. Das war ein Charlie, vielleicht dreißig Meilen<br />
entfernt«, sagte Morris. »Lassen Sie den Hubschrauber aufsteigen.<br />
Ich komme hoch.«<br />
Morris betrat die Brücke gerade rechtzeitig, um die Explosion am<br />
Horizont mitzuerleben. Das war kein Frachter; ein Feuerball dieser<br />
Größe konnte nur bedeuten, dass die Magazine eines Kriegsschiffes<br />
von einer Rakete zur Detonation gebracht worden waren, vielleicht<br />
von jenem Flugkörper, der sie gerade verfehlt hatte. Drei weitere<br />
Explosionen folgten; der Schall erreichte die Pharris langsam unter<br />
Wasser und klang wie eine riesige Baßtrommel.<br />
Der Hubschrauber der Fregatte hob gerade ab und raste nach<br />
Norden, in der Hoffnung, das U-Boot in Oberflächennähe zu erwischen.<br />
Morris ließ die Fahrt auf fünf Knoten reduzieren, um die<br />
Sonarleistung zu verbessern. Noch <strong>im</strong>mer nichts. Er kehrte zurück<br />
in die Gefechtszentrale.<br />
Der Hubschrauber warf ein Dutzend Sonobojen ab. Zwei meldeten<br />
schwache Signale, doch der Kontakt verlor sich. Bald erschien<br />
eine Orion und setzte die Suche fort, doch das U-Boot war entkommen,<br />
nachdem es einen Zerstörer und zwei Frachter versenkt hatte.<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Wieder mal Luftwarnung«, sagte der Group Captain.<br />
»Von Realt<strong>im</strong>e?« fragte Toland.<br />
»Nein, von einer Quelle in Norwegen. Kondensstreifen in südwestlicher<br />
Richtung, Flugzeuge unbekannten Typs. Im Augenblick<br />
fliegt eine N<strong>im</strong>rod nördlich von Island Patrouille. Sollte es sich um<br />
Backfire handeln, die sich mit einer Tankerflotte treffen, erwischen<br />
wir vielleicht etwas. Mal sehen, ob Ihre Idee richtig ist, Bob.«<br />
354
Vier Tomcat-Abfangjäger, zwei mir Luftkampfraketen, zwei mit<br />
Treibstoffbehältern zur Luftbetankung bestückt, waren startbereit.<br />
Für einen erfolgreichen Angriff hatten sie insgesamt zweitausend<br />
Meilen zurückzulegen, was bedeutete, dass nur zwei Maschinen,<br />
von den beiden anderen unterwegs mit Treibstoff versorgt, so weit<br />
fliegen konnten.<br />
Die N<strong>im</strong>rod zog hundert Meilen östlich von Jan Mayen Kreise.<br />
Bei mehreren sowjetischen Luftangriffen auf diese norwegische<br />
Insel war die Radareinrichtung zerschlagen worden, doch die erwartete<br />
Landung der Russen war bislang ausgeblieben. Das britische<br />
Aufklärungsflugzeug starrte vor Antennen, war aber unbewaffnet<br />
und konnte, sollte der sowjetische Bomber-Tanker-Verband<br />
von Jägern eskortiert werden, nur die Flucht ergreifen. Ein<br />
Team hörte das Band ab, auf dem die russischen Flugzeuge sich verständigten,<br />
ein anderes überwachte die Radarfrequenzen.<br />
Es war eine lange, angespannte Wartezeit. Zwei Stunden nach<br />
der Luftwarnung wurde ein verzerrter Spruch aufgenommen und<br />
als Warnung an einen Backfire-Piloten interpretiert, der sich einem<br />
Tanker näherte. Die Richtung wurde ermittelt, und die N<strong>im</strong>rod<br />
drehte nach Osten ab in der Hoffnung, be<strong>im</strong> nächsten Funkspruch<br />
eine Kreuzpeilung vornehmen zu können. Das Signal blieb jedoch<br />
aus. Ohne feste Positionsangabe war die Chance der Jäger, den<br />
Verband abzufangen, nur gering. So ließ man sie am Boden und<br />
beschloß, be<strong>im</strong> nächsten Mal zwei elektronische Aufklärer »Prowler«<br />
zu schicken.<br />
USS Chicago<br />
Der QZB-Spruch traf kurz nach dem Mittagessen ein. McCafferty<br />
ging auf Antennentiefe und erhielt den Befehl, den britischen U-<br />
Boot-Stützpunkt Faslane in Schottland anzulaufen. Seit sie den<br />
Kontakt mit dem russischen Überwasserverband verloren hatten,<br />
war ihnen kein einziger Kontakt mehr begegnet. Alle Vorkriegsprojektionen<br />
hatten ein »an Zielen reiches« Umfeld versprochen.<br />
Reich waren sie bisher nur an Frustration. Der Erste Offizier ließ<br />
das Boot auf Marschtiefe gehen. McCafferty begann, seine Meldung<br />
abzufassen.<br />
355
Bieben, BRD<br />
»Sie sind hier ziemlich exponiert«, bemerkte der Captain, der sich<br />
hinter dem Turm duckte.<br />
»Wohl wahr«, st<strong>im</strong>mte Sergeant Mackall zu. Sein Panzer M-1<br />
Abrams war am Rückhang eines Hügels eingegraben, und sein<br />
Geschützrohr ragte hinter einer Reihe von Büschen nur knapp über<br />
den Boden. Mackall schaute über ein flaches Tal hinweg auf einen<br />
fünfzehnhundert Meter entfernten Waldrand. Dort saßen die Russen<br />
und beobachteten die Anhöhen. Er konnte nur hoffen, dass sie<br />
das kompakte, bedrohlich wirkende Profil des Panzers nicht ausmachen<br />
konnten. Der Kampfwagen stand in einer von drei vorbereiteten<br />
Feuerpositionen, die Pioniere mit Bulldozern, in den letzten<br />
Tagen von Bauern aus der Gegend unterstützt, gegraben hatten. Ein<br />
Nachteil war, dass die nächste Linie nur über fünfhundert Meter<br />
offene Felder erreicht werden konnte.<br />
»Übers Wetter muss sich der Iwan freuen«, sagte Mackall. Die<br />
Wolkendecke hing knappe fünfhundert Meter tief, was bedeutete,<br />
dass Piloten, die ihnen Luftunterstützung gaben, gerade fünf Sekunden<br />
zum Erfassen und Angreifen der Ziele blieben. »Was können<br />
Sie uns bieten, Sir?«<br />
»Vier A-10, vielleicht ein paar deutsche Maschinen«, erwiderte<br />
der Captain der Air Force. Er sah das Terrain aus einer anderen<br />
Perspektive. Wie brachte man Erdkampfflugzeuge am besten an<br />
Ort und Stelle und heil wieder zurück? Der erste russische Angriff<br />
auf diese Stellung war zwar zurückgeschlagen worden, aber er<br />
konnte die Überreste zweier Flugzeuge der Nato sehen, die dabei<br />
abgeschossen worden waren. »Es sollten auch drei Hubschrauber<br />
verfügbar sein.«<br />
Das überraschte und besorgte Mackall. Mit was für einem Angriff<br />
wurde hier gerechnet?<br />
»Okay.« Der Captain stand auf und machte zu seinem Gefechtswagen<br />
kehrt. »Wenn Sie >Zulu, Zulu, Zulu< hören, ist Luftunterstützung<br />
in fünf Minuten da. Sollten Sie SAM-Fahrzeuge oder Fla-<br />
Kanonen sehen, schalten Sie sie um H<strong>im</strong>mels willen aus. Die Warthogs<br />
haben bös was abbekommen, Sergeant.«<br />
»Wir langen schon hin, Captain.«<br />
Mackall hatte inzwischen gelernt, wie wichtig die Funktionen<br />
eines Luftwaffenoffiziers war, der an der Front die Luftunterstüt<br />
356
zung koordinierte, und dieser Captain hatte die Kompanie des<br />
Sergeants vor drei Tagen aus einer argen Klemme befreit. Er sah zu,<br />
wie der Offizier zu seinem mit laufendem Motor wartenden Fahrzeug<br />
sprintete, das dann <strong>im</strong> Zickzack den Hang hinunter und über<br />
das gepflügte Feld auf den Gefechtsstand zuraste.<br />
Die 2. Kompanie des 1. Bataillons des 2. Panzer-Kavalleriereg<strong>im</strong>ents<br />
hatte einmal vierzehn Panzer gehabt. Fünf waren zerstört,<br />
nur zwei ersetzt worden. Alle anderen waren mehr oder weniger<br />
beschädigt. Sein Zugführer war am zweiten Kriegstag gefallen, so<br />
dass nun Mackall die drei Panzer des Zuges und einen fast kilometerbreiten<br />
Frontabschnitt befehligte. Zwischen seinen Panzern hatten<br />
sich deutsche Infanteristen eingegraben. Auch sie hatten<br />
schwere Verluste hinnehmen müssen. Trotz aller Vorkriegswarnungen<br />
war die Gewalt der russischen Artillerie ein Schock gewe-<br />
»Übers Wetter muss sich der Ami freuen.« Der Oberst wies zur rief<br />
hängenden Wolkendecke. »Sie fliegen zu tief an, um von unserem<br />
Radar erfaßt zu werden, und wir bekommen sie nicht zu sehen,<br />
bevor sie das Feuer eröffnen.«<br />
»Wie schwer haben sie Ihnen zugesetzt?«<br />
»Überzeugen Sie sich selbst.« Der Oberst wies auf das Schlachtfeld,<br />
auf dem fünfzehn ausgebrannte Panzer lagen. »Das haben<br />
amerikanische Tiefflieger angerichtet - Thunderbolt.«<br />
»Gestern haben Sie aber zwei abgeschossen«, wandte Sergetow<br />
ein.<br />
»Sicher, aber von unseren vier Flakpanzern überlebte nur einer.<br />
Ein Fahrzeug erwischte beide Flugzeuge - Hauptfeldwebel Lupenko.<br />
Ich werde das Rote Banner für ihn beantragen, leider posthum,<br />
denn die zweite Maschine stürzte direkt auf sein Fahrzeug. Er<br />
war mein bester Schütze«, fügte der Oberst bitter hinzu. Ein Feldwebel<br />
reichte ihm den Kopfhörer eines Funkgeräts. Der Offizier<br />
lauschte eine halbe Minute, gab dann eine knappe Antwort und<br />
nickte.<br />
»Fünf Minuten, Genossen. Meine Männer stehen bereit. Würden<br />
Sie mir bitte folgen?«<br />
Der Befehlsbunker war hastig aus Erde und Stämmen errichtet<br />
worden und hatte eine meterdicke Decke. Drinnen drängten sich<br />
zwanzig Mann, das Fernmeldepersonal der beiden angreifenden<br />
357
Reg<strong>im</strong>enter. Das dritte Reg<strong>im</strong>ent der Division stand bereit, um den<br />
Durchbruch zu nutzen und der Panzerdivision den Weg in den<br />
Rücken des Feindes zu ebnen.<br />
Vom Feind waren natürlich weder Truppen noch Fahrzeuge zu<br />
sehen; die hatten sich <strong>im</strong> Wald hinter dem Kamm tief eingegraben.<br />
Der Divisionschef nickte seinem Artillerieroffizier zu, der nach<br />
einem Feldtelefon griff und befahl: »Feuer!«<br />
Es dauerte mehrere Sekunden, bis der Schall sie erreichte. Jedes<br />
verfügbare Geschütz der Division, unterstützt von einer Batterie<br />
der Panzerdivision, brüllte mit einem gewaltigen Donnern los. Die<br />
Granaten schlugen zunächst vor dem Kamm ein, dann wanderte die<br />
Feuerwalze höher. Was eben noch ein sanfter, mit üppigem Gras<br />
bewachsener Hügel gewesen war, verwandelte sich in nackte Erde.<br />
»Die meinen das ernst, Sergeant«, sagte der Ladeschütze und<br />
schloß seine Luke.<br />
Mackall zog Helm und Mikrofon zurecht und spähte durch die<br />
Sehschlitze <strong>im</strong> Turm. Die dicke Panzerung dämpfte den Schall,<br />
doch die Schockwellen <strong>im</strong> Boden kamen durch Ketten und Federung<br />
und rüttelten das Gefährt durch. Jedes Mitglied der Besatzung<br />
sann über die Wucht nach, die erforderlich war, um einen sechzig<br />
Tonnen schweren Panzer zu bewegen. So war der Lieutenant gefallen<br />
- ein Geschoß aus einem schweren Geschütz war direkt auf<br />
seinem Turm gelandet, hatte die dünne Panzerung dort durchschlagen<br />
und das Fahrzeug zur Explosion gebracht.<br />
»Guter Feuerplan, Genosse Oberst«, sagte Alexejew leise. Etwas<br />
heulte über sie hinweg. »Da kommt Ihre Luftunterstützung.«<br />
Vier russische Erdkampfflugzeuge gingen oben auf Parallelkurs<br />
zum Kamm und warfen Napalmbomben ab. Als sie in Richtung der<br />
russischen Linien abdrehten, explodierte eines in der Luft.<br />
»Was war das?«<br />
«Wahrscheinlich eine Roland«, antwortete der Oberst. »Die<br />
deutsche Version unserer Luftabwehrrakete SA-8. Achtung, noch<br />
eine Minute.«<br />
Fünf Kilometer hinter dem Befehlsbunker feuerten zwei Batterien<br />
Raketenwerfer in einem kontinuierlichen Flammenteppich<br />
ihre Geschosse ab, teils mit Sprengköpfen, teils mit Nebelbomben<br />
bestückt.<br />
358
Dreißig Raketen landeten in Mackalls Abschnitt, dreißig <strong>im</strong> Tal<br />
unter ihm. Der Einschlag der Sprengköpfe schüttelte seinen Panzer<br />
heftig durch, und er konnte das Ping von Splittern hören, die von<br />
der Panzerung abprallten. Angst aber machte ihm der Rauch, denn<br />
dieser kündigte den Russen an. An dreißig verschiedenen Stellen<br />
quoll grauweißer Nebel auf und bildete eine künstliche Wolke, die<br />
alles sichtbare Gelände einhüllte. Mackall und sein Richtschütze<br />
schalteten ihre Infrarot-Sichtgeräte ein.<br />
»Buffalo, hier sechs!« rief der Kompaniechef über Funk. »Bitte<br />
melden.«<br />
Mackall lauschte aufmerksam. Alle elf Fahrzeuge waren noch<br />
intakt, geschützt von ihren tiefen Löchern. Wieder pries er die<br />
Pioniere und die deutschen Bauern. Weitere Befehle kamen nicht.<br />
Sie wären auch überflüssig gewesen.<br />
»Feind in Sicht«, meldete der Richtschütze.<br />
Das Infrarot-Zielgerät maß Temperaturunterschiede und konnte<br />
den Großteil des anderthalb Kilometer tiefen Nebelvorhangs<br />
durchdringen. Auch der Wind war auf ihrer Seite und trieb die<br />
Wolke zurück nach Osten. Sergeant First Class Terry Mackall holte<br />
tief Luft und ging an die Arbeit.<br />
»Ziel, ein Uhr! Wuchtmunition! Feuer!«<br />
Der Richtschütze drehte den Turm nach links und nahm den<br />
nächsten sowjetischen Kampfpanzer ins Fadenkreuz. Mit dem<br />
Daumen betätigte er das Laserzielgerät, und ein dünner Lichtstrahl<br />
traf das Ziel. Im Visier erschien das Entfernungs-Display: 1310<br />
Meter. Der Feuerleitcomputer berechnete Entfernung und Geschwindigkeit<br />
des Zieles und stellte die Elevation der Kanone ein,<br />
maß Windgeschwindigkeit und -richtung, Luftdichte und -feuchtigkeit,<br />
die Temperatur der Luft und der Munition des Panzers, und<br />
dann brauchte der Richtschütze das Ziel nur noch ins Visier zu<br />
nehmen. Das Ganze dauerte keine zwei Sekunden, dann drückte<br />
der Schütze ab.<br />
Der Rückstoß trieb das Rohr des 1o5-mm-Geschützes zurück, es<br />
warf die Aluminiumkartusche aus. Die Granate explodierte in der<br />
Luft und gab einen 40 mm starken Pfeil aus Tungsten und Uran frei,<br />
der mit rund 1500 Metern pro Sekunde durch die Luft sauste.<br />
Eine Sekunde später traf das Projektil den Panzer unterm Turm.<br />
Drinnen wollte ein russischer Ladeschütze gerade ein Geschoß<br />
einlegen, doch da durchbrannte der Urankern den schützenden<br />
359
Stahl. Der russische Panzer explodierte, sein Turm flog zehn Meter<br />
hoch in die Luft.<br />
»Treffer!« rief Mackall. »Ziel, zwölf Uhr. Wuchtmunition!<br />
Feuer!«<br />
Der russische und der amerikanische Tank schössen gleichzeitig,<br />
doch das Geschoß des Russen sauste einen Meter über den M-1 in<br />
seiner verdeckten Stellung hinweg. Mackall hatte mehr Glück.<br />
»Stellungswechsel!« verkündete er. »Zurück in Ausweichstellung<br />
eins.«<br />
Der Fahrer hatte bereits den Rückwärtsgang eingelegt und drehte<br />
fest am Gashebel. Sein Panzer beschleunigte rückwärts, fuhr aus<br />
dem Graben in eine scharfe Rechtskurve und hielt auf eine andere,<br />
fünfzig Meter entfernte vorbereitete Stellung zu.<br />
»Verdammter Nebel!« fluchte Sergetow. Sie konnten nicht mehr<br />
sehen, was vorging, da der Wind ihnen den künstlichen Qualm ins<br />
Gesicht blies. Nun war die Schlacht in den Händen von Hauptleuten,<br />
Leutnants und Feldwebeln. Auszumachen waren nur die orangen<br />
Feuerbälle explodierender Fahrzeuge. Der befehlsführende<br />
Oberst trug einen Kopfhörer und bellte seinen Unterführern über<br />
Funk Befehle zu.<br />
Mackall hatte seine erste Ausweichstellung in weniger als einer<br />
Minute erreicht. Diese war parallel zum Kamm gegraben worden.<br />
Er schwenkte den massiven Turm nach links. Inzwischen war russische<br />
Infanterie in Sicht gekommen, die zwischen ihren Schützenpanzern<br />
herlief. Deutsche und amerikanische Artillerie fetzte in ihre<br />
Reihen, doch nicht rasch genug...<br />
»Ziel - Tank mit Antenne, kommt gerade aus dem Wald.«<br />
»Hab ihn!« antwortete der Richtschütze. Er sah einen russischen<br />
Standardpanzer T-8o mit einer langen Funkantenne am Turm. Das<br />
musste ein Kompanie- oder Bataillonschef sein. Er schoß.<br />
In diesem Augenblick schlug der russische Tank einen Haken.<br />
Mackall sah, wie das Leuchtspurgeschoß den Motorraum <strong>im</strong><br />
Heck knapp verfehlte.<br />
»HEAT-Munition!« rief der Richtschütze über die Bordsprechanlage.<br />
»Bereit!«<br />
Der russische Panzer wurde von einem erfahrenen Feldwebel<br />
360
gesteuert, der <strong>im</strong> Zickzack über die Talsohle fuhr. Alle fünf Sekunden<br />
wurde das Steuer herumgerissen.<br />
Der Richtschütze drückte ab. Der Panzer machte be<strong>im</strong> Rückstoß<br />
einen Satz, die leere Kartusche prallte mit metallischem Klang<br />
von der Rückwand des Turmes ab. In dem engen Kampffahrzeug<br />
stank es schon nach der auf Ammoniak basierenden Treibladung.<br />
»Treffer! Sauberer Schuß, Woody!«<br />
Die Granate traf den Russen zwischen die beiden hintersten<br />
Räder und zerstörte den Dieselmotor. Gleich darauf stieg die Besatzung<br />
aus, entkam ins Freie, wo die Luft voller Granatsplitter<br />
war.<br />
Mackall ließ seinen Fahrer einen Stellungswechsel vornehmen.<br />
Als sie die nächste Defilade erreicht hatten, waren die Russen nur<br />
noch fünfhundert Meter entfernt. Der Abrams M-1 gab noch zwei<br />
Schüsse ab, zerstörte einen Mannschaftstransportwagen, schoß<br />
einem Panzer die Kette weg.<br />
»Buffalo, hier sechs. Zurückziehen auf Linie Bravo.«<br />
Als Zugführer fuhr Mackall als erster weg. Er sah, wie seine<br />
beiden anderen Panzer den freien Rückhang des Hügels hinunterrollten.<br />
Auch die Infanterie war auf dem Rückzug entweder in<br />
Mannschaftstransportwagen oder schnell zu Fuß. Freundartillerie<br />
deckte den Kamm mit Spreng- und Nebelgranaten ein, um ihren<br />
Rückzug zu kaschieren. Der Panzer fuhr mit einem Ruck an, beschleunigte<br />
auf 50 Kilometer und raste auf die nächste Verteidigungslinie<br />
zu, ehe die Russen den eben preisgegebenen Kamm<br />
besetzen konnten. Um sie herum schlugen Granaten ein, ließen<br />
zwei deutsche Mannschaftstransportwagen explodieren.<br />
»Beschaffen Sie mir ein Fahrzeug!« befahl Alexejew.<br />
»Das kann ich nicht zulassen. Es darf doch kein General -«<br />
»Verflucht noch mal, schaffen Sie ein Fahrzeug herbei! Ich muss<br />
das beobachten«, wiederholte Alexejew.<br />
Eine Minute später stieg er mit Sergetow und dem Oberst in ein<br />
Gefechtsstandfahrzeug BMP, das zur Position raste, die eben noch<br />
von Nato-Truppen gehalten worden war. Sie fanden ein Loch, das<br />
zwei Männern Schutz geboten hatte, bis einen Meter daneben eine<br />
Rakete eingeschlagen war.<br />
Sergetow drehte sich um. »Verdammt, wir haben hier zwanzig<br />
Panzer verloren!«<br />
361
»Deckung!» Der Oberst stielß die beiden in das blutige Loch. Ein<br />
Hagel von Nato-Granaten ging auf den Kamm nieder.<br />
»Eine Gatling-Kanone!« rief der Richtschütze. Auf dem Kamm<br />
tauchte eine selbstfahrende Fla-Kanone auf, die einen Augenblick<br />
später von einem HEAT-Geschoß zerrissen wurde wie ein Plastikspielzeug.<br />
Das nächste Ziel war ein russischer Panzer, der den<br />
Hügel, den sie gerade verlassen hatten, hinunterfuhr.<br />
»Kopf hoch, Luftunterstützung kommt!« Mackall zog eine Gr<strong>im</strong>asse<br />
und hoffte nur, dass der Pilot die Böcke von den Schafen<br />
trennen konnte.<br />
Alexejew sah das zwe<strong>im</strong>otorige Kampfflugzeug in das Tal hinabstoßen.<br />
Seine Nase verschwand hinter Flammenbündeln, als der<br />
Pilot die Panzerabwehrkanone abfeuerte. Vor den Augen des Generals<br />
explodierten vier Panzer. Der Thunderbolt schien in der Luft zu<br />
taumeln und drehte dann nach Westen ab, verfolgt von einer Rakete.<br />
Doch die SA-7 erreichte ihn nicht.<br />
»Das Teufelskreuz?« fragte er. Der Oberst nickte kurz, und nun<br />
verstand Alexejew, woher die Maschine ihren Namen hatte. Aus<br />
einem best<strong>im</strong>mten Winkel gesehen glich das amerikanische Kampfflugzeug<br />
einem stilisierten russisch-orthodoxen Kruzifix.<br />
»Ich habe gerade das Reservereg<strong>im</strong>ent einsetzen lassen. Mag sein,<br />
dass wir sie in die Flucht geschlagen haben«, meinte der Oberst.<br />
Und das, sagte sich Sergetow ungläubig, soll ein erfolgreicher<br />
Angriff sein?<br />
Mackall sah zwei Panzerabwehrraketen auf die russischen Linien<br />
zufliegen. Ein Fehlschuß, ein Treffer. Von beiden Seiten drang mehr<br />
Nebel, als sich die Nato-Truppen um weitere fünfhundert Meter<br />
zurückzogen. Das Dorf, das sie verteidigten, geriet nun in Sicht.<br />
Sergeant Mackall hatte bisher fünf Panzer abgeschossen, ohne<br />
einen Treffer einstecken zu müssen, aber dieses Glück konnte nicht<br />
<strong>im</strong>mer währen. Inzwischen hatte die eigene Artillerie in den Kampf<br />
eingegriffen. Die russische Infanterie war auf die Hälfte ihrer ursprünglichen<br />
Stärke reduziert, und ihre Kettenfahrzeuge hielten<br />
sich zurück, versuchten, die Nato-Positionen mit Raketen anzugreifen.<br />
Insgesamt sah es nicht übel aus, doch dann erschien das<br />
dritte Reg<strong>im</strong>ent.<br />
362
Vor ihm tauchten fünfzig Tanks auf dem Hügel auf. Ein A-1o<br />
sauste über die Linie und schoß zwei ab, wurde dann aber von einer<br />
SAM vom H<strong>im</strong>mel geholt. Die brennenden Trümmer landeten<br />
dreihundert Meter vor Mackalls Panzer.<br />
»Ziel, ein Uhr. Feuer!« Wieder erbebte der Abrams unter dem<br />
Rückstoß. »Treffer!« Ein russischer Panzer weniger.<br />
»Warnung, Warnung!« rief der Kompaniechef. »Feindhubschrauber<br />
aus Norden!«<br />
Zehn Mi-24 Hind erschienen mit Verspätung, machten das aber<br />
mit dem Abschuß zweier Panzer in weniger als einer Minute wett.<br />
Dann tauchten deutsche Phan<strong>tom</strong>s auf, griffen sie mit Luftkampfraketen<br />
und Bordwaffen in einem wilden Durcheinander an, in dem<br />
plötzlich auch Luft-Boden-Raketen eingesetzt wurden. Rauchfahnen<br />
kreuzten den H<strong>im</strong>mel, und plötzlich war kein Flugzeug mehr zu<br />
sehen.<br />
» Der Angriff bleibt stecken «, meinte Alexejew. Er hatte gerade eine<br />
wichtige Lektion gelernt: Gegen feindliche Jäger haben Kampfhubschrauber<br />
keine Chance. Gerade als er geglaubt hatte, die Mi-24<br />
würden die Entscheidung bringen, waren sie von den deutschen<br />
Kampfflugzeugen abgedrängt worden. Die Artillerieunterstützung<br />
ließ nach. Die Schützen der Nato bekämpften die sowjetischen<br />
Kanonen geschickt und wurden von Erdkampfflugzeugen unterstützt.<br />
Kein Zweifel, bessere Luftunterstützung an der Front war<br />
vonnöten.<br />
»Das da oben auf dem Kamm sieht wie ein Gefechtswagen aus.<br />
Können Sie ihn erreichen?«<br />
»Hm, weit entfernt, ich...«<br />
Peng! Eine Granate streifte den Turm.<br />
»Panzer, drei Uhr, angreifen ...«<br />
Der Richtschütze drehte an der Gabel, aber es tat sich nichts.<br />
Sofort langte er nach der manuellen Schwenkeinrichtung. Mackall<br />
griff das Ziel mit dem MG an, dessen Geschosse von dem heranfahrenden<br />
T-8o, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, abprallten.<br />
Der Richtschütze drehte verzweifelt an der Kurbel; eine<br />
zweite Granate krachte gegen ihre Panzerung. Der Fahrer half ihm<br />
durch ein Wendemanöver und hoffte nur, dass sie in der Lage sein<br />
würden, das Feuer zu erwidern.<br />
363
Der Druck des ersten Treffers harten den Computer ausfallen<br />
lassen. Der T-8o war keine tausend Meter mehr entfernt, als der<br />
Richtschütze ihn ins Visier bekam und ein HEAT-Geschoß abfeuerte,<br />
das danebenging. Der Ladeschütze warf ein neues in den<br />
Verschluß. Wieder Feuer: Treffer!<br />
»Hinter dem kommen noch mehr«, warnte der Richtschütze.<br />
»Buffalo sechs, hier 31, Feind in unserer Flanke. Wir brauchen<br />
Hilfe«, gab Mackall durch und wandte sich dann an den Fahrer:<br />
»Scharf links und zurück, aber schnell.«<br />
Das ließ sich der Mann nicht zwe<strong>im</strong>al sagen. Er zog eine Gr<strong>im</strong>asse,<br />
schaute durch sein winziges Prisma und zog den Gashebel<br />
bis zum Anschlag zurück. Der Panzer raste rückwärts und nach<br />
links; derweil versuchte der Richtschütze, ein anderes Ziel zu erfassen<br />
- doch auch die au<strong>tom</strong>atische Stabilisierung war ausgefallen.<br />
Nun konnten sie nur <strong>im</strong> Stillstand akkurat feuern, und Stillstand<br />
war tödlich.<br />
Wieder kam ein Thunderbolt <strong>im</strong> Tiefflug und warf Streubomben<br />
auf die russische Formation. Zwei weitere sowjetische Tanks blieben<br />
liegen, doch als sich das Kampfflugzeug entfernte, zog es eine<br />
Rauchwolke hinter sich her. Nun griff auch die Artillerie ein, um<br />
das sowjetische Manöver zu stoppen.<br />
»Bleiben Sie doch endlich mal stehen, dass ich einen von den<br />
Kerlen abknallen kann!« schrie der Richtschütze. Der Panzer hielt<br />
sofort an. Er feuerte und traf die Kette eines T-72. »Nachladen!«<br />
Ein zweiter Panzer gesellte sich zweihundert Meter links zu Makkalls.<br />
Dann erschien wieder ein sowjetischer Hubschrauber und<br />
brachte den Panzer des Kompaniechefs mit einer Rakete zur Explosion.<br />
Die deutsche Infanterie war bei der Umgruppierung und<br />
schoß den Hubschrauber mit einer Stinger-Rakete ab. Mackall sah<br />
zwei HOT-Panzerabwehrraketen links und rechts an seinem Turm<br />
vorbeifliegen und bei den herannahenden Sowjets Ziele finden.<br />
»Panzer mit Antenne, direkt vor uns.«<br />
»Schon entdeckt! Wuchtmunition!« Der Richtschütze kurbelte<br />
den Turm zurück nach rechts, korrigierte die Elevarion des Rohrs<br />
und feuerte.<br />
»Hauptmann Alexandrow!« brüllte der Divisionskommandeur ins<br />
Mikrofon. Die Sendung des Bataillonskommandeurs war mitten <strong>im</strong><br />
Wort abgebrochen. Der Oberst benutzte sein Funkgerät zu häufig.<br />
364
Sechzehn Kilometer weiter erfaßte eine deutsche Batterie Panzerhaubitzen<br />
155 mm M 109 G die Funksignale und gab rasch zwanzig<br />
Schulß ab.<br />
Alexejew hörte die Granaten heranheulen und sprang in ein<br />
deutsches Schützenloch, zerrte Sergetow mit sich. Fünf Sekunden<br />
später erfüllten Qualm und Lärm die Luft.<br />
Der General steckte den Kopf aus dem Loch und sah, dass der<br />
Oberst noch auf den Beinen war und Befehle ins Mikrofon schrie.<br />
Hinter ihm stand der Gefechtswagen mit den Funkgeräten in Flammen.<br />
Fünf Männer waren tot.<br />
Mackall schoß noch einen Panzer ab, aber aufgehalten wurde der<br />
Angriff von den Deutschen mit ihren letzten HOT-Raketen. Der<br />
russische Kommandeur verlor die Nerven, als über die Hälfte der<br />
Panzer seines Bataillons getroffen wurden. Der Rest nebelte sich ein<br />
und zog sich nach Süden hinter den Hügel zurück, verfolgt von<br />
Artilleriegeschossen.<br />
»Mackall, wie sieht's bei Ihnen aus?« erkundigte sich der stellvertretende<br />
Kommandeur.<br />
»Wo ist sechs?«<br />
»Links von euch.« Mackall wandte den Kopf und sah den brennenden<br />
Panzer des Kompaniechefs.<br />
»Außer uns niemand, Sir. Wie viele sind übrig?«<br />
»Ich zähle vier.«<br />
Mein Gott, dachte der Sergeant.<br />
»Wenn Sie mir ein Reg<strong>im</strong>ent von der Panzerdivision geben, schaffe<br />
ich es!« beharrte der Oberst. »Der Feind hat uns nichts mehr<br />
entgegenzusetzen!« Er blutete aus einer oberflächlichen Gesichtswunde.<br />
»Darum kümmere ich mich. Wann können Sie den Angriff fortsetzen<br />
?«<br />
»In zwei Stunden. So lange brauche ich zum Neugruppieren.«<br />
»Gut. Ich muss zurück in mein Hauptquartier. Der Feind hat<br />
heftigeren Widerstand geleistet, als Sie erwarteten, Genosse Oberst.<br />
Abgesehen davon haben sich Ihre Leute gut gehalten. Die Feindlage<br />
muss besser erkundet werden. Ziehen Sie Ihre Gefangenen zusammen<br />
und verhören Sie sie rigoros!«<br />
Alexejew entfernte sich, gefolgt von Sergetow.<br />
365
»Schl<strong>im</strong>mer, als ich erwartet hatte«, bemerkte der Hauptmann,<br />
als sie in ihrem Fahrzeug saßen.<br />
»Sie müssen uns mindestens ein Reg<strong>im</strong>ent entgegengestellt haben.«<br />
Alexejew zuckte die Achseln. »Solche Fehler dürfen wir uns<br />
nicht oft leisten, wenn wir Erfolg haben wollen. Wir sind in zwei<br />
Stunden vier Kilometer vorgedrungen, doch die Verluste waren<br />
mörderisch. Und diese Ärsche von der Luftwaffe! Denen werde ich<br />
was erzählen, wenn ich zurück bin!«<br />
»Damit sind Sie der stellvertretende Kommandeur«, sagte der Lieutenant.<br />
Wie sich herausgestellt hatte, waren noch fünf Panzer übrig.<br />
Bei einem waren beide Funkgeräte ausgefallen. »Sie haben sich<br />
großartig gehalten.«<br />
»Wie sieht's bei den Deutschen aus?« fragte Mackall seinen<br />
neuen Vorgesetzten.<br />
»Fünfzig Prozent Verluste, und der Iwan hat uns vier Kilometer<br />
zurückgeworfen. Viel mehr überstehen wir nicht. In einer Stunde<br />
können wir mit Verstärkung rechnen. Ich habe das Reg<strong>im</strong>ent nun<br />
davon überzeugt, dass der Iwan es auf diesen Abschnitt abgesehen<br />
hat. Wir bekommen also Hilfe. Und die Deutschen auch; ihnen ist<br />
ein weiteres Bataillon bis zum Abend, vielleicht noch eins bis morgen<br />
vor Sonnenaufgang versprochen worden. Fahren Sie jetzt Tanken<br />
und Nachladen. Kann sein, dass unsere Freunde bald wieder<br />
kommen. Und noch etwas. Der Colonel sagt, dass Sie ab sofort<br />
Offizier sind.«<br />
Mackalls Panzer brauchte zehn Minuten zu den Verteilerpunkten<br />
Munition und Betriebsstoff. Das Auftanken dauerte zehn Minuten;<br />
in der Zwischenzeit lud die erschöpfte Besatzung neue Munition<br />
ein. Seltsam fand der Sergeant, dass er mit fünf Schuß weniger<br />
als gewöhnlich zurück an die Front musste.<br />
»Sie sind verletzt, Pascha.« Der jüngere Mann schüttelte den Kopf.<br />
»Ach was, ich habe mir nur be<strong>im</strong> Aussteigen aus dem Hubschrauber<br />
den Handrücken aufgekratzt.« Alexejew saß dem Kommandeur<br />
gegenüber und leerte eine Feldflasche Wasser.<br />
»Wie ging der Angriff?«<br />
»Der Widerstand war erbittert. Man sagte uns, wir hätten mit<br />
zwei Bataillonen Infanterie und Panzern zu rechnen, ich aber<br />
glaube, dass wir es eher mit dem dez<strong>im</strong>ierten Reg<strong>im</strong>ent zu tun<br />
366
hatten, das aus gut vorbereiteten Positionen heraus verteidigte.<br />
Dennoch gelang uns der Durchbruch fast. Der kommandierende<br />
Oberst hatte einen guten Plan, und seine Manner schlugen sich<br />
tapfer. Wir warfen den Feind bis in Sichtweite des Angriffsziels<br />
zurück. Für die nächste Attacke möchte ich ein Reg<strong>im</strong>ent von der<br />
OMG abziehen."<br />
„Das ist uns nicht gestattet. "<br />
"Wie bitte?" fragte Alexejew verdutzt.<br />
„Die Operativen Mobilen Gruppen müssen intakt bleiben, bis<br />
der Durchbruch erzielt ist. Befehl aus Moskau. "<br />
„Nur ein Reg<strong>im</strong>ent mehr wird die Entscheidung bringen. Das<br />
Ziel ist in Sicht! Wir haben eine Mot-Schützendivision aufreiben<br />
lassen, um so weit zu kommen, und die Hälfte einer weiteren<br />
verloren. Diese Schlacht kann gewonnen, die Front der Nato entscheidend<br />
durchbrochen werden, wenn wir handeln, und zwar<br />
jetzt!«<br />
"Sind Sie sicher?«<br />
«Ja, aber wir müssen sofort zuschlagen. Das führende Reg<strong>im</strong>ent<br />
der 3o. Garde-Panzerdivision ist nur eine Stunde von der Front<br />
entfernt. Wenn wir es binnen einer halben Stunde m Marsch setzen,<br />
kann es am nächsten Angriff teilnehmen. Im Grunde sollten wir die<br />
ganze Division heranführen."<br />
„Gut, ich will STAWKA um Erlaubnis bitten.«<br />
Alexejew lehnte sich zurück und schloß die Augen. Typisch für<br />
die sowjetische Befehlsstruktur: Selbst der Befehlshaber eines Operationsgebietes<br />
musste um Erlaubnis fragen, wenn er vom Plan<br />
abweichen wollte. Die Genies vom Generalstab in Moskau brüteten<br />
eine Stunde lang über ihren Karten; dann wurde das erste<br />
Reg<strong>im</strong>ent der 3o.Garde-Panzerdivision freigestellt und erhielt den<br />
Befehl, zusammen mit der Mot-Schützendivision am nächsten Angriff<br />
teilzunehmen. Es traf jedoch mit Verspätung ein, und die<br />
Attacke musste um neunzig Minuten verschoben werden.<br />
Second Lieutenant Terry Mackall - er war viel zu müde, sich wegen<br />
der Beförderung Gedanken zu machen - fragte sich, wie ernst man<br />
diese kleine Panzerschlacht an der Spitze nahm. Zwei Bataillone der<br />
Bundeswehr trafen mit Kettenfahrzeugen ein und lösten die erschöpfte<br />
deutsche Infanterie ab, um in dem Dorf und seiner Umgebung<br />
Verteidungsstellungen vorzubereiten. Eine Kompanie mit Leo<br />
367
pard-Panzern und zwei Züge mit Abrams M-1 verstärkten die<br />
Position. Den Oberbefehl hatte ein deutscher Oberst, der mit dem<br />
Hubschrauber eintraf und alle Verteidigungsstellungen inspizierte.<br />
Zäher kleiner Kerl, dachte Mackall, Heftpflaster <strong>im</strong> Gesicht,<br />
schmaler, verkniffener Mund. Wenn der Russe hier durchbrach,<br />
konnte er in der Lage sein, jene deutschen und britischen Verbände,<br />
die den tiefsten russischen Vorstoß in den Vororten von Hannover<br />
gestoppt hatten, in der Flanke anzugreifen. Aus diesem Grund war<br />
der Kampf um Bieben für die Deutschen so wichtig.<br />
Die deutschen Leoparden lösten die Amerikaner an der Front ab,<br />
und die Kompanie hatte nun wieder ihre volle Stärke von vierzehn<br />
Fahrzeugen erreicht. Mackall befehligte die südliche Gruppe, fand<br />
die letzte Linie vorbereiteter Stellungen südöstlich des Dorfes,<br />
schritt seinen Abschnitt ab und besprach sich mit jedem Panzerkommandanten.<br />
Die Deutschen hatten gründliche Arbeit geleistet.<br />
Stellungen, vor denen nichts wuchs, waren mit verpflanztem Buschwerk<br />
getarnt. Fast alle Dorfbewohner hatte man evakuiert, doch<br />
eine Handvoll Menschen war nicht bereit, ihre Häuser <strong>im</strong> Stich zu<br />
lassen. Einer von diesen brachten den Panzerbesatzungen eine<br />
warme Mahlzeit, doch Mackalls Leute hatten keine Gelegenheit,<br />
sie zu essen. Der Richtschütze reparierte zwei lose Klemmen und<br />
stellte den widerspenstigen Feuerleitrechner neu ein. Ladeschütze<br />
und Fahrer arbeiteten an einer losen Kette. Noch ehe sie fertig<br />
waren, begannen um sie herum Artilleriegranaten einzuschlagen.<br />
Alexejew wollte dabeisein. Er hatte eine Telefonverbindung zur<br />
Division und hörte den Führungskreis der Division ab. Der Oberst<br />
- Alexejew beabsichtigte, ihm zum General zu machen, wenn der<br />
Angriff Erfolg hatte - beschwerte sich, er habe zu lange warten<br />
müssen. Auf sein Ersuchen hin hatten die Aufklärer die feindlichen<br />
Linien überflogen. Eine der Maschinen war verschwunden, der<br />
Pilot der anderen meldete Truppenbewegungen, konnte aber keine<br />
exakten Angaben über die Stärke machen; er war voll damit beschäftigt<br />
gewesen, Luftabwehrraketen auszuweichen. Der Oberst<br />
befürchtete eine Verstärkung der feindlichen Kräfte, konnte aber<br />
mangels eindeutiger Informationen weder eine Verzögerung noch<br />
weitere Verstärkungen rechtfertigen.<br />
368
Auch Mackall machte aus der Distanz seine Beobachtungen.<br />
Zwanzig Minuten, nachdem ein starker russischer Vormarsch gemeldet<br />
worden war, stellte er Bewegung fest. Deutsche Mannschaftstransportwagen<br />
strömten den Hang hinunter auf das Dorf<br />
zu. Im Norden erschienen einige sowjetische Hubschrauber, wurden<br />
diesmal aber von einer <strong>im</strong> Dorf versteckten Roland-Batterie<br />
angegriffen. Drei explodierten, der Rest zog sich zurück. Dann<br />
kamen die deutschen Leoparden. Mackall zählte und stellte fest,<br />
daß drei fehlten. Nato-Artillerie nahm die Hügel unter Dauerbeschuß,<br />
und sowjetische Granaten schlugen in die Felder rund um<br />
die amerikanischen Panzer ein. Dann erschienen die Russen.<br />
»Buffalo, Feuerverbot für alle Einheiten!« befahl der Kompaniechef<br />
über Funk. »Wiederhole: generelles Feuerverbot.«<br />
Mackall sah, dass die Deutschen sich durchs Dorf zurückzogen,<br />
und erkannte nun den Plan des Bundeswehr-Obersten. Astrein,<br />
dachte er.<br />
»Sie sind auf der Flucht!« teilte der Oberst Alexejew über den<br />
Führungskreis mit. Auf dem Kartentisch vor dem General wurden<br />
Symbole bewegt und mit Fettstift Positionen eingetragen. Nun<br />
zeichnete man in Rot eine Lücke in den deutschen Linien ein. Die<br />
sowjetische Panzerspitze war jetzt noch fünfhundert Meter von<br />
Bieben entfernt und raste durch die zwei Kilometer breite Lücke<br />
zwischen den Panzern der 2. Kompanie. Der deutsche Oberst gab<br />
dem amerikanischen Kompaniechef einen Befehl.<br />
»Buffalo, hier sechs. Drauf!« Augenblicklich feuerten zwölf Panzer<br />
und trafen neun Ziele.<br />
»Woody, achten Sie auf Antennen«, befahl Mackall seinem<br />
Richtschützen. Der Richtschütze schwenkte den Turm nach rechts<br />
und suchte die hinteren sowjetischen Reihen ab.<br />
»Da ist einer! HEAT-Munition! Zielabstand zweitausendsechshundert<br />
-« Der Panzer schlingerte, der Richtschütze verfolgte die<br />
Leuchtspur des Geschosses. »Treffer!«<br />
Die zweite Salve der M-1 setzte acht Panzer außer Gefecht, dann<br />
trafen auch noch aus dem Dorf abgeschossene Panzerabwehrraketen.<br />
Die Russen hatten Tanks in verdeckten Stellungen in den<br />
Flanken und vor sich ein Dorf, das vor Panzerabwehrraketen nur so<br />
starrte: Der Oberst der Bundeswehr hatte einen mobilen Hinterhalt<br />
eingerichtet, in den die Russen bei der Verfolgung getappt waren.<br />
369
Schon stürmten die Leoparden links und rechts hinterm Dorf hervor,<br />
um die Russen in offenem Gelände anzugreifen. Wieder ließ der<br />
Fliegerleitoffizier seine Jagdbomber auf die Stellungen der sowjetischen<br />
Artillerie niederstoßen. Sowjetische Jäger stellten sich ihnen<br />
entgegen, konnten aber nicht gleichzeitig in den Kampf am Boden<br />
eingreifen, und nun flogen mit Raketen bewaffnete deutsche Kampfhubschrauber<br />
vom Typ Gazelle aufs Schlachtfeld. Die russischen<br />
Panzer nebelten sich ein und versuchten verzweifelt, den Feind<br />
anzugreifen, doch die Amerikaner hatten sich tief eingegraben, und<br />
die deutschen Raketenschützen <strong>im</strong> Dorf wechselten nach jedem<br />
Schuß geschickt die Stellung.<br />
Mackall verlegte einen Zug nach rechts, den anderen nach links.<br />
Erst schoß sein Richtschütze noch einmal den Tank eines Kommandeurs<br />
ab, dann umschlosssen die Deutschen den russischen Verband<br />
<strong>im</strong> Norden und <strong>im</strong> Süden. Die Deutschen, obgleich zahlenmäßig<br />
unterlegen, überraschten die Russen und bestrichen die Panzersäule<br />
mit ihren schweren 12o-mm-Gechützen. Der sowjetische Kommendeur<br />
forderte noch einmal Hubschrauber an. Diese überraschten<br />
und zerstörten drei deutsche Panzer, doch dann begannen vom<br />
H<strong>im</strong>mel aufs neue Raketen auf sie herabzuregnen. Und jetzt wurde<br />
es zuviel. Der sowjetische Verband machte kehrt und zog sich zu den<br />
Hügeln zurück, von den Deutschen verfolgt. Der Gegenangriff<br />
wurde überaus energisch durchgeführt, und Mackall wusste, dass<br />
niemand das besser brachte als die »Krauts«. Als er den Befehl<br />
erhielt, sich in Bewegung zu setzen, war die ursprüngliche Verteidigungsstellung<br />
wieder in alliierter Hand. Die Schlacht hatte eine gute<br />
Stunde gedauert. Auf der Straße nach Bieben waren zwei sowjetische<br />
Mot-Schützendivisionen stark dez<strong>im</strong>iert worden.<br />
Die Besatzung öffnete die Luken, um frische Luft in den stickigen<br />
Turm zu lassen. Auf dem Boden klapperten fünfzehn leere Kartuschen<br />
herum. Der Feuerleitrechner war wieder einmal ausgefallen,<br />
aber Woody hatte vier Panzer abgeschossen, zwei sogar mit sowjetischen<br />
Offizieren. Der Kompaniechef kam <strong>im</strong> Jeep angefahren.<br />
»Drei Panzer beschädigt«, meldete Mackall. »Müssen geborgen<br />
und repariert werden.« Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten<br />
Grinsen. »Dieses Dorf nehmen sie uns nie ab!«<br />
»Die Bundeswehreinheiten haben die Entscheidung gebracht.«<br />
Der Lieutenant nickte. »Okay, zurück zum Versorgungspunkt Munition.«<br />
370
»Ach ja, be<strong>im</strong> letzten Mal bekamen wir fünf Schuß zuwenig.«<br />
»Die Munitionszuweisung ist gekürzt worden, weil der Nachschub<br />
nicht so rasch wie erwartet über den Atlantik kommt.«<br />
»Dann soll jemand diesen Ärschen von der Navy ausrichten, wir<br />
könnten die Russen zurück über die Grenze werfen, wenn die<br />
Marine nur ihren Part richtig spielen würde.«<br />
USS Pharris<br />
Noch nie hatte Morris auf der Reede Hampton Roads so viele<br />
Schiffe gesehen. Mindestens sechzig Frachter schwojten vor Anker,<br />
und eine verstärkte Eskorte war <strong>im</strong> Begriff, sie hinaus auf See zu<br />
geleiten. Auch die Saratoga lag hier; an Land wurde Ersatz für ihren<br />
Hauptmast gefertigt. Zahlreiche Flugzeuge kreisten, und mehrere<br />
Schiffe hatten ihr Suchradar aktiviert für den Fall, dass sich ein<br />
sowjetisches U-Boot an die Küste heranschlich und Cruise Missiles<br />
auf die dicht liegenden Schiffe abfeuerte.<br />
Die Pharris bunkerte und nahm Treibstoff für ihren Hubschrauber<br />
an Bord. Der ASROC und die sechs Düppelraketen, die sie<br />
verschossen hatten, waren bereits ersetzt worden. Ansonsten<br />
musste nur noch Verpflegung an Bord genommen werden. In zwölf<br />
Stunden sollten sie wieder auslaufen: ein Zwanzig-Knoten-Geleitzug,<br />
der schweres Gerät und Munition in die französischen Häfen<br />
Le Havre und Brest bringen sollte.<br />
Morris hatte eine Lagemeldung des Nachrichtendienstes der<br />
Flotte zu sehen bekommen. Das Gesamtbild war inzwischen noch<br />
düsterer. Zwanzig U-Boote der Nato besetzten nun die Lücken<br />
zwischen Grönland, Island und Großbritannien, um den Verlust<br />
der SOSUS-Barriere einigermaßen wettzumachen. Sie hatten eine<br />
beträchtliche Anzahl sowjetischer U-Boote versenkt, meldeten aber<br />
auch, dass ihnen einige durchs Netz geschlüpft waren, und Morris<br />
wusste, dass auf jeden gemeldeten Durchbruch vier oder fünf unbekannte<br />
kamen. Der erste Geleitzug hatte die Überfahrt so gut wie<br />
unbelästigt hinter sich gebracht, denn die wenigen sowjetischen U--<br />
Boote, die sich damals <strong>im</strong> Atlantik befunden hatten, waren gezwungen<br />
gewesen, ihre Ziele mit großer Fahrt lärmend anzulaufen.<br />
Inzwischen sah das anders aus. Nun lauerten <strong>im</strong> Atlantik um die<br />
sechzig Boote, mindestens die Hälfte mit Nuklearantrieb.<br />
371
Dann die Backfire. Der Geleitzug sollte eine südliche Route<br />
nehmen, die die Überfahrt um zwei volle Tage verlängerte, aber<br />
die sowjetischen Bomber zwang, an der äußersten Grenze ihrer<br />
Reichweite zu operieren. Dreißig Minuten vor jedem Satellitendurchlauf<br />
sollte der Geleitzug auf Westkurs gehen in der Hoffnung,<br />
dass die Sowjets ihre Bomber und U-Boote dann an die<br />
falsche Stelle beorderten. Zwei Trägerverbände waren auf See und<br />
sollten nach Möglichkeit Unterstützung bieten. Ihre Aufgabe war<br />
es, die Backfire in eine Falle zu locken. Zu diesem Zweck fuhren<br />
sie auf Umwegen und versuchten, sich der Erfassung durch Satelliten<br />
zu entziehen. Morris wusste, dass das möglich, nur eine komplizierte<br />
Geometrieaufgabe war, die Bewegungsfreiheit der Träger<br />
aber stark einschränkte. Zudem würden die Träger wertvolle U-<br />
Jagd-Flugzeuge vom Geleitzug abziehen. Morris, der das Rauchen<br />
schon vor Jahren aufgegeben hatte, steckte sich eine filterlose<br />
Zollfreie an und sagte sich, die zusätzliche Gefährdung seiner Gesundheit<br />
sei derzeit nur Nebensache. Inzwischen waren neun Zerstörer<br />
und Fregatten versenkt worden, zwei mit der gesamten Besatzung.<br />
Island<br />
Edwards hatte die rostroten Höhenlinien auf der Karte hassen<br />
gelernt. Jede bedeutete einen Höhenunterschied von zwanzig Metern.<br />
Stellenweise waren diese Linien drei Mill<strong>im</strong>eter voneinander<br />
entfernt. Anderswo aber lagen sie so dicht beieinander, dass der<br />
Lieutenant halb damit rechnete, auf eine senkrechte Felswand zu<br />
stoßen. Er war einmal mit seinem Vater in Washington gewesen<br />
und erinnerte sich noch, mit welcher Verachtung sie an den Schlangen<br />
vor den Aufzügen zum Washington Monument vorbeigegangen<br />
waren. Sie hatten das einhundertfünfzig Meter hohe Bauwerk<br />
über die Wendeltreppe erklommen und waren erschöpft, aber stolz<br />
auf der Aussichtsplattform angekommen. Eine vergleichbare Höhe<br />
musste er nun alle neunzig Minuten überwinden - aber es gab keine<br />
glatten, regelmäßigen Stufen, keinen Aufzug nach unten und auch<br />
kein Taxi zum Hotel.<br />
Drei Stunden nach dem Aufbruch überwanden sie zehn Höhenlinien<br />
(oder zweihundert Meter) und überschritten laut Karte die<br />
372
Grenze zwischen den Kreisen Skorradalshreppur und Lundarreykjadashreppur.<br />
Kein Schild verkündete diesen Sachverhalt. Hier waren<br />
nur Einhe<strong>im</strong>ische unterwegs, und die kannten sich sowieso aus.<br />
Zwei Kilometer weiter wurden sie mit einem verhältnismäßig ebenen<br />
Geländestrich zwischen zwei Mooren belohnt. Der Boden war<br />
mit Geröll und Asche von einem vier Kilometer entfernten erloschenen<br />
Vulkan bedeckt.<br />
»Pause!« rief Edwards und setzte sich neben einen meterhohen<br />
Felsblock, der ihm als Rücklehne dienen sollte. Zu seiner Überraschung<br />
kam Vigdis zu ihm und setzte sich ihm gegenüber.<br />
»Wie geht's heute?« fragte er. Ihr Blick war nicht mehr so leblos,<br />
stellte er fest. War die schreckliche Erinnerung verblaßt? Nein,<br />
schloß er, dieses Grauen würde sie nie vergessen. Aber das Leben<br />
ging weiter, und die Zeit heilte viele Wunden.<br />
»Ich habe Ihnen noch nicht gedankt. Sie haben mir das Leben<br />
gerettet.«<br />
»Ich konnte nicht zulassen, dass man Sie umbrachte«, erwiderte<br />
er und fragte sich, ob er das auch ehrlich meinte. Hätte er die<br />
Russen auch angegriffen, wenn die drei Hausbewohner schon tot<br />
gewesen wären? Oder hätte er abgewartet und das Haus erst ausgeplündert,<br />
als sie wieder fort waren? Zeit, sich der Wahrheit zu<br />
stellen.<br />
»Ich tat das nicht nur Ihretwegen.«<br />
»Das verstehe ich nicht.«<br />
Edwards holte seine Brieftasche hervor und zeigte ihr ein fünf<br />
Jahre altes Foto. »Das ist Sandy, Sandra Miller. Wir wuchsen in<br />
einer Straße auf und gingen zusammen zur Schule. Vielleicht hätten<br />
wir eines Tages geheiratet«, sagte er leise. Vielleicht auch nicht,<br />
fügte er insgehe<strong>im</strong> hinzu; Menschen ändern sich. »Ich ging auf die<br />
Luftwaffenakademie, sie zur University of Connecticut in Hartford.<br />
Zwei Jahre später verschwand sie. Eine Woche später fand<br />
man sie <strong>im</strong> Straßengraben. Sie war vergewaltigt und ermordet<br />
worden. Man konnte dem Verdächtigen nichts nachweisen, aber da<br />
er zwei andere junge Frauen vergewaltigt hatte, kam er in eine<br />
Nervenheilanstalt. Es hieß, er sei geistig gestört und daher nicht<br />
schuldfähig gewesen. Eines Tages wird er also als geheilt entlassen.<br />
Aber Sandy ist und bleibt tot.« Edwards starrte zu Boden. »Ich<br />
konnte nichts machen, war ja kein Polizist. Außerdem war ich<br />
zweitausend Meilen entfernt. Diesmal aber war ich an Ort und<br />
373
Stelle.« Seine St<strong>im</strong>me verriet keine Emotionen. »Diesmal war die<br />
Lage anders.«<br />
»Lieben Sie Sandy noch?«, fragte Vigdis.<br />
Was sage ich jetzt? fragte sich Mike. Liebe empfand er jetzt, fünf<br />
Jahre später, wohl nicht mehr. Außerdem hatte er ja nicht gerade<br />
keusch gelebt. Er sah sich das Bild an, das drei Tage vor ihrem Tod<br />
aufgenommen worden war. Dunkles, schulterlanges Haar, der<br />
Kopf ein wenig geneigt, das schelmische Lächeln, das mit einem<br />
ansteckenden Lachen einhergegangen war... alles vergangen.<br />
»Ja«, antwortete er schließlich, und nun schwang Gefühl mit.<br />
»Sie haben es also für Ihre Sandy getan?«<br />
»Ja«, log Edwards und dachte: Ich habe es um meiner selbst<br />
willen getan.<br />
»Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.«<br />
»Mike. Michael Edwards.«<br />
»Sie haben es für mich getan, Michael. Ich habe Ihnen mein<br />
Leben zu verdanken.« Der Hauch eines Lächelns. Sie legte ihre<br />
Hand auf seine. Sie war weich und warm.<br />
374
Keflavik, Island<br />
27<br />
Verluste<br />
»Anfangs dachten wir, sie wären nur von der Küstenstraße abgekommen.<br />
Das fanden wir <strong>im</strong> Fahrzeug.« Der Major der Militärpolizei<br />
hielt eine zerbrochene Wodkaflasche hoch. »Dann aber entdeckte<br />
ein Sanitäter an einer der Leichen eine Stichwunde.«<br />
»Und Sie haben die Isländer als lammfromm bezeichnet, Genosse<br />
General«, bemerkte der KGB-Oberst trocken.<br />
»Der Fall läßt sich nur schwer rekonstruieren«, fuhr der Major<br />
fort. »Nicht weit von der Unfallstelle brannte ein Bauernhaus nieder.<br />
In den Trümmern fanden wir zwei Leichen. Todesursache in<br />
beiden Fällen: Erschießen.«<br />
»Und wer war das?« fragte General Andrejew.<br />
»Eine Identifizierung ist unmöglich. Die Todesursache stellten<br />
wir anhand von Einschüssen ins Brustbein fest. Ein Arzt meint, es<br />
habe sich um einen Mann und eine Frau mittleren Alters gehandelt.<br />
Ein isländischer Beamter erklärt, der Hof sei von einem Ehepaar<br />
und seiner Tochter bewohnt worden. Die Tochter ist bisher verschollen.«<br />
»Wohin war die Streife unterwegs?«<br />
»Nach Süden, auf der Küstenstraße.«<br />
»Und niemand entdeckte die Brände?«<br />
»Es regnete stark. Das brennende Fahrzeug und der Hof befanden<br />
sich außer Sichtweite der benachbarten Streifen. Wie Sie wissen,<br />
zieht der Straßenzustand unseren Streifenplan in Mitleidenschaft,<br />
und das gebirgige Gelände beeinträchtigt den Funkverkehr.<br />
So löste das Ausbleiben der Streife keine Besorgnis aus. Von der<br />
Straße aus war das Fahrzeug nicht zu sehen. Es wurde erst von einer<br />
Hubschrauberbesatzung entdeckt.«<br />
»Wie kamen die anderen ums Leben?« fragte der General.<br />
»Das brennende Fahrzeug brachte die Handgranaten zur Explosion.<br />
Das Resultat können Sie sich vorstellen. Einwandfrei ist die<br />
375
Todesursache nur bei dem Feldwebel, der hinausgeschleudert<br />
wurde, festzustellen. Soweit wir es beurteilen können, wurden<br />
keine Waffen gestohlen. Einige Gegenstände fehlen, darunter eine<br />
Kartentasche. Diese könnte bei der Explosion ins Meer geflogen<br />
sein, aber ich bezweifle das.«<br />
»Schlußfolgerung?«<br />
»Genosse General, wir haben nur wenige Ausgangspunkte, aber<br />
ich vermute, dass die Streife den Hof besuchte, diese Flasche Wodka<br />
>requirierte< die beiden Leute dort erschoß und dann das Haus<br />
anzündete. Die Tochter ist verschollen. Wir suchen das Gebiet nach<br />
ihrer Leiche ab. Und wenn man die anderen Spuren und Hinweise<br />
untersucht, könnte man folgern: Kurz nach diesem Vorfall wurde<br />
die Streife von einer bewaffneten Gruppe überrascht und getötet,<br />
die dann versuchte, einen Verkehrsunfall vorzutäuschen. Wir müssen<br />
also davon ausgehen, dass mindestens eine Gruppe von Widerstandskämpfern<br />
operiert.«<br />
»Da bin ich anderer Auffassung«, erklärte der KGB-Oberst.<br />
»Nicht alle feindlichen Soldaten wurden tot aufgefunden oder gefangengenommen.<br />
Bei unseren >Widerstandskämpfern< handelt es<br />
sich um Nato-Truppen, die bei unserem Angriff auf Keflavik entkommen<br />
sind. Sie lockten unsere Männer in einen Hinterhalt und<br />
ermordeten dann die Bauern, um die Einhe<strong>im</strong>ischen gegen uns<br />
aufzuhetzen.«<br />
General Andrejew tauschte he<strong>im</strong>lich einen Blick mit seinem Major<br />
der Militärpolizei. Führer der Streife war ein KGB-Leutnant<br />
gewesen - darauf hatten die Tschekisti bestanden. Hat mir gerade<br />
noch gefehlt, dachte der General. Schl<strong>im</strong>m genug, dass seine Fallschirmjäger,<br />
eine Elitetruppe, Garnisonsdienst schieben mussten <br />
was der Moral und Disziplin nie förderlich ist -, aber nun wurden<br />
sie obendrein als Kerkermeister eingesetzt. Der arrogante junge<br />
KGB-Offizier (einen bescheidenen hatte er noch nie erlebt) hatte<br />
sich also einen Spaß gemacht. Wo war die Tochter? Ein merkwürdiges<br />
Rätsel, aber keine Frage, die <strong>im</strong> Augenblick dringlich war.<br />
»Wir sollten die Bewohner der Umgebung verhören«, meinte der<br />
KGB-Oberst.<br />
»Die gibt es nicht, Genosse«, erwiderte der Major. »Sehen Sie<br />
sich einmal die Karte an. Die Farm ist abgelegen. Die nächsten<br />
Nachbarn sind sieben Kilometer entfernt.«<br />
»Aber...«<br />
376
»Wer diese armen Menschen umgebracht hat und warum, ist<br />
nebensächlich. Da draußen laufen bewaffnete Feinde herum«,<br />
sagte Andrejew. »Das geht das Militär an, nicht unsere Kollegen<br />
vom KGB. Ich werde einen Hubschrauber die Umgebung des Hofes<br />
absuchen lassen. Und bis auf weiteres wird KGB-Personal, das<br />
unsere Streifen begleitet, als Beobachter und nicht als Führer füngieren.<br />
Wir möchten Ihre Männer nicht in gefährliche Situationen<br />
bringen, für die sie nicht ausreichend ausgebildet sind. Gut, dass Sie<br />
mir den Vorfall zur Kenntnis gebracht haben, Genossen. Abtreten.«<br />
Eine Stunde später hob der Kampfhubschrauber Mi-24 ab, um<br />
die Umgebung des abgebrannten Hofes abzusuchen.<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Schon wieder?« fragte Toland.<br />
»Keine Atempause, Commander«, erwiderte der Group Captain.<br />
»Zwei Reg<strong>im</strong>enter Backfire sind vor zwanzig Minuten von<br />
ihrem Stützpunkt gestartet. Wenn wir ihre Tanker erwischen wollen,<br />
müssen wir rasch handeln.«<br />
Binnen Minuten stiegen zwei fürs Orten und Stören von Radarund<br />
Funksignalen gebaute EA-6B Prowler auf und gingen auf<br />
Nordwestkurs. Auffallendstes Kennzeichen der Maschinen waren<br />
die zum Schutz der empfindlichen Bordinstrumente gegen elektromagnetische<br />
Impulse mit Gold beschichteten Kabinenhauben.<br />
Schon <strong>im</strong> Steigflug machten sich die Piloten und Elektronikoffiziere<br />
in ihren goldenen Käfigen an die Arbeit.<br />
Zwei Stunden später entdeckten sie ihre Beute, funkten die Positionen<br />
zurück - und in Stornoway rollten vier Tomcats an den Start.<br />
Norwegisches Meer<br />
Die Tomcats flogen in sechsunddreißigtausend Fuß Höhe Ovale<br />
nördlich und südlich des vorhergesagten Kurses der sowjetischen<br />
Tanker. Ihre leistungsfähigen Such- und Raketenlenk-Radaranlagen<br />
waren ausgeschaltet. Den H<strong>im</strong>mel suchten sie mit Fernsehkameras<br />
ab, die andere Flugzeuge bis über vierzig Meilen identifizie<br />
377
en konnten. Das Wetter war ideal: klarer H<strong>im</strong>mel mit vereinzelten<br />
hohen Cirruswolken; die Jäger zogen keine Kondensstreifen hinter<br />
sich her, die andere Flugzeuge warnen konnten. Die Piloten zogen<br />
ihre Kurven, schauten <strong>im</strong> Zehnsekundenabstand zum Horizont<br />
und dann auf die Triebwerksinstrumente.<br />
»Sieh mal einer an«, sagte der Staffelführer zu seinem Kampfbeobachter.<br />
Der Offizier auf dem Rücksitz des Tomcat richtete die<br />
TV-Kamera auf das Flugzeug.<br />
»Kommt mir wie ein Badger vor.«<br />
»Der ist best<strong>im</strong>mt nicht allein. Warten wir mal ab.«<br />
Der Bomber war über vierzig Meilen entfernt. Bald erschienen<br />
zwei weitere, begleitet von einer kleineren Maschine.<br />
»Das ist ein Jäger. Ah, insgesamt... sechs Ziele.« Der Kampfbeobachter<br />
zog seine Schultergurte stramm und aktivierte dann die<br />
Raketen. »Alle Waffen scharf und bereit. Nehmen wir uns erst die<br />
Jäger vor?«<br />
»Klar, anstrahlen«, st<strong>im</strong>mte der Pilot zu und schaltete sein Funkgerät<br />
ein. »Zwei, hier Führer, wir haben vier Tanker und Jäger auf<br />
Kurs null-acht-fünf, rund vierzig Meilen westlich unserer Position.<br />
Wir greifen an. Folgen Sie. Over.«<br />
»Roger. Sind schon unterwegs. Out.« Der Pilot der zweiten<br />
Maschine betätigte die Schubkontrollhebel bis zum Anschlag und<br />
flog eine enge Kurve.<br />
Der Führer aktivierte sein Radar. Sie hatten nun zwei Jäger und<br />
vier Tanker identifiziert. Die beiden ersten Phoenix-Luftkampfraketen<br />
würden den Jägern gelten.<br />
»Feuer!«<br />
Zwei Flugkörper lösten sich von ihren Aufhängungen und zündeten,<br />
jagten auf die Ziele zu.<br />
Die russischen Tanker hatten das AWG-9-Radar der Tomcats<br />
ausgemacht und bereits mit Ausweichmanövern begonnen. Die sie<br />
begleitenden Jäger gingen auf vollen Schub und stellten ihr eigenes<br />
Raketenleitradar an, nur um feststellen zu müssen, dass die angreifenden<br />
Jäger noch außerhalb ihrer Reichweite waren. Beide schalteten<br />
ihre Störeinrichtungen ein und zogen ihre Maschinen ruckartig<br />
nach oben, bemüht, dichter heranzukommen und ihre Raketen<br />
abzuschießen. Fliehen konnten wie wegen Treibstoffmangels nicht,<br />
und es war auch ihre Aufgabe, die Jäger von den Tankern fernzuhalten.<br />
378
Die Phoenix-Raketen bohren sich mit Mach 5 durch die Luft und<br />
hatten ihre Ziele in einer knappen Minute erreicht. Ein sowjetischer<br />
Pilot sah den Flugkörper überhaupt nicht und verschwand in einem<br />
rotschwarzen Feuerball. Der andere riß kurz vor der Explosion des<br />
Sprengkopfes den Steuerknüppel nach rechts und wäre beinahe<br />
entkommen, aber Splitter fetzten durch seine rechte Tragfläche. Die<br />
Maschine verlor rasch an Höhe.<br />
Hinter den Jägern trennten sich die Tankflugzeuge. Zwei flogen<br />
nach Norden, das andere Paar nach Süden. Der erste Tomcat nahm<br />
sich das nördliche Paar vor, schoß beide Flugzeuge mit seinen<br />
verbliebenen Phoenix ab. Sein Flügelmann jagte nach Süden. Seine<br />
erste Rakete traf, die zweite wurde von elektronischen Gegenmaßnahmen<br />
des Badger abgelenkt. Der Tomcat flog jedoch weiter an,<br />
hatte das Ziel inzwischen in Sichtweite und feuerte ein weiteres<br />
Lenkgeschoß ab. Die AIM-54 explodierte nur drei Meter hinter<br />
dem Schwanz des Badger. Heiße Splitter bohrten sich in den umgebauten<br />
Bomber und entzündeten Treibstoffdämpfe in den leeren<br />
Tanks. Der sowjetische Bomber verschwand in einem orangenen<br />
Blitz.<br />
Die Jäger suchten mit Radar den H<strong>im</strong>mel ab in der Hoffnung,<br />
weitere Ziele für ihre restlichen Raketen zu finden. Sechs weitere<br />
Badger flogen in hundert Meilen Entfernung, doch diese waren<br />
bereits gewarnt worden und hatten nach Norden abgedreht. Zur<br />
Verfolgung fehlte den Tomcats der Treibstoff. Eine Stunde später<br />
landeten sie mit fast leeren Tanks in Stornoway.<br />
»Fünf abgeschossen, einer beschädigt«, sagte der Staffelführer zu<br />
Toland. »Es hat geklappt.«<br />
»Diesmal ja.« Dennoch war Toland zufrieden. Die US-Navy<br />
hatte gerade ihre erste Offensivoperation abgeschlossen. Nun zur<br />
nächsten. Gerade war ein Backfire-Verband gemeldet worden, der<br />
nach einem Angriff auf einen Geleitzug bei den Azoren auf dem<br />
Rückflug war. Zweihundert Meilen südlich von Island lauerten<br />
ihm zwei Tomcats auf.<br />
Stendal, DDR<br />
»Unsere Verluste waren mörderisch«, sagte der General der sowjetischen<br />
Heeresflieger an der Front.<br />
379
»Ich werde unseren Mot-Schützen erzählen, wie ernst Ihre Verluste<br />
waren«, versetzte Alexejew kalt.<br />
»Sie waren fast doppelt so hoch wie erwartet.«<br />
»Unsere auch! Aber unsere Truppen kämpfen wenigstens. Ich<br />
beobachtete einen Angriff. Sie schickten gerade vier Kampfflugzeuge.<br />
Vier!«<br />
»Ich weiß Bescheid. Den Bodentruppen war ein ganzes Reg<strong>im</strong>ent<br />
zugewiesen worden, über zwanzig Flugzeuge, dazu Ihre eigenen<br />
Kampfhubschrauber. Die Jäger der Nato greifen uns schon zehn<br />
Kilometer hinter der Front an. Unsere Piloten müssen um ihr Leben<br />
kämpfen, nur um zu Ihren Panzern zu gelangen. Und dann werden<br />
sie viel zu häufig von unseren eigenen Boden-Luft-Raketen angegriffen!«<br />
»Erklären Sie das näher!« befahl Alexejews Vorgesetzter.<br />
»Genosse General, die Radarüberwachungsflugzeuge der Nato<br />
sind gut geschützt und geben schwierige Ziele ab. Die fliegenden<br />
Radarleitstände können feindliche Jäger auf unsere ansetzen und es<br />
ihnen ermöglichen, Raketen von jenseits des Sichtbereiches abzuschießen.<br />
Wenn unsere Piloten merken, dass sie angegriffen werden,<br />
müssen sie ausweichen, oder? Ihre Panzer halten ja auch nicht still.<br />
Das bedeutet oft, dass unsere Piloten ihre Bombenladung abwerfen<br />
müssen, um Manövrierfähigkeit zu erlangen. Und schließlich,<br />
wenn es ihnen gelungen ist, die Kampfzone zu erreichen, werden sie<br />
häufig von unseren Raketenbatterien beschossen, deren Bedienungen<br />
sich nicht die Zeit nehmen, zwischen Freund und Feind zu<br />
unterscheiden.« Eine alte Geschichte und ein Problem, das nicht<br />
nur die Sowjets plagte.<br />
»Wollen Sie damit sagen, dass die Nato die Luftherrschaft hat?«<br />
fragte Alexejew.<br />
»Nein, über die verfügt keine Seite. Unsere SAM verwehren<br />
ihnen die Kontrolle des Luftraums über der Kampfzone, und ihre<br />
Jäger - unterstützt von ihren und unseren SAM - verweigern sie<br />
uns. Der H<strong>im</strong>mel über dem Schlachtfeld gehört niemandem.«<br />
Alexejew dachte an Bieben und fragte sich, wie korrekt die<br />
Darstellung des Mannes war.<br />
»Wir müssen bessere Resultate erzielen«, sagte der OB des Operationsgebiets.<br />
»Unser nächster Großangriff wird richtige Luftunterstützung<br />
haben, und wenn wir dazu jeder Einheit an der Front<br />
die Kampfflugzeuge abnehmen müssen.«<br />
380
»Wir versuchen bereits, mit Hilfe von Täuschungsmanövern<br />
mehr Flugzeuge nach vorne zu schaffen. Gestern hatten wir vor, die<br />
Nato-Jäger an den falschen Ort zu locken. Das wäre uns beinahe<br />
gelungen, wenn wir nicht einen Fehler gemacht hätten. Doch dieser<br />
Fehler ist inzwischen identifiziert worden.«<br />
»Morgen um 0600 Uhr greifen wir südlich von Hannover an. Ich<br />
verlange, dass zweihundert Flugzeuge meine Divisionen an der<br />
Front unterstützen.«<br />
»Sie werden sie bekommen«, st<strong>im</strong>mte der Luftwaffengeneral zu<br />
und ging. Alexejew sah ihm nachdenklich nach.<br />
»Nun, Pascha?«<br />
»Wenigstens ein Anfang - vorausgesetzt, die zweihundert Maschinen<br />
tauchen auch auf.«<br />
»Immerhin haben wir ja noch unsere Hubschrauber.«<br />
»Was Hubschraubern unter Raketenbeschuß passiert, habe ich<br />
selbst miterlebt. Der Mut der Piloten ist bemerkenswert, aber mit<br />
Mut allein ist es nicht getan. Wir haben die Feuerkraft der Nato<br />
unterschätzt - oder, besser, unsere eigenen Fähigkeiten, sie zu<br />
neutralisieren, überschätzt.«<br />
»Seit Beginn des Krieges greifen wir vorbereitete Stellungen an.<br />
Wenn uns der Durchbruch in offenes Gelände gelungen ist -«<br />
»Genau. Ein Bewegungskrieg wird unsere Verluste reduzieren.<br />
Der Durchbruch muss gelingen.« Alexejew senkte den Blick auf die<br />
Karte. Kurz nach Sonnenaufgang sollte sich morgen früh eine ganze<br />
Armee - vier Mot-Schützendivisionen, unterstützt von einer Panzerdivision<br />
-gegen die Linien der Nato werfen. »Und zwar hier. Ich<br />
will wieder vorne sein.«<br />
Island<br />
Sie stiegen einen mit Felsblöcken übersäten Hang hinab, als <strong>im</strong><br />
Westen der Hubschrauber auftauchte. Er flog tief, kaum hundert<br />
Meter über einem Kamm, und langsam auf sie zu. Die Marines<br />
warfen sich sofort zu Boden und robbten in Deckung. Edwards<br />
machte ein paar Schritte auf Vigdis zu und zog auch sie hinunter. Sie<br />
trug einen auffällig weißgemusterten Pullover. Der Lieutenant zog<br />
seinen Parka aus und legte ihn ihr um die Schulter, ließ ihr blondes<br />
Haar unter der Kapuze verschwinden.<br />
381
»Keine Bewegung. Die suchen uns.« Edwards hob kurz den<br />
Kopf, um zu sehen, wo seine Männer waren. Smith winkte ihn<br />
zurück in Deckung. Edwards tauchte wieder ab, hielt aber die<br />
Augen offen, damit er den Hubschrauber sehen konnte. Wieder ein<br />
Hind. An den Sturmflügeln hingen Raketen. Hinter den beiden<br />
offenen Seitentüren konnte er Infanteristen mit schußbereiten Waffen<br />
erkennen. »Au, Scheiße!«<br />
Der Lärm der Triebwerke nahm zu, als der Hind näher kam, und<br />
der riesige fünfblättrige Hauptmotor wirbelte den vulkanischen<br />
Staub auf, der das Hochplateau, das sie gerade verlassen hatten,<br />
bedeckte. Edwards' Hand schloß sich fester um den Pistolengriff<br />
des M-16; er entsicherte die Waffe. Der Hubschrauber flog nun fast<br />
seitlich an, und seine Raketen zielten auf das ebene Gelände hinter<br />
den Marines. Edwards konnte die Maschinengewehre in der Nase<br />
des Hind ausmachen.<br />
»Dreh ab!« zischte Edwards.<br />
»Was macht er?« fragte Vigdis.<br />
»Ruhe, nicht bewegen.«<br />
»Da, in sieben Uhr!« rief der Schütze auf dem Vordersitz des<br />
Hubschraubers.<br />
»Also doch keine Zeitverschwendung«, erwiderte der Pilot.<br />
»Drauf!«<br />
Der Schütze nahm sein Ziel ins Visier, entsicherte das MG und<br />
stellte einen kurzen Feuerstoß ein. Sein Ziel hielt angenehm still, als<br />
er abdrückte.<br />
»Hat gesessen!«<br />
Edwards fuhr bei den Schüssen zusammen. Vigdis rührte sich überhaupt<br />
nicht. Der Lieutenant zielte mit seinem Gewehr auf den<br />
Hubschrauber, der nach Süden flog und hinter dem Kamm verschwand.<br />
Drei Köpfe tauchten auf. Worauf war geschossen worden?<br />
Das Triebwerkgeräusch änderte sich, als der Helikopter nicht<br />
weit entfernt landete.<br />
Der Bock war von drei Kugeln getroffen worden. An dem vierzig<br />
Kilo schweren Tier war gerade genug Fleisch für die Hubschrauberbesatzung<br />
und den Zug Infanterie. Der Feldwebel der Fallschirmjäger<br />
schnitt dem Rotwild die Gurgel durch und machte sich dann ans<br />
382
Ausweiden. Der Kadaver wurde in den Hind geladen, der abhob,<br />
auf Marschhöhe ging und zurück nach Keflavik flog.<br />
Sie schauten der Maschine verdutzt nach, bis das Klatschen der<br />
Rotoren verklungen war.<br />
»Was hatte das zu bedeuten?« fragte Edwards seinen Sergeant.<br />
»Keine Ahnung, Skipper. Sehen wir zu, dass wir uns dünnemachen.<br />
Wetten, dass der auf der Suche nach uns war? Gehen wir lieber<br />
durch Gelände, das Deckung bietet.«<br />
»Gut, J<strong>im</strong>. Sie gehen voran.« Edwards begab sich zurück zu<br />
Vigdis. »Alles klar, sie sind weg. Behalten Sie die Jacke ruhig an, da<br />
sind Sie besser getarnt.«<br />
Der Parka, schon Edwards zwei Nummern zu groß, hing wie ein<br />
Zelt an Vigdis' zierlicher Figur. Sie streckte die Arme aus, um ihre<br />
Hände aus den Ärmeln zu befreien, und lächelte zum ersten Mal.<br />
USS Pharris<br />
»Ein Drittel voraus«, befahl der Erste Offizier. Gleich darauf zeigte<br />
der Maschinentelegraph an, dass die Pharris nach einem Spurt mit<br />
fünfundzwanzig Knoten langsamere Fahrt zu machen begann, um<br />
mit ihrem Schleppsonar auf feindliche Unterseeboote zu lauschen.<br />
Morris saß in seinem Sessel auf der Brücke und sah Nachrichten<br />
von Land durch. Er rieb sich die Augen und zündete sich eine neue<br />
Pall Mall an.<br />
»Brücke!« rief ein Ausguck erregt, »Periskopspur an Backbord<br />
voraus. Auf halben Weg zur K<strong>im</strong>m, Backbord voraus!« Morris riß<br />
das Fernglas aus dem Halter, setzte es an, sah aber nichts.<br />
»Alle Mann auf Gefechtsstation!« befahl der IO. Eine Sekunde<br />
später ging der Alarm los; erschöpfte Männer rannten wieder einmal<br />
auf ihre Posten. Morris hängte sich das Fernglas um den Hals<br />
und eilte die Leiter hinunter auf seine Station.<br />
Das Sonar sandte eine Reihe von Impulsen nach Backbord ab.<br />
Nichts. Der Hubschrauber startete; die Fregatte drehte nach Norden<br />
ab, um ihr Schleppsonar auf den möglichen Kontakt zu richten.<br />
»Passivsonar-Kontakt, möglicherweise U-Boot, in null-einsdrei«,<br />
verkündete der für das Schleppsonar verantwortliche Operator.<br />
»Dampfzischen, klingt wie ein Boot mit Nuklearantrieb.«<br />
383
»Kein Echo in dieser Richtung«, sagte der Aktivsonar-Operator.<br />
Morris und sein ASW-Offizier schauten sich die Wasserzustandsanzeige<br />
an. In zweihundert Fuß gab es eine Thermokline.<br />
Das Passiv-Sonar befand sich darunter und war durchaus in der<br />
Lage, ein U-Boot zu hören, das die Aktiv-Peilsignale nicht erreichten.<br />
Der Ausguck konnte die Fontäne eines Wals gesehen haben <br />
es war gerade die Paarungszeit der Blauwale -, eine Schaumkrone,<br />
oder eben das Kielwasser eines Sehrohres. In letzterem Fall konnte<br />
das U-Boot sich unter der Thermokline in Sicherheit gebracht haben.<br />
Das Ziel war zu nahe, um mit Hilfe vom Grund reflektierter<br />
Schallwellen erfaßt zu werden, und zu weit entfernt, um dem Sonar<br />
das direkte Durchbrechen der Schicht zu ermöglichen.<br />
»Weniger als fünf Meilen«, meinte der ASW-Offizier. »Eher<br />
zwei. Wenn das ein U-Boot ist, haben wir es mit einem guten zu<br />
tun.«<br />
»Lassen Sie sofort den Hubschrauber drauflos!« Morris schaute<br />
aufs Display. Das U-Boot konnte die Fregatte bei ihrem Spurt<br />
gehört haben, doch nun, bei reduzierter Fahrt und mit dem Prairie-Masker-System<br />
in Betrieb, war die Pharris nur sehr schwer zu<br />
orten. Eine dringende Kontaktmeldung ging an den Kommandanten<br />
der Geleitschiffe.<br />
Der Sea Sprite warf eine Reihe von Sonobojen. Minuten vergingen.<br />
»Schwaches Signal von Sieben, mittleres von Vier«, meldete der<br />
Maat am Sonargerät. Morris beobachtete weiter das Display.<br />
Demnach war der Kontakt keine drei Meilen entfernt.<br />
»Aktivbojen abwerfen«, befahl er. Hinter ihm ließ der Waffenoffizier<br />
ASROC-Starter und Torpedoablaufbühne klarmachen.<br />
Drei Meilen weiter machte der Hubschrauber kehrt, schwebte<br />
dann über dem Zielgebiet und warf drei CASS-Bojen ab, die<br />
Schall<strong>im</strong>pulse abgaben.<br />
»Kontakt, starker Kontakt von Boje Neun. Wahrscheinlich U-<br />
Boot.«<br />
»Ich hab ihn in null-eins-fünf-eindeutig ein U-Boot«, sagte der<br />
Mann, der die Anzeige des Schleppsonars überwachte. »Hat gerade<br />
die Geschwindigkeit erhöht. Kavitationsgeräusche. Eine<br />
Schraube, vermutlich Victor-Klasse, wandert rasch von links nach<br />
rechts.«<br />
Das Aktiv-Sonar hatte den Kontakt noch <strong>im</strong>mer nicht erfaßt,<br />
384
obwohl es mit Höchstleistung Signale in die korrekte Richtung<br />
sandte. Das U-Boot befand sich eindeutig unter der Schicht.<br />
Morris erwog ein Manöver, verwarf die Idee aber dann. Radikales<br />
Abdrehen würde das Schleppsonar in eine Kurve ziehen und für<br />
mehrere Minuten wirkungslos machen. Dann konnte er sich nur<br />
auf die Sonarbojen verlassen, denen er weniger traute als seinem<br />
Schleppsonar.<br />
»Kontakt nun stetig in null-eins-fünf... Geräuschpegel etwas<br />
niedriger.« Der Operator wies auf seinen Bildschirm. Morris war<br />
überrascht. Warum lag der Kontakt, der sich eben noch rasch<br />
bewegt hatte, auf einmal still?<br />
Ein weiterer Überflug des Hubschraubers. Eine neue Sonoboje<br />
nahm den Kontakt auf, doch der Magnetanomalie-Detektor<br />
konnte die Anwesenheit eines U-Boots nicht bestätigen, und der<br />
Kontakt verklang. Der Geräuschpegel fiel weiter. Morris sah, wie<br />
die relative Position des Kontaktes sie achtern passierte. Was trieb<br />
dieser Kerl?<br />
»Periskop an Steuerbord voraus!« meldete der Sprecher.<br />
»Am falschen Platz, Sir... es sei denn, wir gucken uns einen<br />
Störer an«, meinte der Operator.<br />
Der ASW-Offizier ermittelte sofort die Werte. »Kontakt in dreivier-fünf,<br />
Distanz fünfzehnhundert Yards!« Auf dem Sonar-Sichtgerät<br />
erschien ein heller Leuchtfleck.<br />
»Äußerste Kraft voraus!« schrie Morris. Irgendwie hatte sich das<br />
U-Boot der Ortung durch das Schleppsonar entzogen, war über der<br />
Thermokline erschienen und hatte sein Sehrohr ausgefahren. Das<br />
konnte nur eines bedeuten. »Ruder hart Backbord.«<br />
»Hydrophon-Effekte - Torpedos in drei-fünf-sechs!«<br />
Der Waffenoffizier ließ sofort einen Torpedo in diese Richtung<br />
abschießen, um das angreifende U-Boot zu stören. Wenn die Torpedos<br />
des Russen drahtgelenkt waren, würde er den Draht kappen<br />
müssen, um sein Boot aus dem Bereich des amerikanischen Gegenschusses<br />
zu manövrieren.<br />
Morris hastete hoch zur Brücke. Es war dem U-Boot gelungen, in<br />
eine Feuerposition zu gehen. Die Fregatte änderte Kurs und Geschwindigkeit,<br />
um dem Russen die Zielkoordinaten zu ruinieren.<br />
»Ich sehe einen!« rief der IO und wies über den Bug. Der sowjetische<br />
Torpedo zog eine weiße Schaumspur hinter sich her. Die<br />
Fregatte drehte hart ab.<br />
385
»Brücke, zwei Torpedos in drei-fünf-null konstant, Distanz<br />
schrumpft«, rief der TAO hastig. »Beide peilen uns an. Die Nixie ist<br />
aktiv.«<br />
Morris griff nach einem Telefon. »Melden Sie die Lage dem<br />
Geleitzugkommandanten.«<br />
»Schon erledigt, Sir. Zwei Helikopter sind unterwegs.«<br />
Die Pharris lief nun zwanzig Knoten, beschleunigte und bot dem<br />
Torpedo jetzt das Achterschiff dar. Ihr Hubschrauber war nun<br />
achterlich querab und machte verzweifelte Anflüge mit dem Magnetanomalie-Detektor,<br />
in dem Versuch, das sowjetische U-Boot<br />
zu orten.<br />
Das Kielwasser des Torpedos kreuzte nun den Bug der Fregatte.<br />
Achtern gab es eine Explosion. Weißes Wasser schoß dreißig Meter<br />
in die Luft, als der erste russische »Hai« mit dem Torpedoköder<br />
»Nixie« kollidierte. Es war jedoch nur ein Lärminstrument ausgeworfen<br />
worden, und draußen lief ein zweiter Torpedo.<br />
»Ruder hart Steuerbord!« befahl Morris dem Steuermann. »GZ,<br />
was macht der Kontakt?« Die Fregatte lief jetzt fünfundzwanzig<br />
Knoten.<br />
»Läßt sich nicht genau sagen, Sir. Die Sonobojen haben unseren<br />
Torpedo, aber sonst nichts.«<br />
»Wir kriegen einen Treffer ab«, sagte der IO und wies auf eine<br />
weiße, keine zweihundert Yard entfernte Schaumspur. Der Torpedo<br />
musste be<strong>im</strong> ersten Versuch die Fregatte verfehlt und es noch<br />
einmal versucht haben. Zielsuchende Torpedos gaben erst auf,<br />
wenn ihnen der Treibstoff ausging.<br />
Nun war Morris machtlos. Der Torpedo lief auf den Backbordbug<br />
zu. Wenn er nun nach Backbord abdrehte, bot er ihm nur ein<br />
größeres Ziel. Unter der Brücke schwang der ASROC-Starter nach<br />
links und zielte auf die vermeintliche Position des U-Boots, doch der<br />
Operator hatte keinen Feuerbefehl. Die weiße Schaumspur kam<br />
näher. Morris lehnte sich über die Reling und starrte in stummer<br />
Wut auf den Finger, der sich nach seinem Schiff ausstreckte. Jetzt<br />
konnte der Hai die Pharris nicht mehr verfehlen.<br />
»Kopf runter, Sir.« Bootsmann Clarke packte Morris an der<br />
Schulter und riß ihn auf Deck. Er wollte auch noch den Ersten<br />
Offizier schnappen, als der Torpedo traf.<br />
Der Einschlag schleuderte Morris dreißig Zent<strong>im</strong>eter vom Stahldeck.<br />
Die Explosion hörte er nicht, doch als er ein zweites Mal auf<br />
386
den Stahl prallte, fuhr eine weiße Woge über ihn hinweg und<br />
schwemmte ihn gegen eine Stütze. Sein erster Gedanke war: Ich bin<br />
über Bord geschleudert worden. Er raffte sich auf und sah seinen<br />
Ersten Offizier - ohne Kopf, an der Tür zum Ruderhaus zusammengesunken.<br />
Die Brückennock war auseinandergerissen, die starken<br />
Metallplatten des Schanzkleids von Splittern durchschlagen.<br />
Die Fenster des Ruderhauses waren verschwunden. Doch was er<br />
dann sah, war noch schl<strong>im</strong>mer.<br />
Der Torpedo hatte die Fregatte knapp achtern des Bugsonars<br />
getroffen, den Kiel geknickt und den Bug einbrechen lassen. Das<br />
Vorschiff nahm bereits Wasser über, und ein gräßliches Reißen<br />
verriet ihm, dass der Bug <strong>im</strong> Begriff war, sich vom Schiff zu lösen.<br />
Morris taumelte ins Ruderhaus und riß den Hebel des Maschinentelegraphen<br />
auf Stop, ohne zu merken, dass die Ingenieure die<br />
Maschinen bereits gestoppt hatten. Das Schiff wurde von seinem<br />
Schwung vorangetrieben. Der Bug bog sich um zehn Grad nach<br />
Steuerbord, und die vorderen Geschütze, deren Bedienungen sich<br />
nach achtern in Sicherheit zu bringen versuchten, wurden überschwemmt.<br />
Unter den Geschützen befanden sich weitere Männer.<br />
Morris wusste, dass sie nicht mehr lebten, und hoffte nur, dass sie auf<br />
der Stelle gestorben waren und nicht in einem langsam sinkenden<br />
Stahlkäfig ertrinken mussten. Seine Männer. Wie viele hatten ihre<br />
Gefechtsstationen vor dem ASROC-Starter gehabt?<br />
Dann brach der Bug; dreißig Meter des Schiffes trennten sich mit<br />
dem Kreischen reißenden Metalls ab. Das Vorderschiff drehte sich<br />
<strong>im</strong> Wasser wie ein Eisberg und kollidierte mit dem Heck. Morris<br />
sah Bewegung an einer wasserdichten Tür. Ein Mann kam frei,<br />
schwamm von dem schlingernden Bug weg.<br />
Die Brückenbesatzung war vollständig, hatte Schnittwunden von<br />
zerplatzendem Glas erlitten, stand aber auf den Posten. Chief<br />
Clarke sah sich kurz auf der Brücke um und eilte dann nach unten,<br />
um Lösch- und Notreparaturarbeiten zu überwachen. Schon rasten<br />
Trupps mit Schläuchen und Schweißgeräten nach vorne. In der<br />
Leckwehrzentrale lasen Männer an Anzeigetafeln das Ausmaß des<br />
Wassereinbruchs ab. Morris griff nach dem Hörer der Bordsprechanlage<br />
und rief diesen Raum.<br />
»Meldung!«<br />
»Wassereinbruch bis Spant 36, aber sie wird schw<strong>im</strong>men - zumindest<br />
eine Weile. Keine Brände. Erwarten jetzt Meldungen.«<br />
387
Als nächstes setzte Morris sich mit der Gefechtszentrale in Verbindung<br />
und befahl, den Kommandanten des Geleitzugs zu verständigen<br />
und um Hilfe zu bitten.<br />
»Bereits geschehen, Sir. Gallery ist unterwegs. Sieht so aus, als<br />
sei das U-Boot entwischt. Es wird <strong>im</strong>mer noch nach ihm gesucht.<br />
Wir haben einige Schäden durch Explosionsdruck. Alle Radaranlagen,<br />
Bugsonar, ASROC ausgefallen. Schleppsonar und Mark-<br />
32,-Lafetten funktionieren noch. Moment mal - der Kommandant<br />
schickt uns einen Schlepper.«<br />
»Okay, Sie übernehmen das Ruder. Ich gehe nach unten und<br />
sehe mir den Schaden an.« Wie steuert man ein Schiff, das keine<br />
Fahrt macht? dachte Morris. Eine Minute später sah er zu, wie<br />
Männer ein Schott mit Holz abzustützen versuchten.<br />
»Dieses hier hält einigermaßen, aber das davor leckt wie ein<br />
Sieb. Als der Bug losbrach, Muss sich alles verwunden haben. Wir<br />
müssen Bleche und Verstrebungen einschweißen. In zehn Minuten<br />
kann ich Ihnen sagen, ob sie schw<strong>im</strong>mt oder nicht.«<br />
Clarke erschien und atmete schwer. »Ich war gerade unten.<br />
Starkes Leck am Schott über den Bunkern. Müssen uns beeilen,<br />
wenn wir das abdichten wollen.«<br />
Die Schweißer wurden sofort nach unten geschickt. Zwei Männer<br />
erschienen mit einer tragbaren Pumpe. Morris jagte sie hinterher.<br />
»Wie viele Männer werden vermißt?« fragte Morris Chief<br />
Clarke, der den Arm verkrampft hielt.<br />
»Die Geschützbedienungen vorne sind alle davongekommen,<br />
aber von unter Deck habe ich bisher niemanden gesehen. Verflucht,<br />
ich hab mir selbst was gebrochen.« Clarke sah seinen rechten<br />
Arm an und schüttelte zornig den Kopf. »Aus dem Bug haben<br />
es wahrscheinlich nur wenige geschafft, Sir.«<br />
»Lassen Sie sich den Arm versorgen«, befahl Morris.<br />
»Scheiß auf den Arm, Sir! Ich werde gebraucht.« Der Mann<br />
hat recht, dachte Morris und ging vor Clarke zurück nach<br />
oben.<br />
Auf der Brücke wählte Morris den Maschinenraum an. Der<br />
Lärm am Telefon beantwortete seine erste Frage.<br />
Der Ingenieur machte sich durch das Zischen entweichenden<br />
Dampfes verständlich. »Schäden durch Explosionsdruck, Sir.<br />
Geplatzte Dampfleitungen an Kessel 1, Kessel 2. wird wohl noch<br />
388
funktionieren, aber ich habe vorsichtshalber an beiden die Sicherheitsventile<br />
geöffnet. Die Dieselgeneratoren sind am Netz. Ich habe<br />
hier Verletzte und schicke sie jetzt hinauf. Ich - schon gut, schon<br />
gut. Wir haben Kessel 2. überprüft und nur kleine Undichtigkeiten<br />
gefunden, die sich rasch reparieren lassen. In zehn Minuten bekommen<br />
wir wieder Druck.«<br />
»Brauchen wir auch.« Morris legte auf.<br />
Die Pharris lag antriebslos <strong>im</strong> Wasser. Dampf strömte aus den<br />
Sicherheitsventilen und entwich durch den Schornstein, erzeugte<br />
ein gräßliches, krächzendes Geräusch, das klang, als stieße das<br />
Schiff einen Schmerzensschrei aus. Anstelle des schnittigen Clipperbugs<br />
hatte die Fregatte nur eine klobige Front aus zerfetztem Metall<br />
und herunterhängenden Kabeln. Öl aus aufgerissenen Bunkern<br />
verschmutzte rundum das Wasser. Zum ersten Mal fiel Morris auf,<br />
dass das Heck der Fregatte zu tief lag. Er musste auf weitere Meldungen<br />
warten. Wie bei einem Unfallopfer hingen die Überlebensaussichten<br />
vom Geschick der Chirurgen ab, und die durfte man weder<br />
stören noch zur Eile antreiben. Er rief die Gefechtszentrale an.<br />
»Was macht der U-Boot-Kontakt?«<br />
»Der Hubschrauber der Gallery warf einen Torpedo ab, dem<br />
aber der Treibstoff ausging, ehe er etwas traf. Sieht so aus, als sei<br />
das Boot nach Norden geflohen, aber wir haben seit fünf Minuten<br />
nichts mehr gehört. Inzwischen ist eine Orion <strong>im</strong> Gebiet.«<br />
»Die soll zwischen uns und dem Geleitzug suchen. Dieser Kerl<br />
läuft nicht weg. Richten Sie das auch dem Kommandanten aus.«<br />
»Aye, Captain.«<br />
Gleich darauf erhielt er die Meldung, das Schiff sei schw<strong>im</strong>mfähig.<br />
»Ganz dicht ist es nicht, aber die Pumpen schaffen es. Wenn<br />
weiter nichts versagt, bringen wir sie he<strong>im</strong>. Schickt man uns einen<br />
Schlepper?«<br />
»Ja.«<br />
»Dann lassen wir uns besser mit dem Achterschiff voraus in<br />
Schlepptau nehmen. Mit diesem Vorderschiff gegen schwere See<br />
laufen, daran will ich erst gar nicht denken.«<br />
»Gut.« Morris sah Clarke an. »Lassen Sie <strong>im</strong> Achterschiff<br />
Schleppgeschirr aufriggen. Das Rettungsboot soll nach Überlebenden<br />
suchen. Ich habe mindestens einen Mann <strong>im</strong> Wasser gesehen.<br />
Und sehen Sie zu, dass Ihr Arm in eine Schlinge kommt.«<br />
»Aye, Sir.« Clarke begab sich nach achtern.<br />
389
Morris fand in der Gefechtszentrale ein Funkgerät, das noch<br />
arbeitete, und rief den Kommandanten. »X-Ray Alfa, hier Pharris.«<br />
»Wie sieht es bei Ihnen aus?«<br />
»Wir wurden am Vorderschiff getroffen. Der Bug ist bis zum<br />
ASROC-Starter abgerissen. Wir sind manövrierunfähig, aber ich<br />
kann sie über Wasser halten, sofern wir nicht in schlechtes Wetter<br />
geraten. Beide Kessel augenblicklich außer Betrieb, in knapp zehn<br />
Minuten ist jedoch mit Druck zu rechnen. Einen genauen Überblick<br />
über die Verluste habe ich noch nicht. Commodore, wir wurden<br />
von einem Boot mit Nuklearantrieb getroffen; wahrscheinlich war<br />
es ein Victor. Und wenn ich mich nicht irre, hält es auf Sie zu.<br />
Achten Sie aufs Zentrum des Geleitzuges, Sir. Dieser Kerl kam auf<br />
Nahkampfdistanz heran und legte uns elegant rein. Der ist zu gut,<br />
um einfach so wegzulaufen.«<br />
Darüber dachte der Commodore kurz nach. »Gut, will ich mir<br />
merken. Gallery ist auf dem Weg zu Ihnen. Brauchen Sie sonst noch<br />
weitere Unterstützung?«<br />
»Gallery ist für Sie wichtiger als für uns. Der Schlepper genügt«,<br />
erwiderte Morris. Er wusste, dass das U-Boot nicht zurückkommen<br />
würde, um ihnen den Gnadenstoß zu versetzen, sondern sich eher<br />
die Frachter vornahm.<br />
»Roger. Sagen Sie Bescheid, falls Sie sonst noch etwas brauchen<br />
sollten. Viel Glück, Ed.«<br />
Morris ließ seinen Hubschrauber einen doppelten Ring aus Sonobojen<br />
um sein Schiff legen. Dann fischte der Sea Sprite drei<br />
Männer aus dem Wasser, einen davon tot.<br />
Unter Deck standen die Schweißer bis zur Taille <strong>im</strong> Salzwasser<br />
und waren bemüht, die Risse in den wasserdichten Schotten des<br />
Schiffes zu verschließen. Nach neunstündiger Arbeit begannen die<br />
Pumpen die gefluteten Räume zu lenzen.<br />
Der Schlepper Papago ging längsseits des eckigen Achterschiffs<br />
der Fregatte, und unter Aufsicht von Chief Clarke wurde eine<br />
Trosse übergeworfen. Eine Stunde später wurde die Fregatte mit<br />
vier Knoten rückwärts nach Osten geschleppt, um das beschädigte<br />
Vorschiff zu schonen. Morris ließ sein Schleppsonar hinter dem<br />
Bug herziehen, um wenigstens eine min<strong>im</strong>ale Defensivkapazität zu<br />
haben. Zusätzliche Ausgucks wurden aufgestellt, um auf Sehrohre<br />
zu achten. USS Pharris stand eine langsame und gefährliche He<strong>im</strong>reise<br />
bevor.<br />
390
Stendal, DDR<br />
28<br />
Durchbrüche<br />
»Seien Sie vorsichtig, Pascha.«<br />
»Wie <strong>im</strong>mer, Genosse General.« Alexejew lächelte. »Kommen<br />
Sie, Genosse Hauptmann.«<br />
Sergetow folgte seinem Vorgesetzten. Anders als bei ihren bisherigen<br />
Frontbesuchen trugen die beiden nun kugelsichere Westen.<br />
Der General hatte außer seiner Kartentasche nur eine Pistole dabei,<br />
doch der Hauptmann, der nun auch als Leibwächter füngierte, trug<br />
eine kleine tschechische Maschinenpistole über der Schulter. Ein<br />
Oberst der Luftwaffe stieg mit ihnen in den Hubschrauber. Der Mi<br />
24 startete in die Nacht, von oben gedeckt durch einen Jäger.<br />
Lammersdorf, BRD<br />
Nur wenige Leute erkannten, wie wichtig eine Videokamera war.<br />
Bequem zwar für den He<strong>im</strong>gebrauch, doch erst nachdem ein<br />
Hauptmann der niederländischen Luftwaffe vor zwei Jahren eine<br />
brillante Idee demonstriert hatte, war der militärische Nutzen des<br />
Gerätes bei gehe<strong>im</strong>en Übungen in Deutschland und den westlichen<br />
USA demonstriert worden.<br />
Die Radarüberwachungsflugzeuge der Nato hielten ihre üblichen<br />
Positionen überm Rhein. Die E-3A Sentry, besser bekannt als<br />
AWACS, und kleinere TR-1 flogen weit hinter der Front Kreise<br />
oder Linien. Die beiden Typen hatten ähnliche, aber doch unterschiedliche<br />
Funktionen. AWACS konzentrierte sich vorwiegend<br />
auf den Flugverkehr. Die TR-1, eine verbesserte Version der guten<br />
alten U-2, suchte nach Fahrzeugen am Boden. Anfangs hatte die<br />
TR-1 als Fehlschlag gegolten. Da sie zu viele Ziele erfaßte, darunter<br />
viele von den Sowjets aufgestellte Radarreflektoren, wurde die<br />
Nato-Führung von einem Wirrwarr von Informationen über<br />
391
schwemmt- bis zum Eintreffen des VCR. Der holländische Hauptmann<br />
brachte sein Gerät mit in den Dienst und demonstrierte, wie<br />
man mit Hilfe der Suchlauftasten nicht zur zeigen konnte, wohin<br />
sich Objekte bewegen, sondern auch, woher sie gekommen waren.<br />
Computer erleichterten die Aufgabe, indem sie Reflexionen von<br />
Objekten, die sich innerhalb von zwei Stunden nur einmal bewegten,<br />
el<strong>im</strong>inierten - und schon war ein neues Hilfsmittel zur Einschätzung<br />
der Feindlage fertig.<br />
Von jedem Band wurden mehrere Kopien gezogen, und über<br />
hundert Luftlotsen und Nachrichtendienstexperten werteten die<br />
Daten rund um die Uhr aus, teils unter taktischen Gesichtspunkten,<br />
teils unter strategischen. Eine große Anzahl von Lkw, die nachts zu<br />
Fronteinheiten und wieder zurück fuhren, hatten ihren Ausgangspunkt<br />
wohl an Munitions- und Treibstofflagern. Eine Anzahl von<br />
Fahrzeugen, die sich von einer Divisionskolonne lösten und parallel<br />
zur Front Aufstellung nahmen, bedeutete Artillerie, die sich auf<br />
einen Angriff vorbereitete. Entscheidend war nur, diese Daten den<br />
Befehlshabern an der Front so rasch zukommen zu lassen, dass<br />
rechtzeitig Gebrauch von ihnen gemacht werden konnte.<br />
In Lammersdorf hatte ein belgischer Leutnant gerade die Auswertung<br />
eines sechs Stunden alten Bandes abgeschlossen, und sein<br />
Bericht ging nun über Erdkabel an die Front. Auf der E 7 waren<br />
mindestens drei Divisionen nach Norden und Süden bewegt worden;<br />
ein massierter sowjetischer Angriff auf Bad Salzdetfurth<br />
musste also früher als erwartet erfolgen. Sofort wurden belgische,<br />
deutsche und amerikanische Reserveeinheiten nach vorne geworfen<br />
und alliierte Fliegerverbände alarmiert. Die Kämpfe auf diesem<br />
Abschnitt waren schon erbittert genug gewesen. Deutsche Kräfte,<br />
die das Gebiet südlich von Hannover deckten, hatten nur fünfzig<br />
Prozent ihrer Sollstärke, und noch vor der Schlacht begann ein<br />
Wettlauf, denn jede Seite versuchte, vor der anderen Verstärkungen<br />
zum Angriffspunkt zu bringen.<br />
Holle, BRD<br />
»Noch dreißig Minuten«, sagte Alexejew zu Sergetow. Auf einer<br />
knapp zwanzig Kilometer breiten Front standen vier Mot-Schützendivisionen<br />
bereit. Hinter ihnen wartete eine Panzerdivision, um<br />
392
den ersten Bruch der deutschen Linien auszunützen. Angriffsziel<br />
war Alfeld an der Leine. Die Stadt beherrschte zwei Straßen, auf<br />
denen die Nato Nachschub nach Norden und Süden transportierte,<br />
und ihre Eroberung würde eine Bresche in die Nato-Linien reißen,<br />
durch die die sowjetischen Operativen Mobilen Gruppen stoßen<br />
konnten, um die feindliche Front von hinten aufzurollen.<br />
'»Genosse General, wie schätzen Sie die Lage ein?« fragte der<br />
Hauptmann leise.<br />
»Fragen Sie mich in ein paar Stunden noch einmal«, erwiderte<br />
der General. Das Flußtal hinter ihm war ein weiterer Friedhof für<br />
Männer und Waffen. Sie standen nur dreißig Kilometer hinter der<br />
Grenze - dabei hatte man erwartet, dass die Panzer der Roten<br />
Armee Holle binnen zwei Tagen erreichen würden. Alexejew zog<br />
die Stirn kraus und fragte sich, welches Genie vom Stab sich diesen<br />
Zeitplan hatte einfallen lassen. Wieder einmal war der menschliche<br />
Faktor übersehen worden. Moral und Kampfgeist der Deutschen<br />
waren unglaublich; er entsann sich der Kriegsgeschichten seines<br />
Vaters, die er nie so recht hatte glauben wollen. Inzwischen sah er<br />
das anders. Die Deutschen kämpften um jeden Klumpen Erde wie<br />
Wölfe, die ihre Jungen verteidigten, wichen nur zurück, wenn es<br />
sich nicht vermeiden ließ, nutzten jede Gelegenheit zum Gegenangriff,<br />
bluteten die angreifenden russischen Einheiten aus.<br />
Die sowjetische Doktrin hatte schwere Verluste prophezeit. Zum<br />
Bewegungskrieg kam man nur durch kostspielige Frontalangriffe,<br />
die ein Loch in die Linien rissen - doch das hatten die Armeen der<br />
Nato bisher verhindert. Ihre aus vorbereiteten sicheren Stellungen<br />
abgefeuerten modernen Waffen dez<strong>im</strong>ierten jede Angriffswelle.<br />
Luftangriffe auf Ziele hinter der sowjetischen Front schwächten<br />
Einheiten, ehe sie entscheidend eingesetzt werden konnten, und<br />
machten die Artillerieunterstützung trotz aller Tarnmaßnahmen<br />
zur Farce.<br />
Die Rote Armee ist auf dem Vormarsch, sagte sich Alexejew, und<br />
auch bei der Nato sind die Reserven dünn gesät. Die Deutschen<br />
nutzten ihre Mobilität nicht so, wie Alexejew es getan hätte, verteidigten<br />
verbissen Orte, anstatt die sowjetischen Einheiten <strong>im</strong> Bewegungskrieg<br />
zu bekämpfen. Andererseits hatten sie auch nur wenig<br />
Terrain, das sie gegen Zeit tauschen konnten. Der General schaute<br />
auf die Uhr.<br />
Unter ihm stieg eine Feuerwand aus dem Wald auf, als das<br />
393
Vorbereitungsfeuer der russischen Artillerie begann. Dann heulten<br />
die Raketenwerfer, und Feuerspuren erhellten den Morgenh<strong>im</strong>mel.<br />
Alexejew richtete das Fernglas auf die feindlichen Positionen und<br />
sah die weißlich-orangen Einschläge. Über ihm ein Donnern: Die<br />
erste Wolke der Erdkampfflugzeuge jagte auf die Front zu.<br />
»Danke, Genosse General«, hauchte Alexejew. Er zählte mindestens<br />
dreißig Jagdbomber Suchoi und MiG <strong>im</strong> Tiefflug und ging mit<br />
entschlossenem Lächeln zu seinem Befehlsbunker zurück.<br />
»Die Spitzen haben sich in Bewegung gesetzt«, verkündete ein<br />
Oberst. Auf einem Tisch, der aus ungehobelten Brettern auf Sägeböcken<br />
bestand, trug man mit Fettstift Positionen ein. Rote Pfeile<br />
begannen, sich auf blaue Linien zuzubewegen. Am Tisch standen<br />
Leutnants, die in Funkverbindung mit dem Hauptquartier jeweils<br />
eines Reg<strong>im</strong>ents standen. Offiziere, denen Reserveeinheiten zugeteilt<br />
worden waren, hielten sich <strong>im</strong> Hintergrund, rauchten und<br />
beobachteten den Vormarsch der Pfeile. Der Befehlshaber der 8.<br />
Gardearmee stand schweigend dabei und sah zu, wie sein Angriffsplan<br />
sich entfaltete.<br />
»Stoßen auf mäßigen Widerstand: Feuer von feindlicher Artillerie<br />
und Panzern«, sagte ein Leutnant.<br />
Explosionen erschütterten den Befehlsbunker. Zwei Kilometer<br />
weiter war gerade ein Schwärm deutscher Phan<strong>tom</strong>s in ein motorisiertes<br />
Artilleriebataillon gefetzt.<br />
»Feindliche Kampfflugzeuge über uns«, meldete der Luftabwehroffizier<br />
etwas verspätet. Einige hoben ängstlich die Blicke zu<br />
der aus Baumstämmen bestehenden Decke des Befehlsbunkers.<br />
Alexejew gehörte nicht zu ihnen. Eine Smart-Bombe konnte sie alle<br />
auf der Stelle töten. Obwohl er seine Funktion als stellvertretender<br />
Befehlshaber des Operationsgebietes genoß, hätte er lieber seine<br />
eigene Division kommandiert. Hier war er nicht mehr als ein Beobachter.<br />
»Die Artillerie meldet schweres Gegenfeuer und Luftangriffe.<br />
Unsere Raketen greifen feindliche Flugzeuge <strong>im</strong> rückwärtigen Gebiet<br />
der 57. Mot-Schützendivision an«, fuhr der Luftabwehroffizier<br />
fort. »In der Luft starke Aktivität über der Front.«<br />
»Unsere Kampfflugzeuge greifen die Nato-Maschinen an«, meldete<br />
der Offizier der Heeresflieger und schaute zornig auf. »Unsere<br />
Flieger werden von unseren eigenen SAM-Batterien abgeschossen!«<br />
394
»Richten Sie Ihren Einheiten aus, sie sollen ihre Ziele ordentlich<br />
identifizieren!« schrie Alexejew den Luftabwehroffizier an.<br />
»Wir haben fünfzig Maschinen über der Front und werden mit<br />
den Nato-Flugzeugen allein fertig«, beharrte der Heeresflieger.<br />
»Alle SAM-Batterien haben Feuerverbot auf Ziele über tausend<br />
Meter«, befahl Alexejew, der diese Frage am Vorabend mit seinem<br />
Kommandeur der Heeresflieger eingehend besprochen hatte. Die<br />
MiG-Piloten sollten nach ihren Attacken in größere Höhe zurückkehren<br />
und den Flugabwehrraketen und -kanonen freies Schußfeld<br />
auf nur jene Maschinen der Nato lassen, die eine unmittelbare<br />
Bedrohung für Bodentruppen darstellten. Warum also wurden<br />
seine Flugzeuge getroffen?<br />
Dreißigtausend Fuß überm Rhein kämpften zwei E-3A Sentry ums<br />
Überleben. Ein entschlossener sowjetischer Angriff hatte begonnen:<br />
Zwei Reg<strong>im</strong>enter Abfangjäger MiG-23 raste auf sie zu. Die<br />
Controller an Bord riefen um Hilfe, was sie von elektronischen<br />
Maßnahmen gegen den Angriff ablenkte und Kampfflugzeuge von<br />
anderen Missionen abzog. Um ihre eigene Sicherheit unbekümmert,<br />
kamen die Russen mit weit über 1600 Stundenkilometern<br />
nach Westen gejagt, unterstützt von starken Störmaßnahmen.<br />
Amerikanische F-15 Eagle und französische Mirage hielten auf die<br />
Bedrohung zu und füllten den H<strong>im</strong>mel mit Raketen, aber es war<br />
nicht genug. Als die MiG bis auf sechzig Meilen an die AWACS<br />
herangekommen waren, schalteten diese ihre Radaranlagen aus<br />
und ergriffen <strong>im</strong> Sturzflug die Flucht. Die Nato-Kampfflugzeuge<br />
über Bad Salzdetfurth waren auf sich allein gestellt. Zum ersten<br />
Mal hatten die Sowjets die Luftüberlegenheit errungen.<br />
»Das 143. Garde-Schützenreg<strong>im</strong>ent meldet den Durchbruch«,<br />
sagte ein Leutnant und verlängerte den Pfeil, für den er verantwortlich<br />
war. »Feindkräfte ziehen sich in Auflösung zurück.«<br />
»145. Garde-Schützenreg<strong>im</strong>ent meldet den Zusammenbruch der<br />
vordersten deutschen Verteidigungslinie«, erklärte der Offizier neben<br />
ihm. »Die Einheit dringt entlang der Bahnlinie nach Süden vor.<br />
Feindliche Einheiten haben die Flucht ergriffen, versuchen nicht,<br />
sich umzugruppieren oder Raum zu behaupten.«<br />
Der General der 8. Gardearmee warf Alexejew einen triumphierenden<br />
Blick zu. »Setzt die Panzerdivision in Marsch!«<br />
395
Zwei geschwächte deutsche Brigaden hatten zu viel gelitten, zu<br />
viele Angriffe aufhalten müssen. Ihren Männern, erschöpft und<br />
knapp an Munition, blieb nichts anderes als die Flucht und die<br />
Hoffnung, <strong>im</strong> Wald hinter der B 143 eine neue Linie bilden zu<br />
können. Vier Kilometer weiter setzte sich bei Hackenstedt die 20.<br />
Garde-Panzerdivision in Bewegung. Ihre dreihundert Kampfpanzer<br />
T-8o, unterstützt von Hunderten von Schützenpanzern und Mannschaftstransportern,<br />
rückte links und rechts der Straße in Angriffskolonnen<br />
vor. Diese Einheit war die Operative Mobile Gruppe der<br />
8. Gardearmee. Seit Kriegsbeginn hatte die Sowjetunion versucht,<br />
der Nato mit einem dieser starken Verbände in den Rücken zu<br />
fallen.<br />
»Gut gemacht, Genosse General, meinte Alexejew. Die Karte<br />
zeigte nun einen allgemeinen Durchbruch. Drei der vier angreifenden<br />
Mot-Schützendivisionen hatten die deutschen Linien durchstoßen.<br />
Den MiG gelang der Abschuß eines AWACS und dreier Eagle,<br />
doch bei der heftigen, fünfzehnminütigen Luftschlacht verloren sie<br />
neunzehn Kampfflugzeuge. Das überlebende AWACS war nun<br />
wieder auf Diensthöhe, wenngleich hundertdreißig Kilometer hinter<br />
dem Rhein, und die Operatoren an Bord bemühten sich, die<br />
Luftschlacht über Deutschland wieder unter Kontrolle zu bringen.<br />
Die MiG, die für einen mörderischen Preis ihren Auftrag erfüllt<br />
hatten, flogen durch einen Hagel von Boden-Luft-Raketen zurück<br />
nach Osten.<br />
Doch dies war erst der Anfang. Nun, da der erste Angriff Erfolg<br />
gehabt hatte, begann der schwierigste Teil der Schlacht. Die kommandierenden<br />
Generale und Obersten mussten ihre Einheiten hinter<br />
einer südwärts rollenden Feuerwalze der Artillerie rasch und in<br />
intakten Formationen nach vorne bringen. Höchste Priorität hatte<br />
die Panzerdivision, die die nächsten deutschen Linien nur Minuten<br />
nach den Mot-Schützendivisionen angreifen musste, wenn Alfeld<br />
vor Einbruch der Nacht erreicht werden sollte. Die Militärpolizei<br />
richtete vorgeplante Verkehrsregelungspunkte ein und dirigierte<br />
Einheiten über Straßen, an denen die Wegweiser von den Deutschen<br />
entfernt worden waren. Das Ganze ging nicht so einfach, wie<br />
man erwartet hatte. Einheiten waren nicht intakt. Einige Führer<br />
waren gefallen, Fahrzeuge liegengeblieben, und Straßenschäden<br />
erschwerten das Vorankommen.<br />
396
Unterdessen waren die Deutschen bemüht, sich zu reorganisieren.<br />
Einheiten der Nachhut warteten hinter jeder Straßenbiegung,<br />
um ihre Panzerabwehrraketen auf die entschlossen angreifende<br />
sowjetische Vorhut abzuschießen. Auch die alliierten Flugzeuge<br />
reorganisierten sich; Erdkampfflugzeuge begannen, die sowjetischen<br />
Einheiten <strong>im</strong> offenen Gelände zu attackieren.<br />
Hinter der aufgerissenen Front rollte eine deutsche Panzerbrigade<br />
nach Alfeld hinein, dicht gefolgt von einem motorisierten<br />
belgischen Reg<strong>im</strong>ent. Die Deutschen fuhren auf der Hauptstraße<br />
nach Nordosten, angestarrt von Bürgern, denen man gerade befohlen<br />
hatte, ihre Häuser zu verlassen.<br />
Faslane, Schottland<br />
»Kein Glück, was?« fragte Todd S<strong>im</strong>ms, Kommandant der USS<br />
Boston.<br />
»Nein«, bestätigte McCafferty. Selbst auf der Rückfahrt nach<br />
Faslane hatten sie Pech gehabt. HMS Osiris, ein britisches Diesel-<br />
U-Boot, das die minenfreie Fahrrinne bewachte, war in Angriffsposition<br />
gegangen, ohne von der Besatzung der USS Chicago bemerkt<br />
worden zu sein. »Wir hatten eine großartige Chance gegen<br />
diesen großen amphibischen Verband. Alles lief perfekt. Die Russen<br />
hatten Sonobojen ausgelegt, aber an denen stahlen wir uns<br />
vorbei. Gerade, als wir unsere Flugkörper starten wollten - ich<br />
hatte vor, später mit Torpedos nachzustoßen -«<br />
»Hört sich gut an«, meinte S<strong>im</strong>ms.<br />
»Da schießt ein anderer Torpedos ab und versaut uns alles. Wir<br />
brachten zwar drei Harpoons in die Luft, wurden aber von einem<br />
Hubschrauber dabei beobachtet, und - zack! - hatten wir die ganze<br />
Bande auf dem Hals.« McCafferty öffnete die Tür zur Offiziersmesse.<br />
»Ich brauch was zu trinken.«<br />
»Gute Idee!« S<strong>im</strong>ms lachte. »Nach ein paar Bierchen sieht alles<br />
besser aus. Kopf hoch.« S<strong>im</strong>ms ging an die Theke. »Zwei Ale.«<br />
»Kommt sofort, Commander.« Ein Steward in Weiß zapfte.<br />
S<strong>im</strong>ms zahlte und führte seinen Freund zu einer Nische in der Ecke.<br />
Am anderen Ende der Messe feierte eine kleinere Gruppe.<br />
»Danny, nehmen Sie's nicht so tragisch. Es ist doch nicht Ihre<br />
Schuld, dass der Iwan Ihnen kein Ziel geboten hat.«<br />
397
McCafferty trank einen herzhaften Schluck. Unterdessen nahm<br />
Chicago Proviant auf und sollte noch zwei Tage <strong>im</strong> Hafen bleiben.<br />
Boston und ein zweites Boot der 688-Klasse lagen am selben Kai.<br />
Zwei weitere Boote wurden später erwartet. Diese sollten für<br />
einen Sondereinsatz, dessen Natur noch unbekannt war, umgerüstet<br />
werden. Die Offiziere und Matrosen nutzten das bißchen Freizeit,<br />
frische Luft zu schnappen und sich zu entspannen. »Todd, Sie<br />
haben wie <strong>im</strong>mer recht.«<br />
»Klar. Hier, essen Sie eine Brezel. Da drüben scheint ja allerhand<br />
los zu sein. Gehen wir mal rüber?« S<strong>im</strong>ms nahm sein Glas<br />
und ging zum anderen Ende des Raums.<br />
Dort hatte sich eine Gruppe von U-Boot-Offizieren versammelt,<br />
und ihre Aufmerksamkeit galt einem norwegischen Kommandanten,<br />
der ganz offensichtlich schon seit mehreren Stunden getrunken<br />
hatte. Sobald er ein Glas geleert hatte, reichte ihm ein Commander<br />
der Royal Navy ein frisches Bier.<br />
»Ich muss einfach den Mann finden, der uns gerettet hat!« rief<br />
der Norweger laut und angetrunken.<br />
»Was gibt's hier?« fragte S<strong>im</strong>ms. Man stellte sich vor.<br />
»Das ist der Bursche, der die Kirow versenkt hat«, erklärte ein<br />
Offizier der Royal Navy, der HMS Oberon befehligte. »Er erzählt<br />
die Geschichte alle zehn Minuten. Zeit, dass er wieder mal anfängt.«<br />
»Scheiße«, grunzte McCafferty. Das war also der Mann, der<br />
ihm sein Ziel vor der Nase versenkt hatte!<br />
Der Norweger begann wieder mit seiner Geschichte. » ...die<br />
Kirow ist nun ganz nahe«, schloß er, »Sehrohr hoch! Vier Torpedos<br />
los! Nachladen und abtauchen!«<br />
»Sie haben mir die Annäherung ruiniert!« schrie McCafferty.<br />
Einen Augenblick lang wirkte der Norweger fast nüchtern.<br />
»Wer sind Sie? Waren Sie denn dort?«<br />
»Ja, ich war dort. Dan McCafferty, USS Chicago.«<br />
»Und haben Sie Raketen abgefeuert?«<br />
»Ja.«<br />
»Sie sind ein Held!« Der norwegische U-Boot-Fahrer rannte auf<br />
McCafferty zu und umarmte ihn stürmisch. »Sie haben mein Boot,<br />
meine Männer gerettet!«<br />
»Worum geht es hier eigentlich?« fragte S<strong>im</strong>ms.<br />
»Darf ich die Herren miteinander bekannt machen?« sagte ein<br />
398
Offizier der Royal Navy. » Kapitän Björn Johannsen, Kommandant<br />
des Bootes Kobben. Captain Daniel McCafferty, USS Chicago.«<br />
»Nachdem wir die Kirow versenkt hatten, gingen die Russen mit<br />
einem Kreuzer und zwei Zerstörern wie die Wölfe auf uns los«, fuhr<br />
Johannsen nüchterner fort. »Und dann schossen Sie mit Raketen?«<br />
Seine Augen funkelten.<br />
»Ja, drei Harpoons. Ein Hubschrauber sah die Abschüsse und<br />
griff uns an. Wir mussten tauchen und konnten nicht feststellen, ob<br />
wir etwas getroffen hatten.«<br />
»Und ob! Wir waren getaucht, schon vier Torpedos ausgewichen,<br />
Batterien leer, das Boot beschädigt - das war das Ende. Sie<br />
hatten uns mit Sonar erfaßt, der Zerstörer warf Wasserbomben.<br />
Aber dann - Bumm! Bumm! Bumm! Der Zerstörer explodierte, der<br />
andere war getroffen. Und wir entkamen.« Johannsen nahm<br />
McCafferty noch einmal so heftig in die Arme, dass beide Männer<br />
ihr Bier verschütteten.<br />
»Nur wegen Ihnen, Chicago, ist meine Besatzung noch am Leben.<br />
Ich schmeiße eine Runde für Ihre Männer!«<br />
»Wir haben also wirklich einen Zerstörer versenkt...«, meinte<br />
McCafferty nachdenklich. Nicht so gut wie ein a<strong>tom</strong>getriebener<br />
Schlachtkreuzer, aber besser als nichts.<br />
»Nicht übel, Dan«, bemerkte S<strong>im</strong>ms.<br />
»Tja, manche Leute haben eben <strong>im</strong>mer Schwein«, ließ sich der<br />
Kommandant von HMS Oberon vernehmen.<br />
»Also ehrlich, Todd«, sagte der Kommandant von USS Chicago,<br />
»das Bier ist vorzüglich.«<br />
USS Pharris<br />
Es waren nur zwei Leichen zu bestatten. Vierzehn Männer waren<br />
vermißt und wahrscheinlich tot, aber Morris fand dennoch, dass sie<br />
mit einem blauen Auge davongekommen waren. Zwanzig Matrosen<br />
hatten mehr oder weniger schwere Verletzungen davongetragen.<br />
Morris las leidenschaftslos aus dem Gebetsbuch vor, und dann<br />
stellten Matrosen die Messetische schräg. Die in Plastiksäcke eingehüllten<br />
und mit Stahl beschwerten Leichen glitten unter den Flaggen<br />
hervor und fielen ins Wasser. Hier war der Atlantik zehntau<br />
399
send Fuß tief; eine lange tiefe Reise für seinen Ersten Offizier und<br />
einen Geschützmaat aus Detroit. Dann wurde Salut geschossen,<br />
aber kein Zapfenstreich geblasen: Niemand an Bord verstand sich<br />
auf die Trompete, und das Tonbandgerät war defekt. Morris<br />
klappte das Buch zu. Die Flaggen wurden gefaltet und zurück in<br />
ihren Schrank gelegt. Man trug die Tische zurück in die Messe und<br />
verschraubte die Stützen wieder mit dem Deck. Und seine Pharris,<br />
das wusste Morris, war nur noch ein Wrack.<br />
Der Schlepper Papago zog die Fregatte Heck voran und mit nur<br />
vier Knoten. Noch drei Tage bis zum Land. Sie liefen auf den<br />
nächsten Hafen zu, Boston, der aber keinen Marinestützpunkt<br />
hatte. Der Grund war klar: Die Reparatur würde mehr als ein Jahr<br />
dauern, und die Navy wollte ihre Werft freihalten. Schiffe, die bald<br />
wieder einsatzbereit gemacht werden konnten, hatten Vorrang.<br />
Und das Kommando auf dem Schiff hatte er nur noch der Form<br />
halber. Der Schlepper hatte eine Reservemannschaft, die sich aus<br />
Bergungsexperten zusammensetzte. Drei dieser Männer waren nun<br />
an Bord, um die Trosse <strong>im</strong> Auge zu behalten und Morris zu »beraten«.<br />
Im Grunde genommen waren ihre Ratschläge Befehle - aber<br />
sie wurden wenigstens höflich gegeben.<br />
Seine Mannschaft hatte mehr als genug zu tun. Die Schotten <strong>im</strong><br />
Vorschiff mussten dauernd überwacht werden. Im Maschinenraum<br />
war man mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Ein Kessel hatte wieder<br />
Druck und trieb den Turbogenerator, der Strom lieferte. Am<br />
zweiten Kessel wurde noch gearbeitet. Das Hauptsuchradar sollte,<br />
wie er erfuhr, in vier Stunden wieder einsatzbereit sein. Gerade war<br />
die Satellitenantenne wieder in Betrieb genommen worden. Falls sie<br />
den Hafen erreichten, waren alle Systeme an Bord repariert. Angesichts<br />
des Ausmaßes der Schäden war das zwar unerheblich, aber<br />
eine beschäftigte Mannschaft ist, wie man bei der Navy sagt, eine<br />
gutgelaunte Mannschaft. Anders als ihr Kommandant hatte die Besatzung<br />
keine Zeit, nachzudenken, welche Fehler gemacht worden<br />
waren, wie viele Leben sie gekostet hatten, und wer die Schuld trug.<br />
Morris ging in die Gefechtszentrale. Seine Taktik-Crew ging die<br />
Bänder und schriftlichen Aufzeichnungen der Begegnung mit dem<br />
Victor noch einmal durch und versuchte herauszufinden, was geschehen<br />
war.<br />
»Ach, ich weiß nicht.« Der Sonar-Operator hob die Schultern.<br />
»Vielleicht waren es zwei U-Boote. Zum Beispiel: Zu diesem Zeit<br />
400
punkt ist es hier. Diese helle Spur - aber ein paar Minuten später<br />
erfaßt ihn das Aktiv-Sonar dort.«<br />
»Es war nur ein Boot", sagte Morris. »Bei fünfundzwanzig Knoten<br />
läßt sich die Strecke zwischen den beiden Punkten in vier<br />
\Iinuten zurücklegen.»<br />
»Wir hörten das Boot aber nicht, und es erschien auch nicht auf<br />
dem Schirm. Außerdem fuhr es in die entgegengesetzte Richtung,<br />
als wir den Kontakt verloren.« Der Sonarmann spulte das Band<br />
zurück, um es noch einmal ablaufen zu lassen.<br />
»So, so.« Morris ging zurück auf die Brücke und dachte das<br />
Ganze noch einmal durch. Inzwischen wusste er den Ablauf auswendig.<br />
Er trat hinaus in die Nock. Das Schanzkleid war noch<br />
durchlöchert, und ein blasser Blutfleck zeigte, wo der Erste Offizier<br />
gestorben war. Chief Clarke, der viele Trupps <strong>im</strong> Einsatz hatte,<br />
würde ihn noch heute überstreichen lassen. Morris steckte sich eine<br />
Zigarette an und starrte zum Horizont.<br />
Reydarvatb, Island<br />
Der Hubschrauber war eine letzte Warnung gewesen. Edwards und<br />
seine Leute marschierten durch ein Gebiet mit kleinen Seen nach<br />
Nordosten, überquerten eine unbefestigte Straße, nachdem sie eine<br />
Stunde gewartet hatten, um sicherzustellen, dass dort kein Verkehr<br />
herrschte, und drangen dann in ein Sumpfgebiet ein. Edwards fand<br />
das Gelände verwirrend. Angesichts des Durcheinanders von nacktem<br />
Fels, Wiesen, Lavafeldern und einem Moor fragte er sich, ob<br />
Gott alles, was nach der Schöpfung übriggeblieben war, auf Island<br />
abgeladen hatte. Bäume schien er jedenfalls genug geschaffen zu<br />
haben, denn diese fehlten hier völlig. Ihre beste Deckung war<br />
kniehohes Gras, das <strong>im</strong> Wasser wuchs und sehr zäh sein musste,<br />
denn das Moor war bis vor kurzem vereist gewesen. Das Wasser<br />
war noch so kalt, dass ihnen die Beine schmerzten - aber sie ertrugen<br />
das. Die Alternativroute hätte sie über offenes, leicht ansteigendes<br />
Gelände geführt, angesichts der feindlichen Hubschrauber zu<br />
riskant.<br />
Vigdis überraschte alle mit ihrer Zähigkeit, denn sie hielt klaglos<br />
mit. Eben ein Mädchen vom Land, dachte Edwards. »Okay, Leute,<br />
kurze Rast!« rief er. Sofort suchte sich jeder eine trockene Stelle, an<br />
401
der er umfallen konnte. Garcia behielt durch das erbeutete russische<br />
Fernglas die Umgebung <strong>im</strong> Auge. Edwards drehte sich um und<br />
stellte fest, dass Vigdis sich neben ihm niederließ. »Wie geht's?«<br />
fragte er.<br />
»Sehr müde«, meinte sie und lächelte schwach, »aber nicht ganz<br />
so müde wie Sie.«<br />
»Wirklich?« Edwards lachte. »Dann sollten wir einen Zahn<br />
zulegen.«<br />
»Wo wollen wir hin?«<br />
»Nach Hvammsfjördur. Warum, hat man mir nicht gesagt. Wird<br />
noch vier oder fünf Tage dauern, weil wir uns nach Möglichkeit<br />
von Straßen fernhalten sollen.«<br />
»Bin ich denn keine Belastung für Sie?«<br />
»Ganz und gar nicht. Wir sind sogar froh, ein hübsches Mädchen<br />
bei uns zu haben.«<br />
Sie schaute ihn zweifelnd an. »Sie finden mich hübsch, nach dem -«<br />
»Vigdis, Sie sind eine Schönheit. Daran kann kein Mann etwas<br />
ändern. Es trifft Sie keine Schuld an dem, was passiert ist. Außerdem<br />
weiß ich, dass jemand Sie mag.«<br />
»Weil ich schwanger bin? Irrtum. Der hat sich eine andere gesucht.<br />
Macht nichts, alle meine Freundinnen haben Kinder.«<br />
Was für ein Idiot, dachte Edwards und entsann sich dann, dass<br />
eine uneheliche Geburt auf Island nichts Ungewöhnliches war.<br />
Nachnamen gab es nicht. Unverheiratete junge Frauen bekamen<br />
Kinder, versorgten sie ordentlich, und das war's. Aber wer würde<br />
dieses Mädchen verlassen?<br />
»Ehrlich, Vigdis, Sie sind das hübscheste Mädchen, dem ich je<br />
begegnet bin.«<br />
»Wirklich?«<br />
Edwards strich ihr über die Wange. »Jeder Mann, der das Gegenteil<br />
behauptet, ist nicht bei Trost.« Er drehte sich um und sah<br />
Sergeant Smith herannahen.<br />
»Zeit zum Aufbruch, wenn Sie keine steifen Beine kriegen wollen,<br />
Lieutenant.«<br />
402
Bodenburg, BRD<br />
Der Weg an die Front war beschwerlich gewesen. Der vorgeschobene<br />
Gefechtsstand war so dicht wie möglich hinter die Angriffsspitzen<br />
der 8. Gardearmee verlegt worden, weil der Befehlshaber<br />
Wert darauf legte, seine Augen und Ohren an der Front zu haben.<br />
Die Fahrt mit gepanzerten Mannschaftstransportern, in deren Verlauf<br />
Alexejew zwei schwere Luftangriffe auf russische Kolonnen<br />
beobachtete, dauerte vierzig Minuten. Mit dem Hubschrauber<br />
wäre es viel zu gefährlich gewesen.<br />
Inzwischen hatten deutsche und belgische Verstärkungen ins<br />
Gefecht eingegriffen, und abgehörten Funksprüchen war zu entnehmen,<br />
dass auch amerikanische und britische Einheiten unterwegs<br />
waren. Auch Alexejew sorgte für Verstärkung. Was als relativ<br />
s<strong>im</strong>pler Vorstoß einer mechanisierten Armee begonnen hatte, entwickelte<br />
sich nun zu einer wichtigen Schlacht. Das fand er günstig.<br />
Die Nato würde keine Verstärkungen heranführen, wenn sie die<br />
Lage nicht für ernst hielt. Aufgabe der Russen war es nun, das<br />
gewünschte Resultat zu erzielen, ehe Verstärkungen kamen.<br />
Der die 2o. Garde-Panzerdivision kommandierende General befand<br />
sich <strong>im</strong> Befehlsstand, der bis zur Fertigstellung eines unterirdischen<br />
Bunkers in einer neuen Oberschule eingerichtet worden war.<br />
Schwierigkeiten bei der Verkehrsregelung und Gegenwehr der<br />
Deutschen hatten den Vormarsch verlangsamt.<br />
»Immer diese Straße entlang bis Sack«, sagte der Chef der 8. Gardearmee<br />
zum Panzergeneral. »Meine Mot-Schützen sollten den Ort<br />
bis zu Ihrem Eintreffen besetzt haben.«<br />
»Und dann noch vier Kilometer bis Alfeld. Gut, aber sorgen Sie<br />
für Unterstützung, wenn wir die Leine überqueren.« Der Panzergeneral<br />
setzte sich den Helm auf und ging zur Tür. Es klappt, dachte<br />
Alexejew. Dieser Mann hatte großartige Arbeit geleistet und seine<br />
Einheit in fast perfekter Ordnung an die Front gebracht.<br />
Als nächstes hörte er eine Explosion. Fenster zersplitterten, Dekkenputz<br />
fiel herab. Wieder einmal war das Teufelskreuz zurückgekehrt.<br />
Alexejew hastete nach draußen und erblickte ein Dutzend<br />
brennender gepanzerter Fahrzeuge. Unter seinen Augen kletterte<br />
die Besatzung aus einem fabrikneuen T-8o, der einen Augenblick<br />
später explodierte: Feuer erreichte die Munition, und eine Flammensäule<br />
stieg zum H<strong>im</strong>mel wie aus einem kleinen Vulkan.<br />
403
»Der General ist tot - der General ist tot!« schrie ein Feldwebel<br />
und wies auf einen BMD-Mannschaftstransporter, aus dem niemand<br />
lebendig entkommen war. Der Befehlshaber der 8. Gardearmee<br />
erschien fluchend an Alexejews Seite. »Der stellvertretende<br />
Kommandeur dieser Division ist ein frischgebackener Oberst.«<br />
Pawel Leonidowitsch kam zu einem raschen und praktischen<br />
Entschluß. »Wie war's mit mir. Genosse General?«<br />
Der Mann starrte ihn verdutzt an, entsann sich dann aber seines<br />
Rufes als Panzerkommandeur und fällte seinerseits eine schnelle<br />
Entscheidung. »Gut, die Division gehört Ihnen. Den Auftrag kennen<br />
Sie ja.«<br />
Ein Schützenpanzer kam angerollt, Alexejew und Sergetow stiegen<br />
ein, und der Fahrer raste los zum Divisionsgefechtsstand, den<br />
sie eine halbe Stunde später erreichten. Im Wald standen Reihen<br />
von Panzern. Ganz in der Nähe schlugen Granaten ein, aber Alexejew<br />
schenkte ihnen keine Beachtung. Als er eintrat, steckten seine<br />
Reg<strong>im</strong>entskommandeure die Köpfe zusammen. Er gab ihnen<br />
knappe Befehle hinsichtlich Angriffsziel und -zeit. Es sprach für den<br />
vor einer Stunde gefallenen General, dass hier jeder seine Aufgabe<br />
kannte. Die Division war gut organisiert. Alexejew erkannte sofort,<br />
dass er einen guten Stab hatte, schickte seine Truppenführer zu<br />
ihren Einheiten und erkundigte sich nach der Lage.<br />
»Ein deutsches Panzerbataillon ist auf dieser Straße östlich von<br />
Sack zum Gegenangriff angetreten, doch den werden wir binden<br />
können. Zudem fallen unsere Panzer dem Feind bereits von Südwesten<br />
her in den Rücken. Die ersten Mot-Schützen-Einheiten haben<br />
den Stadtrand bereits erreicht und melden nur schwachen Widerstand.<br />
Unsere Panzerspitzen sind nun in Bewegung und sollten<br />
binnen einer Stunde dort sein.«<br />
»Die Luftlage?«<br />
»SAM-Starter und Flakpanzer sind kurz hinter den ersten Angriffswellen.<br />
Zwei Reg<strong>im</strong>enter MiG-21 stehen zur Luftunterstützung<br />
bereit, aber Erdkampfflugzeuge hat man uns noch nicht zugewiesen,<br />
weil denen heute vormittag übel mitgespielt wurde - aber<br />
auch der anderen Seite. Wir haben zwölf Nato-Maschinen abgeschossen.«<br />
Alexejew nickte und teilte diese Zahl durch drei, wie er es gelernt<br />
hatte.<br />
»Genosse General, ich bin Oberst Popow, Ihr Politoffizier.«<br />
404
»Sehr gut, Genosse Oberst. Mein Mitgliedsbeitrag für die Partei<br />
ist bis zum Jahresende bezahlt, und wenn ich Glück habe, entrichte<br />
ich ihn auch fürs nächste Jahr. Wenn Sie etwas Wichtiges zu melden<br />
haben, fassen Sie sich bitte kurz!«<br />
»Wenn wir Alfeld eingenommen haben -
Alfeld, BRD<br />
Es war ein zusammengewürfeltes Team. Amerikanische motorisierte<br />
Infanterie und die Panzerspitze einer anrückenden britischen<br />
Brigade verstärkten die Überreste der deutschen und belgischen<br />
Einheiten, die an diesem Tag von fünf sowjetischen Divisionen<br />
zerschlagen worden waren. Es war nur wenig Zeit. Kampfpioniere<br />
gruben mit gepanzerten Räumschaufeln rasch Stellungen für die<br />
Panzer, Infanteristen hoben Löcher für ihre Panzerabwehrwaffen<br />
aus. Eine Staubwolke am Horizont; mehr Warnung brauchten sie<br />
nicht. Dem Vernehmen nach rollte eine Panzerdivision auf sie zu.<br />
Die Stadt hinter ihnen war noch nicht ganz evakuiert. Zwanzig<br />
Meilen hinter ihnen kreiste eine Staffel Erdkampfflugzeuge, bereit,<br />
auf Anforderung herabzustoßen.<br />
»Feind in Sicht!« funkte ein Ausguck von einem Kirchturm.<br />
Sekunden darauf begannen Artilleriegeschosse auf die sowjetische<br />
Panzerspitze herabzuregnen. Die Bedienungen der Panzerabwehrwaffen<br />
nahmen die Abdeckungen von ihren Zielfernrohren und<br />
luden. Die Challenger-Panzer des 3rd Royal Tank Reg<strong>im</strong>ent fuhren<br />
in ihre Löcher. Luken wurden geschlossen, die Richtschützen nahmen<br />
entfernte Ziele ins Fadenkreuz. Es herrschte Konfusion; für die<br />
Bildung einer Befehlsstruktur war nicht genug Zeit gewesen. Ein<br />
Amerikaner feuerte als erster. Das TOW-2-Geschoß zog seine<br />
Lenkdrähte hinter sich her wie Spinnenfäden, raste auf einen vier<br />
Kilometer entfernten T-8o zu.<br />
»Unsere Spitzen sind unter Raketenfeuer«, meldete ein Leutnant.<br />
»Beschießen Sie die Stellungen!« befahl Alexejew dem Kommandeur<br />
seiner Artillerie. Innerhalb einer Minute erfüllten die Mehrfachraketenwerfer<br />
der Division den H<strong>im</strong>mel mit Feuerspuren.<br />
Rohrartillerie trug noch zu dem Gemetzel bei. Dann griff die Artillerie<br />
der Nato ernsthaft ein.<br />
»Unsere Spitzen erleiden Verluste.«<br />
Alexejew betrachtete schweigend die Karte. Hier war weder Zeit<br />
noch Raum für Täuschungsmanöver. Seine Männer mussten so<br />
rasch wie möglich durch die feindlichen Linien stürmen, um die<br />
Leinebrücken in ihren Besitz zu bringen. Das bedeutete schwere<br />
Verluste bei seinen Panzerspitzen, die aber hingenommen werden<br />
mussten.<br />
406
Zwölf belgische F-16 kamen <strong>im</strong> Tiefflug über die Front gejagt,<br />
warfen tonnenweise Streubomben auf das erste sowjetische Reg<strong>im</strong>ent<br />
und zerstörten knapp einen Kilometer vor den alliierten Linien<br />
fast dreißig Panzer und zwanzig Infanterietransporter. Ein<br />
Schwärm Raketen stieg auf, und die einmotorigen Jäger wandten<br />
sich dicht überm Boden nach Westen, versuchten auszuweichen.<br />
Drei wurden abgeschossen und stürzten auf die Nato-Truppen ab.<br />
Der Kommandeur der britischen Panzer erkannte, dass er nicht<br />
genug Feuerkraft hatte, um den sowjetischen Angriff zu stoppen,<br />
und beschloß, sich zurückzuziehen, solange sein Bataillon noch<br />
kampffähig war. Er bereitete seine Kompanie darauf vor und versuchte<br />
auch, die benachbarten Einheiten zu verständigen, doch die<br />
Truppen vor Alfeld kamen von vier verschiedenen Armeen, sprachen<br />
verschiedene Sprachen und sendeten auf verschiedenen Frequenzen.<br />
Es war so wenig Zeit gewesen, dass noch nicht einmal<br />
feststand, wer überhaupt den Oberbefehl führte. Die Deutschen<br />
wollten bleiben, bis ihre Landsleute aus Alfeld sicher am anderen<br />
Ufer der Leine waren. Die Amerikaner und Belgier traten auf Befehl<br />
des britischen Colonel den Rückzug an, die Deutschen aber rührten<br />
sich nicht von der Stelle. Das Resultat war ein Chaos.<br />
»Vorgeschobene Beobachter melden feindliche Kräfte auf dem<br />
Rückzug. Feindliche Verbände scheinen sich nördlich der Stadt<br />
abzusetzen.«<br />
»Verlegen Sie das zweite Reg<strong>im</strong>ent nach Norden, lassen Sie es<br />
einen Bogen schlagen und so schnell wie möglich auf die Brücken<br />
zuhalten, ohne Rücksicht auf Verluste! Weiterhin Druck auf alle<br />
feindlichen Einheiten. Ich will sie nach Möglichkeit diesseits des<br />
Flusses einschließen und aufreiben«, befahl Alexejew. »Sergetow,<br />
kommen Sie mit zur Front.«<br />
Der Angriff hatte seinem ersten Reg<strong>im</strong>ent das Herz herausgerissen,<br />
doch der Erfolg war den Preis wert. Die Einheiten der Nato<br />
mussten durch die zerschlagene Stadt, um die Brücke zu erreichen,<br />
und dass sie <strong>im</strong> Norden mit der Ablösung begonnen hatten, war ein<br />
Geschenk des H<strong>im</strong>mels. Nun war Alexejew in der Lage, sie mit<br />
einem frischen Reg<strong>im</strong>ent zu überrennen und, wenn er viel Glück<br />
hatte, die Brücken intakt zu erobern. Diese Operation wollte er<br />
persönlich überwachen. Zusammen mit Sergetow bestieg er ein<br />
Kettenfahrzeug, das nach Süden fuhr, um das schon <strong>im</strong> Vormarsch<br />
407
efindliche Reg<strong>im</strong>ent abzufangen. Hinter ihnen begannen die Stabsoffiziere,<br />
über den Funkkreis der Division neue Befehle zu geben.<br />
Fünf Kilometer entfernt und jenseits des Flusses hatte eine deutsche<br />
Batterie von 155-mm-Geschützen nur auf diese Gelegenheit<br />
gewartet. Funker hörten die Mitteilung ab und ermittelten den<br />
genauen Standort des Divisonshauptquartiers. Geschützbedienungen<br />
gaben die Zieldaten in die Feuerleitrechner ein und luden. Jedes<br />
Geschütz der Batterie richtete sich auf denselben Az<strong>im</strong>ut. Als sie in<br />
rascher Folge zu feuern begannen, bebte der Boden.<br />
In weniger als zwei Minuten gingen über hundert Granaten auf<br />
das Hauptquartier und seine Umgebung nieder. Die Hälfte des<br />
Stabes kam auf der Stelle ums Leben, der Rest wurde verwundet.<br />
Alexejew starrte seinen Kopfhörer an. Zum dritten Mal war er<br />
dem Tod nur knapp entkommen. Meine Schuld, dachte er, ich hätte<br />
mich um den Standort des Senders kümmern sollen. Diesen Fehler<br />
durfte er nicht noch einmal machen.<br />
Zivilfahrzeuge verstopften Alfelds Straßen. Die amerikanischen<br />
Bradley-Schützenpanzer mieden die Stadt ganz, eilten am rechten<br />
Ufer der Leine entlang und überquerten sie geordnet. Drüben nahmen<br />
sie auf Hügeln Aufstellung und gaben den anderen alliierten<br />
Truppen be<strong>im</strong> Übergang Deckung. Nun waren die Belgier an der<br />
Reihe. Das verbliebene Drittel ihrer Panzer deckte die Südflanke am<br />
anderen Ufer des Flusses und versuchte, die Russen aufzuhalten, ehe<br />
es sich über die Brücken zurückzog. Deutsche Polizei hatte den<br />
Zivilverkehr zurückgehalten und die gepanzerten Fahrzeuge vorbeigelassen,<br />
doch als die ersten russischen Granaten in Ufernähe in der<br />
Luft zu zerplatzen begannen, entstand Chaos. Zivilisten, die dem<br />
Befehl zur Räumung ihrer Häuser nur mit Verspätung Folge geleistet<br />
hatten, mussten nun für ihr Versäumnis büßen. Die Artilleriegeschosse<br />
konnten den Kampffahrzeugen kaum etwas anhaben, zerstörten<br />
zivile Pkw und Laster aber gründlich. Binnen Minuten<br />
verstopften liegengebliebene und brennende Fahrzeuge die Straßen<br />
von Alfeld. Die überlebenden Insassen sprangen heraus und flohen<br />
durchs Feuer zu den Brücken, versperrten Panzern, die zum Fluß<br />
durchzukommen versuchten, den Weg. Deren Fahrer weigerten sich<br />
selbst unter Befehlsdruck, unschuldige Zivilisten plattzuwalzen.<br />
Richtschützen drehten die Türme nach hinten und beschossen russische<br />
Panzer, die nun in die Stadt eindrangen. Der Rauch brennender<br />
408
Gebäude nahm allen die Sicht. Kanonen feuerten auf nur flüchtig zu<br />
erkennende Ziele, Granaten trafen wahllos, und aus den Straßen<br />
von Alfeld wurde ein Schlachthaus für Soldaten und Nichtkombattanten.<br />
»Da sind sie!« rief Sergetow. Drei Straßenbrücken überspannten<br />
die Leine. Alexejew begann Befehle zu geben, aber das war überflüssig,<br />
denn der Reg<strong>im</strong>entskommandeur wies bereits über Funk<br />
ein Panzerbataillon mit Infanterieunterstützung an, am Westufer<br />
vorzugehen, auf der noch relativ freien Route, die die Amerikaner<br />
genommen hatten.<br />
Die leichten amerikanischen Panzer am anderen Ufer eröffneten<br />
mit Raketen und Schnellfeuerkanonen das Feuer und schössen ein<br />
halbes Dutzend russische Panzer ab. Der Rest des Reg<strong>im</strong>ents nahm<br />
sie unter Beschuß, und Alexejew forderte persönlich Artillerieunterstützung<br />
an.<br />
In Alfeld war der russische Angriff blutig steckengeblieben.<br />
Deutsche und britische Panzer waren auf Straßenkreuzungen in<br />
Stellung gegangen, halb verdeckt von zerschossenen Autos und<br />
Lastwagen, und zogen sich nur langsam zum Fluß zurück, um den<br />
Zivilisten die Flucht zu ermöglichen. Russische Infanteristen versuchten,<br />
sie mit Panzerabwehrraketen anzugreifen, aber deren<br />
Lenkdrähte wurden zu oft von den Trümmern auf der Straße<br />
zerrissen. Die Folge war, dass sich die Flugkörper nicht mehr steuern<br />
ließen und explodierten, ohne Schaden anzurichten. Russische<br />
und alliierte Artilleriegeschosse verwandelten die Stadt in ein<br />
Trümmerfeld.<br />
Alexejew sah seine Truppen auf die erste Brücke zuhalten. Südlich<br />
von ihm verfluchte der Kommandeur der Panzerspitze seine<br />
Verluste. Über die Hälfte seiner Panzer und Schützenpanzer waren<br />
zerstört. Der Sieg lag greifbar nahe, aber ausgerechnet jetzt waren<br />
seine Truppen wieder von mörderischem Feuer und unpassierbaren<br />
Straßen aufgehalten worden. Er sah, dass die Nato-Panzer sich<br />
zurückzogen, und forderte Artilleriefeuer an, um sie nicht entkommen<br />
zu lassen.<br />
Alexejew war überrascht, als das Artilleriefeuer von der Stadtmitte<br />
hin zum Flußufer verlagert wurde. Aus Überraschung wurde Entsetzen,<br />
als er erkannte, dass nicht Granaten, sondern Raketen ge<br />
409
schössen wurden. Entlang des Flußufers kam es aufs Geratewohl zu<br />
Detonationen; dann explodierten die Geschosse <strong>im</strong> Wasser. Immer<br />
mehr Raketenwerfer wurden auf das Ziel gerichtet, und nun konnte<br />
Alexejew nichts mehr tun. Die Brücke stromabwärts wurde von<br />
drei Raketen gleichzeitig getroffen und brach zusammen. Alexejew<br />
musste entsetzt mit ansehen, wie die Trümmer über hundert Zivilisten<br />
in das aufgewühlte Wasser rissen. Er hatte die Brücke gebraucht!<br />
Zwei Geschosse landeten auf der mittleren Brücke, brachten<br />
sie zwar nicht zum Einsturz, beschädigten sie aber schwer und<br />
machte sie für Panzer unpassierbar. Alexejew fuhr wütend zu Sergetow<br />
herum.<br />
»Setzen Sie sich mit den Pionieren in Verbindung und lassen Sie<br />
Pontonbrücken und Sturmboote an die Front schaffen. Dann brauche<br />
ich jede verfügbare SAM- und Flakbatterie. Wer sie aufhält,<br />
wird erschossen. Sorgen Sie dafür, dass die Verkehrsoffiziere Bescheid<br />
wissen. Los!«<br />
Sowjetische Panzer und Infanterie hatten die letzte verbliebene<br />
Brücke erreicht. Drei Schützenpanzer jagten zum anderen Ufer, wo<br />
sie bei dem Versuch, in Deckung zu gehen, von Belgiern und Amerikanern<br />
unter Feuer genommen wurden. Ein Kampfpanzer rasselte<br />
hinterher, schaffte es bis nach drüben und wurde dann von einer<br />
Rakete zur Explosion gebracht. Ein zweiter folgte, dann ein dritter.<br />
Beide erreichten das Westufer. Dann tauchte ein britischer Chieftain<br />
hinter einem Gebäude auf und fuhr den sowjetischen Panzern<br />
hinterher. Alexejew sah verblüfft mit an, wie er unerkannt zwischen<br />
zwei russischen Kampffahrzeugen dahinrollte. Knapp hinter<br />
ihm fuhr eine amerikanische Rakete in den Boden. Zwei weitere<br />
Chieftain tauchten auf dem Brückenkopf auf. Einer wurde aus<br />
nächster Nähe von einem T-8o abgeschossen, der zweite feuerte<br />
zurück und zerstörte den russischen Tank.<br />
Der General setzte seinen Kopfhörer auf und rief das Hauptquartier<br />
der 8. Gardearmee. »Hier Alexejew. Eine Kompanie hat die<br />
Leine überquert. Ich brauche Unterstützung. Wir sind durchgebrochen.<br />
Wiederhole: Die deutsche Front ist durchbrochen! Ich brauche<br />
Luftunterstützung und Hubschrauber für den Angriff auf<br />
Nato-Einheiten nördlich und südlich der Brücke 439, außerdem<br />
zwei Reg<strong>im</strong>enter Infanterie zur Sicherung der Übergangsstelle.<br />
Wenn ich Unterstützung bekomme, schaffe ich meine Division bis<br />
Mitternacht über den Fluß.«<br />
410
»Alles, was ich habe, steht Ihnen zur Verfügung. Meine Pioniere<br />
sind schon unterwegs.«<br />
Alexejew lehnte sich an seinen BMP, nahm die Feldflasche vom<br />
Koppel und trank einen tiefen Schluck. Vor ihm erstürmte seine<br />
Infanterie unter Feuer die Anhöhen. Inzwischen waren zwei komplette<br />
Kompanien überm Fluß. Die alliierte Infanterie konzentrierte<br />
sich auf die Zerstörung der letzten Brücke, über die er noch mindestens<br />
ein volles Bataillon schaffen musste, wenn er diesen Brückenkopf<br />
länger als nur ein paar Stunden halten wollte.<br />
»Sturmboote und Brücken sind unterwegs, Genosse General«,<br />
meldete Sergetow. »Zwei SAM-Batterien sind zu uns aufgebrochen,<br />
und drei Kilometer entfernt habe ich drei Flakpanzer gefunden,<br />
die in fünfzehn Minuten hier sein können.«<br />
»Gut.« Alexejew richtete sein Fernglas aufs gegenüberliegende<br />
Ufer.<br />
»Genosse General, unsere Mannschaftstransporter sind amphibisch.<br />
Warum lassen wir sie nicht hinüberschw<strong>im</strong>men?«<br />
»Sehen Sie sich mal das Flußufer an, Wanja.« Der General reichte<br />
Sergetow seinen Feldstecher. So weit der Blick reichte, war das<br />
andere Ufer mit einer steilen Böschung befestigt, die kein Fahrzeug<br />
erkl<strong>im</strong>men konnte. »So etwas würde ich ohnehin nur in Reg<strong>im</strong>entsstärke<br />
wagen. Vorerst bleibt uns nur die Brücke, und die kann nicht<br />
lange halten. Selbst mit Glück wird es noch Stunden dauern, bis<br />
eine Pontonbrücke geschlagen ist. Auch der Gegner auf der anderen<br />
Seite muss so lange ohne Verstärkung auskommen. Wir schaffen so<br />
viele Truppen und Fahrzeuge wie möglich hinüber und bringen<br />
dann Verstärkung, sobald die Sturmboote eingetroffen sind. Eigentlich<br />
sollte eine solche Operation <strong>im</strong> Schutz von Nebel oder<br />
Dunkelheit durchgeführt werden, aber ich will nicht auf die Nacht<br />
warten. Setzen wir uns über die Vorschriften hinweg, Wanja. Sie<br />
haben sich ordentlich gehalten, Iwan Michailowitsch. Sie sind ab<br />
sofort Major. Nein, bedanken Sie sich nicht bei mir - das haben Sie<br />
sich verdient.«<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Verpaßt haben wir sie nur knapp. Fünf Minuten früher, und wir<br />
hätten ein paar erwischt.« Der Tomcat-Pilot zuckte die Achseln.<br />
411
Toland nickte. Die Jäger hatten Anweisung, sich außerhalb des<br />
sowjetischen Radar-Erfassungsbereiches zu halten.<br />
»War schon komisch. Drei flogen in einer schön engen Formation<br />
- ich hatte sie aus fünfzig Meilen auf dem Schirm - und sie<br />
hatten von unserer Anwesenheit keine Ahnung. Mit größerer<br />
Reichweite hätten wir sie bis zu ihren Stützpunkten verfolgen und<br />
dann ein paar Bomben werfen können wie weiland die Deutschen.«<br />
»Wie sollen wir ihre Freund/Feind-Kennungssysteme überlisten?«<br />
wandte Toland ein.<br />
»Gewiß, aber wir wissen bis auf zehn Minuten genau, wann sie<br />
zurückkommen. Irgend jemand müßte mit dieser Information doch<br />
etwas anfangen können.«<br />
Commander Toland stellte seine Tasse ab. »Da haben Sie recht.«<br />
Er beschloß, den Hinweis an den Oberbefehlshaber Ostatlantik<br />
weiterzuleiten.<br />
Lammersdorf, BRD<br />
Kein Zweifel: Die Linien der Nato waren südlich von Hannover<br />
entscheidend durchbrochen worden. Von der gefährlich schwachen<br />
Bodenreserve zog man zwei Brigaden ab und schickte sie nach<br />
Alfeld. Wenn diese Lücke nicht geschlossen wurde, war Hannover<br />
verloren, und mit ihm ganz Westdeutschland östlich der Weser.<br />
412
Alfeld, BRD<br />
29<br />
Abhilfen<br />
Wie prophezeit, hielt die Brücke nur eine Stunde. In dieser Zeit<br />
hatte Alexejew ein volles Bataillon mechanisierter Infanterie über<br />
den Fluß geschafft, und von seinen Panzern am Ostufer waren zwei<br />
heftige Gegenangriffe auf den Brückenkopf mit direktem Feuer<br />
zerschlagen worden. Nun machte die Nato eine Verschnaufpause<br />
und sammelte Artillerie. Schwere Geschütze belegten den Brückenkopf<br />
und die Panzer auf der sowjetischen Seite des Flusses, und,<br />
schl<strong>im</strong>mer noch, die Sturmboote waren in Staus zwischen Sack und<br />
Alfeld steckengeblieben. Deutsche schwere Geschütze übersäten<br />
die Straße und das Gelände links und rechts von ihr mit Minen, die<br />
stark genug waren, um einem Panzer die Kette oder einem Laster<br />
die Räder abzureißen. Pioniere waren zwar ständig am Räumen<br />
und brachten die Minen mit schweren Maschinengewehren zur<br />
Explosion, doch das brauchte alles Zeit, und es wurden auch nicht<br />
alle ausgemacht, ehe sie unter einem schwerbeladenen Fahrzeug<br />
detonierten. Der Verlust der einzelnen Panzer und Lastwagen war<br />
an sich schon unangenehm genug; schl<strong>im</strong>mer aber wirkten sich die<br />
Staus aus, die jedes liegengebliebene Fahrzeug verursachte.<br />
Alexejews Hauptquartier befand sich in einem Fotogeschäft<br />
oberhalb des Flusses. Die Schaufensterscheibe war schon lange<br />
eingedrückt worden; ihre Splitter knirschten unter seinen Sohlen.<br />
Er betrachtete durchs Fernglas das andere Ufer und litt mit seinen<br />
Männern, die eine von Infanterie und Panzern gehaltene Anhöhe zu<br />
erstürmen versuchten. Einige Kilometer weiter hastete jedes selbstfahrende<br />
Geschütz der 8. Gardearmee nach vorne, um seiner Panzerarmee<br />
Feuerschutz zu geben, und er und Sergetow gaben den<br />
Befehl, die Artillerie der Nato zu beschießen.<br />
»Feindflugzeuge!« rief ein Leutnant.<br />
Alexejew verdrehte den Hals und sah am Horizont einen schwarzen<br />
Punkt, aus dem rasch ein deutscher F-1O4 wurde. Gelbe<br />
413
Leuchtspurgeschosse jagten von russischen Fla-Kanonen zum H<strong>im</strong>mel<br />
und zerstörten ihn, ehe er abwerfen konnte, doch es tauchte<br />
sofort ein zweiter auf, der den Fla-Panzer mit seinen Bordkanonen<br />
abschoß. Alexejew fluchte, als der einmotorige Starfighter anflog,<br />
am anderen Flußufer zwei Bomben warf und dann wegflitzte. Die<br />
Bomben hingen an kleinen Fallschirmen und fielen langsam, bis sie<br />
zwanzig Meter über dem Boden die Luft mit einem Nebel zu<br />
erfüllen schienen - Alexejew warf sich <strong>im</strong> Laden auf den Boden, als<br />
die explosiven Dämpfe der Treibstoff-Luft-Bombe detonierten. Die<br />
Druckwelle war so gewaltig, dass über seinem Kopf eine Vitrine<br />
zersplitterte und ihn mit Glas übersäte.<br />
»Was, zum Teufel, war das?» brüllte Sergetow und schaute auf.<br />
»Sie sind verletzt, Genosse General!«<br />
Alexejew fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie wurde rot.<br />
Seine Augen brannten, und er wusch sich mit dem Inhalt seiner<br />
Feldflasche das Blut vom Gesicht. Major Sergetow klebte seinem<br />
General einen Verband auf die Stirn, benutzte dabei aber, wie<br />
Alexejew auffiel, nur eine Hand.<br />
»Was ist Ihnen passiert?«<br />
»Nichts, bin nur auf Glas gefallen. Halten Sie still, Genosse<br />
General, Sie bluten wie ein Schwein.« Ein Generalleutnant erschien.<br />
Alexejew erkannte Wiktor Beregowoy, stellvertretender<br />
Kommandeur der 8. Gardearmee.<br />
»Genosse General, Sie haben Befehl, ins Hauptquartier zurückzukehren.<br />
Ich bin hier, um Sie abzulösen.«<br />
»Kommt nicht in Frage!« brüllte Alexejew.<br />
»Der Befehl stammt vom OB West, Genosse. Ich bin Panzergeneral<br />
und kann hier weitermachen. Wenn ich mir die Bemerkung<br />
erlauben darf: Sie haben Großartiges geleistet. Aber nun werden Sie<br />
anderswo gebraucht.«<br />
»Erst wenn ich hier fertig bin!«<br />
»Genosse General, wenn diese Flußüberquerung Erfolg haben<br />
soll, brauchen wir mehr Unterstützung. Und wer kann die besser<br />
organisieren, Sie oder ich?«<br />
Alexejew schnaubte zornig. Der Mann hatte recht.<br />
»Jetzt ist nicht die Zeit für Diskussionen«, sagte Beregowoy. »Sie<br />
haben Ihre Aufgabe, ich meine.«<br />
»Sind Sie mit der Lage vertraut?«<br />
»Ja. Hinten wartet ein Fahrzeug auf Sie.«<br />
414
Luftstützpunkt Langley, Virginia<br />
Nichts macht einen Piloten so froh wie ein Distinguished Flying<br />
Cross, und Major Amelia Nakamura fragte sich, ob sie diese Auszeichnung<br />
als erste Frau in der Luftwaffe bekommen würde. Und<br />
wenn nicht? Auch kein Beinbruch, dachte sie, <strong>im</strong>merhin habe ich<br />
meine drei Badger-Abschüsse auf Videoband.<br />
Alle F-15, die nach Europa verlegt werden konnten, waren bereits<br />
auf der anderen Seite des Atlantik, und sie hatte nun eine neue<br />
Aufgabe. Nur vier Maschinen des 48. Abfangjägergeschwaders waren<br />
noch in Langley. Der Rest war entlang der Ostküste verstreut,<br />
einschließlich der beiden Piloten, die für ASAT-Antisatelliten-Raketen<br />
qualifiziert waren. Buns Nakamura hatte davon Wind bekommen,<br />
sich sofort mit Space Command in Verbindung gesetzt<br />
und erklärt, sie habe das ASAT-Flugprofil ausgearbeitet und könne<br />
den Auftrag übernehmen. Warum einen Kampfpiloten von der<br />
Front abziehen?<br />
Sie überzeugte sich davon, dass das häßliche Geschoß sicher<br />
unterm Rumpf befestigt war. Es war entmottet und von einem<br />
Expertenteam noch einmal durchgecheckt worden. Buns schüttelte<br />
den Kopf. Das System war nur einem einzigen richtigen Test unterzogen<br />
worden, dann hatte ein Moratorium dem Programm ein<br />
vorläufiges Ende gesetzt. Wenigstens war der Test erfolgreich verlaufen.<br />
Major Nakamura beendete gemächlich ihren Rundgang - kein<br />
Grund zur Eile, denn ihr Ziel befand sich noch überm Indischen<br />
Ozean -, schnallte sich dann in ihren Eagle, ließ Blick und Hände<br />
über Instrumente und Hebel gleiten, verstellte den Sitz und gab<br />
schließlich die auf die Hangarwand gemalten Ziffern in das Trägheitsnavigationssystem<br />
ein, damit die Maschine auch wusste, wo sie<br />
war. Dann ließ sie die Triebwerke Warmlaufen. Ihr Helm schützte<br />
sie vor dem Lärm. Die Instrumentenzeiger kreisten in die richtige<br />
Position. Der Chef des Bodenpersonals betrachtete das Kampfflugzeug<br />
noch einmal aufmerksam und gab ihr dann mit einem Wink zu<br />
verstehen, sie könne ins Freie rollen.<br />
»Eagle 104, klar zum Rollen«, meldete sie dem Tower.<br />
»Roger, 104. Rollbahn frei«, erwiderte der Controller. »Wind<br />
aus zwei-fünf-drei, zwölf Knoten.«<br />
»Roger, 104 rollt.«<br />
415
Buns schloß das Kabinendach, rollte zur Startbahn und war eine<br />
Minute später in der Luft, genoß das seidige Gefühl purer Kraft, als<br />
sie ihren Eagle gen H<strong>im</strong>mel steuerte.<br />
Kosmos 1801 überflog die Magellanstraße und hielt nach Norden<br />
auf den Atlantik zu; bei diesem Durchgang würde er <strong>im</strong> Orbit bis<br />
auf zweihundert Meilen an die amerikanische Küste herankommen.<br />
In der Bodenstation bereiteten Techniker die Aktivierung des<br />
leistungsfähigen Seeüberwachungsradars vor. Sie waren sicher,<br />
dass<br />
sich ein amerikanischer Trägerverband auf See befand, hatten ihn<br />
bislang aber nicht finden können. Drei Reg<strong>im</strong>enter Backfire warteten<br />
nur darauf, das Meisterstück, das ihnen am zweiten Tag des<br />
Krieges gelungen war, zu wiederholen.<br />
Nakamura zog ihre Maschine behutsam unters Heck des vor ihr<br />
fliegenden Tankers, und das Trichtermundstück wurde geschickt in<br />
das Gegenmundstück am Eagle eingekuppelt. Binnen weniger Minuten<br />
wurden fünftausend Liter Treibstoff in ihre Tanks gepumpt,<br />
und als sich der Schlauch wieder löste, entwich eine Kerosinwolke.<br />
»Gulliver, hier 104, over«, rief sie über Funk.<br />
»104, hier Gulliver«, antwortete ein Oberst in der Passagierkabine<br />
eines Learjet, der in vierzigtausend Fuß Höhe dahinzog.<br />
»Betankt und bereit. Alle Bordsysteme grün. Kreise an Punkt<br />
Sierra. Bereit zum Steigflug.«<br />
»Roger, 104.«<br />
Major Nakamura flog einen engen Kreis, wollte vor dem Steigflug<br />
keinen Tropfen Treibstoff vergeuden. Sie rutschte ein wenig<br />
auf ihrem Sitz herum, für ihre Begriffe ein Ausdruck heftiger Gemütsbewegung<br />
be<strong>im</strong> Fliegen, und konzentrierte sich auf ihre Maschine.<br />
Ruhig atmen, sagte sie sich, als ihr Blick über die Instrumente<br />
glitt.<br />
Bei Space Command erfaßte Radar den sowjetischen Satelliten<br />
über Südamerika. Computer verglichen seinen Kurs und seine Geschwindigkeit<br />
mit bekannten Daten und der Position von Nakamuras<br />
F-I5. Kurz darauf spuckte ein Rechner Befehle aus, die an den<br />
Learjet gingen.<br />
»104, gehen Sie auf Kurs zwei-vier-fünf.«<br />
»Drehe ab.« Major Nakamura flog eine enge Kurve. »Bin nun<br />
auf zwei-vier-fünf.«<br />
416
»Achtung... los!«<br />
»Roger.« Buns drückte die Leistungshebel bis zum Anschlag<br />
durch und schaltete die Nachbrenner ein. Der Eagle setzte los wie<br />
ein Pferd, dem man die Sporen gegeben hat, und kam binnen<br />
Sekunden auf Mach 1. Anschließend nahm sie den Knüppel ein<br />
wenig zurück, zog den Eagle in einen Steigflug von fünfundvierzig<br />
Grad, beschleunigte weiter in den dunkler werdenden H<strong>im</strong>mel. Sie<br />
schaute nicht hinaus, sondern konzentrierte sich auf die Instrumente:<br />
Für die nächsten zwei Minuten musste ihre Maschine ein<br />
spezifisches Flugprofil wahren. Der Zeiger des Höhenmessers wirbelte<br />
herum - fünfzigtausend Fuß, sechzigtausend... neunzigtausend.<br />
Am fast schwarzen H<strong>im</strong>mel waren nun die Sterne sichtbar,<br />
aber Nakamura nahm sie nicht wahr.<br />
Unter der Maschine wurde der Suchkopf der ASAT-Rakete aktiv,<br />
tastete den H<strong>im</strong>mel nach der Infrarotsignatur des sowjetischen<br />
Satelliten ab. An Buns' Instrumententafel flammte eine Leuchte auf.<br />
»Ziel geortet! Au<strong>tom</strong>atische Startsequenz hat begonnen. Höhe<br />
vierundneunzigtausendsiebenhundert Fuß- Rakete frei!« Der F-I5<br />
schlingerte, als die schwere Rakete sich löste; Nakamura verringerte<br />
sofort die Leistung und zog ihre Maschine in einen Looping.<br />
Dann prüfte sie ihre Treibstoffsituation. Der Steigflug mit Nachbrenner<br />
hatte ihre Tanks fast geleert, aber für den Rückflug nach<br />
Langley reichte es noch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Rakete<br />
überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hatte.<br />
An Bord des Learjet verfolgte eine Kamera die Rakete. Der<br />
Festtreibstoff brannte dreißig Sekunden lang, dann löste sich der<br />
Kopf. Das Miniature Homing Vehicle, in dessen platten Kopf ein<br />
Infrarotsensor eingebettet war, hatte das Ziel schon vor langer Zeit<br />
erfaßt. Der Reaktor des sowjetischen Satelliten strahlte Abwärme<br />
ins All, und die resultierende Infrarotsignatur war fast so stark wie<br />
die der Sonne. Das Mikrochip-Gehirn des MHV berechnete den<br />
Abfangkurs, nahm winzige Kursänderungen vor, und die Distanz<br />
zum Satelliten schrumpfte rapide. Der Satellit zog mit knapp<br />
30000 Stundenkilometern nach Norden, das MHV kam ihm mit<br />
rund siebzehntausend entgegen, und dann -<br />
»H<strong>im</strong>mel noch mal!« rief der Colonel an Bord des Learjet,<br />
blinzelte und wandte sich vom Fernsehschirm ab. Mehrere hundert<br />
Kilo Stahl und Keramik waren gerade verdampft. »Ein klarer Abschuß!«<br />
417
Das TV-Bild wurde an Space Command übertragen und mit<br />
einem Radarbild bestätigt. Aus dem massiven Satelliten war eine<br />
sich ausbreitende Trümmerwolke in der Umlaufbahn geworden.<br />
»Ziel ausgeschaltet«, verkündete eine gelassene St<strong>im</strong>me.<br />
Leninsk, UdSSR<br />
Der Signalverlust von Kosmos 1801 wurde wenige Sekunden nach<br />
seiner Vernichtung festgestellt. Überrascht waren die russischen<br />
Experten nicht, denn 1801 hatte den Treibstoff seiner Steuertriebwerke<br />
schon vor mehreren Tagen aufgebraucht und daher ein<br />
leichtes Ziel dargestellt. Auf dem Kosmodrom Baikonur stand eine<br />
weitere Raumrakete von Typ F-1M auf der Startrampe. In zwei<br />
Stunden sollte ein verkürzter Countdown beginnen -, doch von<br />
nun an war die Fähigkeit der sowjetischen Marine, Geleitzüge und<br />
Verbände von Kriegsschiffen auszumachen, deutlich eingeschränkt.<br />
Luftstützpunkt Langley, Virginia<br />
»Und?« fragte Buns und sprang von ihrem Jet.<br />
»Abschuß ist auf Band«, erwiderte ein anderer Major. »Es hat<br />
geklappt.«<br />
»Wie bald, glauben Sie, werden die Russen einen Ersatzsatelliten<br />
starten?« Buns brauchte noch einen Abschuß, dann war sie ein As.<br />
»Wir vermuten, dass er schon auf der Rampe steht. Zwölf bis<br />
vierundzwanzig Stunden, dann ist er oben. Kein Mensch weiß, wie<br />
viele sie noch in petto haben.«<br />
Nakamura nickte. Insgesamt verfügte die Air Force noch über<br />
sechs ASAT-Raketen. Vielleicht reichte das, vielleicht auch nicht <br />
ein erfolgreicher Einsatz machte noch keine zuverlässige Waffe. Sie<br />
ging ins Hauptquartier, um sich Kaffee und Donuts zu genehmigen.<br />
418
Stendal, DDR<br />
»Verflucht noch mal, Pascha!« fluchte der OB West. »Ich hab doch<br />
keinen Stellvertreter mit vier Sternen, damit er als Divisionskommandeur<br />
herumfuhrwerkt. Sehen Sie sich das bloß mal an!«<br />
»Der Durchbruch war dringend nötig. Der Chef der Panzerdivision<br />
fiel, und ein Stellvertreter war noch zu jung. Ich habe den<br />
Durchbruch geschafft.«<br />
»Wo ist Hauptmann Sergetow?«<br />
»Major Sergetow«, korrigierte Alexejew. »Er bewährte sich als<br />
mein Adjutant, wurde an der Hand verletzt und läßt sich <strong>im</strong> Augenblick<br />
verbinden. So, und welche Verstärkungen sind zur 8. Gardearmee<br />
unterwegs?«<br />
Beide Generale traten an eine große Karte. »Diese beiden Panzerdivisionen<br />
rollen schon und sollten in zehn bis zwölf Stunden an<br />
Ort und Stelle sein. Wie gefestigt ist Ihr Brückenkopf?«<br />
»Könnte günstiger aussehen«, gestand Alexejew. »Dort gab es<br />
drei Brücken, aber irgendein Irrer beschoß die Stadt mit Raketen<br />
und zerschlug zwei. Blieb also eine, über die wir ein mechanisiertes<br />
Bataillon und einige Panzer schafften, ehe sie von den Deutschen<br />
zerstört wurde. Die Deutschen haben starke Artillerieunterstützung,<br />
und als ich abfuhr, trafen gerade Sturmboote und Pontonbrücken<br />
ein. Der Mann, der mich ablöste, wird für Verstärkung<br />
sorgen, sobald er starke Kräfte über den Fluß gebracht hat.«<br />
»Gegenwehr?«<br />
»Schwach, aber das Terrain ist für den Feind günstig. Schätze,<br />
dass wir es mit einem Reg<strong>im</strong>ent oder so zu tun haben, den Überresten<br />
anderer Nato-Einheiten. Ein paar Panzer, aber sonst vorwiegend<br />
mechanisierte Infanterie mit starker Artillerieunterstützung.<br />
Als ich abfuhr, war das Kräfteverhältnis ungefähr ausgeglichen.<br />
Unsere Feuerkraft ist größer, aber unsere Artillerie sitzt an unserem<br />
Ufer der Leine fest. Jetzt geht es darum, wer als erster Verstärkung<br />
heranführen kann.«<br />
»Nach Ihrer Abfahrt warf die Nato Kampfflugzeuge ins Gefecht.<br />
Unsere Leute versuchen, sie zurückzuhalten, aber in der Luft<br />
scheint die Nato vorne zu liegen.«<br />
»Bis zur Nacht dürfen wir nicht warten. Die Kerle beherrschen<br />
den Nachth<strong>im</strong>mel.«<br />
»Gleich angreifen?«<br />
419
Alexejew nickte und dachte daran, welche Opfer er »seiner«<br />
Division damit zumutete. »Sobald wir die Sturmboote bereit haben,<br />
erweitern wir den Brückenkopf um zwei Kilometer und schlagen<br />
dann Brücken. Was führt die Nato heran?«<br />
»Abgehörtem Funkverkehr zufolge sind zwei Brigaden unterwegs,<br />
eine britische und eine belgische.«<br />
»Das ist best<strong>im</strong>mt nicht alles. Sie müssen doch genau wissen,<br />
wozu wir fähig sind, wenn wir diese Gelegenheit nutzen. Wir haben<br />
die 1. Garde-Panzerarmee in Reserve...«<br />
»Sollen wir denn dort die Hälfte unserer Reserven einsetzen?«<br />
»Ich könnte mir keinen besseren Ort denken.« Alexejew wies auf<br />
die Karte. Der Vorstoß gegen Hannover war in Sichtweite der Stadt<br />
zum Stehen gebracht worden. Die nördlichen Armeegruppen hatten<br />
die Vororte von Hamburg erreicht und dabei den Großteil der<br />
Panzerverbände der 3. Stoßarmee verloren. »Mit Glück können wir<br />
die ganze Erste dem Feind in den Rücken schicken. Damit gewinnen<br />
wir die Weser - oder erreichen vielleicht sogar den Rhein.«<br />
»Ein Vabanquespiel, Pascha«, sagte der OB West leise. Doch hier<br />
nahmen sich ihre Chancen besser aus als anderswo. Wenn die Lage<br />
bei der Nato wirklich so gespannt war, wie der Nachrichtendienst<br />
behauptete, musste ihre Front irgendwo zusammenbrechen. Vielleicht<br />
hier?<br />
»Gut, geben Sie die Befehle aus.«<br />
Faslane, Schottland<br />
»Wir stark sind ihre U-Jagd-Verbände?« fragte der Kommandant<br />
von USS Pittsburgh.<br />
»Nicht zu verachten. Unserer Einschätzung nach verfügt der<br />
Iwan über zwei große ASW-Gruppen. Eine hat die Kiew zum<br />
Schwerpunkt, die andere einen Kreuzer der Kresta-Klasse. Außerdem<br />
gibt es vier kleinere Gruppen, die jeweils aus einer Fregatte der<br />
Kriwak-Klasse und vier bis sechs Fregatten der Typen Grischa und<br />
Mirka bestehen. Fügen Sie dem eine große Zahl von ASW-Flugzeugen<br />
und rund zwanzig U-Boote hinzu, teils mit nuklearem, teils mit<br />
konventionellem Antrieb«, antwortete der Offizier be<strong>im</strong> Briefing.<br />
»Warum überlassen wir ihnen eigentlich nicht die Barentssee?«<br />
brummte Todd S<strong>im</strong>ms von USS Boston.<br />
420
Keine üble Idee, st<strong>im</strong>mte Dan McCafferty insgehe<strong>im</strong> zu.<br />
»Und sieben Tage für die Anfahrt?« fragte der Skipper von USS<br />
Pittsburgh.<br />
»Jawohl, so können wir uns in Ruhe aussuchen, auf welchem<br />
Weg wir in das Gebiet eindringen. Captain Little?«<br />
Der Kommandant von HMS Torbay trat aufs Podium. »Wir<br />
haben eine Kampagne namens Keypunch geführt, deren Zweck die<br />
Einschätzung der russischen ASW-Kräfte in der Barentssee war <br />
und natürlich auch die Erledigung von Russen, die uns in den Weg<br />
gerieten.« Er lächelte. Torbay hatte vier Versenkungen zu verzeichnen.<br />
»Der Iwan hat zwischen der Bäreninsel und der norwegischen<br />
Küste eine Barriere errichtet. Die unmittelbare Umgebung der Bäreninsel<br />
ist ein einziges Minenfeld. Südlich davon besteht unseren<br />
Informationen nach die Sperre aus einigen kleinen Minenfeldern<br />
und Dieselbooten der Tango-Klasse, unterstützt von mobilen<br />
ASW-Gruppen und nukleargetriebenen U-Booten der Victor-III-<br />
Klasse. Ihre Aufgabe scheint weniger Versenken als Vertreiben zu<br />
sein. Jedesmal, wenn eins unserer U-Boote einen Angriff gegen diese<br />
Barriere fuhr, gab es eine energische Reaktion.<br />
Und in der Barentssee selbst sieht es ähnlich aus. Diese kleinen<br />
Subkiller-Gruppen können teuflisch gefährlich werden. Ich hatte<br />
persönlich eine Begegnung mit einer Krivak und vier Grischas. Von<br />
Land aus werden diese Gruppen von Hubschraubern und Flugzeugen<br />
direkt unterstützt, und die Erfahrung war höchst unangenehm.<br />
Außerdem fanden wir eine Anzahl neuer Minenfelder, die von den<br />
Sowjets anscheinend aufs Geratewohl und in Tiefen bis zu hundert<br />
Fuß gelegt werden. Zudem scheinen sie eine Reihe von Fallen<br />
gestellt zu haben; eine kostete uns Trafalgar. Man legte ein kleines<br />
Minenfeld und plazierte in seine Mitte ein Lärminstrument, das wie<br />
ein schnorchelndes Tango klang. Soweit wir wissen, fuhr Trafalgar<br />
heran, um das Tango auszuschalten, und lief auf eine Mine. Das<br />
sollten wir nicht vergessen, Gentlemen.« Little legte eine Pause ein,<br />
um diese Nachricht wirken zu lassen.<br />
»So, und nun haben wir mit Ihnen folgendes <strong>im</strong> Sinn: Sie fahren<br />
nach Nordnordwesten zum Rand des grönländischen Packeises,<br />
und dann an seinem Rand entlang nach Osten zum Swiatjana-<br />
Anna-Graben. In fünf Tagen werden drei unserer U-Boote an der<br />
Barriere gewaltig auf den Putz hauen, wenn möglich mit Unterstützung<br />
von ASW-Flugzeugen und Jägern. Das sollte den Iwan auf<br />
421
merksam machen und bewegen, mobile Kräfte nach Westen zu<br />
schicken. In der Zwischenzeit müßten Sie in der Lage sein, Ihr Ziel<br />
<strong>im</strong> Süden unbehelligt zu erreichen. Es ist zwar eine lange, verschlungene<br />
Route, aber Sie können fast die ganze Zeit über das Schleppsonar<br />
benutzen und relativ schnell am Rand des Packeises entlangfahren,<br />
ohne geortet zu werden.«<br />
Darüber dachte McCafferty nach. Am Rand des Packeises, wo<br />
Milliarden von Tonnen Eis in permanenter Bewegung waren,<br />
herrschte viel Lärm.<br />
»HMS Sceptre und Superb haben die Route erkundet und stießen<br />
nur auf schwache Patrouillentätigkeit. Zwei Tango wurden entdeckt,<br />
aber unsere Männer hatten Befehl, sie nicht anzugreifen.«<br />
Nun wurde den Amerikanern klar, wie wichtig dieser Auftrag war.<br />
»Und wie kommen wir wieder weg?« fragte Todd S<strong>im</strong>ms.<br />
»So rasch wie möglich. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte mindestens<br />
ein weiteres U-Boot zu Ihrer Unterstützung dort sein. Wenn Sie<br />
Ihren Auftrag erfüllt haben, wird der Iwan seine ASW-Gruppen auf<br />
Sie loslassen. Wir wollen zwar versuchen, südlich der Bäreninsel<br />
Druck zu machen und feindliche Kräfte zu binden, aber in diesem<br />
Fall ist Tempo Ihre beste Verteidigung.«<br />
Der Kommandant von USS Boston nickte. Er konnte schneller<br />
fahren als die Russen.<br />
»Weitere Fragen?« meinte der Oberbefehlshaber der U-Boote <strong>im</strong><br />
Ostatlantik. »Na, dann viel Glück. Wir werden Sie nach Kräften<br />
unterstützen.«<br />
McCafferty blätterte seine Papiere noch einmal durch, sah sich<br />
den Einsatzbefehl an, steckte dann die Unterlagen zu Unternehmen<br />
Doolittle in die Hüfttasche. Zusammen mit S<strong>im</strong>ms fuhr er zurück<br />
zum Hafen. Die zwölf vertikalen Abschußrohre in Chicagos Bug<br />
vor dem Druckkörper wurden gerade mit Tomahawk-Marschflugkörpern<br />
geladen. Auf Boston, einem älteren Boot, musste erst durch<br />
Löschen von Torpedos Platz geschaffen werden. Kein U-Boot-<br />
Kommandant sieht es gerne, wenn sein Torpedovorrat reduziert<br />
wird.<br />
»Keine Sorge, ich unterstütze Sie«, meinte McCafferty.<br />
» Gut, tun Sie das. Sieht so aus, als wäre man fast fertig. Jetzt hätte<br />
ich nichts gegen ein Bier.« S<strong>im</strong>ms lachte. »Wenn wir wieder zurück<br />
sind.«<br />
422
USS Pharris<br />
Der Sikorsky Sea King paßte kaum auf die Hubschrauberplattform<br />
der Fregatte, doch wenn es um Verwundete ging, ließ man fünf<br />
gerade sein. Die zehn schwersten Fälle - Verbrennungen und Knochenbrüche<br />
- wurden in den Hubschrauber geladen, der sie dann<br />
an Land brachte. Der Kommandant der Überreste der USS Pharris<br />
setzte die Mütze wieder auf und steckte sich eine Zigarette an. Wie<br />
hatte es der Kommandant des Victor nur fertiggebracht, an zwei<br />
Stellen zugleich zu sein? Das verstand Morris <strong>im</strong>mer noch nicht.<br />
»Immerhin haben wir drei versenkt.« Chief Clarke erschien an<br />
Morris' Seite. »Dieser eine hatte vielleicht nur Glück.«<br />
»Lesen Sie Gedanken, Chief?«<br />
»Verzeihung, Sir. ich wollte nur ein paar Meldungen machen.<br />
Inzwischen ist so gut wie alles gelenzt. An der unteren Steuerborddecke<br />
nehmen wir rund fünfzig Liter pro Stunde über, kaum erwähnenswert.<br />
Das Schott hält und wird überwacht. Beide Kessel sind<br />
repariert, Nummer 2 ist wieder am Netz. Der Prairie Masker arbeitet.<br />
Sea Sparrow operativ für den Fall, dass wir sie brauchen, aber<br />
das Radar funktioniert <strong>im</strong>mer noch nicht.«<br />
Morris nickte. »Gut. Wie sieht's bei den Männern aus?«<br />
»Sie sind sehr beschäftigt, still und stinkwütend.«<br />
Da geht es ihnen besser als mir, dachte Morris. Sie haben wenigstens<br />
etwas zu tun.<br />
»Sie sehen todmüde aus, Skipper.«<br />
»Bald bekommen wir alle mehr als genug Gelegenheit, uns auszuruhen.«<br />
Sunnyvale, Kalifornien<br />
»Es hebt ein Vogel ab«, meldete der Wachoffizier NORAD. »Startete<br />
vom Kosmodrom Baikonur in Richtung eins-fünf-fünf, was auf<br />
eine um fünfundsechzig Grad geneigte Umlaufbahn hinweist. Laut<br />
Signatur handelt es sich entweder um eine Interkontinentalrakete<br />
SS-11 oder um eine Raumrakete vom Typ F-1.«<br />
»Nur eine?«<br />
»Korrekt, nur ein Vogel.«<br />
Zahlreiche Offiziere der US-Luftwaffe waren plötzlich sehr ange<br />
423
spannt. Die Rakete war auf einem Kurs, der sie in vierzig bis fünfzig<br />
Minuten mitten über die Vereinigten Staaten tragen würde, und um<br />
welches Trägersystem es sich handelte, stand noch nicht fest. Die<br />
russische SS-9 war technisch überholt und wurde nur als Satelliten-<br />
Trägerrakete benutzt. Anders als ihre amerikanischen Pendants<br />
war sie aber ursprünglich als fraktionell orbitales Bombensystem<br />
entwickelt worden: FOBS, eine Rakete, die einen Fünfundzwanzig-<br />
Megatonnen-Kernsprengkopf in eine Flugbahn bringen konnte, die<br />
der eines harmlosen Satelliten glich.<br />
»Erste Stufe hat Brennschluß - okay, wir sehen Abtrennung und<br />
Zündung der zweiten Stufe«, sagte der Colonel am Telefon. »Flugbahn<br />
unverändert.«<br />
NORAD hatte bereits eine Warnung nach Washington geschickt.<br />
Falls dies ein nuklearer Schlag sein sollte, war man vorbereitet.<br />
Zahlreiche gegenwärtige Szenarien begannen mit der Explosion<br />
eines großen Sprengkopfes hoch über dem Zielland und weitreichenden<br />
Schäden am Fernmeldenetz durch elektromagnetischen<br />
Impuls. Für eine solche Aufgabe war das FOBS-System SS-9 genau<br />
zugeschnitten.<br />
»Zweite Stufe abgetrennt... und da zündet die dritte. NORAD,<br />
haben Sie unsere Positionsmeldung erhalten?«<br />
»Roger«, bestätigte der General <strong>im</strong> Cheyenne Mountain. Das<br />
Signal des Frühwarnsatelliten ging an NORAD, wo eine dreißigköpfige<br />
Wachmannschaft atemlos den Kurs der Trägerrakete auf<br />
der Weltkarte an der Wand verfolgte.<br />
Bodenradar in Australien erfaßte nun das Raumfahrzeug. Die<br />
dritte Stufe stieg weiter, die ausgebrannte zweite stürzte in den<br />
Indischen Ozean. Auch diese Informationen wurden über Satellit<br />
an Sunnyvale und NORAD weitergegeben.<br />
»Sieht nach Fairing-Abwurf aus«, meinte der Mann in Sunnyvale.<br />
Das Radarbild stellte vier neue Objekte dar, die sich flatternd<br />
von der dritten Stufe entfernten. Wahrscheinlich die be<strong>im</strong> Flug in<br />
der A<strong>tom</strong>sphäre erforderliche schützende Aluminiumnase, <strong>im</strong><br />
Raum nur überflüssiger Ballast. Man begann, wieder regelmäßiger<br />
zu atmen. Zum Wiedereintritt in die Atmosphäre brauchte eine<br />
Bombe Fairings. Dieses Objekt war wohl ein Satellit.<br />
Auf dem Luftstützpunkt Tinker in Oklahoma startete gerade<br />
eine RC-135 der Air Force und ging mit Vollschub auf Gipfelhöhe.<br />
In die Decke der umgebauten Boeing 707 war eine Teleskopkamera<br />
424
eingebaut, mit der sowjetische Raumfahrzeuge inspiziert wurden.<br />
Techniker aktivierten die komplexen Ortungssysteme, die die Kamera<br />
auf ihr fernes Ziel richteten.<br />
»Brennschluß«, verkündete Sunnyvale. »Das Objekt hat Kreisbahngeschwindigkeit<br />
erreicht. Apogäum nach ersten Berechnungen<br />
hundertsechsundfünfzig Meilen, Perigäum hundertachtundvierzig.«<br />
»Ihre Einschätzung?« fragte NORAD.<br />
»Alle Daten konsistent mit dem Start eines Radar-Seeaufklärungssatelliten.«<br />
Dreißig Minuten später war man ganz sicher. Die Besatzung der<br />
RC-135 hatte scharfe Aufnahmen von dem neuen sowjetischen<br />
Satelliten gemacht. Schon nach Vollendung der ersten Umlaufs war<br />
er als RORSAT klassifiziert worden, ein Problem für die US-Navy,<br />
aber nicht das Ende der Welt. In Sunnyvale und <strong>im</strong> Cheyenne<br />
Mountain blieb man weiterhin wachsam<br />
Island<br />
Sie folgten einem Fußpfad um den Berg herum. Vigdis sprach von<br />
einem beliebten Ausflugsziel. Ein kleiner Gletscher am Nordhang<br />
des Berges speiste ein halbes Dutzend Bäche, die sich in einem Tal<br />
mit vielen Gehöften zu einem Fluß vereinigten. Von ihrem Standpunkt<br />
aus konnten sie alles übersehen, mehrere Straßen eingeschlossen.<br />
Edwards war unschlüssig, ob er quer durch das Tal auf<br />
sein Ziel zumarschieren oder <strong>im</strong> rauhen Gelände <strong>im</strong> Osten bleiben<br />
sollte.<br />
»Was ist das wohl für ein Sender?« fragte Smith. Gut zehn<br />
Kilometer westlich von ihnen ragte ein Antennenmast auf.<br />
Mike schaute Vigdis an und bekam ein Achselzucken zur Antwort.<br />
»Läßt sich von hier aus schwer beurteilen«, meinte Edwards.<br />
»Aber dort gibt es best<strong>im</strong>mt Russen.« Er entfaltete seine Karte. In<br />
diesem Teil der Insel war das Straßennetz dicht, bestand aber zum<br />
größten Teil aus unbefestigten »Schönwetterwegen«. Die sowjetischen<br />
Soldaten benutzten kleine Geländewagen und nicht die<br />
Mannschaftstransporter auf Ketten, die sie am Tag der Invasion<br />
beobachtet hatten. Mit einem Allrader kam ein guter Fahrer prak<br />
425
tisch überall hin. Wie gut waren die Russen in diesem zerklüfteten<br />
Gelände? Wieder ein Problem mehr, dachte Edwards.<br />
»Sergeant, was meinen Sie?«<br />
Smith schnitt eine Gr<strong>im</strong>asse. Sie hatten die Wahl zwischen akuter<br />
Gefahr und körperlicher Erschöpfung. Schöne Entscheidung,<br />
dachte er. Haben wir für so was nicht Offiziere?<br />
»Ich würde dort unten Streifen einsetzen, Lieutenant. Viele Straßen;<br />
da würde ich Kontrollpunkte einrichten, um die Einhe<strong>im</strong>ischen<br />
<strong>im</strong> Auge zu behalten. Der Antennenmast ist best<strong>im</strong>mt bewacht.<br />
Was produzieren diese Höfe, Miss Vigdis?«<br />
»Milch, Kartoffeln, Schafe«, antwortete sie.<br />
»Dann werden die Russen herumziehen, wenn sie dienstfrei haben,<br />
und sich frische Lebensmittel besorgen. Täten wir doch auch.<br />
Das gefällt mir nicht, Lieutenant.«<br />
Edwards nickte zust<strong>im</strong>mend. »Gut, wenden wir uns nach Osten.<br />
Unser Proviant ist praktisch alle.«<br />
»Wir können ja angeln.«<br />
Faslane, Schottland<br />
Chicago führte die Prozession an. Ein Schlepper der Royal Navy<br />
hatte das Boot vom Kai bugsiert, und nun fuhr es mit sechs Knoten<br />
hinaus aufs offene Meer. Sie machten sich ein »Fenster« in der<br />
sowjetischen Radarüberwachung zunutze; der nächste Durchlauf<br />
eines russischen Spähsatelliten stand erst in sechs Stunden bevor.<br />
Hinter McCafferty kamen <strong>im</strong> Abstand von zwei Meilen Boston,<br />
Pittsburgh, Providence, Key West und Groton.<br />
»Tiefe?« fragte McCafferty über die Bordsprechanlage.<br />
»Fünfhundertsiebzig Fuß.«<br />
Es war Zeit. McCafferty beorderte die Ausgucks nach unten.<br />
Schiffe waren nur achteraus sichtbar. Boston war deutlich auszumachen;<br />
der schwarze Turm und die beiden Tiefenruder glitten<br />
übers Wasser und erinnerten an einen Todesengel. Angemessener<br />
Vergleich, dachte McCafferty, sah sich noch ein letztes Mal auf der<br />
Kommandobrücke auf dem Turm um, kletterte dann nach unten<br />
und zog das Luk hinter sich zu. Sieben Meter tiefer, und er stand in<br />
der Angriffszentrale, wo er ein weiteres Luk schloß.<br />
»Brücke tauchklar!« leitete der Erste Offizier die Litanei ein.<br />
426
Checklisten hatten U-Boot-Fahrer schon lange vor den Fliegern<br />
entwickelt. McCafferty sah sich die Armaturen selbst an - und<br />
andere Crewmitglieder folgten he<strong>im</strong>lich seinem Beispiel. Alles war<br />
so, wie es sein sollte.<br />
»Tauchen. Auf zweihundert Fuß gehen«, befahl McCafferty.<br />
Der Lärm entweichender Luft und einströmenden Wassers erfüllte<br />
den Rumpf, als das elegante schwarze Boot in die Tiefe glitt.<br />
McCafferty führte sich die Seekarte vor Augen. Vierundsiebzig<br />
Stunden bis zum Packeis, dann nach Osten abdrehen. Dreiundvierzig<br />
Stunden bis Swiatjana und nach Süden. Dann wurde es<br />
knifflig.<br />
Stendal, DDR<br />
Die Schlacht um Alfeld entwickelte sich zu einem Ungeheuer, das<br />
Männer und Panzer verschlang. Alexejew fand es unerträglich,<br />
zweihundert Kilometer von der Panzerdivision, die er nun als seine<br />
betrachtete, entfernt zu sein. Und die Tatsache, dass er über seine<br />
Ablösung nicht klagen konnte, machte alles nur noch schl<strong>im</strong>mer.<br />
Der neue Kommandeur hatte einen erfolgreichen Angriff über den<br />
Fluß geführt und zwei weitere mechanisierte Infanteriereg<strong>im</strong>enter<br />
ans andere Ufer gebracht. Im Augenblick versuchte man, trotz<br />
mörderischen Artilleriefeuers von der Nato drei Pontonbrücken<br />
über die Leine zu schlagen.<br />
»Wir haben einen Zusammenprall provoziert, Pascha«, sagte der<br />
OB West und starrte auf die Karte.<br />
Alexejew nickte zust<strong>im</strong>mend. Was als begrenzte Attacke begonnen<br />
hatte, war nun zum Brennpunkt der gesamten Front geworden.<br />
Inzwischen befanden sich zwei weitere sowjetische Panzerdivisionen<br />
in der Nähe des Kampfgebietes und eilten zur Leine. Bekannt<br />
war, dass auch drei Nato-Brigaden mit Artillerie auf diese Stelle<br />
zuhielten. Beide Seiten zogen Kampfflugzeuge von anderen Sektoren<br />
ab, die eine, um den Brückenkopf zu zerschlagen, die andere,<br />
um ihn zu decken. Das Terrain an der Front gab den SAM-Bedienungen<br />
nicht genug Zeit für die Freund-Feind-Kennung. Da die<br />
Russen über wesentlich mehr Boden-Luft-Raketen verfügten, war<br />
bei Alfeld eine Feuer-Frei-Zone eingerichtet worden. Alles, was<br />
flog, stellte au<strong>tom</strong>atisch ein Ziel für die russischen Raketen dar,<br />
427
während sich die sowjetischen Maschinen fernhielten und Artillerie<br />
und Verstärkungen der Nato angriffen.<br />
Alexejew fuhr über seinen Stirnverband. Sein Kopf schmerzte<br />
mörderisch; der Arzt hatte ihn mit zwölf Stichen genäht und gewarnt,<br />
es würde eine Narbe zurückbleiben. Auch sein Vater hatte<br />
solche Narben gehabt und mit Stolz getragen. Für diese Verwundung<br />
würde er eine Auszeichnung entgegennehmen.<br />
»Wir haben die Amerikaner von der Höhe nördlich der Stadt<br />
geworfen!« meldete der Kommandeur der 2o. Panzerdivision über<br />
Funk.<br />
Alexejew griff nach dem Hörer. »Wann sind die Brücken soweit?«<br />
»Die erste in einer halben Stunde. Der feindliche Artilleriebeschuß<br />
läßt nach. Eine Brückeneinheit wurde zerschlagen, aber diese<br />
wird nun fertig. Ein Bataillon Panzer habe ich schon bereitstehen.<br />
Die SAM leisten gute Arbeit. Von hier aus kann ich fünf Flugzeugwracks<br />
sehen. Ich sehe auch -« Ein Donnerschlag unterbrach den<br />
General.<br />
Alexejew konnte nur den Hörer anstarren und umklammern.<br />
»Verzeihung, aber das war knapp. Im Augenblick wird der letzte<br />
Brückenabschnitt herangeschafft. Die Pioniere haben schreckliche<br />
Verluste erlitten, Genosse General, und bedürfen besonderer Aufmerksamkeit.<br />
Ihr Major steht jetzt seit drei Stunden <strong>im</strong> Feuer. Für<br />
ihn will ich den Goldenen Stern.«<br />
»Den soll er bekommen.«<br />
»Ah, ausgezeichnet - der Brückenabschnitt ist abgeladen und <strong>im</strong><br />
Wasser. Wenn man uns jetzt nur zehn Minuten Zeit läßt, um ihn<br />
auf der anderen Seite zu verankern, schaffe ich Ihnen die Panzer<br />
hinüber. Wann kommen meine Verstärkungen?«<br />
»Die ersten Einheiten treffen kurz nach Sonnenuntergang ein.«<br />
»Gut! Ich Muss nun Schluß machen und melde mich wieder, wenn<br />
wir die Panzer rollen lassen.«<br />
Alexejew gab den Hörer an einen jungen Offizier zurück.<br />
»Was ist unser nächstes Ziel, Pascha?«<br />
»Hameln, und von dort aus geht's weiter. Es mag uns gelingen,<br />
die nördlichen Heeresgruppen der Nato abzuschneiden. Sobald<br />
ihre Verbände bei Hamburg sich abzusetzen beginnen, gehen wir<br />
zum Generalangriff über und jagen sie bis zum Ärmelkanal! Es hat<br />
den Anschein, als wäre die erhoffte Situation endlich da.«<br />
428
Brüssel<br />
Im Hauptquartier der Nato betrachteten Stabsoffiziere die gleichen<br />
Karten und gelangten zu denselben Schlüssen, wenngleich mit geringerem<br />
Enthusiasmus. Die Reserven waren gefährlich schwach <br />
aber es gab keine andere Wahl. Männer und Waffen strömten in<br />
<strong>im</strong>mer größerer Zahl nach Alfeld.<br />
Panama<br />
Es war der seit Jahren größte Schiffstransit der US-Navy. Die<br />
grauen Schiffe benutzten beide Seiten jeder Schleuse, die für den<br />
Verkehr nach Westen gesperrt waren. Man hatte es eilig. Hubschrauber<br />
brachten die Kanallotsen auf die Schiffe; trotz der Erosionsprobleme<br />
am Gaillard Cut hielt man sich nicht an Geschwindigkeitsbeschränkungen.<br />
Schiffe, die bunkern mussten, taten das<br />
gleich hinter den Gatun-Schleusen am Ausgang des Kanals und<br />
bildeten dann vor der L<strong>im</strong>on Bay eine U-Boot-Sperre. Der Transit<br />
vom Pazifik in den Atlantik nahm zwölf Stunden in Anspruch.<br />
Dann lief die Flotte mit zweiundzwanzig Knoten nach Norden, um<br />
bei Nacht durch die Windward Passage zu fahren.<br />
429
Boston, Massachusetts<br />
30<br />
Annäherungen<br />
Seeluft nennt man es, dachte Morris, aber in Wirklichkeit kommt<br />
der Geruch vom Land - vom Watt und aus Sümpfen. Seeleute<br />
lieben diesen Geruch, weil er bedeutet, dass Land, Hafen und Familie<br />
nahe sind. Ansonsten geht man solche Düfte am besten mit<br />
Desinfektionsmittel an.<br />
Der Schlepper Papago verkürzte die Trosse, um seinen Schutzbefohlenen<br />
in den engen Gewässern besser kontrollieren zu können.<br />
Drei Hafenschlepper kamen längsseits und warfen den Matrosen<br />
der Fregatte Anholtaue zu. Als diese festgemacht waren, warf Papago<br />
die Trosse los und fuhr stromaufwärts, um Treibstoff zu<br />
bunkern. »Guten Tag, Sir.« Mit einem Schlepper war der Hafenlotse<br />
gekommen, der aussah, als täte er diese Arbeit schon seit<br />
Jahren. »Wie ich sehe, haben Sie drei russische U-Boote versenkt.«<br />
»Nur eines ganz allein. Bei den beiden anderen halfen wir nur<br />
mit.«<br />
»Ihr Tiefgang am Bug?«<br />
»Knapp fünfundzwanzig Fuß - Moment«, musste Morris sich<br />
verbessern. Der Sonardom lag inzwischen auf dem Grund des<br />
Atlantiks.<br />
»Wenigstens haben Sie Ihr Schiff zurückgebracht, Sir«, meinte<br />
der Lotse. »Unsere Blechdose hat's damals nicht geschafft. USS<br />
Callaghan, Nummer 792.. Zwölf japanische Maschinen schössen<br />
wir ab, aber um Mitternacht kam der dreizehnte Kamikaze durch.<br />
Siebenundvierzig Tote. Na ja.« Der Lotse holte sein Sprechfunkgerät<br />
aus der Tasche und begann, den Schleppern Anweisungen zu<br />
geben. Die Pharris wurde seitlich auf eine Pier zubewegt und sicher<br />
vertäut. Hinter Matrosen <strong>im</strong> Ausgehanzug, die eine Sperrkette<br />
bildeten, warteten drei Kamerateams vom Fernsehen. Sowie die<br />
Laufplanke geriggt war, eilte ein Offizier an Bord und kam sofort<br />
auf die Brücke.<br />
430
»Sir, ich bin Lieutenant Commander Anders und soll Ihnen<br />
dies übergeben.« Er überreichte einen amtlich aussehenden Umschlag.<br />
Morris riß ihn auf und fand auf einem Standardformular der<br />
Navy den knappen Befehl, er möge sich auf schnellstem Weg nach<br />
Norfolk begeben.<br />
"Und mein Schiff?«<br />
»Darum werde ich mich kümmern, Sir.«<br />
Einfach so, dachte Morris, nickte und ging unter Deck, um seine<br />
Sachen zu holen. Zehn Minuten später schritt er wortlos an den<br />
Fernsehkameras vorbei und wurde zum Logan International Airport<br />
gebracht.<br />
Stornoway, Schottland<br />
Toland ging die Satellitenfotos von Islands vier Flugplätzen durch.<br />
Seltsamerweise machten die Russen keinen Gebrauch von dem<br />
alten Flugfeld bei Keflavik, sondern stationierten ihre Jäger in<br />
Reykjavik und auf dem neuen Nato-Stützpunkt. Hin und wieder<br />
landeten ein, zwei Backfire in Keflavik, Bomber mit technischen<br />
Problemen oder knappem Treibstoff, aber das war auch alles.<br />
Inzwischen zeigten die Angriffe der Jäger ihre Wirkung - die Russen<br />
nahmen ihre Lufttankmanöver inzwischen weiter <strong>im</strong> Norden<br />
und Osten vor, was eine geringfügig negative Auswirkung auf die<br />
Reichweite der Backfire hatte: Laut Expertenmeinung blieben<br />
ihnen nun zwanzig Minuten weniger für die Suche nach Geleitzügen.<br />
Trotz der Sucharbeit der Bear und der Satellitenaufklärung<br />
flogen nur zwei Drittel der Verbände tatsächlich Angriffe. Den<br />
Grund hierfür kannte Toland nicht. Hatten die Sowjets Probleme<br />
mit der Kommunikation? Und ließen sich diese womöglich ausnutzen?<br />
Die Backfire setzten den Konvois nach wie vor böse zu. Auf<br />
energischen Druck der Navy hin hatte die Luftwaffe begonnen, in<br />
Neufundland und auf Bermuda und den Azoren Kampfflugzeuge<br />
zu stationieren, die mit Hilfe von Lufttankern versuchten, über<br />
Geleitzügen in ihrer Reichweite Patrouille zu fliegen. Hoffnung auf<br />
die Zerschlagung eines Backfire-Verbandes bestand zwar nicht,<br />
aber man konnte mit dem Ausdünnen der Bear beginnen. Die<br />
431
Sowjets verfügten nur über rund dreißig der weitreichenden Aufklärer<br />
Bear-D. Ungefähr zehn dieser Maschinen waren täglich in<br />
der Luft und wiesen Bombern und U-Booten mit Hilfe ihres leistungsfähigen<br />
Big-Bulge-Radars den Weg zu den Konvois. Aufgrund<br />
ihrer elektronischen Emissionen waren sie von einem<br />
Kampfflugzeug, sollte ein solches verfügbar sein, relativ leicht aufzuspüren.<br />
Nach langem Exper<strong>im</strong>entieren führten die Russen ihre<br />
Luftoperationen nach einem voraussehbaren Muster durch, und<br />
das sollte sie teuer zu stehen kommen, denn ab morgen flog die Air<br />
Force über sechs Geleitzügen mit jeweils zwei Maschinen Patrouille.<br />
Auch die Stationierung russischer Flugzeuge auf Island<br />
würde bald ihren Preis haben.<br />
«Ich schätze sie auf ein Reg<strong>im</strong>ent, vierundzwanzig bis siebenundzwanzig<br />
Flugzeuge, alles MiG-29 Fulcrum«, sagte Toland. »Am<br />
Boden scheinen wir nie mehr als einundzwanzig auszumachen, was<br />
auf eine ziemlich regelmäßige Kampfpatrouillentätigkeit hinweist,<br />
sagen wir, vier Vögel sind praktisch rund um die Uhr in der Luft. Es<br />
sieht auch so aus, als verfügten sie über drei Bodenradaranlagen,<br />
die häufig umpositioniert werden. Wäre das Stören dieser Anlagen<br />
ein Problem?«<br />
Ein Jägerpilot schüttelte den Kopf. »Nein, mit der richtigen<br />
Unterstützung nicht.«<br />
»Also brauchen wir nur die MiG vom Boden zu scheuchen und<br />
ein paar abzuschießen.« Die Kommandeure beider Tomcat-Geschwader<br />
standen neben Toland und schauten auf die Karten.<br />
»Von diesem SAM sollten wir uns aber fernhalten. Unsere Jungs in<br />
Deutschland halten die SAM-11 für sehr unangenehm.«<br />
Der erste Versuch der US Air Force, Keflavik mit B-52 zu zerstören,<br />
war ein Desaster gewesen. Weitere Anstrengungen mit kleineren,<br />
schnelleren FB-111 hatten die Russen zwar gestört, den Stützpunkt<br />
aber nicht ausschalten können. Das Strategische Luftkommando<br />
SAC war nicht bereit, seine schnellsten strategischen Bomber<br />
hierfür freizustellen. Noch <strong>im</strong>mer war kein erfolgreicher Einsatz<br />
gegen das Haupttanklager gelungen.<br />
»Versuchen wir, die Air Force zu einem weiteren Einsatz mit B<br />
52 zu bewegen«, schlug ein Kampfpilot vor. »Anfliegen können sie<br />
wie gehabt, abgesehen...« Er gab einen kurzen Überblick über<br />
mögliche Änderungen des Angriffsprofils. »Inzwischen haben wir<br />
ja die Prowler, da könnte das hinhauen.«<br />
432
»Niederhalten kann ich das SAM-Radar schon«, erklärte der<br />
Pilot der vierzig Millionen Dollar teuren Prowler, »aber vergessen<br />
Sie nicht, dass die SA-11 über ein Infrarot-Notsystem verfügt. Jede<br />
Tomcat, die sich diesen Startern auf zehn Meilen nähert, läuft<br />
Gefahr, vom H<strong>im</strong>mel geholt zu werden.« Wirklich häßlich an der<br />
SA-11 war die Tatsache, dass sie keinen Rauch hinter sich herzogen;<br />
einer Rakete, die unsichtbar ist, kann man nur schwer ausweichen.<br />
»Von den SAM halten wir uns fern. Zum ersten Mal, Gentlemen,<br />
haben wir die besseren Chancen.« Die Kampfpiloten begannen,<br />
einen Plan auszuarbeiten. Inzwischen lagen solide Informationen<br />
über die Operationsweise der russischen Jäger <strong>im</strong> Gefecht vor. Die<br />
sowjetische Taktik war gut, aber berechenbar. Wenn die Amerikaner<br />
eine Situation herstellten, für die die Russen ausgebildet waren,<br />
wussten sie, wie sie reagieren würden.<br />
Stendal, DDR<br />
Alexejew hatte sich die Aufgabe zwar nicht leicht vorgestellt, andererseits<br />
aber auch nicht erwartet, dass die Nato-Luftwaffen den<br />
Nachth<strong>im</strong>mel beherrschten. Vier Minuten nach Mitternacht war<br />
der Sender des Hauptquartiers des OB West von einer Maschine,<br />
die noch nicht einmal auf den Radarschirmen aufgetaucht war,<br />
zerstört worden. Bislang hatten sie über drei Ausweichsender verfügt,<br />
alle über zehn Kilometer von dem unterirdischen Bunkerkomplex<br />
entfernt. Nun war nur noch einer übrig, abgesehen von einem<br />
mobilen Sender, der schon beschädigt war. Die unterirdischen Telefonkabel<br />
wurden zwar noch benutzt, doch der Vormarsch in feindliches<br />
Territorium hatte zu unzuverlässigen Nachrichtenverbindungen<br />
geführt. Zu oft kam es vor, dass von Fernmeldetruppen<br />
gezogene Freileitungen von Luftangriffen zerstört wurden. Man<br />
war also auf die Funkverbindungen angewiesen, und gerade diese<br />
schaltete die Nato systematisch aus. Es war sogar ein Angriff auf<br />
den Bunkerkomplex versucht worden - acht Jagdbomber hatten<br />
eine Scheinanlage zwischen zwei Sendern ausgiebig mit Napalm,<br />
Streubomben und Sprengladungen mit Zeitzünder belegt. Nach<br />
Auffassung der Sprengstoffexperten hätte es bei dem Angriff auf<br />
den echten Komplex Opfer gegeben. Soweit das Geschick unserer<br />
Pioniere, dachte Alexejew. Eigentlich sollten die Bunker nämlich<br />
433
auch die Druckwelle eines in der Nähe detonierenden Kernsprengkopfes<br />
überstehen.<br />
Alexejew hatte eine Division in voller Kampfstärke über die<br />
Leine geschafft - oder eher den Teil einer Division, korrigierte er<br />
sich. Die beiden verstärkenden Divisionen versuchten nun überzusetzen,<br />
doch diese Verbände waren über Nacht ebenso wie die<br />
Schw<strong>im</strong>mbrücken bombardiert worden. Langsam begannen die<br />
Verstärkungen der Nato einzutreffen - auch sie hatten be<strong>im</strong> Vormarsch<br />
über die Straßen unter Luftangriffen zu leiden gehabt, doch<br />
die Verluste der sowjetischen Jagdbomber waren erschreckend gewesen.<br />
Der Schlüssel zum Erfolg lag in seiner Fähigkeit, die Brücken<br />
über die Leine intakt zu halten und den Verkehr flüssig nach Alfeld<br />
zu leiten. Die Verkehrsregelung war schon zwe<strong>im</strong>al zusammengebrochen,<br />
ehe Alexejew sie von einem Team von Obersten überwachen<br />
ließ.<br />
»Wir hätten uns einen besseren Platz aussuchen sollen», murmelte<br />
Alexejew.<br />
»Wie bitte, Genosse General?«<br />
»Es führt nur eine gute Straße nach Alfeld.« Der General lächelte<br />
ironisch. »Wir hätten unseren Durchbruch bei einer Stadt mit<br />
mindestens drei erzielen sollen.«<br />
Sie sahen zu, wie hölzerne Symbole auf der Karte entlangkrochen.<br />
Jedes stellte ein Bataillon dar. Flak- und Flarak-Einheiten<br />
säumten diesen Korridor nördlich und südlich der Straße, die unablässig<br />
von Minen geräumt werden musste, die die Nato erstmals in<br />
großer Anzahl abwarf.<br />
»Die 20. Panzerdivision hat ernsthafte Verluste erlitten«, sagte<br />
der General leise. Seine Division. Der Durchbruch hätte rasch<br />
vonstatten gehen können - wären da nicht die Nato-Flugzeuge<br />
gewesen.<br />
»Mit dem Eintreffen der beiden verstärkenden Divisionen ist das<br />
Manöver komplett«, prophezeite Sergetow zuversichtlich.<br />
Alexejew teilte diese Ansicht. Es sei denn, es ging etwas schief.<br />
Norfolk, Virginia<br />
Morris saß dem COMNAVSURFLANT gegenüber, dem Oberbefehlshaber<br />
der Überwasserflotte der US-Navy <strong>im</strong> Atlantik. »Der<br />
434
Iwan hat seine Taktik geändert, und zwar sehr viel rascher, als wir<br />
es ihm zugetraut haben. Er konzentriert sich nun auf die Eskorten.<br />
Der Angriff auf Ihre Fregatte war kein Zufall: Ihnen wurde vermutlich<br />
aufgelauert.«<br />
»Es wird also versucht, die Geleitzüge zurückzuwerfen, Sir?«<br />
»Ja, und zwar bevorzugt Schiffe mit Schleppsonar. Wir haben<br />
der sowjetischen U-Boot-Flotte Verluste zugefügt. Unsere mit<br />
Schleppsonar ausgerüsteten Außenposten haben sich sehr gut bewährt.<br />
Dies ist dem Iwan nicht verborgen geblieben, und aus diesem<br />
Grunde versucht er, sie auszuschalten. Er hält auch nach den<br />
SURTASS-Schiffen Ausschau, aber das ist schon eine kniffligere<br />
Sache. Drei U-Boote, die versuchten, sich anzuschleichen, haben<br />
wir versenkt.«<br />
Morris nickte. SURTASS waren umgebaute Thunfischkutter, die<br />
gewaltige Passivsonar-Batterien schleppten. Man hatte zwar nur<br />
genug für die Hälfte der Geleitzugrouten, doch diese lieferten gute<br />
Daten an das ASW-Hauptquartier in Norfolk. »Warum läßt man<br />
die Schiffe nicht von Backfire angreifen?«<br />
»Diese Frage haben wir uns auch schon gestellt. Offenbar ist das<br />
den Russen nicht die Mühe wert. Zudem sind die elektronischen<br />
Fähigkeiten der SURTASS-Einheiten größer, als jeder erwartet<br />
hatte. Mit Radar lassen sie sich nicht so leicht orten.« Der Admiral<br />
machte eine Pause und sagte dann: »Ich werde Sie für eine Auszeichnung<br />
vorschlagen, Ed. Sie haben gute Arbeit geleistet. Besser<br />
als Sie waren nur drei Kommandanten, und von denen ist einer<br />
gestern ausgefallen. Wie schwer ist Ihr Schaden?«<br />
»Vermutlich total. Wir wurden vom Torpedo eines Victor am<br />
Bug getroffen. Der Kiel brach, und der Bug löste sich vom Schiff,<br />
Sir.« Der Admiral nickte. Auch er hatte die Schadensmeldung<br />
gesehen.<br />
»Sie haben das Schiff gerettet, Ed. Gratuliere. Die Pharris<br />
braucht Sie <strong>im</strong> Augenblick nicht. Ich möchte Sie hier bei meinem<br />
Stab haben. Auch wir müssen unsere Taktik ändern. Sehen Sie sich<br />
an, was über Feindlage und Gefechtserfahrungen vorliegt, und<br />
liefern Sie mir ein paar Ideen.«<br />
»Vielleicht schieben wir als erstes mal diesen verdammten Backfire<br />
einen Riegel vor.«<br />
»Daran wird schon gearbeitet.« In der Antwort schwangen Zuversicht<br />
und zugleich Skepsis mit.<br />
435
Windward Passage<br />
Im Osten lag Hispaniola, <strong>im</strong> Westen Kuba. Die Schiffe liefen verdunkelt<br />
in Gefechtsformation, begleitet von Zerstörern und Fregatten,<br />
die Radargeräte in Bereitschaft. Raketen lagen auf den Startern<br />
und waren nach Backbord gerichtet. Ihre Bedienungen schwitzten<br />
auf ihren kl<strong>im</strong>atisierten Gefechtsstationen.<br />
Mit Ärger rechnete man nicht. Castro hatte der amerikanischen<br />
Regierung zu verstehen gegeben, er habe mit dieser Angelegenheit<br />
nichts zu tun und sei vielmehr erbost, weil man ihn nicht informiert<br />
hatte. Unter diplomatischen Gesichtspunkten war es allerdings<br />
wichtig, dass die amerikanische Flotte die Passage in der Nacht<br />
durchfuhr, damit die Kubaner wahrheitsgemäß behaupten konnten,<br />
nichts gesehen zu haben. Zum Zeichen seines guten Willens<br />
hatte Castro die Amerikaner sogar auf ein sowjetisches U-Boot in<br />
der Straße von Florida aufmerksam gemacht.<br />
Die Marine wusste nur, dass mit ernsthafter Gegenwehr nicht zu<br />
rechnen war. Ihre Hubschrauber hatten eine Kette aus Sonobojen<br />
ausgelegt, ihre ESM-Empfänger lauschten auf das pulsierende Signal<br />
sowjetischer Radargeräte. Auf den Masten suchten Ausgucks<br />
mit Nachtsichtgeräten den H<strong>im</strong>mel nach Flugzeugen ab.<br />
Ein Fregattenkapitän saß in der Gefechtszentrale seines Schiffes<br />
und hatte links von sich den Kartentisch und rechts die taktische<br />
Anzeige, an der ein junger Offizier stand. Bekannt war, dass die<br />
Kubaner entlang ihrer Küste Boden-Boden-Raketenbatterien aufgestellt<br />
hatten. Auf dem Vorschiff waren Raketenstarter, Dreizöller<br />
und das DISW geladen und ausgerichtet. Der Kaffee war ein Fehler<br />
gewesen, sagte sich der Captain, aber er musste hellwach bleiben.<br />
Das Resultat war ein stechender Magenschmerz. Er erwog, mit dem<br />
Sanitäter zu sprechen, verwarf den Gedanken aber. Dazu war keine<br />
Zeit.<br />
Es geschah nach der dritten Tasse Kaffee. Der Schmerz kam so<br />
jäh wie ein Messerstich. Der Captain krümmte sich und erbrach<br />
sich auf das Fliesendeck der Zentrale. Ein Matrose wischte alles<br />
sofort auf; in der Dunkelheit sah niemand das Blut. Der Captain<br />
konnte seine Station trotz der Schmerzen und des Schüttelfrostes<br />
nach dem Blutverlust nicht verlassen. Er nahm sich vor, für die<br />
nächsten paar Stunden auf Kaffee zu verzichten und später den<br />
Sanitäter aufzusuchen.<br />
436
Virginia Beach, Virginia<br />
Morris fand sein Haus verlassen vor. Auf seinen Vorschlag hin war<br />
seine Frau mit den Kindern nach Kansas zu ihren Eltern gefahren.<br />
Nun bedauerte er das. Morris brauchte Gesellschaft und eine Umarmung,<br />
und er wollte seine Kinder sehen. Gleich, nachdem er das<br />
Haus betreten hatte, ging er ans Telefon. Seine Frau wusste bereits,<br />
was mit dem Schiff passiert war, hatte den Kindern aber noch nichts<br />
davon gesagt. Es dauerte eine Weile, bis er sie davon überzeugt<br />
hatte, dass er unversehrt und zu Hause war. Dann kamen die Kinder<br />
an den Apparat, und am Ende stellte sich heraus, dass seine Familie<br />
keinen Flug nach Hause buchen konnte. Alle Passagiermaschinen<br />
transportierten entweder Soldaten oder Nachschub ins Ausland<br />
oder waren bis Mitte August ausgebucht. Es hatte keinen Sinn,<br />
entschied Ed Morris, seiner Familie die lange Fahrt von Salinas<br />
nach Kansas City zuzumuten, nur für den Fall, dass Sitze frei wurden.<br />
Der Abschied am Telefon fiel ihm schwer.<br />
Aber die nächste Aufgabe war noch schwerer. Commander Edward<br />
Morris zog seine weiße Ausgehuniform an und nahm die Liste<br />
der Familien, die benachrichtigt werden mussten, aus der Brieftasche.<br />
Sie waren zwar bereits offiziell verständigt worden, aber es<br />
gehörte zu den Pflichten eines Kommandanten, die Hinterbliebenen<br />
persönlich aufzusuchen. Die Witwe seines Ersten Offiziers<br />
wohnte ganz in der Nähe. Wie oft hatte er dort sonntags <strong>im</strong> Garten<br />
gesessen und zugesehen, wie die Steaks auf dem Grill brutzelten?<br />
Was sollte er der Frau nun sagen? Und den anderen Witwen? Und<br />
erst den Kindern?<br />
Morris ging zu seinem Wagen. Das Kennzeichen FF-1094 kam<br />
ihm nun wie der blanke Hohn vor. Nicht jeder musste sein Versagen<br />
so an die große Glocke hängen. Als er den Motor anließ, fragte er<br />
sich, ob ihn dieser schreckliche Augenblick auf der Brücke für den<br />
Rest seines Lebens <strong>im</strong> Traum verfolgen würde.<br />
Island<br />
Zum ersten Mal war Edwards dem Sergeant in einer Überlebenstechnik<br />
über. Trotz seiner angeblichen Angelkünste kam Smith<br />
nach einer Stunde mit leeren Händen zurück und reichte Mike<br />
437
angewidert die Rute. Zehn Minuten später zog Edwards eine vierpfündige<br />
Forelle an Land.<br />
»Nicht zu glauben«, grollte Smith.<br />
Für die letzten zehn Kilometer hatten sie elf Stunden gebraucht.<br />
Auf der einzigen Straße, die sie überqueren mussten, hatte viel<br />
Verkehr geherrscht. Alle paar Minuten war ein Fahrzeug nach<br />
Norden oder Süden gerollt. Für die Russen war diese Schotterstraße<br />
die Hauptverbindung zur Nordküste. Edwards und seine Gruppe<br />
hatten sechs Stunden lang in einem Lavafeld ausharren müssen, bis<br />
sie die Straße sicher überqueren konnten. Zwe<strong>im</strong>al hatten sie Hubschrauber<br />
Mi-24 Streife fliegen sehen, aber keiner war ihnen nahe<br />
gekommen. Auch Patrouillen zu Fuß schien es keine zu geben, und<br />
Edwards gelangte zu dem Schluß, dass die Sowjets zahlenmäßig<br />
nicht stark genug waren, um die große Insel in ihrer Gesamtheit zu<br />
kontrollieren. Auf diese Erkenntnis hin holte er seine russische<br />
Landkarte hervor und versuchte, die kyrillischen Buchstaben zu<br />
entziffern. Die sowjetischen Truppen waren in einem Halbkreis um<br />
die Halbinsel Reykjavik konzentriert. Das gab er über Funk nach<br />
Schottland durch und erklärte zehn Minuten lang die Bedeutung<br />
der Symbole auf der Karte.<br />
Als es zu dämmern begann, ließ der Verkehr nach, so dass sie die<br />
Straße <strong>im</strong> Laufschritt überqueren konnten. Nun lag ein Gebiet mit<br />
Seen und Bächen vor ihnen, und der Proviant war ihnen ausgegangen.<br />
Genug ist genug, entschied Edwards. Sie mussten wieder einen<br />
Ruhetag einlegen und angeln, damit sie etwas zu essen bekamen.<br />
Die nächste Etappe führte durch unbewohntes Gebiet.<br />
Sein Gewehr und seine Ausrüstung lagen abgedeckt von seiner<br />
Camouflage-Jacke neben einem Felsbrocken. Vigdis, die den ganzen<br />
Tag kaum von ihm gewichen war, stand neben ihm. Die vier<br />
Mannes hatten sich Plätze zum Ausruhen gesucht und überließen<br />
das Fischen ihrem Lieutenant. Sein Pullover hielt ihm die Schnaken<br />
vom Leib, aber sein Gesicht bekam seinen Teil ab. Unzählige<br />
schwebten über dem Bach, und die Forellen machten auf sie Jagd.<br />
Jedesmal, wenn die Oberfläche sich kräuselte, warf er den gefiederten<br />
Köder aus. Und die Rute bog sich wieder.<br />
»Das ist ein Dicker!« Er drehte sich um und sah Vigdis lachen.<br />
Eine Minute später zog sie den Fisch aus dem Wasser.<br />
»Drei Kilo!« Sie hob die Forelle hoch.<br />
Der Hubschrauber tauchte ohne Warnung auf. »Keine Bewe<br />
438
gung!« brüllte Smith. Die Marines hatten gute Deckung, aber Mike<br />
und Vigdis standen exponiert.<br />
»Mein Gott«, hauchte Edwards und holte den Rest der Angelschnur<br />
ein. »Nehmen Sie den Fisch vom Haken, aber ganz entspannt.«<br />
Sie hielt dem herannahenden Hubschrauber den Rücken zugekehrt<br />
und holte dem zappelnden Fisch mit zitternden Fingern den<br />
Haken aus dem Maul.<br />
»Wird schon gut, Vigdis.« Er schlang ihr den Arm um die Taille<br />
und entfernte sich langsam vom Bach. Sie griff nach ihm und zog<br />
ihn an sich.<br />
Der Hubschrauber war nun knapp fünfhundert Meter von ihnen<br />
entfernt, hielt mit gesenkter Nase direkt auf sie zu. Sein mehrläufiges<br />
Maschinengewehr war auf sie gerichtet.<br />
Langsam griff Vigdis nach Edwards' Hand und legte sie auf ihre<br />
linke Brust. Dann hielt sie den Fisch hoch. Mike ließ die Angelrute<br />
fallen und bückte sich nach der anderen Forelle. Vigdis folgte seinen<br />
Bewegungen und sorgte dafür, dass seine Hand an Ort und Stelle<br />
blieb. Nun zeigte auch Mike seinen Fisch der Besatzung des fünfzig<br />
Meter vor ihnen schwebenden Helikopters.<br />
Er bleckte die Zähne zu einem Grinsen und zischte: »Verpiß<br />
dich!«<br />
»Mein Vater angelt auch gerne«, sagte der Oberleutnant am Steuerknüppel.<br />
»Scheiß auf den Fisch«, versetzte der Schütze. »Gucken Sie mal,<br />
wo der Saukerl seine Hand hat!«<br />
Der Pilot warf einen Blick auf die Treibstoffanzeigen. »Die zwei<br />
sehen harmlos aus. Und wir haben gerade noch genug Sprit für<br />
dreißig Minuten. Zeit, zurückzufliegen.«<br />
Das Heck des Hubschraubers senkte sich, und einen gräßlichen<br />
Augenblick glaubte Edwards, er wolle landen. Doch dann machte<br />
die Maschine in der Luft einen Schwenk und flog nach Südwesten.<br />
Ein Soldat winkte ihnen aus der Seitentür zu. Vigdis winkte zurück.<br />
Sie blieben stehen; Vigdis hielt ihn mit dem linken Arm fest umschlungen.<br />
Edwards hatte nicht gewußt, dass sie keinen Büstenhalter<br />
trug. Er hatte nun Angst, seine Hand zu bewegen, um nicht den<br />
Eindruck zu erwecken, er wolle die Situation ausnutzen. Vigdis<br />
439
wandte sich zu ihm um, und seine Hand glitt weg, als sie den Kopf<br />
an seine Schulter legte. Idiotisch, da halte ich in einer Hand das<br />
schönste Mädchen, dem ich je begegnet bin, dachte Edwards, und<br />
in der anderen ausgerechnet einen Fisch. Er ließ den Fisch fallen,<br />
umschlang sie mit beiden Armen und drückte sie fest an sich.<br />
»Alles in Ordnung?«<br />
Sie schaute zu ihm auf. "Ich glaube schon.«<br />
Was er für sie empfand, war nur mit einem Wort zu beschreiben.<br />
Edwards aber wusste, dass Worte von Liebe hier fehl am Platz<br />
waren. Er küßte sie sanft auf die Wange und bekam einen Blick zur<br />
Antwort, der ihm mehr bedeutete als alle sexuellen Beziehungen in<br />
seinem Leben.<br />
Sergeant Smith räusperte sich in einiger Entfernung.<br />
Edwards löste sich von dem Mädchen. »Ja, marschieren wir<br />
weiter, ehe die es sich anders überlegen und zurückkommen.«<br />
US S Chicago<br />
Es klappte wie am Schnürchen. Amerikanische P-3C Orion und<br />
britische N<strong>im</strong>rod klärten über der Route zum Packeis auf. Die U-<br />
Boote waren gezwungen gewesen, einen Bogen um ein vermutetes<br />
russisches Boot zu fahren, aber das war auch alles gewesen. Offenbar<br />
hatte der Russe in dem Glauben, er habe <strong>im</strong> Norden alles unter<br />
Kontrolle, den Großteil seiner Boote nach Süden gesandt. Noch<br />
sechs Stunden bis zum Packeis.<br />
Chicago hatte seinen Turnus an der Spitze des »Güterzugs« aus<br />
U-Booten hinter sich und ließ sich treiben. Sein Sonar suchte das<br />
schwarze Wasser nach dem charakteristischen Geräusch eines russischen<br />
U-Bootes ab, doch außer dem fernen Grollen des Packeises<br />
war nichts zu vernehmen.<br />
Ein Ortungsteam ermittelte die Positionen der anderen amerikanischen<br />
Boote. McCafferty stellte mit Genugtuung fest, dass ihnen<br />
das nur unter Schwierigkeiten gelang, obwohl ihnen Amerikas<br />
bestes Sonargerät zur Verfügung stand. Wenn seine Leute Probleme<br />
bei der Ortung hatten, konnte es den Russen nicht besser ergehen.<br />
»Das war Boston, Sir«, sagte der IO. »Jetzt sind wir der Dienstwagen.«<br />
McCafferty schaute sich aufmerksam die Karte an, denn so viele<br />
440
Boote auf einem Kurs bedeuteten Kollisionsgefahr. Ein Steuermannsmaat<br />
las die Liste der Schwesterboote vor, die Chicago passiert<br />
hatten. Nun war der Kommandant zufrieden.<br />
»Zwei Drittel voraus-, befahl er. Der Rudergänger bestätigte<br />
den Befehl und drehte am Maschinentelegraphen.<br />
Chicago beschleunigte auf fünfzehn Knoten und ging am Ende<br />
des Güterzugs zur Arktis auf Station.<br />
441
Virginia Beach, Virginia<br />
31<br />
Dämonen<br />
»Ruder hart Steuerbord!« schrie Morris und wies auf die Blasenspur<br />
des Torpedos.<br />
»Ruder hart Steuerbord, aye«, erwiderte der Rudergänger.<br />
Morris stand an Backbord in der Brückennock. Das Meer war<br />
glatt, und das Kielwasser des Torpedos, der jeder Wendung der<br />
Fregatte folgte, deutlich zu erkennen. Morris versuchte sogar, rückwärts<br />
zu fahren, aber auch das nutzte nichts - der Torpedo schien<br />
sich seitwärts zu bewegen. Endlich kam der Fisch an die Oberfläche.<br />
Morris sah, dass er weiß war und einen roten Stern auf der Nase<br />
hatte... und Augen, wie alle zielsuchenden Torpedos. Er befahl<br />
äußerste Kraft voraus, doch der Torpedo blieb nun an der Oberfläche,<br />
jagte praktisch über sie hinweg wie ein fliegender Fisch.<br />
Langsam glitt er der manövrierenden Fregatte näher. Noch fünfzehn<br />
Meter, zehn, fünf...<br />
»Wo ist mein Papi?« klagte das kleine Mädchen. »Der Papi soll<br />
kommen.«<br />
»Wo hängt's, Sir?« fragte der IO. Seltsam, er hatte keinen Kopf<br />
mehr.<br />
Der Schweiß troff Morris vom Gesicht, als er mit jagendem<br />
Herzen <strong>im</strong> Bett hochfuhr. Die Digitaluhr zeigte 4 : 54 an. Ed Morris<br />
ging zitternd ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.<br />
Wieder einer dieser Alpträume, dachte er und fragte sich, ob er <strong>im</strong><br />
Schlaf geschrien hatte.<br />
Du hast getan, was du konntest, sagte er zu dem Gesicht <strong>im</strong><br />
Spiegel. Es war nicht deine Schuld.<br />
Nach dem fünften Angehörigenbesuch hatte er aufgeben müssen.<br />
Ehefrauen und Eltern hatten Verständnis; <strong>im</strong>merhin kannten sie<br />
das Risiko, das ihre Männer oder Söhne bei der Kriegsmarine<br />
eingegangen waren. Aber die vierjährige Tochter des Maats Jeff<br />
Evans hatte nicht verstehen können, warum ihr Vater nun nie mehr<br />
442
nach Hause kommen würde. Ein Maat verdiente nicht viel, wie<br />
Morris wusste. Evans musste sein kleines, aber tadelloses Haus<br />
selbst renoviert haben. Der Mann hatte geschickte Hände gehabt.<br />
Alle Wände waren frisch gestrichen, Fenster- und Türrahmen größtenteils<br />
ersetzt worden. Morris fragte sich, woher Evans die Zeit für<br />
die ganze Arbeit genommen hatte, denn die Familie wohnte erst seit<br />
sieben Monaten hier. Alles in Eigenarbeit gemacht... Handwerker<br />
hatte er sich best<strong>im</strong>mt nicht leisten können. Das Z<strong>im</strong>mer des kleinen<br />
Mädchens zeugte von der Liebe ihres Vaters. Auf selbstgefertigten<br />
Regalen standen Puppen aus aller Welt. Nachdem Morris dieses<br />
Z<strong>im</strong>mer gesehen hatte, musste er sich hastig verabschieden, denn er<br />
hatte das Gefühl, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.<br />
Absurde Verhaltensregeln ließen nicht zu, dass er sich vor<br />
Fremden so blamierte. So hatte er die Liste zurück in die Brieftasche<br />
gesteckt und war nach Hause gefahren. Er war zu Tode erschöpft<br />
und hoffte, nun endlich Schlaf zu finden.<br />
Aber nun stand er vor dem Spiegel und starrte einen hohläugigen<br />
Mann an, der sich nach seiner Frau sehnte.<br />
Morris ging in die Küche seines Bungalows und machte mechanisch<br />
Kaffee. Vor der Tür lag die Morgenzeitung, und er ertappte<br />
sich be<strong>im</strong> Lesen von überholten Kriegsberichten. Es entwickelte<br />
sich alles so rasch, dass die Reporter nicht mehr mitkamen. Ein<br />
Hintergrundartikel legte dar, Überwasserschiffe seien überholt und<br />
könnten entschlossenen Raketenangriffen nicht standhalten; außerdem<br />
wurde die Frage aufgeworfen, wo eigentlich die vielgespriesenen<br />
Flugzeugträger der Flotte seien. Gute Frage, dachte Morris.<br />
Er trank seinen Kaffee aus, duschte und beschloß, zur Arbeit zu<br />
gehen.<br />
Vierzig Minuten später befand er sich in einem der Lageräume,<br />
wo die Positionen der Geleitzüge und Stellen, an denen man feindliche<br />
U-Boote vermutete, dargestellt waren. An der Wand gegenüber<br />
zeigte eine Tafel die geschätzte russische Flottenstärke sowie Anzahl<br />
und Typ der bisher versenkten Schiffe an. Eine andere Schautafel<br />
stellte die eigenen Verluste dar. Wenn der Nachrichtendienst<br />
recht hatte, stand der Seekrieg unentschieden - und ein Unentschieden<br />
war für die Sowjets ein Sieg.<br />
»Guten Morgen, Commander«, sagte der COMNAVSUR<br />
FLANT. »Sie sehen ein bißchen besser aus. Und zur Abwechslung<br />
habe ich einmal gute Nachrichten.«<br />
443
Nordatlantik<br />
Die Besatzungen der B-52. waren trotz des starken Jägerschutzes<br />
nervös. Fünftausend Fuß über ihnen sorgte ein Geschwader F-14<br />
Tomcat für Deckung. Das zweite Geschwader wurde <strong>im</strong> Augenblick<br />
von KC-I35 in der Luft betankt. Die Sonne lugte über den<br />
Horizont, das Meer lag noch schwarz da. Es war drei Uhr früh, die<br />
Tageszeit, um die der Mensch am langsamsten reagiert.<br />
Keflavik,, Island<br />
Der Alarm scheuchte die schlafenden russischen Piloten von den<br />
Feldbetten. Das Bodenpersonal machte in weniger als zehn Sekunden<br />
die Maschinen startklar, die Flieger kletterten über Stahlleitern<br />
in ihre Cockpits und schlossen die Funkgeräte in ihren Helmen an,<br />
um zu erfahren, was anlag.<br />
»Starke feindliche Störtätigkeit <strong>im</strong> Westen«, verkündete der Reg<strong>im</strong>entskommandeur.<br />
»Plan drei. Wiederhole: Plan drei.«<br />
Im Leitstand, der sich in einem Anhänger befand, hatte weißes<br />
Fl<strong>im</strong>mern auf den Sichtgeräten gerade ein Chaos angerichtet. Ein<br />
amerikanischer Angriffsverband war <strong>im</strong> Anflug - vermutlich B-52..<br />
Bald kamen die amerikanischen Flugzeuge so nahe heran, dass das<br />
Bodenradar ihren Störvorhang »durchbrennen« konnte. Bis zu<br />
diesem Zeitpunkt planten die Piloten der Abfangjäger, sich dem<br />
Feind so weit draußen wie möglich entgegenzustellen, um die Anzahl<br />
der Bomber zu verringern.<br />
Die sowjetischen Piloten hatten auf Island fleißig geübt. Binnen<br />
zwei Minuten rollte das erste Paar MiG-29 an den Start, innerhalb<br />
von neun waren alle in der Luft. Der sowjetische Plan sah vor, dass<br />
ein Drittel der Maschinen über Keflavik blieb, während der Rest<br />
mit aktiviertem Zielsuchradar nach Westen auf die Störquelle zuraste.<br />
Nach zehn Minuten hörte das Stören auf. Ein MiG bekam kurz<br />
Radarkontakt mit einem sich zurückziehenden Störflugzeug und<br />
verständigte Keflavik, erfuhr aber von den Controllern am Boden,<br />
<strong>im</strong> Umkreis von dreihundert Kilometern befände sich nichts auf<br />
den Schirmen.<br />
Eine Minute später setzte das Stören erneut ein, diesmal von<br />
Süden und Osten. Die MiG waren diesmal vorsichtiger und flogen<br />
444
mit abgeschaltetem Radar nach Süden, doch als sie es hundert<br />
Meilen vor der Küste aktivierten, fanden sie nichts. Wer da störte,<br />
tat das aus großer Entfernung. Die Controller meldeten, an dem<br />
ersten Zwischenfall seien drei Störer, am zweiten vier beteiligt<br />
gewesen. Eine ganze Menge, dachte der Reg<strong>im</strong>entskommandeur.<br />
Man versucht, uns in die Irre zu führen und Treibstoff vergeuden zu<br />
lassen.<br />
Er befahl seine Flugzeuge nach Osten.<br />
Nun waren die Besatzungen der B-52. richtig nervös. Eine der<br />
eskortierenden Prowler hatte <strong>im</strong> Südwesten einen kurzen Luftabwehrradar<strong>im</strong>puls<br />
ausgemacht, eine zweite Funkbefehle von den<br />
MiG abgehört. Die Jäger nahmen eine leichte Kurskorrektur nach<br />
Süden vor und befanden sich nun hundertfünfzig Meilen von Keflavik<br />
über der isländischen Küste. Der Kommandeur des Unternehmens<br />
schätzte die Lage ein und befahl seinen Bombern, leicht nach<br />
Osten abzudrehen.<br />
Die B-52 hatten keine Bomben an Bord, sondern nur starke<br />
Radarstörsender, deren Zweck es war, anderen Bombern das Eindringen<br />
in die Sowjetunion zu ermöglichen. Unter ihnen stieß das<br />
zweite Tomcat-Geschwader auf den Osthang des Vatna-Gletschers<br />
hinab. Begleitet wurden sie von vier Prowlern, um zusätzlichen<br />
Schutz gegen Luftkampfraketen zu bieten, nur für den Fall, dass die<br />
MiG zu nahe kamen.<br />
»Empfangen nun Flugzeugradar aus zwei-fünf-acht. Scheint sich<br />
zu nähern«, meldete ein Prowler. Nachdem eine zweite das Signal<br />
ebenfalls empfangen hatte, berechnete man eine Distanz von fünfzig<br />
Meilen. Nahe genug.<br />
»Amber Moon. Wiederhole: Amber Moon!« rief der Kommandeur<br />
in seinen Prowler.<br />
Die B-52. drehten zurück nach Osten ab und warfen tonnenweise<br />
Aluminiumstreifen, die kein Radarsignal durchdringen konnte.<br />
Daraufhin entledigten sich alle amerikanischen Kampfflugzeuge<br />
ihrer Zusatztanks, und die Prowler scherten aus dem Bombenverband<br />
aus, um westlich der Düppelwolken Kreise zu fliegen. Nun<br />
kam der kniffligste Teil der Operation. Die Jäger beider Seiten<br />
rasten mit einer addierten Begegnungsgeschwindigkeit von über<br />
1650 Stundenkilometern aufeinander zu.<br />
»Queer check!« rief der Kommandeur.<br />
445
»Blackie check«, bestätigte der Skipper von VF-84. Alle waren in<br />
Position.<br />
Die vier Prowler aktivierten ihre Raketenabwehr-Störsender.<br />
Zwölf Tomcats der »Jolly Rogers« flogen in dreißigtausend Fuß<br />
wie aufgereiht und schalteten auf einen Befehl hin ihr Zielsuchradar<br />
an.<br />
»Amerikanische Jäger!« riefen mehrere russische Piloten. Ihre<br />
Warnanlagen verkündeten sofort, dass sie von jägerspezifischem<br />
Radar erfaßt worden waren.<br />
Das überraschte den Kommandeur der sowjetischen Kampfflugzeuge<br />
nicht. Es war wohl kaum zu erwarten, dass die Amerikaner<br />
ihre schweren Bomber noch einmal uneskortiert aufs Spiel setzten.<br />
Er beschloß, die Jäger zu ignorieren und sich auf die B-52 zu<br />
stürzen. Das Radar der MiG war durch die starke Störeinwirkung<br />
in seiner Reichweite um fünfzig Prozent reduziert und daher nicht<br />
in der Lage, irgendwelche Ziele aufzufassen. Er befahl seinen Piloten,<br />
auf anfliegende Raketen zu achten, und ließ sie die Leistung<br />
ihrer Triebwerke erhöhen. Dann wies er außer seiner Reserve von<br />
zwei Maschinen alle an, Keflavik zu verlassen und ostwärts zu<br />
fliegen, um sie zu unterstützen.<br />
Zur Erfassung der Ziele brauchten die Amerikaner nur Sekunden.<br />
Jeder Tomcat trug vier Sparrow und vier Sidewinder. Zuerst flogen<br />
die Sparrow los. In der Luft befanden sich sechzehn MiG. Auf die<br />
meisten waren zwei Raketen angesetzt worden, doch die Sparrow<br />
waren radargesteuert, was bedeutete, dass jeder amerikanische Jäger<br />
auf sein Ziel zuhalten musste, bis die Rakete getroffen hatte.<br />
Dies barg die Gefahr, in Reichweite der sowjetischen Raketen zu<br />
geraten, und die Tomcats waren nicht mit schützenden Störsendern<br />
ausgerüstet.<br />
Die Amerikaner hatten sich mit der Sonne <strong>im</strong> Rücken formiert. Just<br />
als das sowjetische Radar den amerikanischen Störvorhang zu<br />
durchbrennen begann, trafen die Sparrow ein. Die erste kam direkt<br />
aus der Sonne, brachte eine MiG zur Explosion und warnte den<br />
Rest des Schwarmes. Die sowjetischen Piloten flogen radikale Ausweichmanöver,<br />
rissen ihre Maschinen heftig herum, als sie die<br />
achtzehn Zent<strong>im</strong>eter dicken Raketen heranjagen sahen, doch vier<br />
446
fanden Ziele und führten zu drei eindeutigen Abschüssen und einer<br />
schwer beschädigten Maschine, die abdrehte und den Stützpunkt<br />
zu erreichen versuchte.<br />
Die »Jolly Rogers« machten kehrt, nachdem sie ihre Raketen<br />
verschossen hatten, und flogen, verfolgt von den Sowjets, nach<br />
Nordosten. Der russische Kommandeur fand die schwache Leistung<br />
der amerikanischen Raketen zwar erleichternd, war aber<br />
über den Verlust von fünf Maschinen erbost. Seine verbliebenen<br />
Flugzeuge jagten mit Nachbrennern heran, und ihr Zielsuchradar<br />
begann nun, das amerikanische Stören zu überwinden. Die amerikanische<br />
Jägereskorte hatte ihr Pulver verschossen; nun war der<br />
Russe an der Reihe. Der Schwärm fegte nach Nordosten; die behelmten<br />
Piloten schauten abwechselnd in die Sonne und auf die<br />
Radarschirme. Nach unten sah niemand. Endlich machte der führende<br />
MiG ein Ziel aus und feuerte zwei Raketen ab.<br />
Zwanzigtausend Fuß unter ihnen und von zwei Bergen gegen Bodenradar<br />
abgeschirmt, schalteten zwölf Tomcats der »Black Aces«<br />
die Nachbrenner ein und gingen ohne Radareinsatz in den Steigflug.<br />
Binnen neunzig Sekunden vernahmen die Piloten der zwe<strong>im</strong>otorigen<br />
Maschinen ein knurrendes Signal, das verkündete, dass die<br />
Infrarot-Suchköpfe ihrer Sidewinder-Raketen Ziele erfaßten. Sekunden<br />
später wurden aus einer Entfernung von zwei Meilen sechzehn<br />
Raketen abgefeuert.<br />
Sechs russische Kampfflieger wussten nicht, wie ihnen geschah.<br />
Innerhalb weniger Sekunden wurden acht von elf MiG getroffen.<br />
Dem Kommandeur blieb das Glück noch kurz treu; er riß seine<br />
Maschine herum und ließ eine Sidewinder ihr Ziel verlieren und in<br />
die Sonne fliegen, doch was konnte er nun tun? Zwei Tomcats<br />
entfernten sich in südlicher Richtung vom Rest seiner Jäger. Für<br />
einen organisierten Angriff war es zu spät - sein Flügelmann war<br />
abgeschossen worden, die einzige andere russische Maschine, die er<br />
sehen konnte, befand sich <strong>im</strong> Norden. So riß der Oberst seinen MiG<br />
in eine Acht-g-Kurve und stürzte sich auf die Amerikaner, ohne sich<br />
um das drängende Summen seiner Radarwarnanlage zu kümmern.<br />
Zwei von den Black Aces abgeschossene Sparrow trafen die Tragfläche<br />
seines MiG und rissen sie in Fetzen.<br />
447
Den Amerikanern blieb keine Zeit zum Triumphieren. Ihr Kommandeur<br />
meldete eine zweite Gruppe MiG <strong>im</strong> Anflug, und die<br />
Amerikaner gingen in Formation, bildeten einen massiven Wall aus<br />
vierundzwanzig Flugzeugen, ließen ihre Radargeräte für zwei Minuten<br />
abgeschaltet und die MiG in einen Störvorhang hineinrasen.<br />
Der stellvertetende Kommandeur der Russen beging einen schwerwiegenden<br />
Fehler: Er hatte erkannt, dass seine Kameraden in Gefahr<br />
waren, und eilte ihnen zu Hilfe. Die Tomcats schössen ihre<br />
verbliebenen Sparrow- und Sidewinder-Raketen ab. Insgesamt<br />
achtunddreißig Flugkörper hielten auf acht sowjetische Flugzeuge<br />
zu, deren Piloten keine Ahnung hatten, in was sie hineingerieten.<br />
Vier MiG wurden abgeschossen, drei beschädigt.<br />
Die Tomcat-Piloten wollten ganz aufräumen, wurden aber zurückbeordert,<br />
da sie gerade noch genug Treibstoff für den siebenhundert<br />
Meilen langen Rückflug nach Stornoway hatten. So wandten<br />
sie sich nach Osten und verschwanden hinter den von den B-52.<br />
zurückgelassenen Düppelwolken. Die Amerikaner hatten siebenunddreißig<br />
Abschüsse erzielt; angesichts der Tatsache, dass man<br />
nur siebenundzwanzig russische Flugzeuge erwartet hatte, eine erstaunliche<br />
Beute. Nur fünf MiG waren unbeschädigt geblieben. Der<br />
Kommandeur des Stützpunktes setzte sofort eine Rettungsaktion in<br />
Gang. Bald flogen Kampfhubschrauber der Fallschirmjägerdivision<br />
nach Osten, um nach abgeschossenen Piloten zu suchen.<br />
Stendal, DDR<br />
Dreißig Kilometer von Alfeld nach Hameln, dachte Alexejew, mit<br />
dem Panzer eine Stunde. Teile von drei Divisionen waren nun auf<br />
diesem Weg, hatten aber seit der erfolgreichen Flußüberquerung<br />
nur achtzehn Kilometer geschafft. Diesmal lag es an den Engländern:<br />
Panzer des Royal Tank Reg<strong>im</strong>ent und der 21 st Lancers hatten<br />
seine Spitzen auf halbem Weg nach Hameln zum Stillstand gebracht<br />
und sich seit achtzehn Stunden nicht von der Stelle gerührt.<br />
Hier drohte eine echte Gefahr. Für einen motorisierten Verband<br />
lag die Sicherheit in der Bewegung. Die Sowjets sandten zwar<br />
Einheiten in die Lücke, die Nato aber setzte ihre Luftmacht voll ein.<br />
Kaum waren die Brücken über die Leine repariert, da wurden sie<br />
448
auch schon wieder zerstört. Die Pioniere hatten Übergangsstellen<br />
gebaut, von denen aus die Mannschaftstransporter den Fluß<br />
schw<strong>im</strong>mend überqueren konnten, doch alle Versuche, die Panzer<br />
unter Wasser zur anderen Seite fahren zu lassen - eine Fähigkeit,<br />
über die sie angeblich verfügten -, waren fehlgeschlagen. Zu viele<br />
Einheiten waren zum Schutz der Bresche in den Nato-Linien erforderlich<br />
gewesen, zu wenige waren in der Lage, sie auszunutzen.<br />
Alexejew hatte einen Durchbruch wie aus dem Lehrbuch erzielt,<br />
nur um erkennen zu müssen, dass auch das Textbuch des Gegners<br />
Mittel und Wege zur Zerschlagung enthielt. Dem Operationsgebiet<br />
West standen insgesamt sechs Reservedivisionen der Kategorie I<br />
zur Verfügung. Waren diese verschlissen, mussten Reserveeinheiten<br />
der Kategorie II, die aus älteren Männern mit älterem Gerät bestanden,<br />
eingesetzt werden. Diese waren zwar zahlenmäßig stark, aber<br />
nicht so leistungsfähig wie Divisionen, die sich aus jüngeren Soldaten<br />
zusammensetzten. Dem General war die Notwendigkeit zuwider,<br />
Einheiten in die Schlacht zu schicken, die mit Sicherheit<br />
höhere Verluste als normal erleiden mussten, doch er hatte keine<br />
andere Wahl: Die politische Führung wollte es so.<br />
»Ich Muss wieder nach vorn«, sagte er zu seinem Vorgesetzten.<br />
»Gut, aber nicht näher als fünf Kilometer an die Front heran,<br />
Pascha«, erwiderte der OB West. »Ich kann es mir nicht leisten, Sie<br />
zu verlieren.«<br />
Brüssel<br />
Der Oberkommandierende der Alliierten Streitkräfte in Europa sah<br />
sich ebenfalls seine Kontrolliste an. Fast alle seine Reserven waren<br />
inzwischen <strong>im</strong> Kampfeinsatz, und die Russen schienen einen nicht<br />
enden wollenden Strom von Männern und Fahrzeugen nach vorne<br />
zu bringen. Seinen Einheiten blieb keine Zeit zum Reorganisieren<br />
und Umgruppieren. Für die Nato wurde der Alptraum aller Armeen<br />
Wirklichkeit: Sie konnte auf die Schachzüge des Gegners nur reagieren.<br />
Bislang hielt die Front noch, aber nur einigermaßen. Laut<br />
Karte stand südwestlich von Hameln eine britische Brigade, in<br />
Wirklichkeit aber kaum mehr als ein verstärktes Reg<strong>im</strong>ent, das aus<br />
erschöpften Männern und beschädigtem Gerät bestand. Ein Kollaps<br />
ließ sich nur mit Hilfe von Artillerie und Flugzeugen vermei<br />
449
den und selbst diese Maßnahmen reichten nicht aus, wenn seine<br />
Einheiten nicht sehr viel mehr Ersatzausrüstung bekamen. Der<br />
Munitionsvorrat der Nato reichte zudem nur noch für zwei Wochen,<br />
und der Nachschub aus Amerika wurde durch die Angriffe<br />
auf die Geleitzüge stark behindert. Was sollte er seinen Männern<br />
sagen? »Verschießt weniger Munition« - ausgerechnet jetzt, wo die<br />
Russen nur mit verschwenderischem Waffeneinsatz aufgehalten<br />
werden konnten?<br />
Die morgendliche Lagebesprechung begann. Der ranghöchste<br />
Nachrichtendienstoffizier der Nato war ein deutscher General,<br />
begleitet von einem holländischen Major mit einer Videokassette.<br />
In einem so wichtigen Fall wollte der SACEUR die Rohdaten sehen<br />
und nicht nur eine Analyse vorgetragen bekommen. Der niederländische<br />
Offizier schloß den VCR an.<br />
Auf dem Bildschirm wurde eine computererzeugte Landkarte<br />
sichtbar, auf der dann Einheiten erschienen. Das Band lief zwei<br />
Minuten lang und zeigte Daten, die über einen Zeitraum von fünf.<br />
Stunden gesammelt worden waren. Der Holländer spielte es mehrmals<br />
ab, damit die Offiziere ein Bewegungsschema erkennen konnten.<br />
»General, unserer Schätzung nach haben die Sowjets sechs volle<br />
Divisionen nach Alfeld in Bewegung gesetzt. Das Bewegungsbild<br />
hier auf der Autobahn bei Braunschweig stellt die erste dar. Die<br />
anderen stammen aus den Reserven dieser Armeegruppe, und diese<br />
beiden Divisionen auf dem Weg nach Süden kommen von der<br />
Armeegruppe Nord.«<br />
»Sie glauben also, dass man hier massiert angreifen wird?« fragte<br />
der SACEUR.<br />
»Jawohl.« Der deutsche General nickte. »Der Schwerpunkt liegt<br />
hier.«<br />
Der SACEUR runzelte die Stirn. Eine vernünftige Entscheidung<br />
wäre nun der Rückzug hinter die Weser gewesen, um die Front zu<br />
verkürzen und die Kräfte zu reorganisieren, doch das hätte die<br />
Preisgabe von Hannover bedeutet - etwas, das die Deutschen niemals<br />
hinnehmen würden. Die deutsche Strategie, jedes Haus und<br />
jedes Feld zu verteidigen, war die Russen teuer zu stehen gekommen<br />
und hatte die Lage bei der Nato bis zum Zerreißen angespannt. Ein<br />
solcher strategischer Rückzug war für die Deutschen unakzeptabel.<br />
Eine Stunde später hatte sich die Hälfte der verfügbaren Nato<br />
450
Reserven von Osnabrück nach Hameln in Bewegung gesetzt. Die<br />
Entscheidung der Schlacht um Deutschland sollte am östlichen Ufer<br />
der Weser fallen.<br />
Stornoway, Schottland<br />
Die zurückkehrenden Tomcats wurden sofort wieder betankt und<br />
bewaffnet. Inzwischen waren die Russen bei ihren Angriffen auf<br />
nordenglische Flugplätze vorsichtiger geworden. Amerikanische<br />
Radarflugzeuge, die die britischen N<strong>im</strong>rod und Shackleton unterstützten,<br />
machten den aus Andoya in Norwegen operierenden<br />
zwe<strong>im</strong>otorigen Blinder-Bombern das Leben schwer. Zweihundert<br />
Meilen vor der Küste flogen Tornado der Royal Air Force Patrouille,<br />
während die amerikanischen Piloten ausruhten. Das Bodenpersonal<br />
malte rote Sterne unters Cockpit, und Nachrichtendienstoffiziere<br />
werteten Videobänder der Luftkämpfe und Aufzeichnungen<br />
sowjetischen Zielradars aus.<br />
»Sieht so aus, als hätten wir ihnen einen schweren Schlag versetzt«,<br />
schloß Toland.<br />
»Und ob!« gab der Kommandeur der »Jolly Rogers« zurück. Der<br />
Kommandeur der US Navy hatte eine Zigarre zwischen den Zähnen.<br />
Er beanspruchte persönlich zwei abgeschossene MiG. »Die<br />
Frage ist nur: Werden sie verstärken? Einmal hat es geklappt, aber<br />
ein zweites Mal fallen sie auf diesen Trick nicht herein. Toland,<br />
können die Russen ersetzen, was wir zerstört haben?«<br />
»Das möchte ich bezweifeln. Der MiG-29 ist der einzige Jäger,<br />
den sie so weit draußen einsetzen können. Die restlichen Maschinen<br />
dieses Typs sind in Deutschland und auch dort stark dez<strong>im</strong>iert<br />
worden. Die Russen mögen zwar einige MiG-31 einsetzen, aber ich<br />
kann mir nicht vorstellen, dass sie ihr bestes Mehrzweckkampfflugzeug<br />
für diese Art von Einsatz freigeben.«<br />
Der Skipper der »Jolly Rogers« nickte zust<strong>im</strong>mend. »Gut. Nächster<br />
Schritt: Wir fliegen dicht vor Island Patrouille und fangen an,<br />
den Backfire-Verbänden mal ernsthaft zuzusetzen.«<br />
»Kann auch sein, dass sie uns hier einen Besuch abstatten«,<br />
warnte Toland. »Inzwischen müssen sie wissen, was wir da fabriziert<br />
haben und woher die Maschinen kamen.« Der Kommandeur<br />
von VF-4I sah aus dem Fenster. Einer seiner Tomcats stand eine<br />
451
halbe Meile entfernt zwischen Wällen aus Sandsäcken. Unter den<br />
Flügeln waren vier Raketen sichtbar. Er wandte sich zurück zu<br />
Toland.<br />
»Meinetwegen. Wenn sie sich hier auf unserem Gebiet und unter<br />
unserem Radarschirm mit uns einlassen wollen, soll mir das recht<br />
sein.«<br />
Alfeld, BRD<br />
Alexejew ließ seinen Hubschrauber am Stadtrand stehen und stieg<br />
in einen Schützenpanzer. Zwei Pontonbrücken waren in Betrieb.<br />
Überreste von mindestens fünf anderen lagen zusammen mit zahllosen<br />
ausgebrannten Panzern und Lkw am Flußufer. Der Chef der<br />
20. Panzerdivision fuhr mit ihnen.<br />
»Die feindlichen Luftangriffe sind mörderisch«, meinte General<br />
Beregowoy. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Trotz unserer SAM<br />
fliegen sie an. Wir schießen zwar einige ab, aber nicht genug, und je<br />
näher man der Front kommt, desto schl<strong>im</strong>mer wird es.«<br />
»Welche Fortschritte haben Sie heute erzielt?«<br />
»Unser Hauptgegner ist <strong>im</strong> Augenblick eine englische Panzerbrigade;<br />
die haben wir seit Tagesanbruch um zwei Kilometer zurückgeworfen.«<br />
»Es soll auch noch ein belgischer Verband <strong>im</strong> Einsatz sein«,<br />
erinnerte Sergetow.<br />
»Der ist spurlos verschwunden - auch das macht mir Sorgen.<br />
Zum Schutz vor Gegenangriffen habe ich eine der neuen Divisionen<br />
an unsere linke Flanke verlegt. Die andere wird heute nachtmittag<br />
zusammen mit der 20. den Angriff wiederaufnehmen.«<br />
»Stärke?« fragte Alexejew.<br />
»Die 20. hat nur noch knapp neunzig einsatzfähige Panzer«,<br />
erklärte Beregowoy. »Und diese Zahl ist vier Stunden alt. Unserer<br />
Infanterie ist es besser ergangen, aber die Division hat nun weniger<br />
als fünfzig Prozent ihrer Sollstärke.«<br />
Ihr Fahrzeug fuhr nun die steile Böschung hinunter auf die Pontonbrücke.<br />
Der BMP tanzte auf den beweglich miteinander verbundenen<br />
Brückenteilen auf und ab wie ein kleines Boot in der Brandung.<br />
Alle drei Offiziere nahmen sich zusammen, aber die Vorstellung,<br />
in einem Stahlkasten überm Wasser zu sitzen, war ihnen<br />
452
unangenehm. Der Schützenpanzer war zwar theoretisch amphibisch,<br />
doch viele waren mit ihren Besatzungen gesunken. In der<br />
Ferne hörten sie Alliiertenfeuer. Nach einer guten Minute hatten sie<br />
den Fluß überquert.<br />
»Falls es Sie interessiert: Diese Brücke hält den bisherigen Dauerrekord.«<br />
Beregowoy sah auf die Uhr. »Sieben Stunden.«<br />
»Was macht der Major, den Sie für den Goldenen Stern vorschlugen?«<br />
fragte Alexejew.<br />
»Er wurde bei einem Luftangriff verletzt, aber nicht lebensgefährlich.«<br />
»Vielleicht wird das seine Genesung beschleunigen.« Alexejew<br />
griff in die Tasche und holte einen fünfzackigen goldenen Stern am<br />
blutroten Band heraus. Der Pioniermajor war nun Held der Sowjetunion<br />
USS Chicago<br />
Be<strong>im</strong> Erreichen des Packeises verlangsamten alle Boote die Fahrt.<br />
McCafferty sah es sich durchs Periskop an - eine dünne weiße<br />
Linie, kaum zwei Meilen entfernt. Sonst war nichts zu sehen. Nur<br />
wenige Schiffe wagten sich so dicht ans Eis heran; von Flugzeugen<br />
keine Spur. Sonar meldete einen zufriedenstellenden Lärmpegel.<br />
Der zackige Rand des Packeises setzte sich aus Tausenden von<br />
meterdicken Schollen zusammen, die <strong>im</strong> kurzen arktischen Sommer<br />
frei trieben, mit Mahlen und Knirschen in das Ächzen und Knacken<br />
der Polareiskappe einst<strong>im</strong>mten.<br />
»Was ist das?« McCafferty stellte das Sehrohr scharf und auf<br />
zwölffache Vergrößerung. Was er einen flüchtigen Augenblick lang<br />
für ein Periskop gehalten hatte, entpuppte sich nun als die schwertförmige<br />
Rückenfinne eines Killerwals.<br />
»Sonar, haben Sie etwas in eins-drei-neun?«<br />
»Zwölf Killerwale in dieser Richtung, drei Männchen, sechs<br />
Weibchen, drei Jungtiere.« Der Sonar-Chief klang beleidigt.<br />
»Biologisches« war nur auf besondere Anweisung hin zu melden.<br />
»Danke.« McCafferty musste wider Willen grinsen.<br />
Die anderen an Unternehmen Doolittle teilnehmenden U-Boote<br />
tauchten eines nach dem anderen unters Packeis. Eine Stunde später<br />
fuhr der »Güterzug« nach Osten.<br />
453
Island<br />
»Hab schon den ganzen Tag keinen Hubschrauber gesehen«,<br />
merkte Sergeant Smith an.<br />
Konversation lenkte auf angenehme Weise von der Tatsache ab,<br />
dass sie rohen Fisch aßen. Edwards schaute auf die Uhr. Zeit für<br />
einen Funkspruch. Inzwischen konnte er die Antenne bereits <strong>im</strong><br />
Schlaf aufbauen.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Es könnte uns bessergehen. Over.«<br />
»Roger, Beagle. Wo sind Sie nun?«<br />
»Rund fünfundvierzig Kilometer vorm Ziel«, erwiderte Edwards<br />
und nannte die Koordination des Planquadrats. Laut Karte hatten<br />
sie nur noch eine Straße und einen Bergkamm zu überqueren. »Es<br />
gibt nicht viel zu melden, wir haben heute weder einen Hubschrauber<br />
noch andere Flugzeuge gesehen.« Edwards schaute auf zum<br />
klaren H<strong>im</strong>mel. Gewöhnlich sahen sie ein- oder zwe<strong>im</strong>al am Tag<br />
Jäger der Patrouille.<br />
»Roger, Beagle. Die Navy schickte bei Tagesanbruch Kampfflugzeuge<br />
hoch und heizte den Russen mächtig ein.«<br />
»Gut so! Wir ernähren uns inzwischen von selbstgefangenem<br />
Fisch.«<br />
»Was macht Ihre Freundin?«<br />
Darüber musste Edwards lächeln. »Sie hält uns nicht auf, falls Sie<br />
das meinen. Sonst noch etwas?«<br />
»Negativ.«<br />
»Gut, wir melden uns wieder, wenn es etwas zu berichten gibt.<br />
Out.« Edwards schaltete das Funkgerät ab.<br />
»Was wollen wir in Hvammsfjördur?« fragte Vigdis.<br />
»Jemand will wissen, was sich da tut«, erwiderte Edwards und<br />
entfaltete die Generalstabskarte. Die Zufahrt zum Fjord schien von<br />
Felsblöcken versperrt zu sein. Erst nach einer Weile erkannte er,<br />
dass Höhen in Metern, die Wassertiefen aber in Faden angegeben<br />
wurden (1 Faden = 182,88 cm).<br />
Keflavik, Island<br />
»Wie viele?«<br />
Der Kommandeur des Jägerreg<strong>im</strong>ents wurde behutsam aus dem<br />
454
Hubschrauber gehoben. Er hatte sich aus seinem auseinanderbrechenden<br />
Jäger katapultiert und dabei den Arm ausgekugelt; anschließend<br />
war er auf einem Berghang gelandet und hatte sich dabei<br />
einen verstauchten Knöchel und mehrere Platzwunden <strong>im</strong> Gesicht<br />
zugezogen. Gefunden worden war er erst nach elf Stunden. Insgesamt<br />
schätzte sich der Oberst noch glücklich - für einen Narren, der<br />
sich von einem zahlenmäßig überlegenen Feind in einen Hinterhalt<br />
hatte locken lassen.<br />
»Fünf Maschinen sind einsatzbereit«, bekam er zu hören. »Von<br />
den beschädigten sind zwei reparabel.«<br />
Der Oberst stand zwar unter Morphiumeinfluß, wurde aber<br />
trotzdem wütend und fluchte laut. »Und meine Männer?«<br />
»Außer Ihnen haben wir fünf gefunden. Zwei sind unverletzt, der<br />
Rest liegt <strong>im</strong> Lazarett.«<br />
In der Nähe landete ein zweiter Hubschrauber, dem der Fallschirmjägergeneral<br />
entstieg. »Gut, dass Sie noch am Leben sind«,<br />
sagte er.<br />
»Danke, Genosse General. Geht die Suchaktion weiter?«<br />
»Ja, ich habe zwei Hubschrauber abgestellt. Was ist passiert?«<br />
»Die Amerikaner griffen mit schweren Bombern an, die wir zwar<br />
nie zu sehen bekamen, aber anhand ihrer Störmaßnahmen identifizierten.<br />
Die Bomber ergriffen bei unserem Herannahen die Flucht,<br />
hatten aber Jagdschutz.« Der Luftwaffenoberst war bemüht, gute<br />
Miene zum bösen Spiel zu machen, und der General verzichtete auf<br />
Druck. Auf einem vorgeschobenen Posten war mit solchen Vorfällen<br />
zu rechnen. Die MiG konnten den amerikanischen Luftangriff<br />
auch kaum ignoriert haben. Es war sinnlos, diesen Mann zu bestrafen.<br />
Der General hatte bereits über Funk neue Jäger angefordert,<br />
rechnete aber nicht mit Ersatz. Laut Plan waren sie nicht erforderlich,<br />
aber <strong>im</strong> Plan hatte auch gestanden, er brauche die Insel nur<br />
zwei Wochen lang ohne Unterstützung zu halten. Bis zu diesem<br />
Zeitpunkt sollte Deutschland völlig geschlagen, der Landkrieg in<br />
Europa so gut wie vorüber sein. Die Meldungen von der Front<br />
waren reine Ausschmückungen der Nachrichten von Radio Moskau.<br />
Die Rote Armee stieß zum Rhein vor - hatte sie das nicht schon<br />
seit dem ersten Kriegstag getan? Die Namen der täglich eroberten<br />
Städte wurden seltsamerweise ausgelassen. Sein Nachrichtendienstoffizier<br />
setzte sein Leben aufs Spiel und hörte täglich West<br />
455
sender ab - dem KGB galt das als Verrat -, um sich ein Bild vom<br />
Verlauf der Kampfhandlungen zu machen. Wenn die westlichen<br />
Meldungen st<strong>im</strong>mten - auch ihnen traute er nicht ganz -, war der<br />
Feldzug in Deutschland ein Chaos. Und bis man das bereinigt hatte,<br />
war dieser Feldzug gefährdet.<br />
Erwog die Nato eine Invasion? Es hieß, das sei unmöglich, dazu<br />
müßten die Amerikaner erst einmal die von Kirowsk aus operierenden<br />
Langstreckenbomber zerstören, und Island war ja besetzt worden,<br />
um die amerikanischen Flugzeugträger an eben dieser Maßnahme<br />
zu hindern. Auf dem Papier brauchte der General also nur<br />
mit zunehmenden Luftangriffen zu rechnen, gegen die er sich mit<br />
Boden-Luft-Raketen verteidigen konnte.<br />
Nordatlantik<br />
»Zum Teufel, was ist passiert?« Der Captain schlug die Augen auf<br />
und sah, dass er eine Nadel mit Schlauch <strong>im</strong> Arm hatte. Er konnte<br />
sich noch erinnern, zuletzt auf der Brücke gestanden zu haben.<br />
»Sie sind umgekippt, Sir«, sagte der Schiffsarzt. »Nicht -«<br />
Der Captain versuchte, sich zu erheben, sank aber gleich wieder<br />
zurück.<br />
»Sir, Sie haben innere Blutungen und müssen sich ausruhen.<br />
Gestern abend haben Sie Blut erbrochen. Ich vermute ein durchgebrochenes<br />
Magengeschwür. Warum sind Sie nicht früher zu mir<br />
gekommen? Sie haben nicht bloß Bauchweh, sondern müssen<br />
wahrscheinlich operiert werden. Es ist ein Hubschrauber unterwegs,<br />
der Sie an Land bringen soll.«<br />
»Ich kann das Schiff nicht <strong>im</strong> Stich lassen, ich -«<br />
»Bedaure, Sir, ärztliche Anweisung. Wenn Sie mir hier sterben,<br />
schadet das meinem Ruf. Tut mir leid, Sir, aber Sie kommen an<br />
Land.«<br />
456
Norfolk, Virginia<br />
32<br />
Neue Namen, neue Gesichter<br />
»Guten Morgen, Ed.« Der COMNAVSURFLANT saß hinter<br />
seinem Schreibtisch, auf dem sich in säuberlichen Stößen die Meldungen<br />
stapelten. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht.<br />
»Guten Morgen, Sir. Was kann ich für Sie tun?« Morris wollte<br />
sich nicht setzen.<br />
»Wollen Sie wieder raus?" fragte der COMNAVSURFLANT<br />
rundheraus.<br />
»Womit?«<br />
»Der Kommandant der Reuben James hatte einen Magengeschwürdurchbruch<br />
und wurde heute an Land geflogen. Das Schiff<br />
lauft heute zusammen mit den Landungsschiffen der Pazifikflotte<br />
ein. Ich habe es einem großen Geleitzug zugewiesen, der in New<br />
York zusammengestellt wird. Achtzig große, schnelle Schiffe mit<br />
schwerem Gerät für Deutschland. Auslaufen soll er in vier Tagen<br />
mit starkem Geleitschutz von uns und der Royal Navy, zusätzlich<br />
unterstützt von Trägern. Die Reuben James soll nur lange genug <strong>im</strong><br />
Hafen bleiben, um Treibstoff zu bunkern und Proviant an Bord zu<br />
nehmen. Heute abend läuft sie zusammen mit HMS Battleaxe nach<br />
New York aus. Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, gehört sie<br />
Ihnen.« Der Vizeadmiral sah Morris scharf an. «»Nun?«<br />
»Meine Sachen sind noch auf der Pharris. « Morris spielte auf<br />
Zeit. Wollte er wirklich wieder auf See?<br />
»Längst gepackt und unterwegs, Ed.«<br />
»Gut, Sir, wenn Sie mich haben wollen, nehme ich sie.«<br />
Fölziehausen, BRD<br />
Am Nordhorizont blitzte Artilleriefeuer auf und machte die Baumsilhouetten<br />
sichtbar. Es donnerte unablässig. Von Alfeld waren es<br />
457
nur fünfzehn Kilometer zum Divisionshauptquartier. Drei heftige<br />
Luftangriffe und zwanzig verschiedene Sperrfeuer hatten aus der<br />
Vormittagsfahrt einen Alptraum gemacht, der erst nach der Abenddämmerung<br />
ein Ende fand.<br />
Das vorgeschobene Hauptquartier der 20. Panzerdivision war<br />
nun der Befehlsstand für den gesamten Vorstoß auf Hameln. Generalleutnant<br />
Beregowoy, der Alexejew abgelöst hatte, befehligte die<br />
20. Panzerdivision und die Operative Mobile Gruppe. In der Vorkriegszeit<br />
war das OMG-Konzept eine Lieblingsidee der Sowjets<br />
gewesen. Der »kühne Stoß« sollte einen Korridor in den Rücken des<br />
Feindes öffnen, woraufhin die OMG diesen Angriffserfolg ausnutzte<br />
und Ziele von besonderer wirtschaftlicher oder politischer Bedeutung<br />
eroberte. Alexejew lehnte sich an ein Panzerfahrzeug und<br />
schaute die blitzende Silhouette des Waldes an. Wieder einmal<br />
etwas, das nicht nach Plan lief, dachte er. Hätten wir denn erwarten<br />
sollen, dass die Nato bei unseren Plänen mitspielt?<br />
Über ihm ein gelber Blitz. Alexejew blinzelte, bis er wieder klar<br />
sehen konnte, und schaute zu, wie die Feuerkugel sich in einen<br />
abstürzenden Kometen verwandelte.<br />
Fünfhundert Meter weiter stand <strong>im</strong> Wald ein Feldlazarett. Der<br />
Wind trug die Schreie der Verwundeten hinüber zum Befehlsstand.<br />
Dies war nun ganz anders als in den Filmen, die er als Kind gesehen<br />
hatte und sich jetzt noch gerne anschaute. Die Verwundeten hatten<br />
stumm, entschlossen und vor allem würdevoll zu leiden, an von<br />
gütigen, schwerbeschäftigten Sanitätern angebotenen Zigaretten zu<br />
ziehen und abzuwarten, bis die mutigen, schwerbeschäftigten Ärzte<br />
und die hübschen, hingebungsvollen Krankenschwestern sich ihrer<br />
annahmen. Alles erstunken und erlogen, dachte er. Wir schicken<br />
picklige Jünglinge in eine von Stahl beregnete und mit Blut bewässerte<br />
Landschaft. Am schl<strong>im</strong>msten waren die Verbrennungen. Panzersoldaten,<br />
die mit brennenden Kleidern aus ihren abgeschossenen<br />
Fahrzeugen entkommen waren, wollten nicht zu schreien aufhören.<br />
An die Stelle jener, die dem Schock oder dem Gnadenschuß aus der<br />
Pistole eines Offiziers zum Opfer fielen, traten <strong>im</strong>mer wieder neue.<br />
Wer das Glück hatte, zu einem Hauptverbandsplatz gebracht zu<br />
werden, fand Sanitäter vor, die zu beschäftigt waren, um Zigaretten<br />
anzubieten, und Ärzte, die vor Erschöpfung fast umfielen.<br />
Alexejews brillanter taktischer Erfolg bei Alfeld hatte bislang<br />
noch keine konkreten Ergebnisse gehabt. Zweifel, Pascha? fragte er<br />
458
sich. »Nichts ist so schrecklich wie eine gewonnene Schlacht <br />
abgesehen von einer verlorenen.« Alexejew entsann sich, diesen<br />
Kommentar Wellingtons zur Schlacht von Waterloo in der Bibliothek<br />
der Frunse-Akademie gelesen zu haben. Der russische General<br />
hätte das nicht schreiben können oder dürfen. Er pinkelte an einen<br />
Baum und ging zurück in den Befehlsstand.<br />
Dort beugte sich Beregowoy über die Karte. »Genosse, diese<br />
belgische Brigade ist wieder aufgetaucht und greift unsere linke<br />
Flanke an. Dabei überraschte sie zwei Reg<strong>im</strong>enter, die gerade in<br />
neue Positionen gehen wollten. Das ist ein Problem.«<br />
Alexejew trat an Beregowoys Seite und sah sich die verfügbaren<br />
Einheiten an. Der Angriff war an der Schnittstelle zwischen zwei<br />
Divisionen erfolgt, eine erschöpft, die andere noch kampfunerfahren.<br />
Ein Leutnant verschob Symbole. Die sowjetischen Reg<strong>im</strong>enter<br />
zogen sich zurück.<br />
»Lassen Sie das Reservereg<strong>im</strong>ent an Ort und Stelle«, befahl<br />
Alexejew. »Und verlegen Sie dieses hier nach Nordwesten. Wir<br />
wollen versuchen, die Belgier vor dieser Straßenkreuzung in der<br />
Flanke zu fassen.«<br />
Island<br />
»Na endlich, da wären wir.« Edwards reichte Sergeant Smith das<br />
Fernglas. Der Hvammsfjördur, den sie nun von der Kuppe eines<br />
sechshundert Meter hohen Berges erblickten, war noch Meilen<br />
entfernt. Unter ihnen schlängelte sich ein glitzernder Fluß in den<br />
Fjord. Alle blieben geduckt, um sich vor der tiefstehenden Sonne<br />
nicht gegen den H<strong>im</strong>mel abzuheben. Edwards packte das Funkgerät<br />
aus.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Das Marschziel ist in Sicht.« Was für ein<br />
dummer Spruch, dachte Edwards. Der Hvammsfjördur war knapp<br />
fünfzig Kilometer lang und bis zu sechzehn Kilometer breit.<br />
Der Mann in Schottland war beeindruckt. Edwards' Trupp hatte<br />
<strong>im</strong> Lauf der vergangenen zehn Stunden fünfzehn Kilometer zurückgelegt.<br />
»In welcher Verfassung sind Sie?«<br />
»Wenn Sie verlangen, dass wir noch weiter marschieren, kriegt<br />
das Funkgerät eine Funktionsstörung.«<br />
459
»Roger.« Der Major verkniff sich das Lachen. »Wo genau sind<br />
Sie?«<br />
»Rund fünf Meilen östlich von Höhe 578. Dürfen wir jetzt<br />
vielleicht erfahren, was wir hier sollen?«<br />
»Sie sollen jede russische Aktivität sofort melden. Wenn nur ein<br />
Mann an einen Felsen pißt, wollen wir das wissen. Verstanden?«<br />
»Roger, Sie kriegen die Schwanzlänge in Zoll. Bislang sind noch<br />
keine Russen zu sehen. Links von uns ein paar Ruinen, ein Stück<br />
flußabwärts ein Gehöft. Nirgends rührt sich etwas. Wollen Sie uns<br />
an einem best<strong>im</strong>mten Punkt haben?«<br />
»Mit dieser Frage befassen wir uns noch. Bleiben Sie vorerst, wo<br />
Sie sind. Wie sieht es mit der Verpflegung aus?«<br />
»Für heute haben wir noch genug Fisch, und ich sehe auch einen<br />
See, wo es noch mehr gibt. Sie wollten uns doch Pizza schicken,<br />
Doghouse. Einmal mit Peperoni und Zwiebeln, bitte.«<br />
»Fisch ist gesund, Beagle. Ihr Signal wird schwächer, schonen Sie<br />
die Batterien. Sonst noch etwas zu melden?«<br />
»Negativ. Wir melden uns wieder, wenn etwas anliegt. Out.«<br />
Edwards schlug auf den Schalter. »Leute, wir sind zu Hause!«<br />
Smith lachte trocken. »Und wo ist das, wenn ich fragen darf?«<br />
»Hinter diesem Berg liegt Budhardalur«, erklärte Vigdis. »Dort<br />
wohnt mein Onkel Helgi.«<br />
Spränge da eine ordentliche Mahlzeit heraus? fragte sich Edwards.<br />
Hammelfleisch vielleicht, ein paar Biere und ein Schnaps,<br />
ein Bett... ein weiches Bett mit Laken und Steppdecken. Ein Bad,<br />
heißes Wasser zum Rasieren, Zahnpasta. Edwards konnte sich<br />
kaum noch riechen. Sie versuchten zwar, sich in den Bächen zu<br />
waschen, aber das war meist zu gefährlich. Ich stinke wie ein<br />
Ziegenbock, dachte Edwards. Aber sie waren nicht so weit marschiert,<br />
um jetzt ein Risiko einzugehen.<br />
»Wir bleiben lieber hier«, erklärte er.<br />
»Gute Idee, Skipper«, erwiderte Smith. »Rodgers, Sie legen sich<br />
schlafen. Garcia, Sie übernehmen mit mir die erste Wache - vier<br />
Stunden. Postieren Sie sich auf der kleinen Kuppe dort drüben. Ich<br />
stelle mich rechts auf.« Smith stand auf und schaute auf Edwards<br />
hinab. »Vernünftige Entscheidung, Skipper. Ruhen wir uns aus,<br />
solange wir die Gelegenheit dazu haben.«<br />
»Genau. Wecken Sie mich, wenn Sie etwas Wichtiges sehen.«<br />
Smith nickte und ging auf seinen Wachposten.<br />
460
Rodgers benutzte seine zusammengefaltete Jacke als Kopfkissen<br />
und war schon fast eingeschlafen. Das Gewehr lag auf seiner Brust.<br />
»Bleiben wir denn hier?» fragte Vigdis erstaunt.<br />
»Ich würde Ihren Onkel gerne besuchen, aber in dieser Ansiedlung<br />
könnten Russen sein. Wie fühlen Sie sich?«<br />
»Ich bin müde.«<br />
»So müde wie wir?« fragte er und grinste.<br />
»Ja«, gestand sie und legte sich dann neben Edwards. Sie starrte<br />
vor Dreck. Ihr Pullover war an mehreren Stellen zerrissen, und ihre<br />
Stiefel konnte man nur noch wegwerfen. »Und was geschieht jetzt<br />
mit uns?«<br />
»Das weiß ich nicht. Aber fest steht, dass man uns aus gutem<br />
Grund hier einsetzt.«<br />
»Aber den Grund verrät man Ihnen nicht«, wandte sie ein.<br />
Intelligente Bemerkung, dachte Edwards.<br />
»Oder wissen Sie Bescheid, sagen uns aber nichts?« fragte Vigdis.<br />
»Nein, ich tappe genauso <strong>im</strong> dunkeln wie Sie.«<br />
»Michael, was wollen die Russen eigentlich hier?«<br />
»Das weiß ich auch nicht.«<br />
»Als Offizier müssen Sie das aber wissen.« Vigdis stütze sich auf<br />
die Ellbogen und schien echt erstaunt zu sein. Edwards lächelte. Er<br />
konnte ihr ihre Verwirrung nicht verdenken. Island hatte keine<br />
Streitkräfte, sondern nur Polizei. Es war ein friedfertiges Land.<br />
Island, das weder ein Heer noch eine Marine hatte, war seit Tausenden<br />
von Jahren nicht angegriffen worden. Und nun hatte man es<br />
nur überfallen, weil es zufällig <strong>im</strong> Weg lag. Hätte die Invasion<br />
stattgefunden, wenn die Nato den Stützpunkt Keflavik nicht gebaut<br />
hätte? fragte sich Edwards. Aber doch! sann er weiter. Man sieht ja,<br />
was für liebenswürdige Menschen die Russen sind. Nato-Basis hin<br />
oder her, Island lag ihnen <strong>im</strong> Weg. Aber wie hatte der ganze Zauber<br />
überhaupt angefangen?<br />
»Vigdis, ich bin Meteorologe.«<br />
»Also kein Soldat? Keine Marine?«<br />
Mike schüttelte den Kopf. »Dem Rang nach bin ich Offizier der<br />
U. S. Air Force, aber ein Soldat wie Sergeant Smith bin ich nicht.«<br />
»Aber Sie haben mir das Leben gerettet. Sie sind also ein Soldat.«<br />
»Kann sein - aber nur aus Zufall.«<br />
»Was haben Sie vor, wenn der Krieg vorbei ist?« Sie sah ihn mit<br />
großem Interesse an.<br />
461
»Eins nach dem anderen.« Er dachte <strong>im</strong> Augenblick in Stunden,<br />
nicht in Tagen oder Wochen. Was wird, wenn wir diesen Schlamassel<br />
überleben? fragte er sich insgehe<strong>im</strong>. Quatsch, vergessen wir das.<br />
Erst mal überleben. Wer über die »Nachkriegszeit« nachdenkt,<br />
erlebt sie nicht. »Ach, ich bin zu müde, um mir darüber den Kopf zu<br />
zerbrechen. Legen wir uns aufs Ohr und schlafen.«<br />
Sie begehrte auf. Edwards wusste, dass sie Fragen stellen wollte,<br />
über die er noch nicht ernsthaft nachgedacht hatte, aber sie war<br />
erschöpfter, als sie eingestehen wollte, und war zehn Minuten<br />
später eingeschlafen. Und schnarchte. Das war Michael bisher noch<br />
nicht aufgefallen. Vigdis war kein Zuckerpüppchen. Sie hatte ihre<br />
Stärken und Schwächen, ihre guten und weniger attraktiven Seiten.<br />
Sie hatte das Gesicht eines Engels, hatte sich aber schwängern<br />
lassen - na und? dachte Edwards. Ihre Tapferkeit ist größer als ihre<br />
Schönheit. Sie rettete mir das Leben, als der Hubschrauber kam.<br />
Man konnte eine schlechtere Wahl treffen.<br />
Edwards legte sich widerwillig schlafen. Jetzt war nicht die Zeit,<br />
um über eine mögliche Beziehung nachzudenken. Überleben hatte<br />
Vorrang.<br />
Schottland<br />
»Wann, wenn die Stelle okay ist?« fragte der Major. Er hatte nicht<br />
damit gerechnet, dass Edwards und sein Trupp es so weit schaffen<br />
würden. Jedesmal, wenn er daran dachte, wie diese kleine Gruppe<br />
auf dem von achttausend sowjetischen Soldaten besetzten Island<br />
über kahlen, felsigen Boden marschierte, von Hubschraubern umkreist,<br />
hatte er eine Gänsehaut bekommen.<br />
»Um Mitternacht«, meinte der Mann von Special Operations.<br />
»Dieser Mann hat eine Auszeichnung verdient. Ich habe einen<br />
ähnlichen Einsatz hinter mir. Sie können sich nicht vorstellen, was<br />
diese Leute geleistet haben. Und hatten keinen Hind direkt überm<br />
Kopf! Aber ich sagte ja schon <strong>im</strong>mer: Die Kleinen, Stillen, die<br />
haben's in sich.«<br />
»Wie auch <strong>im</strong>mer, es ist an der Zeit, dass wir sie von Profis<br />
unterstützen lassen«, erklärte der Captain der Royal Marines.<br />
»Sorgen Sie dafür, dass die Leute etwas zu beißen bekommen«,<br />
schlug der Major der US-Luftwaffe vor.<br />
462
Luftstützpunkt Langley, Virginia<br />
»Und wo hängt's jetzt?« fragte Nakamura.<br />
»Unregelmäßigkeiten in den Ummantelungen einiger Raketenmotoren»,<br />
erklärte der Ingenieur.<br />
»Unregelmäßigkeiten', das heißt wohl, dass sie auseinanderfliegen.«<br />
»Nicht ausgeschlossen«, räumte der Ingenieur ein.<br />
»Ist ja geil. Ich soll mit dem Ding siebzehn Meilen hoch fliegen<br />
und dann abwarten, wer in die Umlaufbahn kommt, das Ding oder<br />
ich!« spottete Major Nakamura.<br />
»Wenn der Raketentyp explodiert, tut sich nicht viel. Er zerbricht<br />
nur in zwei Teile, die von allein ausbrennen.«<br />
»Aus siebzehn Meilen Entfernung sieht das best<strong>im</strong>mt harmlos<br />
aus - was aber, wenn die Gurke zehn Meter von meinem F-15<br />
zündet?«<br />
»Bedaure, Major, aber dieser Raketenmotor ist über zehn Jahre<br />
alt. Niemand hat die Lagerungsvorschriften überprüft, als er zum<br />
Träger für ASAT ausgewählt wurde. Wir haben ihn mit Röntgenstrahlen<br />
und Ultraschall gecheckt. Meiner Ansicht nach ist er in<br />
Ordnung, aber ich kann mich natürlich irren«, sagte der Mann von<br />
Lockheed. Drei der sechs verbliebenen ASAT-Raketen waren wegen<br />
Rissen <strong>im</strong> Festtreibstoff ausgesondert worden; die anderen<br />
hatte man mit Fragezeichen versehen. »Wollen Sie die Wahrheit<br />
hören?«<br />
»Sie müssen damit fliegen, Major«, sagte der stellvertretende<br />
Kommandeur des Tactical Air Command. »Die Entscheidung liegt<br />
bei Ihnen.«<br />
»Läßt es sich so einrichten, dass der Vogel erst zündet, wenn ich in<br />
sicherer Entfernung bin?«<br />
»Wie lange brauchen Sie?« fragte der Ingenieur. Buns dachte<br />
über ihre Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit in dieser Höhe<br />
nach.<br />
»Sagen wir, zehn bis fünfzehn Sekunden.«<br />
»Da müßte ich die Software umprogrammieren, aber das wäre<br />
kein Problem. Wir müssen aber sicherstellen, dass die Rakete eine<br />
für die Startstellung ausreichende Vorwärtsgeschwindigkeit beibehält.<br />
Sind Sie sicher, dass Ihnen zehn bis fünfzehn Sekunden reichen<br />
?"<br />
463
»Nein, das müssen wir auf dem S<strong>im</strong>ulator überprüfen. Wie lange<br />
haben wir Zeit?«<br />
»Mindestens zwei, höchstens sechs Tage. Kommt auf die Navy<br />
an«, sagte der General vom Tactical Air Command.<br />
»Ist ja toll.«<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Gute Nachrichten«, verkündete Toland. »Ein F-15 Eagle flog<br />
nördlich der Azoren über einem schnellen Konvoi. Zwei Bear<br />
tauchten auf, vermutlich auf der Suche nach den Schiffen, und<br />
wurden von dem Eagle erwischt. Das wären nun drei Abschüsse in<br />
den letzten vier Tagen. Der Backfire-Angriff scheint abgebrochen<br />
worden zu sein.«<br />
»Wie ist die Position des Verbandes?« fragte der Group Captain.<br />
Toland fuhr über die Karte und verglich Länge und Breite mit den<br />
Werten auf der Meldung. »Ungefähr hier, und die Information ist<br />
zwanzig Minuten alt.«<br />
»Dann müßten sie in knapp zwei Stunden über Island sein.«<br />
»Stehen uns Tankflugzeuge zur Verfügung?« fragte der Chef der<br />
US-Marineflieger.<br />
»Nicht auf Abruf.«<br />
»Das schaffen wir mit zwei Jägern, unterstützt von zwei anderen,<br />
die sie in der Luft betanken, aber in diesem Fall beträgt die verfügbare<br />
Zeit <strong>im</strong> Zielgebiet zwanzig Minuten.« Der Flieger pfiff durch<br />
die Zähne. »Knapp, viel zu knapp. Da müssen wir passen.«<br />
Ein Telefon schrillte. Der britische Stützpunktkommandeur griff<br />
hastig nach dem Hörer. »Group Captain Mallory. Ja... gut,<br />
Alarmstart.« Er legte auf. Im Bereitschaftsraum heulten die Sirenen<br />
los; Piloten eilten zu ihren Maschinen. »Der Iwan hat uns die<br />
Entscheidung abgenommen, Commander. Ihre Radarmaschinen<br />
melden starke Störtätigkeit von Norden her.«<br />
Norfolk, Virginia<br />
Die Fahrt vom Hauptquartier des SACLANT dauerte zehn Minuten.<br />
Marinesoldaten prüften am Haupttor alles und jeden genau,<br />
464
sogar einen Chevy mit Drei-Sterne-Stander. Durch fieberhafte Aktivität<br />
fuhren sie zum Kai. Züge rollten über in die Straßen eingelassene<br />
Schienen, Reparaturwerkstätten und Prüflabors arbeiteten<br />
rund um die Uhr, und selbst bei McDonald's in der Straße direkt am<br />
Stützpunkt wurde unablässig gebraten. Im Hafen bog der Wagen<br />
rechts ab, passierte die U-Boot-Piers und hielt auf die Liegeplätze<br />
der Zerstörer zu.<br />
»Sie ist erst seit einem Monat <strong>im</strong> Dienst, also gerade lang genug<br />
für die Justierung der Elektronik», sagte der Admiral. »Captain<br />
Wilkens ließ auf der Fahrt von San Diego unablässig Übungen<br />
durchführen, aber einen Hubschrauber hat sie noch nicht. Die<br />
Pazifikflotte hat ihre behalten, und ich kann Ihnen nur eine Variante<br />
des Seahawk-F bieten, einen Prototyp.«<br />
»Die Maschine mit Tauchsonar?« fragte Ed Morris. »Damit<br />
kann ich leben. Haben wir auch jemanden, der damit umgehen<br />
kann?«<br />
»Lieutenant O'Malley, den wir von einem Ausbilderposten abberufen<br />
haben.«<br />
»Der Name ist mir ein Begriff. O'Malley führte auf der Moosbrugger<br />
Systemprüfungen durch, als ich TAO auf der John Rodgers<br />
war. Der Mann weiß, was er tut.«<br />
«Ich muss Sie nun hier absetzen. In einer halben Stunde, wenn ich<br />
mir die Überreste der Kidd angesehen habe, komme ich wieder<br />
zurück.«<br />
Reuben James. Ihr überhängender Klipperbug dräute überm Kai<br />
wie eine Guillotine. Morris vergaß seine Müdigkeit, stieg aus dem<br />
Chevy und betrachtete die Fregatte Nr. 57 mit der stummen Begeisterung<br />
eines Mannes, der zum ersten Mal sein neugeborenes Kind<br />
sieht.<br />
Fregatten der Klasse FFG-7 hatte er zwar schon gesehen, an Bord<br />
war er aber noch nie gewesen. Die strengen Linien ihres Rumpfes<br />
erinnerten ihn an eine Rennjacht. Sechs fünf Zoll starke Taue<br />
hielten sie am Kai fest, doch das elegante Schiff schien sie bereits zu<br />
spannen. Die Reuben James war mit ihren 3900 Tonnen kein<br />
großes, aber eindeutig ein sehr schnelles Kampfschiff.<br />
Ihre Aufbauten hatten die Anmut einer Großgarage und waren<br />
von Antennen und Radarmasten gekrönt, die aussahen, als stammten<br />
sie aus einem Metallbaukasten, aber Morris erkannte die funktionelle<br />
Schlichtheit des Designs. Vierzig Raketen ruhten auf dem<br />
465
Vorschiff in runden Gestellen. In dem kastenartigen Achteraufbau<br />
war Raum für zwei ASW-Hubschrauber. Der Rumpf war elegant,<br />
weil die Geschwindigkeit es erforderte. Die Aufbauten wirkten<br />
kantig, weil sie einfach so sein mussten. Dies war ein Kriegsschiff,<br />
und irgendwelche Schönheit an der Reuben James war rein zufällig.<br />
Matrosen in blauen Hemden und Jeans hasteten über drei Gangways<br />
und brachten Vorräte an Bord, denn das Schiff sollte bald<br />
auslaufen. Morris marschierte rasch zur achterlichen Gangway.<br />
Ein Marinesoldat salutierte, und an Deck der Fregatte ordnete ein<br />
Offizier hastig Vorbereitungen an für den Empfang des neuen<br />
Kommandanten. Die Schiffsglocke schlug viermal, und Commander<br />
Ed Morris nahm seine neue Identität an, grüßte erst die Flagge,<br />
dann den Offizier an Deck.<br />
»Sir, wir hatten Sie erst « platzte der Lieutenant heraus.<br />
»Wie geht es mit der Arbeit voran?« fuhr Morris dazwischen.<br />
»Höchstens zwei Stunden, dann sind wir klar zum Auslaufen,<br />
Sir.«<br />
»Fein.« Morris lächelte. »Um den Kleinkram kümmern wir uns<br />
später. Zurück an die Arbeit, Mister -«<br />
»Lyles, Sir. Schiffskontrolloffizier.«<br />
Und was, zum Kuckuck, ist das? fragte sich Morris. »Gut, Mr.<br />
Lyles. Wo ist der IO?«<br />
»Hier, Sir.« Der Erste Offizier hatte Schmieröl am Hemd und<br />
einen Flecken <strong>im</strong> Gesicht. »Ich war <strong>im</strong> Generatorraum. Entschuldigen<br />
Sie meinen Aufzug.«<br />
»Ich heiße Ed Morris.« Kommandant und Erster Offizier gaben<br />
sich die Hand.<br />
»Frank Ernst. Ich bin zum ersten Mal bei der Atlantikflotte.« Der<br />
Lieutenant Commander grinste schief. »Hab mir eine tolle Zeit<br />
dafür ausgesucht. Es ist aber alles gut in Schuß, Skipper. Unser<br />
Hubschrauberpilot ist oben in der Gefechtszentrale bei den Männern<br />
vom taktischen Team. Die Crew ist ziemlich jung, aber bereit.<br />
In höchstens zwei, drei Stunden können wir auslaufen. Wo sind<br />
Ihre Sachen, Sir?«<br />
»Sollten in einer halben Stunde hier sein. Was war unter Deck<br />
los?«<br />
»Kein Problem. Am Dieselgenerator drei war eine Ölleitung<br />
undicht. Schlamperei in der Werft, unsaubere Schweißnaht. Schon<br />
repariert. Über den Maschinenraum werden Sie sich freuen, Sir.<br />
466
Bei den ersten Probefahrten haben wir in einsfünfzig hohen Seen<br />
31,5 Knoten geschafft.« Ernst zog die Augenbrauen hoch.<br />
»Schnell genug?«<br />
»Und die Stabilisatoren?« erkundigte sich Morris.<br />
»Funktionieren einwandfrei, Sir.«<br />
»Und das ASW-Team?«<br />
»Sehen wir es uns einmal an.«<br />
Morris folgte seinem IO in die Aufbauten, zwischen den Hubschrauberhangars<br />
hindurch und dann eine Leiter hinauf. Die Gefechtszentrale<br />
befand sich eine Ebene unter und gleich achterlich<br />
der Brücke, sie grenzte an die Kapitänskammer. Der Raum war<br />
finster wie eine Höhle, größer und moderner als auf der Pharris,<br />
aber nicht weniger eng. Über zwanzig Männer waren mit einer<br />
S<strong>im</strong>ulation beschäftigt.<br />
»Scheiße!« brüllte eine laute St<strong>im</strong>me. »Schneller reagieren,<br />
Mann! Das ist ein Victor, das wartet nicht, bis Sie ausgepennt<br />
haben!«<br />
»Achtung! Kommandant in der GZ!« rief Ernst.<br />
»Weitermachen«, rief Morris. »Wer brüllt hier so rum?«<br />
Aus den Schatten tauchte ein Mann mit einem mächtigen Brustkasten<br />
auf. Fältchen um seine Augen verrieten, dass er zu oft und<br />
zu lange in die tiefstehende Sonne geschaut hatte. Dies also war<br />
Jerry »The Hammer« O'Malley. Bislang hatte er nur seine verzerrte<br />
St<strong>im</strong>me über UKW und seinen Ruf als U-Jäger gekannt, dem<br />
seine Arbeit wichtiger war als eine Beförderung.<br />
»Damit bin wohl ich gemeint, Captain. Ich bin O'Malley und<br />
soll Ihren Seahawk-Foxtrott fliegen.«<br />
»Mit dem Victor hatten Sie recht. So ein Teufelsding hat mir<br />
mein erstes Schiff fast auseinandergerissen.«<br />
»Tut mir leid, das zu hören, aber auf die Victor kommen be<strong>im</strong><br />
Iwan nur die besten Skipper. Kein anderes russisches Boot läßt<br />
sich so gut handhaben, und da zahlt sich ein geschickter Fahrer<br />
aus. Sie hatten es also mit der Spitzenklasse zu tun. Kam er von<br />
draußen?«<br />
Morris schüttelte den Kopf. »Wir orteten ihn mit Verzögerung,<br />
weil wir gerade gesprintet hatten und die akustischen Verhältnisse<br />
auch nicht zu günstig waren, aber geortet hatten wir ihn: Er<br />
konnte keine fünf Meilen entfernt gewesen sein. Der Hubschrauber<br />
war hinter ihm her, hatte ihn schon fast festgenagelt, aber da<br />
467
verschwand er ganz locker und tauchte ganz plötzlich innen auf,<br />
zwischen uns und dem Geleitzug.«<br />
»Tja, ein Victor kann das. Pumpentrick, sage ich dazu. Erst fährt<br />
er in eine Richtung, macht dann scharf kehrt und läßt eine Wirbelzone<br />
<strong>im</strong> Wasser und mittendrin wahrscheinlich noch ein Lärminstrument<br />
zurück. Dann taucht er unter die Thermokline und dreht<br />
auf. Die Russen feilen seit Jahren an dieser Taktik, zu der uns bisher<br />
noch keine zuverlässigen Gegenmaßnahmen eingefallen sind. Man<br />
braucht eine helle Hubschraubercrew und gute Teamarbeit mit den<br />
Burschen hier.«<br />
»Entweder haben Sie meine Meldung gelesen, oder meine Gedanken«,<br />
bemerkte Morris.<br />
»Sir, in den meisten Köpfen, in die ich gucke, wird russisch<br />
gedacht. Der Pumpentrick ist die Stärke des Victor. Da muss man<br />
aufpassen, weil er so schnell beschleunigen und abdrehen kann. Ich<br />
habe versucht, den Leuten beizubringen, dass es in Wirklichkeit<br />
nach Steuerbord fährt, wenn es so aussieht, als drehte es nach<br />
Backbord ab. Dann segelt man so zweitausend Yard rüber, wartet<br />
ein, zwei Minuten, behämmert den Burschen mit Sonar und läßt die<br />
Haie los, ehe er reagieren kann.«<br />
»Und wenn Sie sich irren?«<br />
»Dann hab ich mich eben geirrt, Sir. Meistens ist der Iwan aber<br />
berechenbar, wenn man sich in seine taktische Lage versetzt. An der<br />
Flucht kann man ihn zwar nicht hindern, aber sein Auftrag lautet,<br />
dicht ans Ziel heranzufahren, und wenn er das tut, kann man ihm<br />
das Leben ganz schön sauer machen.«<br />
Morris sah O'Malley scharf an. Dass er den Verlust seines ersten<br />
Schiffes so glatt analysiert bekam, mißfiel ihm. Andererseits war<br />
O'Malley ein Profi und vielleicht der Mann, der mit einem Victor<br />
fertig wurde. »Ist bei Ihnen alles klar?«<br />
»Der Hubschrauber steht auf dem Flugplatz. Wir stoßen zu<br />
Ihnen, wenn Sie die Kaps hinter sich haben. Solange noch Zeit war,<br />
wollte ich mit dem ASW-Team einige Dinge durchsprechen. Sollen<br />
wir ASW-Vorposten spielen?«<br />
»Da wir ein Schleppsonar haben, ist das wahrscheinlich. Und es<br />
kann sein, dass wir bei der Überfahrt mit einem Briten zusammenarbeiten.«<br />
»Soll mir recht sein. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Das<br />
hier ist ein recht ordentliches ASW-Team. Wir werden dem Iwan<br />
468
die Hölle heiß machen. Waren Sie nicht früher mal auf der Rodgers?«<br />
»Ja, als Sie auf der Moose fuhren. Zwe<strong>im</strong>al haben wir zusammengearbeitet,<br />
sind uns aber nie begegnet. Ich war >X-Ray Mike
den Pumpentrick. Sie werden bemerken, dass der Kontakt erst<br />
schwächer, dann heller wird. Das ist das Lärminstrument in der<br />
Wirbelzone. An diesem Punkt tauchte er unter die Schicht und<br />
sprintete hinter den Geleitschutzschirm. Hätte sogar den Träger<br />
getroffen, denn er wurde erst zehn Minuten später geortet. Hier« - er<br />
zeigte aufs Display - » darauf müssen Sie achten. Das zeigt Ihnen, dass<br />
Sie es mit einem Fahrer zu tun haben, der sein Handwerk versteht<br />
und es auf Sie abgesehen hat.« Morris betrachtete sich den Schirm<br />
genau und erkannte das Muster. Er sah es nicht zum ersten Mal.<br />
»Gut, IO, sehen wir uns weiter um. O'Malley, wir treffen uns vor<br />
den Kaps.«<br />
»Der Hubschrauber ist schon jetzt startbereit, Sir. Wenn Sie uns<br />
brauchen, kommen wir.«<br />
Morris nickte und ging nach vorne. Die Leiter zur Brücke war<br />
gerade einen Meter von der Tür der Gefechtszentrale und seiner<br />
eigenen entfernt. Er versuchte, sie rasch zu erkl<strong>im</strong>men, aber seine<br />
Beine waren vor Erschöpfung wie Gummi.<br />
»Kommandant auf der Brücke!« verkündete ein Maat.<br />
Morris war alles andere als beeindruckt und sogar entsetzt, als er<br />
sah, dass das Ruder des Schiffes kaum größer war als die Wählscheibe<br />
eines Telefons. Der Rudergänger hatte tatsächlich einen Sitz und<br />
rechts neben sich in einem Plexiglaskasten die Leistungshebel für die<br />
Jet-Turbinen.<br />
»Haben Sie schon auf diesem Typ gedient, Sir?« fragte der IO.<br />
»Nein, ich bin zum ersten Mal an Bord einer solchen Fregatte«,<br />
antwortete Morris. Den vier Männern der Brückenwache standen<br />
die Haare zu Berge. »Ich kenne aber die Waffensysteme, da ich vor<br />
einigen Jahren bei NAVSEA zum Entwicklungsteam gehörte, und<br />
ich habe auch eine Ahnung, wie sie sich fährt.«<br />
»Wie ein Sportwagen, Sir«, versicherte Ernst. »Was Ihnen besonders<br />
gefallen wird: Wir können die Maschinen abstellen, lautlos<br />
treiben und dann innerhalb von zwei Minuten wieder auf dreißig<br />
Knoten kommen.«<br />
»Wie bald können wir losfahren?«<br />
»Zehn Minuten nach Ihrem Befehl, Sir. Das Maschinenöl ist<br />
schon vorgewärmt. Ein Hafenschlepper liegt bereit, um uns vom Kai<br />
zu bugsieren.«<br />
»NAVSURFLANT kommt an Bord!« tönte es aus der Sprechanlage.<br />
Zwei Minuten später erschien der Admiral <strong>im</strong> Ruderhaus.<br />
470
»Ich lasse Ihre Sachen an Bord bringen. Was halten Sie von Ihrem<br />
neuen Schiff?«<br />
»IO, bitte lassen Sie uns etwas kommen«, sagte Morris zu Ernst<br />
und wandte sich an den Admiral. »Unterhalten wir uns in meiner<br />
Kammer?«<br />
Unten wurden sie von einem Steward mit Kaffee und Broten<br />
erwartet. Morris schenkte zwei Tassen ein und ignorierte das Essen.<br />
»Sir, ich habe keine Erfahrung mit diesen Schiffen. Ich kenne die<br />
Maschinen nicht - «<br />
»Sie haben einen erstklassigen Chefingenieur, und sie fährt sich<br />
wie ein Traum. Das Ruder können Sie Ihren Offizieren überlassen.<br />
Sie sind Spezialist für Waffen und Taktik, Ed. Ihr Platz ist in der<br />
Gefechtszentrale. Sie werden gebraucht.«<br />
»Akzeptiert, Sir.«<br />
»IO, legen Sie ab«, befahl Morris zwei Stunden später und beobachtete<br />
verlegen jeden Handgriff, den Ernst tat.<br />
Das Manöver ging erstaunlich glatt. Der Wind wehte vom Land,<br />
drückte gegen die hohen Aufbauten der Fregatte. Als die Leinen<br />
losgeworfen wurden, trieben der Wind und Hilfsschrauben am<br />
Rumpf direkt unter der Brücke den Bug der Reuben James frei, und<br />
dann liefen die Gasturbinen an.<br />
Ed Morris sah seiner neuen Crew bei der Arbeit zu. Er hatte<br />
allerhand Geschichten über die kalifornische Navy gehört - alles<br />
ganz locker vom Hocker -, doch die Steuermannsmaate am Kartentisch<br />
brachten die Position souverän auf den neuesten Stand, obwohl<br />
ihnen der Hafen nicht vertraut war. Lautlos glitten sie an den<br />
Piers des Kriegshafens vorbei. Morris sah Schiffe, deren schnittige<br />
graue Rümpfe von Löchern und verbogenem Stahl entstellt waren.<br />
Auch die Kidd lag dort; eine russische Rakete hatte ihr vielschichtiges<br />
Verteidigungssystem durchbrochen und ihre Vorderaufbauten<br />
zerstört. Auch einer seiner Matrosen schaute in diese Richtung, ein<br />
Teenager, der an seiner Zigarette zog und dann den Stummel über<br />
Bord warf. Morris wollte ihn fragen, was er dachte, war aber selbst<br />
kaum in der Lage, seine Gedanken zu formulieren.<br />
Bei den leeren Liegeplätzen der Flugzeugträger wandten sie sich<br />
nach Osten, glitten an dem überfüllten Becken der Landungsschiffe<br />
vorbei, und dann winkte unterm bewölkten H<strong>im</strong>mel grau und<br />
drohend die See.<br />
471
Dort wartete bereits HMS Battleaxe mit der britischen Kriegsflagge<br />
am Mast. Eine Signallampe blinkte sie an.<br />
WAS, ZUM TEUFEL, IST EIN REUBEN JAMES? wollte Battleaxe<br />
wissen.<br />
»Wie soll ich das beantworten, Sir?« fragte ein Signalgast.<br />
Der Bann war gebrochen. Morris lachte. »Signalisieren Sie: -Wenigstens<br />
taufen wir unsere Kriegsschiffe nicht nach unserer bösen<br />
Schwiegermutter.-«<br />
»Jawohl, Sir!« rief der Mann begeistert.<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Angeblich kann der Blinder keine Raketen tragen«, sagte Toland,<br />
aber was er sah, strafte diese nachrichtendienstliche Erkenntnis<br />
Lügen. Sechs Raketen hatten den Sperrgürtel der Jäger durchbrochen<br />
und den RAF-Stützpunkt getroffen. Eine halbe Meile von ihm<br />
entfernt brannten zwei Flugzeuge, und eine Radaranlage war ruiniert.<br />
»Wir wissen nun wenigstens, warum sie während der letzten<br />
paar Tage nicht so aktiv waren«, meinte Group Captain Mallory<br />
und besah sich die Schäden. »Sie rüsteten ihre Bomber um, die mit<br />
der neuen Bedrohung durch unsere Kampfflugzeuge fertig werden<br />
sollen. Aktion, Reaktion. Wir lernen, sie lernen.«<br />
Die Jäger kehrten zurück. Toland zählte mit und stellte fest, dass<br />
zwei Tornado und ein Tomcat fehlten. Sofort nach der Landung<br />
rollten die Maschinen in ihre Bunker. Die RAF hatte aber nicht<br />
genug, so dass drei amerikanische Jäger mit Splitterschutz aus Sandsäcken<br />
vorlieb nehmen mussten. Dort wurden sie vom Bodenpersonal<br />
sofort aufgetankt und bewaffnet. Die Besatzungen kletterten<br />
hinunter zu wartenden Jeeps und wurden zur Nachbesprechung<br />
gefahren.«<br />
»Die Kerle haben uns mit unserem eigenen Trick reingelegt!« rief<br />
ein Tomcat-Pilot aus.<br />
»Gut, worauf sind Sie gestoßen?«<br />
»Sie kamen in zwei Gruppen, rund zehn Meilen voneinander<br />
entfernt. Die erste bestand aus MiG-23 Flogger, die zweite aus<br />
Blinder. Die MiG schössen vor uns ab und brachten unser Radar<br />
ziemlich durcheinander. Einige sind mit einem neuen Störsender<br />
472
ausgerüstet, der uns bisher noch nicht untergekommen ist. Ihr<br />
Treibstoff Muss knapp gewesen sein, denn sie wichen einem Gefecht<br />
aus. Offenbar wollten sie uns nur von den Bombern fernhalten, bis<br />
die ihre Raketen abgeschossen hatten. Hätte beinahe geklappt. Ein<br />
Schwärm Tornado kam von links und holte vier Blinder runter. Wir<br />
erwischten zwei MiG - keinen Blinder -, und der Boss ließ den Rest<br />
der Tomcats auf die Raketen los. Ich schaltete zwei aus. Wie auch<br />
<strong>im</strong>mer, der Iwan hat eine neue Taktik angewandt. Einen Tomcat<br />
haben wir verloren, aber ich weiß nicht, wie.«<br />
»Be<strong>im</strong> nächsten Mal starten wir mit ein paar Raketen, die auf die<br />
Störsender programmiert sind«, meinte ein anderer Pilot. »Dafür<br />
hatten wir diesmal nicht genug Zeit. Wenn die Störer erst einmal<br />
ausgeschaltet sind, werden wir leichter mit den Jägern fertig.«<br />
Und dann ändern die Russen ihre Taktik wieder, dachte Toland.<br />
Aber wenigstens reagieren sie zur Abwechslung mal auf uns.<br />
Fölziehausen, BRD<br />
Nach acht Stunden erbitterter Kämpfe, in deren Verlauf der vorgeschobene<br />
Befehlsstand von Artilleriefeuer getroffen wurde, brachten<br />
Beregowoy und Alexejew den belgischen Gegenangriff zum<br />
Stehen. Doch das allein genügte nicht. Sie waren sechs Kilometer<br />
vorangekommen und dann auf eine massive Wand aus Panzern und<br />
Raketen gestoßen. Die belgische Artillerie belegte die Straße, über<br />
die der Nachschub für den russischen Vorstoß auf Hameln rollte,<br />
<strong>im</strong>mer wieder mit Feuer. Alexejew wusste, dass der Gegner einen<br />
weiteren Gegenangriff plante. Wir müssen als erste zuschlagen,<br />
dachte er, aber womit? Seine drei Divisionen brauchte er für den<br />
Vorstoß gegen die vor Hameln stehenden britischen Kräfte.<br />
»Jedesmal, wenn wir durchbrechen«, bemerkte Major Sergetow<br />
leise, »halten sie uns auf und starten einen Gegenangriff. So etwas<br />
sollte nicht vorkommen.«<br />
»Welch tiefschürfende Erkenntnis!« fauchte Alexejew und faßte<br />
sich dann wieder. »Wir gingen von der Annahme aus, dass ein<br />
Durchbruch die gleiche Wirkung zeigen würde wie be<strong>im</strong> letzten<br />
Krieg gegen die Deutschen. Der Haken sind aber diese leichten<br />
Panzerabwehrraketen. Drei Mann mit einem Jeep« - er benutzte<br />
den amerikanischen Ausdruck - »sausen die Straße entlang, stellen<br />
473
sich auf, schießen ein oder zwei Raketen ab und sind schon verschwunden,<br />
ehe wir reagieren können. Dann wiederholen sie den<br />
Prozeß ein paar hundert Meter weiter. Noch nie war die Feuerkraft<br />
der Verteidigung so stark, und wir erkannten offenbar nicht,<br />
wie effektvoll eine entschlossene Nachhut eine vorrückende Panzerkolonne<br />
verlangsamen kann. Unsere Sicherheit liegt in der Mobilität;<br />
wir dürfen den Schwung nicht verlieren. Ein s<strong>im</strong>pler<br />
Durchbruch genügt nicht! Erst wenn wir eine massive Lücke in<br />
ihre Front gerissen und dann mindestens zwanzig Kilometer zügig<br />
zurückgelegt haben, sind wir diese beweglichen Raketenbedienungen<br />
los. Erst dann können wir zu unserer mobilen Taktik übergehen.«<br />
»Meinen Sie, dass wir nicht siegen können?« Sergetow hatte<br />
selbst schon seine Zweifel, war aber überrascht, sie von seinem<br />
Vorgesetzten zu hören.<br />
»Ich kann nur wiederholen, was ich schon vor vier Monaten<br />
gesagt habe: Dieser Feldzug ist zu einem Abnutzungskrieg geworden.<br />
Für den Augenblick hat die Technik auf beiden Seiten die<br />
Kriegskunst besiegt. Nun geht es nur noch darum, wem als erstem<br />
die Soldaten und Waffen ausgehen.«<br />
»Und da stehen wir besser da«, meinte Sergetow.<br />
»Gewiß, Iwan Michailowitsch. Ich habe mehr junge Männer zu<br />
opfern.« Im Feldlazarett trafen <strong>im</strong>mer mehr Verwundete ein. Die<br />
Kolonnen der Sanitätsfahrzeuge waren endlos.<br />
»Genosse, mein Vater hat sich nach den Fortschritten an der<br />
Front erkundigt. Was soll ich ihm sagen?«<br />
Alexejew entfernte sich kurz von seinem Adjutanten, um über<br />
diese Frage nachzudenken.<br />
»Iwan Michailowitsch, richten Sie dem Minister aus, der Widerstand<br />
der Nato sei viel heftiger als erwartet. Der Schlüssel ist<br />
nun die Logistik. Wir brauchen die besten verfügbaren Informationen<br />
über die Versorgungslage der Nato, und es müssen entschlossene<br />
Anstrengungen zu ihrer Verschlechterung gemacht<br />
werden. Wir wissen nicht, mit welchem Erfolg die Marine die<br />
feindlichen Geleitzüge angreift. Das muss ich aber erfahren, um<br />
das Durchhaltevermögen der Nato abschätzen zu können. Und<br />
aus Moskau brauche ich keine Analysen, sondern Rohdaten.«<br />
»Sind Sie mit dem, was wir aus Moskau erfahren, nicht zufrieden?«<br />
474
»Uns wurde gesagt, die Nato sei politisch zerstritten und militärisch<br />
unkoordiniert. Was halten Sie inzwischen von dieser Einschätzung,<br />
Genosse Major?« fragte Alexejew scharf. »Den Dienstweg<br />
kann ich mit einer solchen Bitte nicht begehen. Fahren Sie nach<br />
Moskau. In sechsunddreißig Stunden erwarte ich Sie zurück. Wir<br />
sitzen dann best<strong>im</strong>mt noch hier.«<br />
Island<br />
»In einer halben Stunde sollten sie da sein.«<br />
»Roger, Doghouse«, erwiderte Edwards. »Wie ich bereits sagte,<br />
sind keine Russen zu sehen, auch keine Flugzeuge. Vor sechs Stunden<br />
Verkehr auf der Straße westlich von uns; vier Geländefahrzeuge,<br />
unterwegs nach Süden. Was sie enthielten, ließ sich wegen<br />
der Entfernung nicht beurteilen. Die Luft ist rein. Over.«<br />
»Gut, sagen Sie uns Bescheid, wenn sie angekommen sind.«<br />
»Wird gemacht. Out.« Edwards schaltete das Funkgerät aus.<br />
»Leute, wir kriegen Besuch von Freunden.«<br />
»Wann und wo, Skipper?« fragte Smith sofort.<br />
»Hat man mir nicht verraten, aber in einer halben Stunde sollen<br />
sie da sein. Springen wohl ab.«<br />
«Werden wir rausgeholt?« fragte Vigdis.<br />
»Nein, hier kann kein Flugzeug landen. Sergeant, was halten Sie<br />
davon?«<br />
»Was auch Sie meinen, Skipper.«<br />
Die Maschine erschien früher als erwartet und wurde zur Abwechslung<br />
einmal von Edwards entdeckt. Das Transportflugzeug 0130<br />
Hercules kam <strong>im</strong> Tiefflug aus Nordwesten, nur wenige hundert Fuß<br />
über dem Osthang des Bergzuges, auf dem sie sich befanden. Von<br />
Osten wehte eine streife Brise, als vier kleine Gestalten aus der<br />
hinteren Frachttür fielen und die Hercules scharf nach Norden<br />
abdrehte. Edwards konzentrierte sich auf die hinabschwebenden<br />
Fallschirme. Anstatt ins Tal unter ihnen zu sinken, trieben sie auf<br />
einen mit Felsbrocken übersäten Hang zu.<br />
»Scheiße, er hat den Wind falsch eingeschätzt! Los.«<br />
Als sie den Hang hinunterrannten, glitten die Fallschirme an<br />
ihnen vorbei, sanken <strong>im</strong> Halbdunkel in sich zusammen, als die<br />
475
Männer landeten. Edwards und seine Männer merkten sich die<br />
Stellen.<br />
»Halt! Wer da?«<br />
»Schon gut, wir sind das Empfangskomitee«, sagte Edwards.<br />
»Identifizieren Sie sich!« Der Mann hatte einen englischen Akzent.<br />
»Codename Beagle.«<br />
»Wirklicher Name?«<br />
»First Lieutenant Edwards, US Air Force.«<br />
Edwards ging allein nach vorn. Nach einer Weile sah er einen<br />
hinter einem Felsblock halb verborgenen Schemen, der eine Maschinenpistole<br />
hielt.<br />
»Wer sind Sie?«<br />
»Sergeant Nichols, Royal Marines. Einen miserablen Platz haben<br />
Sie sich da zu unserer Begrüßung ausgesucht, Lieutenant.«<br />
»War nicht meine Idee!« antwortete Edwards. »Man hat uns erst<br />
vor einer Stunde gesagt, dass Sie kommen.«<br />
»Ist mal wieder Scheiße gebaut worden.« Der Mann stand auf<br />
und kam stark hinkend auf Edwards zu. Eine weitere Gestalt<br />
tauchte auf.<br />
»Wir haben den Lieutenant gefunden - tot, glaube ich!«<br />
Edwards stellte bald fest, dass der Trupp, der zu ihrer Rettung<br />
gekommen war - oder wie sein Auftrag sonst lauten mochte <br />
tatsächlich eine katastrophale Landung gehabt hatte. Der Lieutenant<br />
war auf einen Felsblock niedergegangen und rückwärts auf<br />
einen zweiten gefallen. Sein Kopf hing schlaff am Rest seines Körpers.<br />
Nichols hatte sich den Knöchel verstaucht; die anderen beiden<br />
waren unverletzt, aber ziemlich erschüttert. Es dauerte über eine<br />
Stunde, bis ihre Ausrüstung eingesammelt war. Der Lieutenant<br />
wurde mit seinem Fallschirm zugedeckt; darauf türmte man Steine.<br />
Edwards führte den Rest des Trupps hinauf auf die Kuppe. Wenigstens<br />
hatte man ihm eine frische Batterie für sein Funkgerät mitgeschickt.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Es sieht beschissen aus.«<br />
»Warum hat das so lange gedauert?«<br />
»Richten Sie dem Piloten aus, er soll sich eine neue Brille kaufen.<br />
Der Lieutenant Ihrer Marines ist tot, und der Sergeant hat einen<br />
kaputten Knöchel.«<br />
»Hat man sie entdeckt?«<br />
476
»Negativ. Sie gingen zwischen Felsblöcken nieder. Ein Wunder,<br />
dass sie dabei nicht alle umkamen. Wir sind wieder auf dem Berg<br />
und haben unsere Spuren verwischt.«<br />
Sergeant Nichols war wie Smith Raucher. Die beiden suchten<br />
sich eine geschützte Stelle zum Qualmen.<br />
»Ihr Lieutenant klingt ziemlich nervös.«<br />
»Ist zwar nur ein Wetterfrosch, aber in Ordnung. Was macht der<br />
Fuß?«<br />
»Muss drauf laufen, ob ich will oder nicht. Weiß er, was er tut?«<br />
»Der Skipper? Ich hab selbst mit angesehen, wie er drei Russen<br />
mit dem Messer kaltgemacht hat. Reicht das?«<br />
»Donnerwetter...«<br />
477
USS Reuben James<br />
33<br />
Kontakt<br />
»Sir?« Morris fuhr zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter<br />
legte. Er hatte sich nach Nachtlandeübungen mit dem Hubschrauber<br />
nur kurz in seiner Kammer hinlegen wollen. Er schaute auf die<br />
Uhr, nach Mitternacht. Er sah zu seinem Ersten Offizier auf.<br />
»Was gibt's, IO?«<br />
»Wir sollen etwas überprüfen. Wahrscheinlich blinder Alarm,<br />
aber - na; sehen Sie es sich mal selbst an.«<br />
Morris nahm die Nachricht mit in seinen Waschraum, steckte sie<br />
in die Tasche und wusch sich dann rasch das Gesicht.<br />
»Unüblicher Kontakt, Ortungsversuche erfolglos? « Was, zum<br />
Kuckuck, soll das heißen?« fragte er be<strong>im</strong> Abtrocknen.<br />
»Keine Ahnung, Sir. Man nennt uns eine ungefähre Position,<br />
kann den Kontakt aber nicht identifizieren. Ich lasse gerade die<br />
Karte heraussuchen.«<br />
Morris fuhr sich durch die Haare »Gut, sehen wir uns das mal in<br />
der Zentrale an.«<br />
Der TAO hatte die Seekarte auf den Tisch neben dem Sessel des<br />
Kommandanten gelegt. Morris sah sich das taktische Hauptdisplay<br />
an. Im Einklang mit ihrem Auftrag, die Hundert-Faden-Kurve zu<br />
überprüfen, befanden sie sich noch weit vor der Küste.<br />
»Das ist ein schönes Stück weg«, bemerkte Morris sofort. Irgend<br />
etwas kam ihm hier bekannt vor. Der Commander beugte sich über<br />
die Karte.<br />
»Jawohl, Sir, ungefähr sechzig Meilen«, st<strong>im</strong>mte Ernst zu. »Und<br />
in seichtem Wasser. Das Schleppsonar können wir da nicht einsetzen.«<br />
»Ach, jetzt weiß ich, was das ist! Dort sank die Andrea Doria.<br />
Wahrscheinlich hatte jemand einen Magnetanomaliekontakt und<br />
machte sich nicht die Mühe, auf der Seekarte nachzusehen.«<br />
478
»Möchte ich bezweifeln.« O'Malley tauchte aus den Schatten<br />
auf. »Zuerst bekam eine Fregatte einen seltsamen Passivsonar-<br />
Kontakt. Eine Zielbewegungsanalyse ergab die vorliegende Position.<br />
Ihr Hubschrauber machte ein paar Überflüge, sein Magnetanomalie-Detektor<br />
sprach über der Doria an, und das war's.«<br />
»Woher wissen Sie das?«<br />
O'Malley reichte ihm ein Formular. »Traf ein, als der IO Sie<br />
holen ging. Man ließ das von einer Orion überprüfen. Dieselbe<br />
Leier: Man hörte etwas Komisches, das dann verschwand.«<br />
Morris zog die Stirn kraus. Best<strong>im</strong>mt wieder viel Lärm um nichts,<br />
aber da der Befehl aus Norfolk kam, musste er handeln.<br />
»Ist der Hubschrauber bereit?«<br />
»Kann in zehn Minuten oben sein. Ein Torpedo, ein Zusatztank.<br />
Alle Systeme arbeiten einwandfrei.«<br />
»Die Brücke soll uns mit fünfundzwanzig Knoten hinbringen.<br />
Weiß Battleaxe Bescheid?« Zur Antwort bekam er ein Nicken.<br />
»Gut. Signalisieren Sie unsere Absichten. Holen Sie den Schwanz<br />
ein, der nutzt uns am Ziel nichts. O'Malley, wir fahren bis auf<br />
fünfzehn Meilen an den Kontakt heran und lassen Sie dann suchen.<br />
Falls Sie mich brauchen, finden Sie mich in der Messe.« Gleich<br />
darauf stellte Morris fest, dass auch O'Malley in diese Richtung<br />
unterwegs war.<br />
»Komische Kähne sind das«, meinte der Flieger.<br />
Morris grinste zust<strong>im</strong>mend. Der Hauptlaufgang zwischen Vorund<br />
Achterschiff befand sich zum Beispiel an Backbord und nicht in<br />
der Mitte. Bei den Fregatten der Perry-Klasse hatte man mit vielen<br />
Traditionen der Schiffsarchitektur gebrochen.<br />
O'Malley kletterte als erster die Leiter hinunter und hielt dem<br />
Kommandanten die Tür zur Offiziersmesse auf. Drinnen saßen<br />
zwei junge Offiziere vor dem Fernseher und betrachteten sich einen<br />
Videofilm. Thema: schnelle Autos und nackte Frauen. Morris hatte<br />
bereits erfahren, dass der Videorecorder in der Kammer des Chiefs<br />
stand. Diese Tatsache hatte unter anderem zur Folge, dass Szenen<br />
mit attraktiven Mädchen zurückgespult und für alle Mann an Bord<br />
in Zeitlupe abgespielt wurden.<br />
Die Ration nach der ersten Hälfte der Wache bestand aus Brot<br />
und einer Wurstplatte. Morris goß sich eine Tasse Kaffee ein und<br />
stellte sich ein Sandwich zusammen. O'Malley entschied sich für<br />
Fruchtsaft aus dem Kühlschrank am achterlichen Schott.<br />
479
»Nanu, kein Kaffee?« fragte Morris. O'Malley schüttelte den<br />
Kopf.<br />
»Macht mich zu zittrig. Wer nachts einen Hubschrauber landen<br />
will, braucht ruhige Hände.« Er lächelte. »Ich fühle mich langsam<br />
zu alt für diesen Zirkus.«<br />
»Haben Sie Kinder?«<br />
»Drei Jungs, aber wenn ich meinen Willen bekomme, geht keiner<br />
zur See. Und Sie?«<br />
»Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind mit ihrer Mutter dahe<strong>im</strong> in<br />
Kansas.« Morris machte sich über sein Sandwich her. Das Brot war<br />
nicht gerade frisch und der Aufschnitt zu warm, aber weil er Hunger<br />
hatte, langte er zu. O'Malley schob ihm eine Schüssel Kartoffelchips<br />
hinüber.<br />
»Sie brauchen viel Kohlehydrate, Sir.«<br />
»Dieser greuliche Saft bringt Sie noch um.«<br />
»Keine Angst, ich bin nicht so leicht kleinzukriegen. Ich war zwei<br />
Jahre lang in Vietnam als Pilot <strong>im</strong> Einsatz, flog vorwiegend Rettungshubschrauber.<br />
Wurde zwe<strong>im</strong>al abgeschossen, bekam aber<br />
keinen Kratzer ab. Nur Schiß hatte ich.«<br />
Ist er denn schon so alt? fragte sich Morris. Er musste bei Beförderungen<br />
mehrmals übergangen worden sein. Er nahm sich vor, einen<br />
Blick in O'Malleys Personalakte zu werfen.<br />
»Warum waren Sie eigentlich in der Zentrale?« fragte Morris.<br />
»Ich war nicht müde und wollte mal nachsehen, wie das Schleppsonar<br />
funktioniert.«<br />
Das überraschte Morris. Im allgemeinen interessierten sich die<br />
Flieger nur selten für die Ausrüstung des Schiffes.<br />
»Man hört, Sie hätten sich mit der Pharris tapfer geschlagen.«<br />
»Leider reichte das nicht.«<br />
»So was kommt vor.« O'Malley musterte seinen Kommandanten<br />
scharf. Als einziger Mann an Bord mit Gefechtserfahrung entdeckte<br />
er etwas an Morris, das er seit Vietnam nicht mehr gesehen<br />
hatte. Er zuckte die Achseln. Nicht mein Problem, dachte er und<br />
holte eine Packung Zigaretten aus seiner Kombination. »Darf ich?«<br />
»Ich habe selbst gerade wieder angefangen.«<br />
»Gott sei Dank!« rief O'Malley. »Unter diesen grünen Tugendbolden<br />
in der Messe kommt man sich ja vor wie ein alter Junkie!«<br />
Die beiden anwesenden jungen Lieutenants lächelten, ohne die<br />
Augen vom Bildschirm zu wenden.<br />
480
»Haben Sie Erfahrung mit Fregatten?«<br />
»Nicht viel, Sir; ich war meist auf Trägern. In den letzten vierzehn<br />
Monaten habe ich in Jax den Fluglehrer gespielt. Ich habe<br />
meist Seahawk geflogen, in allen möglichen Einsätzen. Mein Vogel<br />
wird Ihnen gefallen. Er hat das beste Tauchsonar, das ich je benutzt<br />
habe.«<br />
»Was halten Sie von dieser Kontaktmeldung?«<br />
O'Malley lehnte sich zurück, zog an seiner Zigarette und starrte<br />
ins Leere. »Interessant. Ich habe mal <strong>im</strong> Fernsehen etwas über die<br />
Doria gesehen. Sie liegt auf der Steuerbordseite und in nur sechzig<br />
Metern Tiefe. Sporttaucher kommen also gerade noch an sie heran,<br />
und zwar in Massen. Und sie ist mit einer Unmenge Trossen drapiert.«<br />
»Wie das? «<br />
»Von Schleppnetzen. Die Gegend wird stark befischt, und die<br />
Schleppnetze bleiben an dem Wrack hängen. Die Andrea Doria<br />
sieht aus wie der gefesselte Gulliver.«<br />
»St<strong>im</strong>mt! Jetzt entsinne ich mich auch!« sagte Morris. »Damit<br />
wäre auch der Lärm erklärt, den das Wrack macht. Die Tide oder<br />
Strömungen pfeifen in den Trossen.«<br />
O'Malley nickte. »Ja, aber ich will trotzdem mal nachsehen.«<br />
»Und warum?«<br />
»Alles, was aus New York kommt, fährt über die Stelle hinweg.<br />
Der Iwan weiß, dass wir in New York einen großen Geleitzug<br />
zusammenstellen. Wäre das nicht ein vorzüglicher Parkplatz für ein<br />
U-Boot, das sich an den Konvoi hängen will? Denken Sie doch mal<br />
nach. Wer dort einen MAD-Kontakt bekommt, tut ihn doch gleich<br />
ab. Der Schall eines Reaktors ist bei niedriger Leistung wohl kaum<br />
lauter als die Strömungsgeräusche am Wrack. Kann mir gut vorstellen,<br />
dass sich ein U-Boot-Kommandant mit Nerv an dieser Stelle<br />
versteckt.«<br />
»Sie denken tatsächlich wie die Russen«, bemerkte Morris.<br />
»Gut, überlegen wir mal, wie wir das anfangen...«<br />
0230 Uhr. Morris beobachtete vom Kontrollraum aus den Start<br />
und ging dann nach vorne in die Gefechtszentrale. Alle auf der<br />
Fregatte, die acht Knoten lief und das Prairie-Masker-System aktiviert<br />
hatte, waren auf Gefechtsstation. Wenn da draußen in zehn<br />
oder fünfzehn Meilen Entfernung tatsächlich ein russisches U-Boot<br />
481
lauerte, konnte seine Besatzung nicht ahnen, dass eine Fregatte in<br />
der Nähe war. Der Radarschirm in der GZ zeigte, dass der Hubschrauber<br />
in Position ging.<br />
»Romeo, hier Hammer. Testsendung. Over«, sagte O'Malley.<br />
Der Bordcomputer des Hubschraubers sendete nun Daten an die<br />
Fregatte. Ein Maat an der Hubschrauber-Datenkonsole überprüfte<br />
sie und grunzte befriedigt. Wie hieß der Ausdruck noch mal? Klar,<br />
sie »hingen satt an Mamis Teilchen«. Er grinste.<br />
Zwei Meilen vom Grab der Andrea Doria begann der Hubschrauber<br />
mit seiner Suche. O'Malley schwebte fünfzehn Meter<br />
über der rollenden See.<br />
»Dom ab, Willy."<br />
Hinten <strong>im</strong> Hubschrauber schloß der Maat die Bedienungsinstrumente<br />
der Winde auf und senkte den Sonar-Wandler durch ein<br />
Loch <strong>im</strong> Boden der Maschine ab. Der Seahawk hatte über dreihundert<br />
Meter Kabel, also genug, um bis unter die tiefste Thermokline<br />
zu reichen. Da hier das Wasser aber nur sechzig Meter tief war,<br />
musste man vorsichtig sein, um Schäden am Wandler durch Grundberührung<br />
zu vermeiden. Der Maat hielt die Winde an, als der<br />
Wandler dreißig Meter unter der Oberfläche angelangt war. Wie<br />
auf Überwasserschiffen lieferte der Wandler visuelle und akustische<br />
Signale. Auf einem Bildschirm begannen Frequenzlinien zu erscheinen,<br />
und der Seemann hörte über Kopfhörer mit.<br />
Jetzt wird's knifflig, sagte sich O'Malley. Einen Hubschrauber<br />
unter diesen Windbedingungen stationär in der Schwebe zu halten,<br />
erforderte konstante Aufmerksamkeit - einen Autopiloten gab es<br />
nicht -, und die U-Jagd war <strong>im</strong>mer ein Geduldsspiel. Das Passivsonar<br />
lieferte erst nach mehreren Minuten verwertbare Daten, die<br />
Aktivsysteme konnten nicht eingesetzt werden, da ihre Impulse den<br />
Feind warnten.<br />
Nach fünf Minuten hatten sie nichts als Hintergrundgeräusche<br />
aufgefangen. Sie zogen das Sonar ein und flogen nach Osten. Auch<br />
hier nichts. Geduld, sagte sich der Pilot. Fluch der Geduld. Weiter<br />
nach Osten, weiter warten.<br />
»Ich hab etwas in null-vier-acht. Weiß nicht genau was, eine Art<br />
Pfeifen <strong>im</strong> Hochfrequenzbereich.« Sie warteten zwei Minuten ab,<br />
um sicherzustellen, dass es kein falsches Signal war.<br />
»Dom hoch.« O'Malley ließ den Hubschrauber aufsteigen und<br />
flog dreitausend Yard nach Nordosten. Drei Minuten später wurde<br />
482
das Sonar wieder abgesenkt. Diesmal ohne Resultat. O'Malley<br />
wechselte erneut die Position. Warten, warten. Dann aber kamen<br />
gleich zwei Signale.<br />
»Sehr interessant-, bemerkte der ASW-Offizier auf der Reuben<br />
James. »Wie dicht liegt das be<strong>im</strong> Wrack?«<br />
»Sehr dicht«, antwortete Morris.<br />
»Könnte Strömungsgeräusch sein«, sagte Willy zu O'Malley. »Sehr<br />
schwach, wie be<strong>im</strong> letzten Mal.«<br />
Der Pilot schaltete das Signal auf seinen Kopfhörer um. »Könnten<br />
auch Dampfgeräusche sein. Klarmachen zum Einziehen des<br />
Doms. Ich fliege nach Osten und trianguliere.«<br />
Zwei Minuten später wurde der Sonarwandler zum sechsten Mal<br />
ins Wasser gelassen. Der Kontakt erschien nun auf dem taktischen<br />
Display zwischen Pilot und Kopilot.<br />
»Das sind zwei Signale«, meinte Ralsont, der Kopilot. »Rund<br />
sechshundert Yard voneinander entfernt.«<br />
»Kommt mir auch so vor. Sehen wir uns mal den nächsten an.<br />
Willy -«<br />
»Kabel klar zum Einholen, Skipper.«<br />
»Dom hoch. Romeo, hier Hammer. Empfangen Sie, was ich<br />
habe?«<br />
»Affirmativ, Hammer«, antwortete Morris. »Prüfen Sie das Signal<br />
<strong>im</strong> Süden.«<br />
»Tun wir gerade. Bitte warten.« O'Malley behielt seine Instrumente<br />
scharf <strong>im</strong> Auge, als er an den näheren Kontakt heranflog und<br />
die Maschine wieder in der Luft anhielt. »Dom ab.«<br />
»Kontakt!« rief der Maat eine Minute später, verglich die Tonlinien<br />
auf dem Bildschirm mit Daten, die er über russische U-Boote<br />
<strong>im</strong> Kopf hatte. »Signal als Dampf- und Reaktorgeräusch eines<br />
A<strong>tom</strong>-U-Bootes evaluiert, Richtung zwo-sechs-zwo.«<br />
O'Malley lauschte dreißig Sekunden lang und lächelte dann<br />
schwach. »Allerdings! Romeo, hier Hammer. Wir haben vermutlich<br />
ein U-Boot in zwo-sechs-zwo und wechseln nun zur näheren<br />
Best<strong>im</strong>mung die Position.«<br />
Zehn Minuten später war der Kontakt genau erfaßt. O'Malley<br />
hielt direkt auf ihn zu und senkte das Sonar ab.<br />
,Victor-Klasse«, sagte der Sonarmann auf der Fregatte. »Sehen Sie<br />
diese Frequenzlinie? Ein Victor, dessen Reaktor mit Min<strong>im</strong>alleistung<br />
läuft.«<br />
483
»Hammer«, rief Morris, »hier Romeo. Irgendwelche Vorschläge?«<br />
O'Malley hatte eine Rauchboje zur Markierung zurückgelassen und<br />
entfernte sich nun von dem Kontakt. Entweder hatte das U-Boot sie<br />
wegen der Verhältnisse an der Oberfläche nicht gehört, oder sein<br />
Kommandant fand es am sichersten, auf dem Grund liegenzubleiben.<br />
Die Amerikaner verfügten nur über zielsuchende Torpedos, die<br />
ein auf Grund liegendes U-Boot nicht ausmachen konnten. Einmal<br />
abgeschossen, fuhren sie entweder Kreise, bis ihnen der Treibstoff<br />
ausging, oder sie bohrten sich in den Meeresboden. Er erwog, das U-<br />
Boot mit Aktivsonar vom Grund hochzuscheuchen, doch Aktivsonar<br />
war in seichtem Wasser nicht sonderlich effektiv, und was, wenn<br />
der Russe sich einfach nicht rührte? Der Seahawk hatte nur noch für<br />
eine Flugstunde Treibstoff. O'Malley kam zu einem Entschluß.<br />
»Battleaxe, hier Hammer. Hören Sie mich? Over.«<br />
»Wird auch Zeit, dass Sie sich melden, Hammer«, erwiderte<br />
Captain Perrin sofort. Auf der britischen Fregatte wurde die Suche<br />
aufmerksam verfolgt.<br />
»Haben Sie Mark-11 an Bord?«<br />
»Können wir in zehn Minuten geladen haben.«<br />
»Wir warten. Romeo, genehmigen Sie VECTAC?«<br />
»Affirmativ.« Eine Vektor-Attacke war dieser Situation perfekt<br />
angemessen, und Morris empfand solche Erregung, dass es ihn noch<br />
nicht einmal ärgerte, von O'Malley übergangen worden zu sein.<br />
»Waffen frei.«<br />
O'Malley flog wartend in tausend Fuß Höhe Schleifen. Sein<br />
Sonar-Operator achtete am Sonar-Display aufmerksam auf Veränderungen,<br />
hatte aber bisher keine feststellen können: keine Leistungssteigerung,<br />
keine mechanischen Geräusche. Nur das Zischen<br />
eines Reaktors bei Min<strong>im</strong>alleistung, das in mehr als zwei Meilen<br />
Entfernung schon nicht mehr zu erfassen war. Kein Wunder, dass<br />
mehrere andere gesucht und nichts gefunden hatten. Er musste die<br />
Kaltblütigkeit des russischen Kommandanten bewundern.<br />
»Hammer, hier Hatchet«, meldete sich der Hubschrauber der<br />
Battleaxe.<br />
484
»Roger, Hatchet. Wo sind Sie?«<br />
»Zehn Meilen südlich von Ihnen. Wir haben zwei Wasserbomben<br />
an Bord.«<br />
O'Malley schaltete seine Beleuchtung wieder an. »Gut, halten<br />
Sie sich bereit. Romeo, geben Sie Hatchet einen Radarleitstrahl zu<br />
unserer Sonoboje, dann ermitteln wir mit unserem Sonar die<br />
Kreuzpeilung für den Abwurf. Einverstanden?«<br />
»Roger, einverstanden«, antwortete Morris.<br />
»Torpedos scharfmachen«, befahl O'Malley seinem Kopiloten.<br />
»Warum?«<br />
»Wenn die Wasserbomben danebengehen, schießt er vom<br />
Grund hoch wie ein Lachs zur Laichzeit.« O'Malley zog seinen<br />
Hubschrauber herum und erblickte die blinkenden Kollisionswarnlichter<br />
des britischen Lynx-Helikopters. »Hatchet, ich habe<br />
Sie nun in neun Uhr. Bitte halten Sie Ihre Position. Willy, Veränderungen<br />
am Kontakt?«<br />
»Nein, Sir. Der Kerl hat Nerven wie Drahtseile.«<br />
Armer Held, dachte O'Malley. Die Rauchboje über dem Kontakt<br />
war nun fast abgebrannt. Er warf eine zweite ab. Nachdem er<br />
sich noch einmal das taktische Display betrachtet hatte, ging er in<br />
eine Position tausend Yard östlich des Kontaktes, schwebte fünfzehn<br />
Meter über der Wasseroberfläche und setzte das Tauchsonar<br />
ein.<br />
»Da ist er«, meldete der Maat. »Richtung zwei-sechs-acht.«<br />
»Hatchet, hier Hammer. Bereit für VECTAC. Lassen Sie sich<br />
von Romeo steuern.«<br />
Der Kurs des britischen Hubschraubers wurde nun vom Radar<br />
der Reuben James best<strong>im</strong>mt.<br />
»Werfen Sie auf mein Kommando einzeln ab!« rief O'Malley.<br />
»Klarhalten, Hatchet.«<br />
»Sind klar.« Der britische Pilot machte seine Wasserbomben<br />
scharf und hielt mit neunzig Knoten aufs Ziel zu. O'Malley<br />
brachte die Blinklichter und den Rauch der Boje in eine Linie.<br />
»Bombe eins - los! Bombe zwei - los! Und nichts wie weg!«<br />
Das brauchte man dem Lynx-Piloten nicht zwe<strong>im</strong>al zu sagen.<br />
Kaum war die zweite Wasserbombe gefallen, da schoß der Helikopter<br />
auch schon in die Höhe und nach Nordosten. Zur selben<br />
Zeit riß O'Malley den Steuerknüppel zurück, um den empfindlichen<br />
Sonarwandler aus dem Wasser zu holen.<br />
485
Ein sonderbarer Lichtblitz auf dem Grund, dann noch einer. Die<br />
Meeresoberfläche wurde zu Schaum, der zum Sternenh<strong>im</strong>mel stieg.<br />
O'Malley flog heran und schaltete die Landescheinwerfer ein. An<br />
der Oberfläche erschienen aufgewühlter Schlick und ... Öl? Wie <strong>im</strong><br />
Kino, dachte er und warf noch eine Sonoboje ab.<br />
Über Grund hallte das Grollen der Wasserbombe wider, doch<br />
das System filterte es heraus und konzentrierte sich auf Schall in<br />
höheren Frequenzbereichen. Sie hörten Luft entweichen und Wasser<br />
rauschen. Jemand an Bord des U-Bootes hatte wahrscheinlich in<br />
dem vergeblichen Bemühen, an die Oberfläche zu kommen, die<br />
Ballasttanks angeblasen. Dann ein anderes Geräusch, das klang, als<br />
tropfte Wasser auf eine heiße Kochplatte. O'Malley konnte es nicht<br />
sofort interpretieren.<br />
»So was hab ich noch nie gehört«, sagte Willy über die Sprechanlage.<br />
»Was ist das, Sir?«<br />
»Der Reaktorbehälter ist gerissen. Was Sie da hören, ist ein<br />
durchgehender Kernreaktor.« Was für eine Schweinerei so dicht<br />
vor der Küste, dachte er. Mit dem Tauchen zur Doria war es für die<br />
nächsten Jahre Essig... O'Malley schaltete aufs Funkgerät um.<br />
»Hatchet, hier Hammer. Eindeutig eine Versenkung. Wollen Sie sie<br />
in Anspruch nehmen?«<br />
»Ja, Hammer. Vielen Dank fürs Hinsteuern.«<br />
O'Malley lachte. »Roger, Hatchet. Und Sie dürfen dann auch das<br />
Formular an die Umweltbehörde ausfüllen. Out.«<br />
In dem Lynx schauten sich Pilot und Kopilot verständnislos an.<br />
»Was soll das bedeuten?«<br />
Moskau<br />
Michail Sergetow hieß seinen Sohn mit einer typisch russischen<br />
Umarmung willkommen, nahm ihn am Arm und führte ihn zu dem<br />
Sil mit Chauffeur, der sie nach Moskau bringen sollte.<br />
»Wanja, du bist verwundet.«<br />
»Hab mich nur an einem Glassplitter geschnitten«, meinte Iwan<br />
wegwerfend. Sein Vater bot ihm einen kleinen Schluck Wodka an.<br />
»Danke, ich hab seit zwei Wochen keinen Tropfen mehr getrunken.«<br />
»Wirklich?«<br />
486
»Der General läßt <strong>im</strong> Befehlsstand keinen Alkohol zu«, erklärte<br />
Iwan.<br />
»Ist er der gute Offizier, für den ich ihn hielt?«<br />
»Vielleicht sogar ein noch besserer. Ich habe ihn an der Front<br />
erlebt. Er ist ein begabter Führer.«<br />
»Wie kommt es dann, dass wir Deutschland noch nicht erobert<br />
haben?«<br />
»Der Bereitschaftsgrad der Nato war höher als erwartet, Vater.<br />
Man war gerüstet, und der erste Schlag, den sie führte - noch ehe<br />
wir die Grenze richtig überschritten hatten -, kam als schwerer<br />
Schock.« Iwan beschrieb die Auswirkungen von Unternehmen<br />
Traumland.<br />
»Dass es so schl<strong>im</strong>m war, erfuhren wir hier nicht. Bist du da auch<br />
ganz sicher?«<br />
»Ich habe die Brücken selbst gesehen. Diese Flugzeuge griffen<br />
auch einen Gefechtsstand bei Stendal an. Ehe wir uns versahen,<br />
fielen die Bomben. Wenn der Gegner besser aufgeklärt hätte,<br />
stünde ich jetzt nicht hier.«<br />
»Es liegt also an seiner Luftmacht?«<br />
»Zum größten Teil. Ich musste mit ansehen, wie seine Erdkampfflugzeuge<br />
wie eine Sense durch Panzersäulen fuhren. Es war gräßlich.«<br />
»Und unsere Luftabwehrraketen?«<br />
»Unsere Raketentruppen üben zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Jahr, schießen auf<br />
unbemannte Zielflugzeuge, die langsam und schnurgerade dahinfliegen.<br />
Die Nato-Piloten fliegen zwischen den Bäumen durch.<br />
Wenn die Luftabwehrraketen beider Seiten so gut funktionierten<br />
wie von den Herstellerfirmen behauptet, wären alle Flugzeuge der<br />
Welt inzwischen zwe<strong>im</strong>al abgeschossen worden. Am schl<strong>im</strong>msten<br />
aber sind die feindlichen Panzerabwehrraketen.« Der junge Mann<br />
machte eine Geste. »Drei Mann in einem Fahrzeug. Einer steuert,<br />
einer lädt, einer schießt. Sie verstecken sich an einer Biegung hinter<br />
einem Baum und warten. Unsere Säule kommt in Sicht, sie eröffnen<br />
über eine Distanz von, sagen wir, zwei Kilometern das Feuer. Man<br />
hat ihnen eingeschärft, auf die Panzer der Truppenführer zu halten<br />
- die mit der Antenne am Turm. Meist kommt die erste Warnung in<br />
Form eines Treffers. Sie feuern eine zweite Rakete ab, zerstören<br />
noch einen Tank und rasen dann weg, ehe wir Artilleriefeuer auf sie<br />
lenken können. Fünf Minuten später wiederholt sich das Ganze an<br />
487
einer anderen Stelle. Und das frißt uns auf«, sagte der junge Mann<br />
und benutzte die Worte seines Vorgesetzten.<br />
»Willst du damit sagen, dass wir verlieren?«<br />
»Nein, ich will sagen, dass wir nicht gewinnen«, versetzte Iwan.<br />
»Aber für uns kommt das aufs gleiche raus.« Er gab jetzt weiter,<br />
was ihm sein Vorgesetzter aufgetragen hatte, und stellte fest, dass<br />
sein Vater auf dem Ledersitz des Wagens tiefer rutschte.<br />
»Hab ich's doch gewußt! Ich habe diese Idioten gewarnt,<br />
Wanja!« Iwan machte eine Kopfbewegung zum Chauffeur hin. Sein<br />
Vater lächelte mit einer wegwerfenden Geste. Witali diente Sergetow<br />
nun schon fünf Jahre. »Der Ölverbrauch liegt fünfundzwanzig<br />
Prozent über meiner Projektion, vierzig Prozent über der des Verteidigungsministeriums.<br />
Niemandem war eingefallen, dass die Flugzeuge<br />
der Nato unsere versteckten Treibstofflager finden könnten.<br />
Meine Leute sind <strong>im</strong>mer noch dabei, die nationalen Reserven einzuschätzen.<br />
Den vorläufigen Bericht soll ich heute nachmittag erhalten,<br />
wenn er rechtzeitig fertig wird. Schau dich um, Wanja, sieh<br />
selbst.«<br />
Es waren kaum Fahrzeuge auf der Straße, noch nicht einmal<br />
Laster. Moskau, nie eine besonders lebendige Stadt, wirkte nun<br />
selbst auf Russen düster. Menschen durcheilten halbleere Straßen,<br />
ohne sich umzudrehen, ohne die Köpfe zu heben. Viele Männer<br />
waren fort. Und so viele würden nie zurückkehren. Sein Vater las<br />
wie üblich seine Gedanken.<br />
»Wie schwer sind die Verluste?«<br />
»Fürchterlich, viel höher als erwartet. Genaue Zahlen kenne ich<br />
nicht, aber die Situation ist depr<strong>im</strong>ierend.«<br />
»Wanja, das Ganze war ein schrecklicher Fehler«, meinte der<br />
Minister leise. Aber hatte die Partei nicht <strong>im</strong>mer recht? Wie viele<br />
Jahre hatte er das geglaubt?<br />
»Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern, Vater. Wir brauchen<br />
Informationen über den Nachschub der Nato. Daten, die uns an der<br />
Front erreichen, sind - sagen wir einmal, zu vorgekaut.«<br />
An der Front, dachte Michail und war stolz auf seinen Sohn. Oft<br />
hatte er befürchtet, aus ihm könnte ein junger »Adliger« der Nomenklatura<br />
werden. Aber nun hatte er sich zu einem Mann entwikkelt.<br />
Schade nur, dass es dazu eines Krieges bedurft hatte.<br />
»Ich will sehen, was sich machen läßt.«<br />
488
USS Chicago<br />
Der Swiatjana-Anna-Graben war das letzte Tiefwassergebiet, das<br />
sie durchführen. Der aus schnellen Jagd-U-Booten bestehende Güterzug<br />
kam fast zum Stehen, als er sich dem Rand des Packeises<br />
näherte. Man erwartete hier zwei Freund-U-Boote, doch die Bezeichnung<br />
»Freund- wollte nicht zu Kriegsoperationen passen. Auf<br />
allen amerikanischen U-Booten war man auf Gefechtsstation.<br />
McCafferty prüfte Zeit und Position. Bislang war alles nach Plan<br />
verlaufen. Erstaunlich, dachte er.<br />
Er fuhr nur ungern vorneweg. Wenn nun ein Russe am Rand des<br />
Packeises patrouillierte? Wer schoß dann wohl als erster?<br />
»Hier Sonar. Ich empfange schwache Maschinengeräusche aus<br />
eins-neun-eins.«<br />
» Richtungsänderung?«<br />
»Im Augenblick keine, Sir.«<br />
McCafferty langte an dem Elektrikermaat vom Dienst vorbei<br />
und schaltete die Gertrude ein, ein ebenso effektvolles wie archaisches<br />
Sonartelefon. Anfangs hörte er nur das Ächzen und Zischen<br />
des Packeises. Hinter ihm ließ der IO den Feuerleittrupp Zielkoordinaten<br />
für eine Torpedoattacke auf den neuen Kontakt ausarbeiten.<br />
Aus dem Lautsprecher drangen verzerrte Silben.<br />
McCafferty nahm den Hörer der Gertrude ab und drückte auf<br />
den Sprechknopf.<br />
»Zulu X-Ray.« Nach einer Pause von mehreren Sekunden kam<br />
kratzig die Antwort.<br />
»Hotel Bravo!« rief HMS Sceptre.<br />
»Ein Drittel voraus«, befahl McCafferty. Zehn Minuten später<br />
waren sie in Reichweite der Gertrude.<br />
»Willkommen <strong>im</strong> Hinterhof der Sowjets. Leichte Änderung des<br />
Plans. Keyboard« - der Codename für HMS Superb - »liegt zwonull<br />
Meilen südlich und klärt die weitere Route auf. Im Lauf der<br />
vergangenen dreißig Stunden keine Feindaktivität. Die Luft ist rein.<br />
Waidmannsheil.«<br />
»Danke, Keylock. Die Bande ist vollzählig da. Out.« McCafferty<br />
legte auf. »Gentlemen, das Unternehmen läuft. Zwei Drittel voraus!«<br />
Das a<strong>tom</strong>getriebene Jagd-U-Boot beschleunigte auf zwölf Kno<br />
489
ten. HMS Sceptre zählte die vorbeifahrenden amerikanischen<br />
Boote und ging dann am Rand des Packeises wieder auf Station.<br />
»Viel Glück, Jungs«, flüsterte der Kommandant.<br />
»Sie sollten sicher reinkommen.«<br />
»Darüber mache ich mir keinen Kummer, J<strong>im</strong>my«, erwiderte der<br />
Kommandant und benutzte die traditionelle Anrede für einen britischen<br />
Ersten Offizier. »Wieder rauskommen, das wird kitzlig.«<br />
Stornoway, Schottland<br />
»Telex für Sie, Commander.« Ein RAF-Sergeant reichte Toland<br />
den Bogen.<br />
»Verlassen Sie uns?« fragte Group Captain Mallory.<br />
»Ich soll nach Northwood fliegen. Das liegt doch bei London,<br />
nicht wahr?«<br />
Mallory nickte. »Kein Problem.«<br />
»Vorzüglich. Hier steht nämlich >sofort
erlebt. Toland wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er mit<br />
einem routinemäßigen Fernschreiben, das er vor einer Woche abgesandt<br />
hatte, das Leben dieser Männer zum zweiten Male in diesem<br />
Jahr direkt beeinflussen würde.<br />
Zehn Minuten später setzte die Boeing 737 auf. Es waren nur<br />
zwanzig Passagiere an Bord, fast alle in Uniform. Toland wurde<br />
von einem Wagen abgeholt, der ihn rasch nach Northwood<br />
brachte.<br />
»Commander Toland?» fragte ein Lieutenant der Royal Navy.<br />
»Bitte kommen Sie mit, Sir. Der COMEASTLANT will Sie sprechen.«<br />
Admiral Sir Charles Beattie kaute vor einer riesigen Karte des<br />
Nord- und Ostatlantik auf einer kalten Pfeife.<br />
»Commander Toland, Sir.«<br />
»Danke«, sagte der Admiral, ohne sich umzudrehen. »Tee und<br />
Kaffee stehen in der Ecke, Commander.«<br />
Toland schenkte sich Tee ein, den er nur in England trank.<br />
»Ihre Tomcats haben gute Arbeit geleistet«, sagte Beattie.<br />
»Entscheidend war das Flugzeugradar, Sir. Über die Hälfte der<br />
Abschüsse wurden von der RAF erzielt.«<br />
»Vergangene Woche teilten Sie uns mit, Ihre Tomcats könnten<br />
Backfire über große Entfernungen visuell ausmachen.«<br />
Es dauerte einige Sekunden, bis Toland sich entsann. »Ah, Sie<br />
meinen das System mit der Videokamera, das für die Ortung von<br />
Kampfflugzeugen über dreißig Meilen angelegt ist. Ein Objekt von<br />
der Größe eines Backfire erfaßt es bei gutem Wetter aber schon über<br />
fünfzig Meilen.«<br />
»Ohne dass die Backfire etwas davon merken?«<br />
»Wahrscheinlich, Sir.«<br />
»Wie weit könnte man einem Backfire folgen?«<br />
»Diese Frage sollte man einem Piloten stellen. Ein Tomcat kann,<br />
wenn er in der Luft aufgetankt wird, vier Stunden lang in der Luft<br />
bleiben. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück; damit wären sie<br />
praktisch zu Hause.«<br />
Beattie drehte sich nun zum ersten Mal zu Toland um. Sir<br />
Charles, ehemals selbst Flieger, hatte die Ark Royal befehligt,<br />
Großbritanniens letzten richtigen Flugzeugträger. »Wissen Sie genau,<br />
von welchen Stützpunkten der Iwan seine Backfire starten<br />
läßt?«<br />
491
»Ja, es sind vier Flugplätze bei Kirowsk. Ich nehme an, dass Ihnen<br />
Satellitenbilder vorliegen, Sir.«<br />
»Hier.« Beattie reichte ihm einen Hefter. Das Ganze kam Toland<br />
unwirklich vor. Vier-Sterne-Admirale berieten sich normalerweise<br />
nicht so lässig mit einem frischgebackenen Commander - es sei<br />
denn, sie hatten nichts Besseres zu tun. Und Beattie war ein vielbeschäftigter<br />
Mann. Bob schlug die Akte auf.<br />
»Ah.« Er sah einen Satz Bilder von Umbosero, dem Flugfeld<br />
östlich von Kirowsk, das während des Satellitendurchgangs von<br />
den Russen eingenebelt worden war. Leuchtfeuer stifteten <strong>im</strong> Infrarotbereich<br />
zusätzliche Verwirrung. »Nun, da hätten wir Bunker<br />
und drei Maschinen. Wurde die Aufnahme gemacht, als die Backfire<br />
<strong>im</strong> Einsatz waren?«<br />
»Korrekt. Der Verband startete drei Stunden vor dem Satellitendurchgang.«<br />
»Und Tanklaster. Werden die Maschinen sofort nach der Landung<br />
aufgetankt?«<br />
»Offenbar, und ehe sie in die Bunker kommen.«<br />
Toland nickte. »Wäre eine vorzügliche Gelegenheit, sie am Boden<br />
zu erwischen - aber uns fehlen Maschinen mit der entsprechenden<br />
Reichweite. B-52 schafften das, doch die würden massakriert.<br />
Diese Lektion haben wir über Island gelernt.«<br />
»Ein Tomcat könnte die Russen aber praktisch bis nach Hause<br />
verfolgen und genau feststellen, wann sie landen?« hakte Sir<br />
Charles nach.<br />
Toland sah sich die Karte an. Die Backfire kehrten dreißig Minuten<br />
vor der Landung auf ihrem Stützpunkt wieder in den russischen<br />
Jägerschutzbereich zurück. »Das ließe sich bis auf plusminus fünfzehn<br />
Minuten sagen. Fragt sich nur, wie lange es dauert, einen<br />
Backfire in der Luft aufzutanken.«<br />
»Commander, ich werde Sie über eine bisher noch gehe<strong>im</strong>e Operation<br />
namens Doolittle informieren lassen. Kommen Sie in einer<br />
Stunde zurück. Ich will sehen, ob Sie Vorschläge zur Verbesserung<br />
des operativen Grundkonzepts haben.«<br />
492
USS Reuben James<br />
Sie lagen <strong>im</strong> Hafen von New York. O'Malley arbeitete in der Messe<br />
an seiner Meldung über die Versenkung des sowjetischen U-Bootes,<br />
als das Unterwassertelefon ging. Er schaute in die Runde und stellte<br />
fest, dass er der einzige anwesende Offizier war. Also musste er an<br />
den Apparat gehen.<br />
"Messe, Lieutenant Commander O'Malley.«<br />
"Hier Battleaxe. Kann ich Ihren Kommandanten sprechen?«<br />
»Er schläft gerade. Kann ich Ihnen behilflich sein, oder ist die<br />
Sache zu wichtig?«<br />
»Unser Kommandant möchte ihn gerne zum Abendessen einladen,<br />
falls er nicht zu beschäftigt ist-in einer halben Stunde. Ihr Erster<br />
Offizier und Ihr Hubschrauberpilot sind ebenfalls willkommen.«<br />
O'Malley lachte. »Der IO hat Landurlaub, aber der Pilot - das<br />
bin ich - wäre verfügbar, vorausgesetzt, dass auf den Schiffen Ihrer<br />
Majestät noch Alkohol ausgeschenkt wird.«<br />
"Keine Sorge, Commander.«<br />
»Gut, dann gehe ich den Kommandanten wecken und melde<br />
mich in fünfzehn Minuten wieder.« O'Malley legte auf und ging zur<br />
Tür, wo er mit Willy zusammenstieß.<br />
»Verzeihung, Sir. Die Ladeübung an den Torpedorohren?«<br />
»Schon recht, ich bin sowieso gerade unterwegs zum Kommandanten.«<br />
Willy hatte geklagt, bei der letzten Übung sei es zu langsam<br />
gegangen. Er gab dem Deckoffizier seinen Bericht. »Bitte lassen<br />
Sie das <strong>im</strong> Büro abtippen.«<br />
Die Tür zu Morris' Kammer war geschlossen, aber die Leuchte<br />
»Nicht stören« brannte nicht. Er klopfte an und trat ein.<br />
»Seht ihr ihn denn nicht?!« stieß Morris hervor. Er lag auf dem<br />
Rücken und hatte die Fäuste geballt. Sein Gesicht war schweißbedeckt,<br />
und er atmete schwer.<br />
»Mein Gott!« O'Malley zögerte. Er kannte den Mann ja kaum.<br />
»Paßt auf!" rief Morris nun so laut, dass O'Malley befürchtete,<br />
man könnte ihn draußen <strong>im</strong> Durchgang hören und glauben, der<br />
Kommandant sei nicht ganz bei Trost - er musste etwas tun.<br />
»Wachen Sie auf, Sir!« O'Malley packte Morris an der Schulter<br />
und zog ihn hoch.<br />
»Seht ihr ihn denn nicht?« schrie Morris <strong>im</strong> Halbschlaf.<br />
»Immer mit der Ruhe. Wir liegen <strong>im</strong> Hafen von New York. Sie<br />
493
sind in Sicherheit, und dem Schiff kann nichts passieren. Wachen<br />
Sie auf, Sir. Es ist alles in Ordnung.« Morris blinzelte und erkannte<br />
dann O'Malleys Gesicht.<br />
»Was haben Sie hier verloren?«<br />
»Gut, dass ich kam. Alles in Ordnung?« Der Pilot zündete eine<br />
Zigarette an und gab sie dem Kommandanten.<br />
Morris lehnte ab und stand auf, ging ans Waschbecken und holte<br />
ein Glas Wasser. "Ach, nur ein dummer Traum. Was wollen Sie?«<br />
»Wir sind nebenan zum Abendessen eingeladen worden - in<br />
einer halben Stunde. Ist wohl unsere Belohnung, weil wir ihnen das<br />
Victor serviert haben. Außerdem wollte ich Sie bitten, die Deckbesatzung<br />
Torpedoladen üben zu lassen.«<br />
»Wann soll die Übung beginnen?«<br />
»Sobald es dunkel ist. Es ist besser, wenn sie unter ungünstigen<br />
Bedingungen lernen.«<br />
»Gut. Abendessen in einer halben Stunde?«<br />
»Jawohl, Sir. Angenehm, dass es zur Abwechslung mal was Alkoholisches<br />
gibt.«<br />
Morris lächelte, schien aber wenig begeistert zu sein. »Na ja...<br />
So, ich wasche mich jetzt. Treffen wir uns in der Messe. Ist das eine<br />
formelle Angelegenheit?«<br />
»Davon haben sie nichts gesagt. Ich wollte mich eigentlich nicht<br />
umziehen, wenn Sie das nicht stört, Sir.« O'Malley trug seine<br />
Fliegerkombination. Ohne die vielen Taschen kam er offenbar<br />
nicht aus.<br />
»In zwanzig Minuten dann.«<br />
O'Malley ging in seine Kajüte und fuhr mit einem Lappen über<br />
seine Stiefel. Seine Kombination war neu, und er fand, dass er in ihr<br />
fein genug aussah. Morris machte ihm Sorgen. Hoffentlich brach er<br />
nicht zusammen - schl<strong>im</strong>m, wenn so etwas dem Kommandanten<br />
passierte. Andererseits, dachte O'Malley, ist Morris ein guter, ruhiger<br />
Mann.<br />
Als sie sich trafen, sah der Kommandant besser aus. Die Dusche<br />
hatte Wunder gewirkt. Sein Haar war zurückgekämmt, seine Khakiuniform<br />
gebügelt. Die beiden Offiziere traten hinaus aufs Hubschrauberdeck<br />
und gingen dann an Land.<br />
HMS Battleaxe wirkte größer als die amerikanische Fregatte. In<br />
Wirklichkeit war sie knapp vier Meter kürzer, aber auch siebenhundert<br />
Tonnen schwerer. Die Battleaxe war unbestreitbar an<br />
494
sehnlicher als ihr amerikanisches Gegenstück. Die nicht gerade<br />
aufregenden Linien ihres Rumpfes wurden von Aufbauten, die<br />
aussahen, als gehörten sie auf ein Schiff und nicht auf einen Parkplatz,<br />
mehr als ausgeglichen.<br />
Zu Morris' Erleichterung war der Abend nicht formell. Ein sehr<br />
junger Midshipman empfing sie an der Gangway und führte sie an<br />
Bord. Der Kommandant sei gerade am Funkgerät, erklärte er. Nachdem<br />
der Flaggoffizier und der Diensthabende salutiert hatten, wie es<br />
sich gehörte, führte der Midshipman sie in die kl<strong>im</strong>atisierte Messe.<br />
»Sieh mal einer an! Ein Klavier!« rief O'Malley aus. Ein etwas<br />
mitgenommen wirkendes Instrument war mit zwei starken Leinen<br />
ans Backbordschott gezurrt. Mehrere Offiziere erhoben sich und<br />
stellten sich vor.<br />
»Drinks, Gentlemen?« fragte ein Steward. O'Malley holte sich<br />
eine Dose Bier, setzte sich ans Klavier und hämmerte Ragt<strong>im</strong>es von<br />
Scott Joplin herunter. Eine Tür ging auf.<br />
»Jerry!« rief ein Mann mit vier Streifen auf den Schulternstükken.<br />
»Doug!« O'Malley sprang auf und gab dem Offizier die Hand.<br />
»Na, wie geht's?«<br />
»Hab ich's doch gewußt - das war Ihre St<strong>im</strong>me über Funk. Klar,<br />
der >Hammer
führte sie nach achtern und ließ sich ein Glas geben. »Großartige<br />
Leistung, die Versenkung des Victor gestern! Wie ich hörte, leisteten<br />
Sie auch auf Ihrem alten Schiff gute Arbeit.«<br />
»Wir versenkten ein Charlie und trugen zur Versenkung zweier<br />
weiterer bei.«<br />
»Wir stießen mit unserem letzten Geleitzug zufällig auf ein Echo.<br />
Altes Boot, aber es wurde kompetent gesteuert. Dauerte sechs<br />
Stunden, bis wir es erwischten. Inzwischen brachen zwei alte Dieselboote,<br />
Tangos vermutlich, durch und versenkten fünf Schiffe<br />
und eine Eskorte. Mag sein, dass Diomede eins erwischt hat.«<br />
»Hatte das Echo es auf Sie abgesehen?« fragte Morris.<br />
»Gut möglich«, erwiderte Perrin. »Offenbar n<strong>im</strong>mt sich der<br />
Iwan mit Bedacht Eskorten als Ziel. Bei dem letzten Backfire-<br />
Angriff wurden zwei Raketen auf uns abgeschossen. Eine wurde<br />
von Düppelwolken abgelenkt und detonierte in unserem Kielwasser,<br />
die andere schoß unser Sea Wolf ab. Zu allem Pech riß uns die<br />
Explosion hinter uns das Schleppsonar ab. Nun sind wir nur auf das<br />
System 2016 angewiesen.«<br />
»Und deshalb sollen Sie uns Schützenhilfe geben.«<br />
»So sieht es aus.«<br />
Die Kommandanten begannen zu fachs<strong>im</strong>peln, und das war auch<br />
der Zweck der Einladung gewesen. Während die Tische gedeckt<br />
wurden, unterhielt sich O'Malley mit dem britischen Hubschrauberpiloten<br />
und kl<strong>im</strong>perte dabei. Bei der Royal Navy musste es eine<br />
Direktive geben, die ungefähr so lautete: Wer mit amerikanischen<br />
Marineoffizieren zu tun hat, lädt sie früh ein, füllt sie gut ab und<br />
kommt erst dann zum Geschäft.<br />
Das Essen war erstklassig. O'Malley hörte genau zu, als sein<br />
Kommandant den Verlust der Pharris, die Taktik der Russen und<br />
seine eigenen Fehler bei den Gegenmaßnahmen beschrieb. Es klang,<br />
als spräche jemand vom Tod seines Kindes.<br />
»Unter diesen Umständen hatten Sie wohl keine andere Wahl«,<br />
kommentierte Perrin mitfühlend. »Ein Victor ist ein fähiger Gegner,<br />
und sein Kommandant muss Sie am Ende Ihres Spurts exakt<br />
abgepaßt haben.«<br />
Morris schüttelte den Kopf. »Nein, unser Spurt endete weit von<br />
ihm entfernt, und damit flogen seine Zielkoordinaten aus dem<br />
Fenster. Wenn ich keine Fehler gemacht hätte, lebten meine Männer<br />
noch. Ich war der Kommandant. Es war meine Schuld.«<br />
496
"Wie Sie wissen, war ich selbst U-Boot-Fahrer. Der Kommandant<br />
des Victor war <strong>im</strong> Vorteil, weil er Sie schon eine ganze Weile<br />
erfaßt und verfolgt hatte.« Perrin warf O'Malley einen Blick zu.<br />
Das Essen endete um acht. Die Kommandanten der Eskorten<br />
sollten sich am nächsten Nachmittag treffen. Der Geleitzug lief<br />
dann bei Sonnenuntergang aus. O'Malley und Morris verabschiedeten<br />
sich und schickten sich an, von Bord zu gehen, aber an der<br />
Laufplanke blieb der Pilot stehen. »Wie dumm, ich hab meine<br />
Mütze vergessen. Bin gleich wieder da.«<br />
Er eilte zurück in die Messe und ging zu Captain Perrin. »Doug,<br />
was halten Sie von Morris?«<br />
»In seiner derzeitigen Verfassung gehört er nicht auf See. Tut mir<br />
leid, aber so sehe ich das.«<br />
»Sie haben recht. Aber einen Versuch will ich noch machen.«<br />
O'Malley erstand etwas und kehrte zwei Minuten später zu Morris<br />
zurück.<br />
»Sir, müssen Sie sofort wieder zurück aufs Schiff?« fragte er<br />
leise. »Ich muss etwas mit Ihnen besprechen, aber lieber nicht an<br />
Bord. Eine persönliche Angelegenheit.« Der Flieger sah sehr verlegen<br />
aus.<br />
»Gut, gehen wir ein Stück spazieren«, st<strong>im</strong>mte Morris zu. Die<br />
beiden Offiziere schlenderten nach Osten. O'Malley schaute sich<br />
um und entdeckte eine Hafenkneipe, in die er Morris steuerte.<br />
Von der Barfrau verlangte er nur zwei Gläser. Dann öffnete er<br />
den Reißverschluß der Beintasche seiner Kombination und zog eine<br />
Flasche irischen Whisky heraus.<br />
»Was hier getrunken wird, kommt von uns«, wandte die Barfrau<br />
ein. O'Malley brachte sie mit zwei Zwanzigern zum Schweigen.<br />
»Zwei Gläser und Eis«, sagte er in einem Ton, der verriet, dass er<br />
keine Widerrede duldete. »Und lassen Sie uns in Frieden.« Der<br />
Service war flott.<br />
»Ich habe heute nachmittag einmal in mein Logbuch geschaut«,<br />
begann O'Malley nach einem kräftigen Schluck. »Viertausenddreihundertsechzig<br />
Stunden am Steuerknüppel. Dreihundertelf Stunden<br />
<strong>im</strong> Gefecht.«<br />
»St<strong>im</strong>mt, Sie waren in Vietnam.« Morris trank langsam.<br />
»Am letzten Tag meiner letzten Dienstzeit flog ich einen Rettungseinsatz.<br />
Zwanzig Meilen südlich von Haiphong war der Pilot<br />
eines A-7 abgeschossen worden.« Diese Geschichte hatte er noch<br />
497
nicht einmal seiner Frau erzählt. »Sah etwas aufblitzen, machte<br />
einen Fehler und ignorierte es. Glaubte, dass sich die Sonne in einem<br />
Fenster oder Bach spiegelte, und flog weiter. Wie sich herausstellte,<br />
war es wohl ein Geschützvisier oder ein Fernglas. Eine Minute<br />
später geht um uns herum l00-mm-Flak los, und unser Hubschrauber<br />
fliegt buchstäblich auseinander. Er brennt, ich versuche zu<br />
landen. Blick nach links: mein Kopilot zerrissen, ich habe sein Hirn<br />
<strong>im</strong> Schoß. Hinten saß Ricky, mein Chief. Ich drehe mich um: beide<br />
Beine abgerissen. Er lebte wahrscheinlich noch, aber ich konnte<br />
ihm nicht helfen. Wir setzen auf-und da kommen drei Männer auf<br />
uns zu. Ich haue ab, schlage mich in die Büsche. Ob sie mich gesehen<br />
haben, weiß ich nicht. Wie auch <strong>im</strong>mer, zwölf Stunden später holt<br />
mich ein anderer Hubschrauber raus.« Er goß sich noch einen<br />
Whisky ein und füllte Morris' Glas auf. »Lassen Sie mich doch nicht<br />
allein saufen.«<br />
»Mir reicht's.«<br />
»Unsinn. Und ich bin auch noch nicht voll. Passen Sie auf, über<br />
dieses Erlebnis kam ich erst nach einem Jahr hinweg. Sie aber haben<br />
kein Jahr, sondern nur diesen Abend. Sie müssen über die Sache<br />
reden, Sir. Ich weiß Bescheid. Fühlen Sie sich jetzt miserabel? Warten<br />
Sie nur ab, es wird noch schl<strong>im</strong>mer.«<br />
Er trank noch einen Schluck. Anständiges Gesöff, sagte sich<br />
O'Malley. Dann sah er fünf Minuten lang zu, wie Morris ihm<br />
gegenüber in kleinen Schlucken trank und erwog, zurück auf sein<br />
Schiff zu gehen. Der stolze Kapitän, wie alle Kapitäne zur Einsamkeit<br />
verdammt. Er befürchtet, dass ich recht habe, sann O'Malley.<br />
Er hat Angst, dass es tatsächlich schl<strong>im</strong>mer wird. Du armer Teufel,<br />
wenn du wüßtest...<br />
»Gehen Sie es noch einmal durch, Schritt für Schritt«, riet der<br />
Pilot leise.<br />
»Das haben Sie doch schon getan.«<br />
»Sie müssen das für sich selbst tun. Besser jetzt als <strong>im</strong>mer wieder<br />
<strong>im</strong> Traum.«<br />
Und Morris begann langsam zu reden. O'Malley half ihm, den<br />
Ablauf zu rekonstruieren: Wetter, Kurs und Fahrt des Schiffes,<br />
aktive Sensoren. Eine Stunde später hatten sie drei Viertel der<br />
Flasche getrunken. Endlich kamen sie zu den Torpedos. Morris'<br />
St<strong>im</strong>me begann brüchig zu klingen.<br />
»Und dann konnte ich einfach nichts mehr machen! Das ver<br />
498
fluchte Ding hielt weiter auf uns zu. Der eine Köder, den wir<br />
draußen hatten, war vom ersten Fisch zerstört worden. Ich versuchte<br />
zu manövrieren, aber -«<br />
»Sie harten es mit einem Torpedo zu tun, der sein Ziel erfaßt<br />
hatte. So einem Fisch kann man nicht davonfahren, und man kann<br />
ihm auch nicht ausweichen.«<br />
»Ich darf aber nicht zulassen, dass -«<br />
»Quatsch!« Der Pilot füllte die Gläser. »Sie sind doch nicht der<br />
erste, der ein Schiff verloren hat. Das ist wie be<strong>im</strong> Sport, Ed. Zwei<br />
Mannschaften, und beide wollen gewinnen. Was sollte der russische<br />
Kommandant denn tun? Da unten in seinem Boot sitzen und<br />
sagen: >Bitte versenken Sie mich?. Was für ein Unsinn.«<br />
»Aber meine Männer -«<br />
»Einige sind tot, der Rest lebt noch. Die Opfer tun mir leid.<br />
Ricky tat mir auch leid. Der Junge war keine neunzehn, als es ihn<br />
erwischte. Ich war an seinem Tod nicht schuld. Sie haben Ihr<br />
Schiff gerettet, es mit dem Großteil der Mannschaft zurückgebracht.«<br />
Morris leerte sein Glas mit einem Zug. Jerry füllte es wieder.<br />
»Ich war, bin verantwortlich. Als ich wieder in Norfolk war,<br />
musste ich die Familien besuchen. Immerhin bin ich der Kommandant.<br />
Ich begegnete einem kleinen Mädchen ... mein Gott, O'Malley,<br />
ich wusste nicht, was ich der Kleinen sagen sollte.« O'Malley sah,<br />
dass Morris nun schluchzte, den Tränen nahe war. Gut, dachte er.<br />
»Ein süßes kleines Mädchen. Was soll man den Kindern sagen?«<br />
Nun, nach zwei Stunden, flössen die Tränen.<br />
»Man sagt dem kleinen Mädchen, sein Vater sei ein tapferer<br />
Mann gewesen und habe sein Bestes getan - genau wie Sie. Mehr<br />
können wir nicht tun, Ed. Sie haben alles richtig gemacht, aber<br />
darauf kommt es jetzt nicht mehr an.« Es kam nicht zum ersten Mal<br />
vor, dass sich ein Mann an O'Malleys Schulter ausweinte. Er selbst<br />
hatte das auch einmal getan.<br />
Morris hatte sich ein paar Minuten später wieder gefaßt, und als<br />
die Flasche leer war, waren die beiden stockbetrunken. O'Malley<br />
half seinem Kommandanten auf und führte ihn zur Tür.<br />
»Was ist denn mit dem los? Verträgt er nichts?« fragte ein<br />
Matrose der Handelsmarine, der allein an der Theke stand. Das<br />
war ein Fehler.<br />
Die lose Fliegerkombination kaschierte O'Malleys kräftigen<br />
499
Körperbau. Den linken Arm hatte er um Morris geschlungen. Mit<br />
der rechten Hand packte er den Matrosen an der Kehle und zerrte<br />
ihn von der Theke. »Hast du sonst noch was über meinen Freund zu<br />
sagen, du Arsch?« O'Malley drückte fester zu.<br />
Die Antwort war ein Flüstern: »Ich hab ja nur gesagt, dass er<br />
nicht viel verträgt.«<br />
Der Flieger ließ ihn los. »Hau ab!«<br />
Es war nicht einfach, Ed Morris zum Schiff zu lotsen - zum einen,<br />
weil O'Malley selbst betrunken war, zum anderen, weil Morris das<br />
Bewußtsein zu verlieren drohte. Vom Kai gesehen sah die Gangway<br />
sehr steil aus.<br />
»Haben Sie Schwierigkeiten?«<br />
»Guten Abend, Master Chief.«<br />
»Guten Abend, Commander. Ist der Kommandant bei Ihnen?«<br />
»Allerdings. Packen Sie mal mit an?«<br />
Gemeinsam schafften sie den Kommandanten an Bord. Das<br />
größte Hindernis war die Leiter zu Morris' Kammer. Für diese<br />
Operation wurde ein weiterer Matrose zur Hilfe gerufen.<br />
»Donnerwetter«, meinte der junge Mann. »Der Alte hat ja ganz<br />
schön einen in der Krone.«<br />
»So kann sich nur ein echter Seebär besaufen«, st<strong>im</strong>mte der<br />
Master Chief zu. Zu dritt bugsierten sie Morris die Leiter hoch, und<br />
oben legte O'Malley ihn in seine Koje. Der Kommandant schlief<br />
fest. O'Malley konnte nur hoffen, dass er von nun an von seinen<br />
bösen Träumen verschont blieb.<br />
Northwood, England<br />
»Nun, Commander?«<br />
»Jawohl, Sir, ich glaube, das klappt. Wie ich sehe, sind unsere<br />
Einheiten praktisch an Ort und Stelle.«<br />
»Die Erfolgschancen des ursprünglichen Plans waren geringer.<br />
Er würde sie zwar aufgeschreckt haben, aber mit Hilfe dieser Methode<br />
könnte es uns gelingen, ihren Bombern schwere Verluste<br />
zuzufügen.«<br />
Toland schaute hoch auf die Karte. »Der richtige Zeitpunkt ist<br />
noch eine trickreiche Angelegenheit, aber auch nicht kniffliger als<br />
bei dem Angriff auf die Tanker. Mir gefällt der Plan, Sir. Er würde<br />
500
in der Tat einige Probleme lösen. Wie sieht es bei den Geleitzügen<br />
aus?»<br />
»In New York sind achtzig Schiffe versammelt, die in vierundzwanzig<br />
Stunden auslauten sollen. Starker Geleitschutz, Träger zur<br />
Unterstützung, sogar ein neuer Aegis-Kreuzer. Und der nächste<br />
Schritt wäre natürlich - Beattie sprach weiter.<br />
»Jawohl, Sir. Und Doolittle ist der Schlüssel dazu.«<br />
»Genau. Fliegen Sie zurück nach Stornoway. Wir halten Sie über<br />
alle Entwicklungen auf dem laufenden. Vergessen Sie nicht, dass<br />
diese Informationen nur für direkt Beteiligte best<strong>im</strong>mt sind.«<br />
501
USS Reuben James<br />
34<br />
Fühler<br />
Der Wecker ging um sieben Uhr, viel zu früh für Jerry O'Malley. Er<br />
hatte die untere Koje in dieser Zweierkammer - sein Kopilot schlief<br />
oben - und seine erste bewusste Handlung war, drei Aspirin zu<br />
nehmen und sich dann wieder hinzulegen. Sein Schädel brummte.<br />
Als die Tabletten zu wirken begannen, ging er duschen, erst kalt<br />
und dann warm. Nun hatte er einen einigermaßen klaren Kopf.<br />
Die Messe war voll, aber still. Die Offiziere saßen in Altersgruppen<br />
beinander und unterhielten sich flüsternd. Die Jüngeren hatten<br />
noch keine Gefechtserfahrung, und ihr anfängliches Draufgängertum<br />
war einer nüchternen Einschätzung ihrer Aufgabe gewichen.<br />
Schiffe waren versenkt worden. Kameraden lebten nicht mehr. Für<br />
diese jungen Männer war die Furcht eine Unbekannte und viel<br />
bedrohlicher als die technischen Aspekte des Gefechts. Er sah Fragen<br />
in ihren Gesichtern, die nur die Zeit beantworten konnte. Sie<br />
mussten lernen, die Ungewißheit zu ertragen. O'Malley war gefechtserfahren.<br />
Diese jungen Kerls würden Angst haben und versuchen,<br />
sie zu überwinden, so gut sie konnten. Sinnlos, sich jetzt<br />
darüber zu verbreiten.<br />
»Guten Morgen, IO!«<br />
»Morgen, Jerry. Ich wollte gerade zum Kommandanten.«<br />
»Der hat Schlaf nötig.« Der Pilot hatte Morris' Wecker abgestellt.<br />
Frank Ernst verstand O'Malleys Wink. »Na gut, vor elf brauchen<br />
wir ihn ja nicht.«<br />
»Ich wusste ja, dass Sie ein guter Erster sind, Frank.«<br />
»Ich habe gestern abend die Übung an den Torpedos überwacht.<br />
Die Männer unterboten den Rekord um eine Minute - <strong>im</strong> dunkeln.«<br />
»Nicht übel«, lobte O'Malley. »Wann ist die Einsatzbesprechung?«<br />
502
»Um vierzehn Uhr. Es nehmen Befehlshabende, Erste Offiziere<br />
und ausgewähltes anderes Personal teil. Und Sie best<strong>im</strong>mt auch.«<br />
»Richtig.«<br />
Ernst senkte die St<strong>im</strong>me. »Ist der Kommandant auch best<strong>im</strong>mt<br />
gesund?« Auf einem Schiff gibt es keine Gehe<strong>im</strong>nisse.<br />
»Seit dieser Zirkus losging, war er <strong>im</strong> Gefechtsdienst. Er musste<br />
sich mal richtig einen ansaufen - das ist eine uralte seemännische<br />
Tradition«, erwiderte O'Malley und fuhr lauter fort: »Ein Jammer<br />
nur, dass diese Knaben hier zu grün zum Mitmachen sind. Hat<br />
vielleicht jemand eine Zeitung besorgt? Die Mannschaften der<br />
Football-Liga gehen ins Trainingslager, und es ist keine Zeitung an<br />
Bord? Saustall!«<br />
»Echt, so einen Dinosaurier hab ich noch nie erlebt«, merkte ein<br />
junger Ingenieur sotto voce an.<br />
»Sie werden sich an ihn gewöhnen«, tröstete Ensign Ralston.<br />
Island<br />
Zwei Tage Rast konnten sie alle gebrauchen. Sergeant Nichols<br />
konnte wieder fast normal auftreten, und die Amerikaner, die<br />
keinen Fisch mehr sehen mochten, stopften sich mit von den Royal<br />
Marines mitgebrachten Extrarationen voll.<br />
Edwards suchte erneut den Horizont ab. Es war schwer, ja<br />
unmöglich, nicht hinzuschauen. Und der Gipfel war, dass Vigdis das<br />
noch komisch fand. Die englischen Soldaten hatten unter anderem<br />
Seife mitgebracht, und ein rund eine Meile von ihrem Berglager<br />
entfernter winziger See war zum Badeplatz erklärt worden. Da sich<br />
<strong>im</strong> feindlichen Land niemand allein so weit von den anderen entfernte,<br />
war es selbstverständlich dem Lieutnant zugefallen, auf<br />
Vigdis aufzupassen. Sie mit geladenem Gewehr be<strong>im</strong> Baden zu<br />
bewachen, kam ihm aber absurd vor. Wie er feststellte, waren ihre<br />
Blutergüsse fast verheilt.<br />
»Fertig, Michael.« Handtücher gab es keine, aber man roch<br />
wenigstens wieder menschlich. Sie kam mit feuchtem Haar auf ihn<br />
zu und lächelte schalkhaft. »War das peinlich? Tut mir leid.«<br />
»Dafür können Sie nichts.«<br />
»Ich werde dick.« Edwards konnte kaum etwas sehen, aber es<br />
war schließlich nicht seine Figur, die sich veränderte.<br />
503
»Ich finde, dass Sie gut aussehen. Verzeihung, ich hätte nicht<br />
gucken dürfen.«<br />
»Was ist da so schl<strong>im</strong>m?«<br />
Edwards rang um Worte. »Tja, nach dem, was Ihnen passiert ist,<br />
wollen Sie wohl kaum von Fremden angestarrt werden, wenn Sie,<br />
na ja, nichts anhaben.«<br />
»Michael, Sie sind anders als dieser Mann. Sie würden mir niemals<br />
etwas tun. Selbst nach dem, was er mit mir gemacht hat,<br />
finden Sie mich noch hübsch - obwohl ich dick werde.«<br />
»Vigdis, ob schwanger oder nicht, für mich sind Sie das hübscheste<br />
Mädchen, das ich je gesehen habe. Sie sind stark und tapfer.«<br />
Außerdem glaube ich, dass ich dich liebe, dachte er, traute sich aber<br />
nicht, das zu sagen. »Wir sind uns eben nur unter ungünstigen<br />
Umständen begegnet.«<br />
»Für mich war unsere Begegnung ein Glück. Sie haben mir das<br />
Leben gerettet.« Sie griff nach seiner Hand und lächelte. »Und<br />
Sergeant Smith hat mir verraten, dass Sie eigentlich den Befehl<br />
hatten, sich von Russen fernzuhalten. Sie haben also nur meinetwegen<br />
eingegriffen, obwohl Sie mich überhaupt nicht kannten.«<br />
»Ich tat, was ich tun musste.« Nun hatte er ihre beiden Hände<br />
ergriffen. Was soll ich jetzt sagen? fragte er sich. Plötzlich fühlte<br />
sich Edwards wieder so unbeholfen und linkisch wie als Sechzehnjähriger.<br />
»Vigdis, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll - ach, reden<br />
kann ich überhaupt nicht gut. Ich beschäftige mich mit Wetterkarten<br />
und spiele mit Computern. Gewöhnlich habe ich erst nach ein<br />
paar Bier den Mut -«<br />
»Ich weiß, dass du mich liebhast, Michael.« Ihre Augen funkelten,<br />
als sie das Gehe<strong>im</strong>nis verriet.<br />
»Hm, st<strong>im</strong>mt.«<br />
Sie reichte ihm die Seife. »So, jetzt bist du dran. Und ich will<br />
versuchen, nicht zu oft hinzugucken.«<br />
Fölziehausen, BRD<br />
Major Sergetow händigte seine Unterlagen aus. Die Leine war an<br />
einer zweiten Stelle überquert worden - bei Gronau, fünfzehn<br />
Kilometer nördlich von Alfeld-, und nun nahmen sechs Divisionen<br />
an dem Vorstoß auf Hameln teil. Weitere versuchten, die Lücke zu<br />
verbreitern. Dennoch wollte die Offensive nicht so recht vorankommen.<br />
Auf den wenigen Vormarschstraßen in diesem Teil<br />
504
Deutschlands hatten die Verstärkungskolonnen schwer unter Artillerie-<br />
und Luftangriffen zu leiden, ehe sie in der Kampfzone eingesetzt<br />
werden konnten.<br />
Was mit dem Versuch dreier Mot-Schützendivisionen, eine Bresche<br />
für eine Panzerdivision zu schlagen, begonnen hatte, war nun<br />
zum operativen Schwerpunkt für zwei komplette sowjetische Armeen<br />
geworden. Ursprünglich war man gegen zwei dez<strong>im</strong>ierte<br />
deutsche Brigaden vorgegangen; jetzt hatte man es mit einem Sammelsurium<br />
von Einheiten aus praktisch allen Mitgliedstaaten der<br />
Nato zu tun. Alexejew grämte sich um vertane Chancen. Wenn<br />
seine Raketenwerfer die Leinebrücke nun nicht zerstört hätten?<br />
Hätte er dann die Weser, wie er damals glaubte, in einem Tag<br />
erreichen können? Vergangen, vorbei, dachte Pascha und sah sich<br />
die Informationen über die Verfügbarkeit von Treibstoff an.<br />
»Nur für einen Monat?«<br />
»Be<strong>im</strong> gegenwärtigen Tempo der Operationen, ja«, erwiderte<br />
Sergetow gr<strong>im</strong>mig. »Und selbst hierzu mussten wir schon praktisch<br />
die ganze Wirtschaft lahmlegen. Mein Vater läßt fragen, ob wir den<br />
Treibstoffverbrauch an der Front reduzieren könnten -«<br />
»Aber sicher!« explodierte der General. »Wir können den Krieg<br />
verlieren, bloß damit er seinen kostbaren Sprit spart!«<br />
»Genosse General, Sie haben mich um akkurate Informationen<br />
gebeten. Die habe ich mitgebracht. Mein Vater konnte mir auch<br />
dies hier geben.« Der jüngere Mann nahm einen zehnseitigen Lagebericht<br />
des KGB aus der Tasche, der laut Aufdruck nur für das<br />
Politbüro best<strong>im</strong>mt war. »Hochinteressante Lektüre. Mein Vater<br />
möchte auf das Risiko hinweisen, das er mit der Weitergabe an Sie<br />
eingeht.«<br />
Der General war ein schneller Leser und neigte <strong>im</strong> allgemeinen<br />
nicht zu Gefühlsausbrüchen. Die Bundesregierung hatte direkten<br />
Kontakt mit der Sowjetunion über die Botschaften, die beide Länder<br />
in Indien unterhielten, aufgenommen und die Möglichkeit von<br />
Friedensverhandlungen sondiert. Laut Einschätzung des KGB reflektierte<br />
das Ersuchen die politische Zersplitterung der Nato, möglicherweise<br />
sogar ernste Versorgungsschwierigkeiten jenseits der<br />
Kampflinie. Es folgten zwei Seiten mit graphischen Darstellungen<br />
und Auflistungen der Verluste, die der Nato angeblich zugefügt<br />
505
worden waren. Das KGB berechnete den Munitionsvorrat der<br />
Nato trotz allen Nachschubs über den Atlantik auf nur noch zwei<br />
Wochen. Es war keiner Seite gelungen, ihre Streitkräfte mit genug<br />
Munition und Treibstoff zu versorgen.<br />
»Die Information über die Deutschen hält mein Vater für besonders<br />
signifikant.«<br />
»Potentiell schon-, erwiderte Alexejew vorsichtig. »Solange ihre<br />
politische Führung sich um eine akzeptable Lösung bemüht, werden<br />
sie weiterkämpfen, doch wenn wir ihnen ein annehmbares<br />
Angebot machen und die Deutschen somit aus der Nato herausbrechen,<br />
haben wir unser Ziel erreicht und können dann in Ruhe den<br />
Persischen Golf erobern. Welches Angebot haben wir den Deutschen<br />
gemacht?«<br />
»Es ist noch keine Entscheidung getroffen worden. Vorgeschlagen<br />
wurde ein Rückzug auf die Vorkriegsstellungen und anschließende<br />
Friedensverhandlungen unter internationaler Aufsicht. Der<br />
Austritt der Deutschen aus der Nato hängt von den Bedingungen<br />
des endgültigen Friedensvertrages ab.«<br />
»Unakzeptabel. Davon haben wir nichts. Ich frage mich, weshalb<br />
sie überhaupt verhandeln.«<br />
»In der Bundesregierung herrscht offenbar Aufruhr wegen der<br />
Auswirkungen des Krieges auf Zivilisten und Wirtschaft.«<br />
»Aha.« An der bundesdeutschen Wirtschaft war Alexejew nicht<br />
<strong>im</strong> geringsten interessiert, die deutsche Regierung aber sah mit an,<br />
wie die Arbeit zweier Generationen von den Sowjets zerstört<br />
wurde. »Aber warum haben wir davon nichts erfahren?«<br />
»Das Politbüro meint, die Nachricht von möglichen Friedensverhandlungen<br />
könnte uns davon abhalten, weiterhin Druck auf die<br />
Deutschen auszuüben.«<br />
»Schwachköpfe! So etwas zeigt uns doch nur, wo wir angreifen<br />
müssen!«<br />
»Das sagt mein Vater auch. Er möchte Ihre Meinung zu diesem<br />
Komplex hören.«<br />
»Sagen Sie dem Minister, ich sähe nicht den geringsten Hinweis<br />
auf eine Minderung der Kampfentschlossenheit der Nato. Besonders<br />
bei den Deutschen ist die Moral noch sehr gut. Sie leisten<br />
überall Widerstand.«<br />
»Mag sein, dass die Bundesregierung das Verhandlungsangebot<br />
ohne Wissen der militärischen Führung unterbreitet hat. Wenn sie<br />
506
schon ihre Alliierten hinters Licht führt, warum dann nicht auch ihr<br />
Oberkommando?« gab Sergetow zu bedenken. Schließlich hielt<br />
man das in der Sowjetunion auch so.<br />
»Nur eine Möglichkeit, Iwan Michailowitsch. Es gibt noch eine<br />
andere.« Alexejew wandte sich wieder den Unterlagen zu. »Das<br />
Ganze hier ist ein Schwindel.«<br />
New York<br />
Das Briefing wurde von einem Captain abgehalten. Während er<br />
sprach, blätterten die Kapitäne des Geleits und ihre hohen Offiziere<br />
brav wie Schüler in ihren Unterlagen.<br />
»Hier werden entlang der Bedrohungsachse Sonar-Vorposten<br />
stationiert.« Der Captain fuhr mit dem Zeigestock über die graphische<br />
Darstellung. Die Fregatten Reuben James und Battleaxc<br />
sollten rund dreißig Meilen vom Rest des Konvois fahren,<br />
also außerhalb des SAM-Schutzes von anderen Schiffen. Sie waren<br />
zwar mit Boden-Luft-Raketen ausgerüstet, aber ganz auf sich<br />
allein gestellt.<br />
»Für den größten Teil der Überfahrt können wir mit SURTASS-<br />
Unterstützung rechnen. Diese Schiffe gruppieren sich <strong>im</strong> Augenblick<br />
um. Wir haben sowjetische U-Boot- und Luftangriffe zu erwarten.<br />
Zur Abwehr der Bedrohung aus der Luft unterstützen die<br />
Träger Independence und America den Geleitzug. Es fährt auch,<br />
wie Ihnen wohl aufgefallen ist, der neue Aegis-Kreuzer Bunker Hill<br />
mit. Darüber hinaus wird die Air Force morgen um zwölf Uhr Zulu-<br />
Zeit den russischen Seeüberwachungssatelliten ausschalten.«<br />
»Ausgezeichnet!« bemerkte ein Zerstörerkommandant.<br />
»Gentlemen, wir liefern zwei Millionen Tonnen Ausrüstung und<br />
eine komplette Panzerdivision aus Reserve- und Nationalgardeeinheiten<br />
ab. Das reicht aus, um die Nato für drei Wochen in Aktion zu<br />
halten. Dieser Geleitzug wird durchkommen. Hat noch jemand<br />
Fragen? Nein? Dann viel Glück.«<br />
Der Raum leerte sich. Die Offiziere gingen an den bewaffneten<br />
Wachtposten vorbei hinaus auf die sonnenhelle Straße.<br />
»Jerry?« sagte Morris leise.<br />
»Ja, Sir?« O'Malley setzte seine Sonnenbrille auf.<br />
»Was gestern abend betrifft -«<br />
507
»Sir, wir tranken beide einen über den Durst, und ich kann mich<br />
kaum an etwas erinnern. Haben Sie gut geschlafen?«<br />
»Ja, fast zwölf Stunden. Mein Wecker ging nicht.«<br />
»Vielleicht sollten Sie sich einen neuen kaufen.« Sie schlenderten<br />
an der Bar vorbei, die sie am Vorabend besucht hatten. Der Kommandant<br />
und der Flieger tauschten einen Blick und lachten laut los.<br />
»Noch einmal in die Bresche, teure Freunde!« Doug Perrin gesellte<br />
sich zu ihnen. »Halten Sie uns bloß den Iwan vom Leib,<br />
Jerry.«<br />
»Allerdings«, merkte Morris an. »Es wird sich weisen, ob er nur<br />
große Reden schwingen kann.«<br />
»Was für ein fieser Verein«, versetzte O'Malley zornig. »Verdammt,<br />
ich fliege ganz allein da oben rum, serviere Doug ein<br />
U-Boot auf dem silbernen Tablett, und was ist der Dank?«<br />
»Sehen Sie, das ist das Problem mit den Fliegern. Wenn man<br />
ihnen nicht alle fünf Minuten sagt, was sie für Kanonen sind,<br />
schmollen sie«, meinte Morris und lachte. Gestern noch war er<br />
be<strong>im</strong> Abendessen einsilbig und depr<strong>im</strong>iert gewesen. Heute war er<br />
ein neuer Mann. »Brauchen Sie etwas von uns, Doug?«<br />
»Wir könnten ja Proviant tauschen.«<br />
»Kein Problem. Schicken Sie Ihren Proviantmeister rüber.« Morris<br />
schaute auf die Uhr. »Wir laufen erst in drei Stunden aus. Setzen<br />
wir uns zusammen und besprechen ein paar Dinge. Mir ist eingefallen,<br />
wie man die Backfire austricksen könnte. Das sollten wir<br />
einmal versuchen.«<br />
Drei Stunden später bugsierten zwei Hafenschlepper die Fregatten<br />
vom Kai. Die Reuben James wurde von ihren Turbinen mit sechs<br />
Knoten durchs verschmutzte Wasser getrieben. O'Malley hielt vom<br />
rechten Sitz seines Hubschraubers Ausschau für den Fall, dass ein<br />
russisches U-Boot vorm Hafen lauerte, obwohl das Gebiet von vier<br />
Orion energisch gesäubert wurde. Das von ihnen vor zwei Tagen<br />
versenkte Victor hatte vermutlich den Auftrag gehabt, den Geleitzug<br />
zu verfolgen und Meldung zu machen; einmal, um einen Backnre-Angriff<br />
einzuweisen, zum anderen, um dann selbst Angriffe zu<br />
fahren. Der Verfolger war nun erledigt, aber das bedeutete noch<br />
nicht, dass der Konvoi ein Gehe<strong>im</strong>nis war. Best<strong>im</strong>mt stand in der<br />
Millionenstadt New York jemand mit dem Fernglas am Fenster<br />
und hielt Schiffstypen und -nummern fest. Nur ein diskreter Anruf,<br />
508
und wenige Stunden später waren die Daten in Moskau. Andere<br />
U-Boote würden nun auf den vermuteten Kurs des Geleitzugs zuhalten,<br />
und sobald er den Bereich der landgestützten Luftdeckung<br />
verlassen hatte, würden sowjetische Aufklärer nach ihm suchen,<br />
gefolgt von mit Raketen bewaffneten Backfire-Bombern.<br />
Eine Menge Schiffe, dachte O'Malley. Sie glitten an einer Reihe<br />
von Ro-Ro-Schiffen zum Transport von Panzern, anderen Kampffahrzeugen<br />
und den Männern einer ganzen Division vorbei. Auf<br />
anderen stapelten sich Container, die sofort auf Lkw verladen und<br />
an die Front gebracht werden konnten. Ihr Inhalt war in Computern<br />
gespeichert, damit sichergestellt war, dass sie rasch den richtigen<br />
Best<strong>im</strong>mungsort erreichten. O'Malley dachte an die Nachrichten<br />
und Filme von den Kämpfen in Deutschland. Darum ging es<br />
hier: Die Navy hatte den Auftrag, die Seewege freizuhalten und<br />
abzuliefern, was die Truppen in Deutschland brauchten.<br />
»Wie fährt sie?« fragte Calloway.<br />
»Nicht übel«, antwortete Morris dem Reporter. »Sie ist mit<br />
Stabilisatoren ausgerüstet und schlingert daher kaum. Wenn Sie<br />
seekrank werden, lassen Sie sich vom Arzt etwas geben.«<br />
»Ich will versuchen, Ihnen nicht <strong>im</strong> Wege zu sein.«<br />
Morris nickte dem Mann von Reuter freundlich zu.<br />
»Ihr Admiral meinte, Sie seien einer seiner besten Kommandanten.«<br />
»Das wird sich zeigen«, meinte Morris.<br />
509
USS Reuben James<br />
25<br />
Im Visier: die Zeit<br />
Während der beiden ersten Tage ging es glatt. Zuerst liefen die<br />
Eskorten aus und suchten die seichten Küstengewässer mit Aktivsonar<br />
nach U-Booten ab. Dann folgten die Frachter, formierten sich<br />
langsam zu acht Zehnerkolonnen. Der mit zwölf Knoten fahrende<br />
Konvoi hatte es eilig. Unter dem massiven Schutz landgestützter<br />
Jäger lief er während der ersten achtundvierzig Stunden auf dem<br />
Weg an Neuengland, Ostkanada, Säble Island und den Grand<br />
Banks entlang ziemlich gradlinig. Diese leichte Etappe lag nun<br />
hinter ihnen. Sie verließen das Küstengewässer und fuhren in den<br />
Atlantik ein: unbekanntes Territorium.<br />
»Und meine Berichte...«, sagte Calloway zu Morris.<br />
»Sie können zwe<strong>im</strong>al am Tag meinen Satellitensender benutzen,<br />
solange Sie dabei den dienstlichen Funkverkehr nicht stören. Ist<br />
Ihnen klar, dass Ihre Meldungen in Norfolk notfalls auf sensitive<br />
Informationen hin geprüft werden?«<br />
»Gewiß, Sir, und es ist auch nicht meine Absicht, etwas zu<br />
veröffentlichen, das Ihr Schiff gefährden könnte. Ich hatte dieses<br />
Jahr in Moskau schon Aufregung genug.«<br />
»Wie bitte?« Morris setzte das Fernglas ab und drehte sich um.<br />
- Calloway berichtete, was er <strong>im</strong> Frühjahr erlebt hatte.<br />
»Patrick Flynn, mein Kollege vom AP, fährt auf Battleaxe mit«,<br />
schloß er.<br />
»Sie waren also vor Ort, als sich die Krise zusammenbraute.<br />
Haben Sie eine Ahnung, warum der Krieg eigentlich angezettelt<br />
wurde?«<br />
Calloway schüttelte den Kopf. »Wenn ich das wüßte, Sir, hätte<br />
ich die Story schon längst veröffentlicht.«<br />
Auf der Brücke erschien ein Bote mit Meldungen. Morris las sie<br />
und zeichnete sie ab.<br />
510
»Etwas Dramatisches?« fragte Calloway hoffnungsvoll.<br />
»Die neuesten Wettervorhersagen und etwas über einen russischen<br />
Spähsatelliten, der uns in drei Stunden überfliegen soll. Die<br />
Air Force will versuchen, ihn vorher abzuschießen. Nichts Weltbewegendes.<br />
Fühlen Sie sich wohl an Bord? Irgendwelche Probleme?«<br />
»Nein, Sir. Nichts ist angenehmer als eine Seefahrt.«<br />
»Wohl wahr.« Morris steckte den Kopf ins Ruderhaus und rief:<br />
»Luftalarm!« Dann führte er den Reporter in die Gefechtszentrale<br />
und erklärte, mit der Übung solle sichergestellt werden, dass die<br />
Männer auch <strong>im</strong> Dunkeln jeden Griff beherrschen.<br />
»Enthielt eine dieser Meldungen eine Warnung?«<br />
»Nein, aber in sechs Stunden verlassen wir den Schutzschirm der<br />
landgestützen Jäger. Das bedeutet, dass der Iwan anfängt, nach uns<br />
zu suchen.« Morris ließ seine Männer eine Stunde lang üben. Die<br />
Crew der Gefechtszentrale s<strong>im</strong>ulierte am Computer zwei Angriffe.<br />
Be<strong>im</strong> zweiten durchbrach eine feindliche Rakete den Verteidigungsgürtel.<br />
Luftstützpunkt Langley, Virginia<br />
Der F-15 kam vor den Hangars zum Stehen. Schon auf der Leiter<br />
inspizierte Major Nakamura das angesengte Heck ihrer Maschine.<br />
»Nicht so schl<strong>im</strong>m, Major«, versicherte der Sergeant vom Bodenpersonal.<br />
Ein Fragment der explodierenden Rakete hatte ein<br />
Loch von der Größe einer Bierdose in die linke Tragfläche gerissen<br />
und einen Treibstofftank nur knapp verfehlt. »Das krieg ich in zwei<br />
Stunden hin.«<br />
»Sind Sie verletzt?« fragte der Ingenieur von Lockheed.<br />
»Das Ding ging fünfzehn Meter von mir entfernt los, und zwar<br />
tierisch. Sie lagen übrigens schief - die Explosion war ziemlich<br />
spektakulär. Überall Fetzen. Mein Glück, dass ich nur einen abbekam.«<br />
Die Pilotin hatte einen Heidenschrecken bekommen, aber<br />
inzwischen eine Stunde Zeit gehabt, sich von ihm zu erholen. Jetzt<br />
war sie nur noch stinksauer.<br />
»Das tut mir leid, Major.«<br />
»Wir müssen es eben noch mal versuchen«, meinte Buns und<br />
schaute zum H<strong>im</strong>mel. »Wann ist das nächste Fenster?«<br />
»In elf Stunden und sechzehn Minuten.«<br />
511
»Gut.« Sie ging in das Gebäude und in den Aufenthaltsraum für<br />
die Piloten.<br />
Kirowsk, UdSSR<br />
Ungestört zog der Seeaufklärungssatellit weiter seine Bahn und<br />
schaute be<strong>im</strong> nächsten Überflug des Nordatlantiks auf eine Ansammlung<br />
von fast hundert Schiffen in gleichmäßigen Kolonnen<br />
hinab. Die russischen Analytiker kamen zu dem Schluß, dass es sich<br />
hier um den vom Nachrichtendienst gemeldeten Geleitzug handeln<br />
musste.<br />
Neunzig Minuten später hoben zwei Geschwader mit Raketen<br />
bewaffneter Backfire-Bomber, denen Aufklärer vom Typ Bear-D<br />
voranflogen, von vier Flugplätzen um Kirowsk ab, füllten zwischendurch<br />
ihre Tanks auf und hielten auf die Radarlücke über<br />
Island zu.<br />
USS Reuben James<br />
»Ah, das ist also die Überraschung, die Sie für die parat haben«,<br />
meinte Calloway, der Berichterstatter von Reuter, und klopfte auf<br />
Symbole auf dem taktischen Hauptdisplay.<br />
Morris nickte nachdenklich. »Bislang fuhren unsere Geleitzüge<br />
unter EMCON - das heißt Emmissionskontrolle - mit ausgeschalteten<br />
Radargeräten über den Atlantik, um die Auffindung zu erschweren.<br />
Diesmal wollen wir das ein wenig anders halten. Hier<br />
haben wir das Display des Radar SPS-49 -«<br />
»Das schwarze Monstrum auf dem Ruderhaus?«<br />
»Genau. Diese Symbole stehen für Tomcat und Träger America.<br />
Hier haben wir einen Tanker KC-135, dort eine E-2C Radarmaschine,<br />
deren Systeme nicht aktiv sind. Falls der Iwan also auftaucht,<br />
wird er dicht herankommen und nachsehen müssen.«<br />
»Aber er weiß doch schon Bescheid«, wandte Calloway ein.<br />
»Er weiß lediglich, dass hier irgendwo ein Konvoi fährt. Für einen<br />
Raketenabschuß reicht das nicht. Fest steht für ihn nur, dass ein<br />
Radar SPS-49 operiert. Wenn er wissen will, was sonst auf dem<br />
Wasser herumfährt, muss er sein eigenes Radar in Betrieb nehmen.<br />
512
Und sobald Mr. Bear das tut, orten wir ihn und rücken ihm mit<br />
Jägern auf den Pelz.«<br />
»Und wenn die Backfire heute ausbleiben?«<br />
»Dann erwischen wir sie eben ein andermal. Die Bear stehen mit<br />
U-Booten in Verbindung, Mr. Calloway. Es ist nützlich, sie abzuschießen.«<br />
Island<br />
Zum ersten Mal verspürten Edwards und sein Trupp so etwas wie<br />
Langeweile. Sie saßen nun seit vier Tagen am selben Fleck und<br />
hatten <strong>im</strong>mer noch keinen Marschbefehl bekommen. Zwar beobachteten<br />
und meldeten sie harmlose russische Aktivitäten, aber die<br />
Zeit zog sich dahin.<br />
»Lieutenant.« Garcia wies nach oben. »Flugzeug auf Südkurs.«<br />
Edwards nahm sein Fernglas heraus. Weiße, wattige Wölkchen<br />
übersäten den H<strong>im</strong>mel. Heute waren keine Kondensstreifen zu<br />
sehen, doch - da! Er sah etwas aufblitzen.<br />
»Nichols, was meinen Sie?« Er reichte dem Engländer das Glas.<br />
»Das ist eine Backfire«, sagte Nichols schlicht.<br />
»Sind Sie sicher?«<br />
»Klar, Lieutenant. Die habe ich oft gesehen.«<br />
»Zählen Sie.« Edwards packte sein Funkgerät aus. »Beagle ruft<br />
Doghouse, over.« Doghouse meldet sich heute erst nach dem dritten<br />
Ruf. »Doghouse, hier Beagle. Wir beobachten Bomber vom Typ<br />
Backfire auf Südkurs.«<br />
»Woher wollen Sie wissen, dass das Backfire sind?« fragte Doghouse.<br />
»Weil Sergeant Nichols von den Royal Marines das behauptet.<br />
Vier« - Nichols hielt nun fünf Finger hoch - »Moment, fünf<br />
Maschinen auf Südkurs.«<br />
»Roger, vielen Dank, Doghouse. Tut sich sonst noch etwas?«<br />
»Negativ. Wie lange sollen wir noch auf diesem Berg hocken<br />
bleiben?«<br />
»Wir sagen Bescheid. Geduld, Beagle, Sie sind nicht vergessen.<br />
Out.«<br />
513
Nordatlantik<br />
Die Bear flogen in schräger Formation an. Ihre Besatzungen suchten<br />
den Luftraum und die Funk- und Radarfrequenzen ab. Endlich<br />
empfing der voranfliegende Bear die Emissionen einer einzigen<br />
amerikanischen Radaranlage, die innerhalb einer Minute als SPS<br />
49 einer Lenkwaffenfregatte der Perry-Klasse identifiziert wurde.<br />
Die Techniker an Bord maßen die Signalstärke, berechneten die<br />
ungefähre Position und kamen zu dem Schluß, dass sie sich weit<br />
außerhalb des Erfassungsbereichs der Anlage befanden.<br />
Der Kommandeur des Verbandes <strong>im</strong> dritten Bear erhielt die<br />
Information und verglich sie mit den ihm vorliegenden nachrichtendienstlichen<br />
Daten über den Geleitzug. Die Position befand sich<br />
genau in der Mitte eines Kreises, den er auf seine Karte gezeichnet<br />
hatte. So exakte Dinge st<strong>im</strong>mten ihn mißtrauisch. Fuhr der Konvoi<br />
denn auf Direktkurs nach Europa? Die meisten schlugen einen<br />
weiten Umweg ein, um die Backfire bis an die Grenze ihrer Reichweite<br />
zu zwingen - die deshalb nur eine Rakete anstatt zwei tragen<br />
konnten. Irgend etwas st<strong>im</strong>mte hier nicht. Auf seine Anweisung hin<br />
gruppierten sich die Aufklärer in Nord-Süd-Richtung um und gingen<br />
tiefer, um unter dem amerikanischen Radarhorizont zu bleiben.<br />
USS Reuben James<br />
»Wie weit können Sie sehen?« fragte Calloway.<br />
»Das hängt von Höhe und Größe des Ziels und den atmosphärischen<br />
Bedingungen ab«, antwortete Morris, der von seinem Sessel<br />
auf die elektronischen Displays hinabstarrte. Zwei Tomcats der<br />
Navy waren kampfbereit. »In dreißigtausend Fuß Höhe können<br />
wir den Bear schon über zweihundertfünfzig Meilen ausmachen,<br />
aber je tiefer er fliegt, desto näher kommt er an uns heran. Radar<br />
reicht nicht unter die K<strong>im</strong>m.«<br />
»Wenn er tief fliegt, steigt aber auch sein Treibstoffverbrauch.«<br />
Morris sah auf den Reporter hinab. »Diese verdammten Dinger<br />
können den ganzen Tag in der Luft bleiben«, übertrieb er.<br />
»Spruch von LANTLFT, Sir.« Der Fernmeldeoffizier reichte ihm<br />
das Blatt: BACKFIRE-VERBAND MÖGLICHERWEISE AUF SÜDKURS<br />
514
ÜBER ISLAND 1017Z. Morris gab die Meldung an seinen TAO<br />
weiter, der sofort auf die Karte sah.<br />
»Gute Nachrichten?« fragte Calloway.<br />
»Mag sein, dass wir in gut zwei Stunden Backfire-Bomber zu<br />
sehen bekommen.«<br />
»Die auf den Konvoi schießen?«<br />
»Nein, vermutlich erst auf uns. Sie haben gut vier Tage Zeit, um<br />
auf den Geleitzug einzuhämmern, und wenn die Eskorten ausgeschaltet<br />
sind, ist das sehr viel einfacher.«<br />
»Sind Sie besorgt?«<br />
Morris lächelte dünn. »Ich bin <strong>im</strong>mer besorgt, Mr. Calloway.«<br />
Der Kommandant betrachtete nachdenklich die verschiedenen<br />
Anzeigen. Alle seine Waffen- und Sensorsysteme waren voll einsatzbereit.<br />
Dieses verfluchte Warten, dachte Morris und starrte<br />
stumm auf die Displays. Leuchtpunkte, die für eigene Flugzeuge<br />
standen, kreisten langsam. Auch die Piloten warteten.<br />
Ein Offizier meldete das Auftauchen weiterer Kampfpatrouillen.<br />
Auch America, der Flugzeugträger, der in zweihundert Meilen<br />
Entfernung auf Westkurs in Richtung Norfolk lief, hatte die Luftwarnung<br />
erhalten; ebenso die von den Azoren zurückkehrende<br />
Independence. Die Träger waren seit Kriegsbeginn auf See und<br />
kreuzten hin und her, um nicht von den sowjetischen Seeaufklärungssatelliten<br />
erfaßt zu werden. Sie waren zwar in der Lage gewesen,<br />
unter beträchtlichen Risiken eine Reihe von Geleitzügen vor<br />
U-Booten zu schützen, hatten aber ihre eigentliche Rolle als Offensivwaffen<br />
bisher nicht spielen können. Das Schicksal der N<strong>im</strong>itz-<br />
Gruppe war eine bittere Lektion gewesen. Morris steckte sich eine<br />
neue Zigarette an und erkannte nun, weshalb er das Rauchen<br />
aufgegeben hatte. Der Qualm brannte <strong>im</strong> Hals, ruinierte seinen<br />
Geschmackssinn und ließ seine Augen tränen. Andererseits aber<br />
vertrieb ihm das Rauchen be<strong>im</strong> Warten die Zeit.<br />
Nordatlantik<br />
Die Bear flogen nun in einer präzisen Nord-Süd-Linie auf das<br />
Radarsignal der Fregatte zu. Der Kommandeur befahl eine Kursänderung<br />
nach Westen und geringere Höhe. Da zwei Maschinen den<br />
Befehl nicht bestätigten, musste er ihn wiederholen.<br />
515
Zweihundert Meilen westlich von ihnen hob an Bord einer kreisenden<br />
E-2C Hawkeye ein Techniker den Kopf. Er hatte gerade<br />
jemanden russisch sprechen hören.<br />
Binnen Minuten hatten alle Eskorten die Information erhalten,<br />
und man kam zu dem Schluß, dass die Backfire noch nicht da sein<br />
konnten. Hier hatte man es mit Bear zu tun. Auf dem Träger<br />
America begann der Start der Jäger und zusätzlicher Radarmaschinen.<br />
Immerhin konnten die Russen auf der Suche nach ihm<br />
sein.<br />
USS Reuben James<br />
»Der muss genau auf uns zufliegen«, sagte der TAO.<br />
»So war das auch geplant«, st<strong>im</strong>mte Morris zu.<br />
»Wie weit ist er noch?« fragte Calloway.<br />
»Läßt sich noch nicht beurteilen. Die Hawkeye hat Sprechfunkverkehr<br />
abgehört. Vermutlich aus der Nähe, aber bei außergewöhnlichen<br />
atmosphärischen Bedingungen kann man so etwas<br />
rund um die halbe Welt hören. Mr. Lenner, gehen wir auf Gefechtsstation.«<br />
Fünf Minuten später war die Fregatte bereit.<br />
Nordatlantik<br />
»Guten Morgen, Mr. Bear.« Der Pilot des Tomcat überprüfte<br />
seinen Bildschirm. Vierzig Meilen weiter glitzerten die mächtigen<br />
Propeller der russischen Maschine in der Sonne. Der Flieger beschloß,<br />
sein Radar vorerst noch nicht zu benutzen, ging auf 80<br />
Prozent der Leistung und aktivierte die Raketenbedienung. Die<br />
beiden Maschinen flogen mit über 1600 Stundenkilometern aufeinander<br />
zu.<br />
Dann schaltete der Mann auf dem Rücksitz das AWG-9-Radar<br />
ein.<br />
»Wir haben ihn«, meldete er einen Augenblick später.<br />
»Feuer!« Zwei Raketen lösten sich und beschleunigten auf über<br />
5000 Stundenkilometer.<br />
Ein sowjetischer Elektroniker an Bord des Bear war bemüht, die<br />
516
Signatur des Suchradars der Fregatte zu isolieren, als eine andere<br />
Warnanlage piepte. Er drehte sich um und wurde blaß.<br />
»Angriff!« schrie er über die Bordsprechanlage.<br />
Der Pilot reagierte sofort, zog die Maschine nach links in eine<br />
Rolle und ließ sie der Meeresoberfläche entgegenstürzen. Hinter<br />
ihm aktivierte der Elektroniker die schützenden Störsysteme. Das<br />
Flugmanöver jedoch bewirkte, dass die Störkapseln den anfliegenden<br />
Raketen abgewandt waren.<br />
»Was ist los?« rief der Kommandeur über die Bordsprechanlage.<br />
»Wir sind vom Radar eines Abfangjägers erfaßt«, erwiderte der<br />
Techniker trotz seiner Angst kühl. »Störkapseln aktiviert.«<br />
Der Kommandeur wandte sich an seinen Funker. »Geben Sie die<br />
Warnung heraus: Feindflugzeuge in dieser Position aktiv.«<br />
Doch die Zeit war zu knapp. Die Phoenix legten die Entfernung<br />
in weniger als zwanzig Sekunden zurück. Die erste flog vorbei, doch<br />
die andere erfaßte den abtauchenden Bomber und riß ihm den<br />
Schwanz weg. Der Bear trudelte ins Meer.<br />
USS Reuben James<br />
Auf dem Radarschirm sahen sie, wie der Tomcat zwei Raketen<br />
abfeuerte, die sofort verschwanden, und dann abdrehte.<br />
»Das, meine Herren, war ein Abschuß«, erklärte Morris. »Ein<br />
Bear weniger.«<br />
»Woher wissen Sie das?« fragte Calloway.<br />
»Der Pilot hätte doch nicht abgedreht, wenn die Raketen danebengegangen<br />
wären. Und wenn es etwas anderes als ein Bear gewesen<br />
wäre, hätte er die Funkstille gebrochen. ESM, empfangen wir<br />
Funkverkehr aus null-acht-null?«<br />
Der Maat in der rechten vorderen Ecke des Raumes sah nicht auf.<br />
»Nein, Sir, keinen Pieps.«<br />
»Donnerwetter«, meinte Morris. »Es funktioniert.«<br />
»Und wenn der Kerl keinen Funkspruch mehr absetzen konnte<br />
-« Calloway verstand.<br />
»Dann sind wir die einzigen, die Bescheid wissen. Vielleicht<br />
können wir den ganzen Angriffsverband in den Hinterhalt locken.«<br />
Morris trat ans Hauptdisplay. Alle Jäger der America waren nun<br />
siebzig Meilen südlich des Geleitzugs in der Luft. Er schaute auf die<br />
517
Uhr am Schott: noch vierzig Minuten bis zum Eintreffen der Backfire.<br />
Er griff nach einem Telefonhörer: »GZ an Brücke. Signalisiejen<br />
Sie Battleaxe heran.«<br />
Innerhalb kurzer Zeit drehte Battleaxe hart nach Steuerbord ab<br />
und hielt auf die Reuben James zu. Ein neuer Trick hat bereits<br />
funktioniert, dachte Morris. Warum also nicht ein zweiter?<br />
»Hubschrauber klar zum Start», befahl er.<br />
O'Malley saß in seinem Cockpit und las ein Herrenmagazin. Auf<br />
die Durchsage hin trennte er sich von Miss Julis Reizen. Ensign<br />
Ralston begann die Prozedur des Startens des Triebwerks; O'Malley<br />
überflog die Instrumente für den Fall, dass es technische Probleme<br />
gab, und schaute dann hinaus, um sich davon zu überzeugen,<br />
dass das Bodenpersonal zurückgetreten war.<br />
»Und was sollen wir machen, Commander?« fragte der Systemoperator.<br />
»Den Raketenköder spielen, Willy«, versetzte O'Malley liebenswürdig<br />
und hob ab.<br />
Nordatlantik<br />
Der südlichste Bear war nur noch sechzig Meilen von dem Geleitzug<br />
entfernt, wusste das aber ebensowenig wie die Amerikaner, da<br />
er sich unter dem Radarhorizont der Reuben James befand. Klar<br />
war dem Piloten des Bear allerdings, dass er nun in den Steigflug<br />
gehen und seine Suchradaranlage einschalten musste. Doch der<br />
Kommandant hatte den entsprechenden Befehl noch nicht gegeben.<br />
Obwohl es keine Hinweise auf Probleme gab, machte der Pilot sich<br />
Sorgen, denn sein Instinkt sagte ihm, dass etwas nicht st<strong>im</strong>mte.<br />
Einer der Bear, die vergangene Woche verschwunden waren, hatte<br />
den Empfang des Radarsignals einer einzigen amerikanischen Fregatte<br />
gemeldet - mehr nicht. Genau wie jetzt. Der Kommandant<br />
hatte den Angriff aus Angst vor feindlichen Jägern abgebrochen<br />
und war prompt wegen angeblicher Feigheit getadelt worden. Wie<br />
Wort <strong>im</strong> Kampf waren die einzig verfügbaren Daten negativ. Fest<br />
Wand, dass vier Bear nicht zurückgekehrt waren. Er wusste, dass der<br />
Kommandant den erwarteten Befehl nicht gegeben hatte.<br />
»Geschätzte Distanz zur amerikanischen Fregatte?« fragte er<br />
die Bordsprechanlage.<br />
518
»Hundertdreißig Kilometer«, antwortete der Navigator.<br />
Funkstille wahren, sagte sich der Pilot. So lautete der Befehl.<br />
»Scheiß auf den Befehl!- sagte er laut, langte nach unten und<br />
schaltete sein Funkgerät an. »Möwe zwei an Möwe eins, bitte<br />
kommen." Nichts. Er wiederholte den Spruch noch zwe<strong>im</strong>al.<br />
Das wurde von zahlreichen Empfängern gehört, und in einer<br />
knappen Minute stand die Position des Bear fest - vierzig Meilen<br />
südöstlich vom Geleitzug. Ein Tomcat stieß auf den Kontakt hinab.<br />
Der Kommandant antwortete nicht. Sehr seltsam. Inzwischen<br />
mussten die Backfire nur noch knapp zweihundert Kilometer entfernt<br />
sein. In was führen wir sie da hinein? fragte sich der Pilot.<br />
»Radar aktivieren!« befahl er.<br />
Alle Eskorten fingen die unverwechselbaren Emissionen des Big-<br />
Bulge-Radar auf. Das nächste mit SAM ausgerüstete Schiff, die<br />
Fregatte Groves, schaltete sofort das Raketenradar ein und feuerte<br />
ein Boden-Luft-Lenkgeschoß auf den anfliegenden Bear ab. Doch<br />
der Tomcat, der ebenfalls auf den Bear zujagte, war ihm schon zu<br />
nahe gekommen. Das Leitradar der Fregatte wurde abgeschaltet,<br />
die SM1-Rakete verlor ihr Ziel und zerstörte sich au<strong>tom</strong>atisch<br />
selbst.<br />
An Bord der Bear kamen die Warnungen hageldicht - erst SAM-<br />
Alarm, dann Luftabwehrradar. Dann machte der Radaroperator<br />
den Geleitzug aus.<br />
»Zahlreiche Schiffe in Nordwest.« Der Mann gab die Information<br />
an den Navigator, der eine Positionsmeldung für die Backfire<br />
ausarbeitete. Der Pilot schaltete das Radar des Bear ab und ging in<br />
den Sturzflug, während der Fernmeldeoffizier die Sichtmeldung<br />
über Funk absetzte. Und dann leuchteten alle Radarschirme auf.<br />
USS Reuben James<br />
»Da kommen die Backfire«, sagte der TAO, als die Symbole auf<br />
dem Sichtgerät auftauchten. »Richtung null-vier-eins, Distanz hundertachtzig<br />
Meilen.«<br />
Nervöser als jetzt konnte der Erste Offizier auf der Brücke kaum<br />
werden. Abgesehen von der Bedrohung durch den anfliegenden<br />
519
Backfire-Verband, musste er sein Schiff nun exakt fünfzehn Meter<br />
neben HMS Battleaxe halten. Die Schiffe fuhren so dicht nebeneinander,<br />
dass sie auf einem Radarsichtgerät wie ein einziges Ziel<br />
wirkten. Fünf Meilen weiter flogen O'Malley und der Hubschrauber<br />
der Battleaxe ebenfalls in enger Formation mit zwanzig Knoten<br />
übers Wasser. Beide hatten Transponder an Bord, die bewirkten,<br />
dass die Hubschrauber auf den Radarschirmen des Gegners wie ein<br />
Schiff aussahen - ein Ziel also, das einen Raketenangriff wert war.<br />
Nordatlantik<br />
Per Luftkampf hatte nun die Eleganz einer Wirtshausschlägerei.<br />
Die in der Nähe des Konvois patrouillierenden Tomcats flogen auf<br />
die drei Bear zu. An den ersten Aufklärer fegte bereits eine Rakete<br />
heran; die beiden anderen hatten den Geleitzug noch nicht entdeckt<br />
und lieber nach Osten die Flucht ergriffen. Der Versuch war müßig.<br />
Propellerflugzeuge können Überschalljägern nicht entkommen.<br />
Möwe 2 wurde zuerst vom Schicksal ereilt. Der Pilot bekam noch<br />
seine Kontaktmeldung heraus und bestätigt, ehe in seiner Nähe<br />
zwei Sparrows explodierten und seine Tragfläche in Brand setzten.<br />
Er ließ seine Männer aussteigen, blieb dabei am Steuerknüppel, um<br />
die Maschine geradezuhalten, kämpfte sich dann eine Minute später<br />
selbst aus dem Sitz und sprang durch eine Fluchtluke <strong>im</strong> Boden.<br />
Fünf Sekunden nachdem sich sein Fallschirm geöffnet hatte, explodierte<br />
der Bear und stürzte ins Meer.<br />
... Über ihm hielt eine Staffel Tomcats auf die Backfire zu, und bei<br />
diesem Rennen ging es darum, wer als erster in eine Raketenabftchußposition<br />
kam. Die sowjetischen Bomber waren mit Nachbrennern<br />
in den Steigflug gegangen und hatten ihre Look-Down-<br />
Radargeräte aktiviert, um Ziele für ihre Raketen zu finden. Sie<br />
hatten den Auftrag, Eskorten auszumachen und zu versenken, und<br />
dreißig Meilen von der Hauptmasse des Geleitzuges fanden sie,<br />
Wonach sie suchten: zwei Leuchtpunkte auf dem Radarschirm. Auf<br />
wen größeren feuerten sie sechs Raketen ab, auf den kleineren zwei.<br />
520
Stornoway, Schottland.<br />
»In 45° Nord, 49° West greift gerade ein Backfire-Verband an..<br />
Toland hatte das Telex mit dem Dringlichkeitsgrad »Red Rocket«<br />
in der Hand.<br />
»Was sagt der COMEASTLAND dazu?«<br />
»Best<strong>im</strong>mt befaßt er sich <strong>im</strong> Augenblick mit der Angelegenheit.<br />
Sind Sie bereit?« fragte Toland den Kampfpiloten.<br />
»Und ob!«<br />
Der Teleprinter in der Ecke begann zu klappern: OPERATION<br />
DOOLITTLE AUSLÖSEN.<br />
USS Reuben James<br />
»Vampire, Vampire! Raketen <strong>im</strong> Anflug.«<br />
Jetzt geht's wieder los, dachte Morris. Das taktische Display war<br />
moderner als auf der Pharris - jede anfliegende Rakete war mit<br />
einem Vektor markiert, der Geschwindigkeit und Richtung anzeigte.<br />
Sie kamen <strong>im</strong> Tiefflug heran.<br />
Morris griff nach dem Telefon. »Brücke, hier GZ. Trennungsmanöver<br />
ausführen.«<br />
»Brücke, aye. Trennung erfolgt jetzt«, sagte Ernst. »Stop! Äußerste<br />
Kraft zurück!«<br />
Der Rudergänger riß den Leistungshebel zurück und kehrte dann<br />
abrupt die Anstellung der Schraubenflügel herum, brachte das<br />
Schiff von volle Kraft voraus auf volle Kraft zurück. Reuben James<br />
verzögerte so rapide, dass die Männer sich abstützen mussten. Battleaxe<br />
rauschte weiter und beschleunigte auf fünfundzwanzig Knoten.<br />
Sowie sie in sicherer Distanz war, drehte die britische Fregatte<br />
hart nach Backbord ab, und Reuben James machte eine scharfe<br />
Wendung nach Steuerbord.<br />
Die anfliegenden AS-4-Raketen hatten ein einziges Radarecho<br />
zum Ziel gehabt. Nun waren da zwei Ziele, die sich rasch voneinander<br />
entfernten. Die sechs Raketen verteilten ihre Aufmerksamkeit<br />
gleichmäßig.<br />
Morris betrachtete angespannt das Display. Die Distanz zwischen<br />
seinem Schiff und der begleitenden Fregatte wuchs rapide.<br />
»Sind von Raketenradar erfaßt!« rief der ESM-Operator laut.<br />
»Mehrere Raketen <strong>im</strong> Zielanflug.«<br />
521
»Ruder hart Backbord, auf Gegenkurs gehen. Düppelraketen abfeuern.<br />
Alle in der Gefechtszentrale fuhren zusammen, als die vier Geschosse<br />
direkt über dem Schiff explodierten, die Luft mit Streifen<br />
aus Alufolie erfüllten und für die Raketen ein Ziel erzeugten. Inzwischen<br />
ging die Fregatte be<strong>im</strong> Abdrehen in Schräglage, und der<br />
Raketenstarter auf dem Vorderschiff machte die Wendung mit.<br />
Einer SAM war die erste anfliegende russische Rakete bereits zugewiesen<br />
worden. Die Fregatte richtete sich auf Nordkurs und drei<br />
Meilen hinter Battleaxe wieder auf.<br />
»Und los geht's«, sagte der Waffenoffizier. An der Feuerleitkonsole<br />
flammte eine Leuchte auf: »Zielkoordination ermittelt.«<br />
Die erste SM1 schoß gen H<strong>im</strong>mel. Kaum hatte sie den Starter<br />
verlassen, da bewegte sich dieser auch schon in zwei D<strong>im</strong>ensionen,<br />
nahm aus dem runden Magazin einen neuen Flugkörper auf, zielte<br />
und feuerte sieben Sekunden nach dem Start der ersten Rakete und<br />
wiederholte diesen Zyklus noch zwe<strong>im</strong>al.<br />
»Das war's!« rief O'Malley, als er die erste Rauchschleppe sah. Er<br />
drückte auf den Ausknopf des Signalverstärkers, der auf den russisehen<br />
Schirmen den ein Schiff vortäuschenden Leuchtfleck erzeugte.<br />
»Hatchet, schalten Sie Ihren Emitter aus und drehen Sie<br />
nach links ab!« Beide Hubschrauber gingen auf volle Leistung und<br />
ergriffen die Flucht. Vier Raketen hatten auf einmal keine Ziele<br />
mehr, suchten weiter <strong>im</strong> Westen neue, konnten aber keine finden.<br />
»Mehr Düppel«, befahl Morris und sah zu, wie die Bahnen eigener<br />
und feindlicher Raketen aufeinander zuliefen. Wieder erzitterte die<br />
Gefechtszentrale, als eine neue Aluminiumwolke in die Luft gesprengt<br />
und vom Wind auf die anfliegenden Raketen zugetragen<br />
wurde.<br />
»Wir sind noch <strong>im</strong>mer von Raketen erfaßt!«<br />
»Treffer!« rief der Waffenoffizier. Die erste Rakete, in sechzehn<br />
Meilen Entfernung abgefangen, verschwand vom Schirm, doch die<br />
zweite flog weiter. Die erste auf sie angesetzte SAM verfehlte sie<br />
und explodierte hinter dem Schiff, ohne Schaden anzurichten, und<br />
auch die zweite flog vorbei. Eine weitere SAM wurde abgeschossen.<br />
Die Distanz betrug nun nur noch sechs Meilen. Fünf. Vier. Drei.<br />
»Treffer! Nur noch eine Rakete übrig. Dreht ab, hält auf Düppel<br />
zu! Fliegt achtern vorbei!«<br />
522
Der Flugkörper schlug eine gute Meile von der Reuben James ins<br />
Wasser und verursachte auch über diese Distanz noch einen beeindruckenden<br />
Krach. Dann folgte totale Stille in der GZ. Die Männer<br />
starrten auf die Instrumente, suchten nach weiteren Raketen und<br />
akzeptierten erst nach mehreren Sekunden, dass keine mehr kamen.<br />
Die Seeleute schauten ihre Kameraden an und konnten wieder<br />
atmen.<br />
»Was dem modernen Kampf an Menschlichkeit fehlt, gleicht er<br />
durch Spannung aus«, merkte Calloway an.<br />
Morris lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Könnte man sagen.<br />
Was macht Battleaxe;«<br />
»Ist noch auf dem Radarschirm, Sir«, erwiderte der TAO. Morris<br />
hob das Funktelefon ab.<br />
»Bravo, hier Romeo. Hören Sie mich? Over.«<br />
»Sieht so aus, als wären wir noch am Leben.« Commander Perrin<br />
musterte versonnen sein taktisches Display.<br />
»Schäden?«<br />
»Keine. Hatchet meldet sich gerade. Ist ebenfalls unversehrt.<br />
Erstaunlich«, meinte Perrin. »Fliegt sonst noch etwas an? Wir<br />
haben nichts auf den Schirmen.«<br />
»Negativ. Die Tomcats haben die Backfire aus dem Radarbereich<br />
verscheucht. Formieren wir uns wieder.«<br />
»Roger, Romeo.«<br />
Morris legte auf und schaute sich in der GZ um. »Gut gemacht,<br />
Leute.«<br />
Die Seeleute tauschten Blicke und begannen zu grinsen. Doch die<br />
Freude sollte nicht lange währen.<br />
Der TAO schaute auf. »Zu Ihrer Information, Sir, der Iwan hat<br />
ein Viertel seiner Raketen auf uns abgeschossen. Soweit ich es<br />
beurteilen kann, erwischten die Tomcats sechs und die Bunker Hill<br />
fast alle anderen. Aber eine Fregatte und drei Frachter wurden<br />
getroffen. Die Jäger kehren zurück.« Er bemühte sich um einen<br />
neutralen Tonfall. »Sie melden, es sei kein Backfire abgeschossen<br />
worden.«<br />
»Verdammt!« stieß Morris hervor. Die Falle hatte nicht funktioniert<br />
- und er wusste nicht, warum.<br />
Er hatte auch keine Ahnung, dass Stornoway das Gefecht als<br />
Erfolg ansah.<br />
523
Stornoway, Schottland<br />
Der Schlüssel zur Operation war wie <strong>im</strong>mer bei militärischen Unternehmen<br />
die Kommunikation, und für diese war für Tolands<br />
Geschmack nicht genug Zeit gewesen. Die Radarflugzeuge der<br />
America verfolgten die Backfire, bis sie vom Schirm verschwanden,<br />
und die Daten gingen erst dann an den Träger und von dort aus<br />
über Norfolk und Satellit nach Northwood. Seine Daten erhielt er<br />
über Landkabel vom Hauptquartier der Royal Navy. Die wichtigste<br />
Nato-Mission dieses Krieges hing also mehr von Transistoren<br />
und Telefondrähten ab als von den Waffen, die eingesetzt werden<br />
sollten.<br />
»Gut, ihr letzter Kurs war null-zwo-neun, Geschwindigkeit<br />
sechshundertzehn Knoten.«<br />
»Dann müssen sie in zwei Stunden und siebzehn Minuten über<br />
der Nordküste von Island sein. Wie lange sind sie mit Nachbrenner<br />
geflogen?« fragte Commander Winters.<br />
»Laut America fünf Minuten.« Toland runzelte die Stirn. Eine<br />
sehr dünne Information.<br />
»Wie auch <strong>im</strong>mer, besonders üppig können ihre Treibstoffvorräte<br />
nicht sein. Okay. Drei Maschinen, achtzig Meilen Abstand<br />
voneinander.« Er schaute sich das neueste Bild vom Wettersatelliten<br />
an. »Sichtverhältnisse gut. Wir machen sie aus. Wer sie entdeckt,<br />
verfolgt sie - der Rest fliegt he<strong>im</strong>.«<br />
»Viel Glück, Commander.«<br />
Nordatlantik<br />
Die drei Tomcats gingen auf Nordwestkurs von Stornoway langsam<br />
auf fünfunddreißigtausend Fuß und trafen sich mit ihren Tankern.<br />
Die Backfire waren mehrere hundert Meilen entfernt ähnlich<br />
beschäftigt: Die Anwesenheit einer großen Zahl amerikanischer<br />
Jäger über dem Geleitzug war ein böser Schock für die Besatzungen<br />
gewesen, aber da sich Zeit und Distanz zu ihren Gunsten ausgehatten,<br />
waren sie diesmal ohne Verluste davongekommen.<br />
Die Crews entspannten sich nach der gefährlichen Mission und<br />
diskutierten die Zahl der Versenkungen, die sie bei der Rückkehr in<br />
Anspruch nehmen würden. Berechnet wurden die Treffer nach<br />
524
einer s<strong>im</strong>plen Formel: Man ging davon aus, dass eine von drei<br />
Raketen ihr Ziel traf, ungeachtet feindlichen SAM-Feuers. Die<br />
Crews kamen überein, sechzehn Versenkungen zu beanspruchen,<br />
einschließlich der beiden Sonar-Vorposten, die ihren Kameraden in<br />
den U-Booten solche Probleme bereiteten. Man trank Tee aus<br />
Thermosflaschen und dachte über den nächsten Angriff auf den<br />
Achtzig-Schiffe-Konvoi nach.<br />
Als die Berge von Island in Sicht kamen, trennten sich die Tomcats.<br />
Es wurden keine Funksignale, sondern nur Handzeichen ausgetauscht.<br />
Vor russischem Radar waren sie nun sicher. Commander<br />
Winters schaute auf die Uhr. In dreißig Minuten sollten die Backfire<br />
da sein.<br />
»Was für eine schöne Insel«, sagte der Pilot des Backfire zu seinem<br />
Kopiloten.<br />
»Mag ja schön aussehen, aber wie sich's dort lebt, ist eine andere<br />
Frage. Ob die Frauen wirklich so hübsch sind, wie man hört?<br />
Irgendwann müssen wir mal wegen technischer Schwierigkeiten<br />
dort landen.«<br />
»Zeit, dass du heiratest, Wolodja.«<br />
Der Kopilot lachte. »Was da für Tränen vergossen würden! Wie<br />
kann ich mich den Frauen dieser Welt verweigern?«<br />
Der Pilot schaltete das Funkgerät ein. »Keflavik, hier Seeadler<br />
26, bitte Lagemeldung.«<br />
»Seeadler, außer Ihrer Gruppe keine Kontakte. Zahl korrekt, IFF<br />
Transponder normal.«<br />
»Verstanden. Ende.« Der Pilot schaltete ab. »Na also, Wolodja,<br />
unsere Freunde sind noch da. Muss einsam sein.«<br />
»Wo es Frauen gibt, braucht man nie einsam zu sein.«<br />
»Stopft vielleicht mal jemand diesem geilen Bock das Maul?«<br />
fuhr der Navigator über die Bordsprechanlage dazwischen. »Wollen<br />
Sie vielleicht Politoffizier werden?« versetzte der Kopilot. »Wie<br />
lange noch, bis wir dahe<strong>im</strong> sind?«<br />
»Zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten.«<br />
Der Backfire flog mit sechshundert Knoten über die Insel und<br />
weiter nach Nordosten.<br />
525
»Tallyho!« sagte der Pilot leise. »In ein Uhr und tief.« Das<br />
TV-System zeigten den unverwechselbaren Umriß des russischen<br />
Bombers. Eines Muss man den Russen lassen, dachte Winters, sie bauen<br />
hübsche Flugzeuge.<br />
Als er abdrehte, verlor die <strong>im</strong> Bug montierte TV-Kamera das<br />
Ziel, doch der Offizier auf dem Rücksitz richtete das Fernglas auf<br />
den Backfire und entdeckte zwei weitere, die in loser Formation<br />
flogen. Wie erwartet waren sie auf Nordostkurs und in rund dreißigtausend<br />
Fuß Höhe. Winters suchte sich eine große Wolke, in der<br />
er sich versteckte. Die Sichtweite fiel auf wenige Meter. Der Pilot<br />
hoffte nur, dass es in der Nähe nicht noch einen weiteren Backfire<br />
gab, dessen Pilot gerne in Wolken Zuflucht nahm, denn das konnte<br />
das Unternehmen ruinieren.<br />
Eine Minute später hatte er die Wolke durchflogen, zog die<br />
Maschine scharf herum und tauchte wieder hinein, berechnete Zeit<br />
und Distanz. So, nun sollten alle Backfire vorbei sein. Er zog den<br />
Knüppel zurück und schoß oben aus der Wolke heraus.<br />
»Da sind sie!« rief sein Kampfbeobachter. »Achtung, in drei Uhr<br />
sehe ich noch mehr.«<br />
Der Pilot verschwand für weitere zehn Minuten in der Wolke.<br />
Endlich: »Im Süden nichts mehr. Sie sollten alle vorbei sein.«<br />
»Gut, dann schauen wir mal nach.«<br />
Eine bange Minute später fragte sich Winters, ob er den Backfire<br />
vielleicht zu viel Vorsprung gelassen hatte, denn sein TV-System<br />
suchte den H<strong>im</strong>mel ab und fand nichts. Geduld, sagte er sich und<br />
beschleunigte auf sechshundertneunzig Knoten. Fünf Minuten später<br />
erschien ein Punkt auf dem Bildschirm, wuchs und löste sich in<br />
drei Flecken auf. Winters schätzte, dass er vierzig Meilen hinter den<br />
Backfire lag; da er die Sonne <strong>im</strong> Rücken hatte, war es ausgeschlossen,<br />
dass sie ihn entdeckten. Der Mann auf dem Rücksitz prüfte<br />
dre<strong>im</strong>al pro Minute das Radarwarngerät und den Luftraum hinter<br />
ihnen auf andere Flugzeuge.<br />
Der Pilot sah die Zahlen an seinem Trägheitsnavigationssystem<br />
dahinklicken, behielt die Treibstoffanzeige <strong>im</strong> Auge und achtete auf<br />
Veränderungen in der russischen Bomberformation vor ihm. Das<br />
war aufregend und langweilig zugleich. Er kannte die Bedeutung<br />
seines Auftrags, aber die Ausführung bot keinen größeren Nervenkitzel<br />
als das Steuern einer 747 von New York nach Los Angeles.<br />
Sie flogen über eine Stunde lang dahin und legten dabei die sieben<br />
526
hundert Meilen zwischen Island und der norwegischen Küste zurück.<br />
»Jetzt wird's interessant", meinte der Kampfbeobachter. »Luftsuchradar<br />
voraus, sieht aus wie Andoya. Noch über hundert Meilen<br />
entfernt. In zwei, drei Minuten haben sie uns.«<br />
»Ist ja toll.« Wo es Radar diesen Typs gab, operierten auch Jäger.<br />
»Haben Sie ihre Position ermittelt?«<br />
»Ja-«<br />
»Dann senden Sie.« Winters drehte und flog zurück übers offene<br />
Meer.<br />
Zweihundert Meilen weiter empfing eine kreisende britische<br />
N<strong>im</strong>rod das Signal und gab es über einen Fernmeldesatelliten weiter.<br />
Northwood, England<br />
Admiral Beattie versuchte ruhig zu bleiben, aber das fiel dem<br />
Mann, dessen Nerven seit Kriegsbeginn von einer Krise nach der<br />
anderen strapaziert worden waren, nicht leicht. Operation Doolittle<br />
war sein Kind. Seit zwei Stunden wartete er nun auf Nachricht<br />
von den Tomcats. Zwei waren zurückgekehrt, ohne die Russen<br />
gesichtet zu haben. Einer fehlte noch. Verfolgte er sie wie geplant <br />
oder war er ins Meer gestürzt?<br />
Der Drucker in der Ecke begann zu rattern: AUGAPFEL MELDET<br />
HASEN 69/ZON, I5/43E UM I543Z KURS 021 GESCHW 580 KGS<br />
HOEHE 30.<br />
Beattie riß das Blatt heraus und reichte es seinem für die Luftoperationen<br />
zuständigen Offizier. »Dann sind sie in siebenunddreißig<br />
Minuten am Boden. Wenn wir davon ausgehen, dass dies die letzte<br />
Gruppe ist und in Fünfzehn-Minuten-Abständen fliegt, müßten die<br />
ersten Bomber in zweiundzwanzig Minuten landen.«<br />
»Also dann in fünfzehn Minuten?«<br />
»Jawohl, Admiral.«<br />
»Geben Sie den Befehl heraus!«<br />
Binnen dreißig Sekunden ging die Nachricht über ein halbes<br />
Dutzend Satellitenkanäle.<br />
527
USS Chicago<br />
Die amerikanischen U-Boote hatten eine scheinbare Ewigkeit vor<br />
der russischen Küste am Grund der Barentssee gelegen, als endlich<br />
der Befehl einging, sich nach Süden in Bewegung zu setzen. McCafferty<br />
lächelte erleichtert. Drei britische U-Boote, darunter HMS<br />
Torbay, hatten ihre Aufgabe bereits erfüllt und sich vor der norwegischen<br />
Küsten an eine Fregatte und vier Patrouillenboote herangeschlichen,<br />
um sie mit Torpedos anzugreifen. Nun mussten die<br />
Russen annehmen, es sollte ihre Barriere durchbrochen werden,<br />
und <strong>im</strong> Gegenzug hatten sie ihre U-Jagd-Patrouillen nach Westen<br />
beordert.<br />
Damit hatten Chicago und ihre Begleiter freie Bahn. Zumindest<br />
hoffte McCafferty das.<br />
Als sie sich ihrem Zielgebiet näherten, überprüften seine Elektroniker<br />
<strong>im</strong>mer wieder ihre Koordinaten. Be<strong>im</strong> Abschuß der Flugkörper<br />
musste das Boot genau an der richtigen Stelle sein.<br />
»Wann schießen sie?« fragte der IO.<br />
»Werden wir noch erfahren«, erwiderte McCafferty.<br />
Und dann ging aus Northwood der Befehl ein: Abschuß 1602<br />
Zulu-Zeit.<br />
»Sehrohr ausfahren.« McCafferty ließ das Instrument rasch kreisen.<br />
Oben trieb eine Regenbö hohe Wellen vor sich her.<br />
»Sieht klar aus«, sagte der IA am TV-Display.<br />
Der Kommandant klappte die Griffe des Periskops hoch, das<br />
dann in seinem Schacht verschwand. »ESM?«<br />
»Viele Radarsignale, Sir«, antwortete der Techniker. »Es sind<br />
zehn verschiedene Sender in Betrieb.«<br />
McCafferty inspizierte die an Steuerbord in der Angriffszentrale<br />
angebrachten Statusanzeigen für die Tomahawk. Die Torpedorohre<br />
waren mit zwei Torpedos Mark-48 und zwei Harpoon<br />
Raketen geladen. Die Uhr tickte auf 16o2 zu.<br />
»Startsequenz beginnen.«<br />
Kippschalter wurden umgelegt, an den Statusanzeigen für die<br />
Waffen leuchtete es rot auf. Kommandant und Waffenoffizier steckten<br />
gleichzeitig ihre Schlüssel in die Konsole und drehten sie um; der<br />
Maat an der Instrumententafel für die Waffensysteme legte den<br />
Feuerhebel nach links um, und der Prozeß des Scharfmachens war<br />
beendet. Im Bug des U-Bootes wurden die Lenksysteme von zwölf<br />
528
Cruise Missile des Typs Tomahawk aktiviert. Bordcomputer bekamen<br />
den Startpunkt eingegeben. Das Ziel kannten sie bereits.<br />
»Start einleiten«, befahl McCafferty.<br />
Ametist gehörte nicht zur regulären sowjetischen Marine, sondern<br />
erfüllte der Staatssicherheit dienende Funktionen und hatte eine<br />
KGB-Besatzung. Während der letzten zwölf Stunden war die Fregatte<br />
der Grischa-Klasse abwechselnd gespurtet und mit Tauchsonar<br />
lauschend dahingetrieben. Mit abgeschalteten Dieseln erzeugte<br />
sie überhaupt kein Geräusch, und ihr kurzes Profil war nur schwer<br />
auszumachen. Sie hatte das Herannahen der amerikanischen<br />
U-Boote nicht gehört.<br />
Um 16:01:58 durchbrach der erste Marschflugkörper nur zweitausend<br />
Yard von der Fregatte entfernt die Oberfläche. Der Ausguck<br />
brauchte ein, zwei Sekunden, um zu reagieren. Als er sah, wie<br />
das zylindrische Geschoß, von der Feststoffstufe getrieben, aufstieg<br />
und <strong>im</strong> Bogen nach Südwesten flog, krampfte sich sein Magen<br />
zusammen.<br />
»Raketenabschuß an Steuerbord!«<br />
Der Kommandant hastete auf die Brückennock und sah verblüfft<br />
ein zweites Cruise Missile aus dem Wasser auftauchen. Dann<br />
sprang er zurück ins Ruderhaus.<br />
»Auf Gefechtsstation! Funker, rufen Sie das Marine-HQ und<br />
melden Sie den Abschuß feindlicher Raketen von Planquadrat 451/<br />
679! Volle Kraft voraus! Hart Steuerbord!«<br />
Die Diesel der Fregatte sprangen donnernd an.<br />
»Zum Kuckuck, was ist das?« fragte der Sonar-Chief. Alle vier<br />
Sekunden erschütterten die Raketenstarts sein Boot. »Hier Sonar,<br />
wir haben einen Kontakt in null-neun-acht. Diesel-Überwasserschiff,<br />
klingt wie eine Grischa und ist sehr nahe, Sir!«<br />
»Sehrohr ausfahren!« McCafferty wirbelte das Periskop herum<br />
und stellte Max<strong>im</strong>alvergrößerung ein. Er sah, dass die russische<br />
Fregatte hart abdrehte. »Schnellschuß! Oberflächenziel Richtung<br />
null-neun-sieben, Distanz« - er drehte am Entfernungsanzeiger -<br />
»sechzehnhundert, Kurs. Scheiße! Er dreht ab. Sagen wir nullneun-null,<br />
Fahrt 20.« Zu dicht für eine Rakete; sie mussten mit<br />
Torpedos angreifen. »Sehrohr einfahren!«<br />
Der Feuerleitoffizier gab dem Computer die Werte ein. Nach elf<br />
529
Sekunden hatte der Rechner die Information verarbeitet. »Eingestellt!<br />
Rohr eins und drei klar!«<br />
»Fluten Rohr eins und drei, Mündungsklappen offen - klar! •« rief<br />
der I0<br />
»Errechnete Koordinaten anpassen - und Feuer!«<br />
»Feuer eins, Feuer drei.« Der Erste Offizier bekam seine Gefühle<br />
unter Kontrolle. Von wo war diese Grischa so plötzlich aufgetaucht?<br />
»Mark-48 nachladen!«<br />
»Letzter Vogel frei«, verkündete der Raketentechniker. »Startsequenz<br />
beendet.«<br />
»Ruder hart Backbord!«<br />
Auf der Ametist bekam niemand den Torpedoabschuß hinter dem<br />
Schiff mit, denn die Männer hasteten auf ihre Stationen, während<br />
der Kommandant volle Kraft befahl und der Waffenoffizier in<br />
Unterhosen an Deck eilte, um die Raketenstarter zu bedienen.<br />
Sonar brauchte man in diesem Fall nicht; man sah zu deutlich, wo<br />
das U-Boot lag und Raketen abschoß.<br />
»Feuer frei!« rief der Kapitän.<br />
Der Leutnant drückte auf den Knopf. Zwölf Raketen starteten<br />
fauchend. »Ametist«, quäkte das Funkgerät. »Wiederholen Sie den<br />
Spruch - was für Raketen? Raketen welchen Typs?«<br />
USS Providence schoß den letzten Marschflugkörper gerade in<br />
jenem Augenblick ab, in dem die Fregatte feuerte. Als die Raketen<br />
schon auf sein Boot jagten, befahl der Kommandant äußerste Kraft<br />
voraus und eine radikale Wendung. Zwei Sprengköpfe explodierten<br />
nur hundert Yard vom Boot entfernt, richteten aber keinen<br />
Schaden an. Die letzte Rakete traf direkt über dem Turm des<br />
U-Bootes aufs Wasser. Eine Sekunde später detonierten dreiundzwanzig<br />
Kilo Sprengstoff.<br />
Der Kapitän der Ametist kümmerte sich nicht ums Funkgerät,<br />
sondern um den Effekt seiner ersten Salve. Die letzte Rakete war<br />
rascher explodiert als die anderen. Er wollte gerade einen erneuten<br />
Feuerbefehl geben, als der Sonaroffizier zwei Objekte von achtern<br />
meldete. Er gab dem Rudergänger Befehle. Im Hintergrund<br />
kreischte unbeachtet das Funkgerät.<br />
530
»Beide Fische haben das Ziel erfaßt!«<br />
»Sehrohr ausfahren!
dem Meer aufsteigenden Tomahawk erfaßt worden waren,<br />
hatte man eine Blitzwarnung vor einem Angriff mit ballistischen<br />
Raketen nach Moskau gesandt. Auch die Sichtung der Flugkörper<br />
durch die Ametist war rasch zum Marinehauptquartier in Sewerosk<br />
gelangt; von dort ging ein mit dem Codewort DONNERgekennzeichneter<br />
Alarm ans Verteidigungsministerium. Sowurde<br />
die Ermächtigung zum Start der um Moskau herum<br />
stationierten Antiraketen-Raketen an die Batteriekommandeure<br />
übertragen, und obwohl Radaroffiziere nach mehreren Minuten zu<br />
Moskaus Befriedigung bestätigen konnten, dass die Flugkörper von<br />
den Schirmen verschwunden waren und sich nicht auf ballistischen<br />
Bahnen befanden, blieben die Luftabwehreinheiten <strong>im</strong> Alarmzustand,<br />
und in ganz Nordrußland stiegen Abfangjäger auf.<br />
Unberührt von dem Aufruhr, den sie ausgelöst hatten, zogen die<br />
Cruise Missiles ihre Bahn, überflogen die an dieser Stelle aus felsigen<br />
Landvorsprüngen und Kliffs bestehende Küste und erreichten<br />
die Tundra - ideales Terrain für die Marschflugkörper, die mit<br />
fünfhundert Knoten kaum einen Meter hoch über das Sumpfgras<br />
jagten. Alle flogen über den Babosero-See, den ersten Bezugspunkt,<br />
trennten sich dann.<br />
Nach dem Alarmstart hatten die Piloten der sowjetischen Jäger<br />
wenig Ahnung, hinter was sie eigentlich her waren. Es lagen zwar<br />
Radarinformationen über Kurs und Geschwindigkeit der Objekte vor,<br />
aber wenn es sich um Cruise Missiles handelte, konnten sie bis<br />
zum Schwarzen Meer fliegen oder gar über Umwege Moskau ansteuern.Auf<br />
einen Befehl vom Boden hin formierten sich die Abfangjäger<br />
südlich des Weißen Meeres und hielten mit Look-Down-<br />
Radarnach den Eindringlingen Ausschau.<br />
Diese aber waren nicht nach Moskau unterwegs. Die Marsch-<br />
Flugkörper wichen hin und wieder einer Bodenerhöhung aus und<br />
blieben auf Kurs zwei-eins-drei, bis sie den Krüppelkieferwald erreichten.<br />
Dort drehten sie nacheinander nach rechts ab und gingen<br />
auf Kurs zwei-neun-null. Ein Cruise Missiles geriet außer Kontrolle<br />
und Stürzte ab, ein zweites vollführte die Wendung nicht und flog<br />
schnurstracks weiter. Der Rest hielt auf die Ziele zu.<br />
532
Seeadler<br />
Der letzte Backfire-Bomber kreiste über Umbosero-Süd und wartete<br />
auf Landeerlaubnis. Der Pilot schaute auf die Treibstoffanzeige.<br />
Genug für dreißig Minuten, also kein Grund zur Eile. Aus<br />
Sicherheitsgründen waren die drei Reg<strong>im</strong>enter auf vier südlich der<br />
Bergarbeiterstadt Kirowsk gelegene Flugplätze verteilt. Leistungsfähige<br />
Radaranlagen und mobile SAM-Batterien boten auf den<br />
hohen Bergen um die Stadt Schutz vor Luftangriffen der Nato. Wie<br />
der Pilot sah, waren die meisten Hochöfen noch in Betrieb; aus<br />
vielen hohen Schornsteinen stieg Rauch.<br />
»Seeadler 26, Landung frei«, sagte endlich der Tower.<br />
»Welche ist heute an der Reihe, Wolodja?«<br />
»Landeklappen zwanzig Grad, Fahrt zweihundert, Fahrwerk<br />
ausgefahren. Irina Petrowna, glaube ich. Die große Dürre von der<br />
Vermittlung.«<br />
»Was ist das«, rief der Pilot überrascht. Vor ihm war über der<br />
Landebahn ein kleines weißes Objekt erschienen.<br />
Das erste der für Umbosero-Süd best<strong>im</strong>mten zwölf Cruise Missiles<br />
flog schräg über die Landebahn, dann sprang die stumpfe Nasenverkleidung<br />
ab, und Hunderte kleiner Bomben verteilten sich<br />
über die Gegend. Siebzehn Backfire waren bereits gelandet. Zehn<br />
wurden <strong>im</strong> Freien aus Lastern aufgetankt, die anderen standen<br />
bewaffnet und einsatzbereit in Betonunterständen. Jede Bombe<br />
hatte die Sprengwirkung einer Mörsergranate. Das Tomahawk<br />
warf seine Ladung ab, stieg dann steil auf, überzog und stürzte<br />
zurück zum Boden, wo es mit dem Rest seines Treibstoffes noch<br />
weiter zu der Verwüstung beitrug. Zuerst ging ein startbereiter<br />
Backfire hoch. Zwei Minibomben fielen auf seinen Flügel, und ein<br />
Feuerball stieg zum H<strong>im</strong>mel.<br />
Der Pilot von Seeadler 26 erhöhte die Leistung, brach den Landeanflug<br />
ab und sah entsetzt mit an, wie zehn Bomber explodierten.<br />
Qualmwolken über anderen wiesen auf Beschädigungen hin. Nach<br />
zwei Minuten war alles vorbei. Feuerwehren sausten wie Spielzeugautos<br />
über den Beton, Männer richteten Schläuche auf brennende<br />
Tanklaster und Flugzeuge. Der Pilot flog zu seinem Ausweichflugplatz<br />
<strong>im</strong> Norden und sah auch dort Rauch aufsteigen.<br />
»Der Treibstoff reicht noch für fünfzehn Minunten. Wird Zeit,<br />
dass wir runterkommen«, warnte Wolodja. Sie bogen ab nach links<br />
533
in Richtung Kirowsk-Süd, doch dort bot sich ihnen das gleiche Bild:<br />
Alle vier Flugplätze waren gleichzeitig angegriffen worden.<br />
»Afrikanda, hier Seeadler 26. Unser Treibstoff ist knapp, wir<br />
müssen sofort landen. Haben Sie Platz für uns?»<br />
»Ja, 26. Landebahn frei. Wind aus zwei-sechs-fünf, zwanzig<br />
Knoten.«<br />
»Gut, wir kommen runter. Ende.« Der Pilot wandte sich an<br />
Wolodja. »Verdammt, was war das?«<br />
USS Chicago<br />
»Fernmeldeeinrichtungen, Löschanlagen ausgefallen, Tiefenruder<br />
defekt. Lecks abgedichtet. Maschinen betriebsbereit. Wir können<br />
also fahren«, erklärte der Kommandant von USS Providence über<br />
die Gertrude.<br />
»Gut, warten Sie.« Auch Boston lag längsseits. »Todd, hier<br />
Danny. Was meinen Sie?«<br />
»Allein schafft Providence das nicht. Ich schlage vor, dass wir die<br />
anderen vorfahren lassen und sie zusammen eskortieren.«<br />
»Einverstanden. Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich aus<br />
dem Gebiet verschwinden.«<br />
»Viel Glück, Danny.« Boston fuhr die Funkantenne aus und<br />
sendete kurz. Eine Minute später empfing Chicagos Sonar den<br />
Lärm der anderen Boote, die sich rasch nach Norden absetzten.<br />
»Providence, gehen Sie auf Kurs null-ein-fünf und fahren Sie so<br />
schnell wie möglich. Wir decken Ihren Rückzug. Boston stößt<br />
später zu uns, und wir begleiten Sie dann zum Packeis.«<br />
»Das dürfen Sie nicht riskieren. Wir können -«<br />
»Verdammt noch mal, fahren Sie los!« brüllte McCafferty ins<br />
Mikrophon. Schließlich tauchte das verwundete U-Boot und fuhr<br />
mit fünfzehn Knoten nach Norden. Sein beschädigter Turm klang<br />
in der Strömung wie ein Schrottlaster, aber daran ließ sich nichts<br />
ändern. Wenn die U-Boote überhaupt eine Überlebenschance haben<br />
wollten, mussten sie die größtmögliche Distanz zwischen sich<br />
und den Abschußpunkt bringen.<br />
534
Moskau<br />
Michail Sergetow sah sich <strong>im</strong> Kreis der Männer um, die vorn<br />
Schreck über das Mögliche noch blaß waren.<br />
»Genosse Verteidigungsminister«, sagte der Generalsekretär,<br />
»können Sie uns mitteilen, was geschehen ist?«<br />
»Offenbar haben U-Boote eine Reihe unserer Flugplätze <strong>im</strong> Norden<br />
mit Marschflugkörpern beschossen, in der Absicht, einen Teil<br />
unserer Backfire zu zerstören. Welchen Erfolg sie hatten, kann ich<br />
noch nicht sagen.«<br />
»Von wo wurden die Geschosse abgefeuert?« fragte Pjotr Bromkowski.<br />
»Östlich von Murmansk und keine dreißig Kilometer von unserer<br />
Küste entfernt. Eine Fregatte sah und meldete den Abschuß,<br />
verstummte dann aber. Es sind nun Suchflugzeuge unterwegs.«<br />
»Wie kamen die Amerikaner dorthin?« fragte Bromkowski<br />
scharf. »Und wieviel Zeit wäre uns geblieben, wenn sie ballistische<br />
Raketen abgeschossen hätten?«<br />
»Sechs bis sieben Minuten.«<br />
»Ist ja großartig! So schnell können wir nicht reagieren. Warum<br />
haben Sie sie so nahe herangelassen?«<br />
»Raus kommen sie nicht, Petja, das kann ich Ihnen versprechen«,<br />
versetzte der Verteidigungsminister hitzig.<br />
Der Generalsekretär beugte sich vor. »Sehen Sie zu, dass so etwas<br />
nie wieder passiert!«<br />
Sergetow meldete sich zu Wort. »Könnte uns der Genosse Verteidigungsminister<br />
einen Überblick über die neuesten Entwicklungen<br />
an der deutschen Front geben?«<br />
»Die Kräfte der Nato sind bis zum Zerreißen angespannt. Wie<br />
wir vom KGB erfahren, ist ihre Versorgungslage kritisch, und<br />
angesichts der diplomatischen Entwicklung der letzten Tage können<br />
wir ruhig davon ausgehen, dass die Nato am Rande des politischen<br />
Zusammenbruchs steht. Wenn wir nur weiter Druck ausüben,<br />
löst sie sich auf.«<br />
»Geht nicht auch uns der Treibstoff aus?« fragte Bromkowski.<br />
»Die Deutschen haben uns ein vernünftiges Angebot gemacht.«<br />
»Nein.« Der Außenminister schüttelte entschieden den Kopf.<br />
»Das bringt uns nichts.«<br />
»Es bringt uns den Frieden, Genosse«, meinte Bromkowski leise.<br />
535
Wenn wir weiterkämpfen - vergessen wir nicht, Genosse, was wir<br />
vor ein paar Stunden dachten, als die Raketenwarnung kam.«<br />
zum ersten Mal hatte der Alte ein Argument gebracht, dem alle<br />
st<strong>im</strong>mten. Nach Wochen und Monaten der Versprechungen,<br />
Pläne und Versicherungen, man habe alles unter Kontrolle, waren<br />
sie von diesem einen blinden Alarm zum Blick in den Abgrund<br />
gezwungen worden. Auch die großen Töne des Verteidigungsministers<br />
konnten sie jene zehn Minuten der Angst nicht vergessen<br />
lassen.<br />
Nach kurzem Überlegen sprach der Generalsekretär. »In wenigen<br />
Stunden treffen sich unsere Emissäre mit den Deutschen. Morgen<br />
wird uns der Außenminister über die Substanz des neuen Angebots<br />
informieren.«<br />
Und damit endete die Sitzung. Sergetow legte seine Notizen in<br />
den Aktenkoffer, verließ allein den Raum und ging hinunter zu<br />
feinern Dienstwagen. Als ihm ein junger Berater den Schlag aufhielt,<br />
erklang eine St<strong>im</strong>me.<br />
»Michail Eduardowitsch, darf ich mitfahren? Mein Wagen hat<br />
eine Panne.« Es war Boris Kosow, der Vorsitzende des KGB<br />
536
Moskau<br />
36<br />
Schlacht bei 31° West<br />
»Fahren wir ein Stückchen spazieren und unterhalten uns, Michail<br />
Eduardowitsch.« Sergetow fröstelte, ließ sich aber nichts anmerken.<br />
Brachte es der Chef des KGB überhaupt fertig, nicht finister<br />
auszusehen? Kosow, der wie Sergetow aus Leningrad stammte, war<br />
ein kleiner, rundlicher Mann, der erst die ominöse »Allgemeine<br />
Abteilung« des ZK geleitet und dann das KGB übernommen hatte.<br />
Wenn er wollte, konnte er herzlich lachen, sich aber auch geben wie<br />
Großväterchen Frost.<br />
»Aber gerne, Boris Georgijewitsch«, meinte Sergetow und wies<br />
auf seinen Fahrer. »Sie können frei sprechen. Witali ist ein guter<br />
Mann.«<br />
»Ich weiß«, versetzte Kosow. »Er arbeitet seit zehn Jahren für<br />
uns.« Sergetow brauchte sich nur das Genick seines Chauffeurs<br />
anzuschauen, um zu erkennen, dass Kosow die Wahrheit sprach.<br />
»Und worüber sollen wir reden?«<br />
Der Chef des KGB griff in seine Aktentasche und nahm ein Gerät<br />
von der Größe eines Taschenbuchs heraus. Als er einen Schalter<br />
umlegte, ertönte ein unangenehmes Summen.<br />
»Eine raffinierte Neuigkeit aus Holland«, erklärte er. »Sie gibt<br />
ein Geräusch von sich, das die meisten Mikrophone nutzlos<br />
macht.« Dann veränderte sich seine Art abrupt. »Michail Eduardowitsch,<br />
wissen Sie eigentlich, was der amerikanische Angriff auf<br />
unsere Flugplätze bedeutet?«<br />
»Gewiß eine unangenehme Entwicklung, aber -«<br />
»Es sieht ernster aus. Derzeit sind mehrere Geleitzüge der Nato<br />
auf See. Ein ganz besonders großer mit zwei Millionen Tonnen<br />
Kriegsmaterial und einer kompletten amerikanischen Division an<br />
Bord lief vor einigen Tagen von New York nach Europa aus. Durch<br />
die Zerstörung einer Anzahl unserer Bomber hat die Nato unsere<br />
Fähigkeit, mit den Geleitzügen fertigzuwerden, beträchtlich redu<br />
537
ziert. Außerdem hat sie direkten Angriffen auf sowjetischen Boden<br />
den Weg geebnet.«<br />
»Aber Island -«<br />
»Ist neutralisiert.« Kosow berichtete, was den sowjetischen Jägern<br />
von Keflavik zugestoßen war.<br />
»Sie sagen also, dass der Krieg schlecht steht. Warum macht uns<br />
Deutschland dann Friedensangebote?«<br />
»Eine vorzügliche Frage.«<br />
»Wenn Sie einen Verdacht haben, Genosse, sollten Sie ihn nicht<br />
zu mir tragen.«<br />
»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Im Januar, als ich meine<br />
Bypass-Operation hatte, übernahm der Erste Stellvertretende Vorsitzende<br />
die Tagesgeschäfte des KGB. Kennen Sie Josef Larionow?«<br />
»Nein, er nahm bei den Sitzungen des Politbüros nie Ihren Platz<br />
ein - <strong>im</strong> Verteidigungsrat etwa auch nicht?« Sergetow fuhr herum.<br />
»Dann hat man Sie also nicht konsultiert? Sie waren damals Rekonvaleszent.«<br />
»Eine Übertreibung. Zwei Wochen lang ging es mir sehr schlecht,<br />
eine Tatsache, die natürlich gehe<strong>im</strong>gehalten wurde. Voll arbeitsfähig<br />
war ich erst nach einem weiteren Monat. Da mich die Mitglieder<br />
des Verteidigungsrats nicht belasten wollten, ließen sie sich von<br />
dem jungen, ehrgeizigen Josef die Einschätzung des KGB vortragen.<br />
Wie Sie sich vielleicht denken können, gibt es be<strong>im</strong> Nachrichtendienst<br />
viele Meinungsrichtungen. Wir müssen versuchen, in die<br />
Köpfe von Männern zu schauen, die oftmals selbst nicht genau<br />
wissen, was sie von einer Sache zu halten haben. Manchmal frage<br />
ich mich, ob wir nicht besser Wahrsagerinnen hinzuziehen sollten.<br />
Aber ich schweife ab. Das KGB erstellt täglich eine strategische<br />
Lagebeurteilung, eine Einschätzung der politischen und militärisehen<br />
Stärke unserer Gegenspieler. Wegen der Natur unserer Arbeit<br />
und schweren Fehlern der Vergangenheit erarbeiten drei Teams<br />
drei Versionen: bester Fall, schl<strong>im</strong>mster Fall, mittlerer Fall. Dem<br />
Politbüro präsentieren wir meist den letzten, aus offenkundigen<br />
Gründen mit Daten aus den anderen beiden angereichert.«<br />
»Und als Ihr Stellvertreter gebeten wurde, dem Politbüro seine<br />
Auffassung vorzutragen - «<br />
»Genau. Dieser junge Streber, der auf meinen Posten scharf ist,<br />
war so gerissen, alle drei Szenarien mitzubringen. Und als er<br />
merkte, was sie wollten, gab er ihnen das, was sie wollten.«<br />
538
»Und warum korrigierten Sie nach Ihrer Rückkehr den Fehler<br />
nicht?«<br />
Kosow lächelte ironisch. »Mischa, Mischa, manchmal sind Sie<br />
rührend naiv. Umbringen hätte ich den Dreckskerl sollen, aber das<br />
ging nicht. Es steht nicht gut um Josefs Gesundheit, nur weiß er das<br />
noch nicht. Aber die Zeit wird kommen«, meinte Kosow, als redete<br />
er von seinem Urlaub. »Das KGB ist augenblicklich in mehrere<br />
Fraktionen aufgesplittert. Josef kontrolliert eine, ich eine andere.<br />
Meine ist größer, hat aber keine entscheidende Mehrheit. Er hat das<br />
Ohr des Generalsekretärs und des Verteidigungsministers. Ich bin<br />
alt und krank. Nur der Krieg hat meine Ablösung verhindert.«<br />
»Hat er denn das Politbüro angelogen?« Sergetow schrie fast.<br />
»Nein. Glauben Sie denn, Josef sei auf den Kopf gefallen? Er<br />
lieferte eine unter meinem Vorsitz von meinen Abteilungsleitern<br />
erstellte nachrichtendienstliche Analyse ab.«<br />
Warum erzählt er mir das alles? fragte sich Sergetow. Er hat<br />
Angst um seinen Posten und sucht die Unterstützung anderer Mitglieder<br />
des Politbüros. Aber ist das alles?<br />
»Sie wollen sagen, das Ganze sei ein Versehen.«<br />
»Genau«, erwiderte Kosow. »Pech und schlechtes Management<br />
in unserer Ölindustrie - selbstverständlich nicht Ihre Schuld. Hinzu<br />
kommen Ängste <strong>im</strong> Kern der Parteihierarchie, der Ehrgeiz eines<br />
meiner Untergebenen, die Wichtigtuerei des Verteidigungsministers<br />
und hanebüchene Dummheit <strong>im</strong> Westen - und so sind wir<br />
dort, wo wir heute stehen.«<br />
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?« fragte Sergetow<br />
argwöhnisch.<br />
»Nichts. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass die nächste Woche<br />
wahrscheinlich die Entscheidung des Krieges bringen wird. Ah!«<br />
rief er aus. »Mein Wagen ist repariert. Witali, fahren Sie hier rechts<br />
heran. Vielen Dank fürs Mitnehmen, Mischa. Angenehmen Tag<br />
noch.« Kosow steckte sein Störgerät ein und stieg aus.<br />
Michail Eduardowitsch Sergetow sah der KGB-L<strong>im</strong>ousine nach.<br />
An Machtkämpfe war er gewöhnt; bei seinem Aufstieg hatten<br />
Männer <strong>im</strong> Weg gestanden und mussten ausgeschaltet werden.<br />
Aussichtsreiche Karrieren waren zerstört worden, damit er in seinem<br />
Sil sitzen und auf die Macht hoffen konnte. Doch noch nie war<br />
dieses Spiel so gefährlich gewesen. Er kannte weder die Regeln noch<br />
Kosows Absichten. St<strong>im</strong>mte seine Geschichte überhaupt? Wollte er<br />
539
Nur seine eigenen Fehler vertuschen und die ganze Schuld Josef<br />
Larinow zuschieben? Sergetow konnte sich nicht entsinnen, dem<br />
ersten Stellvertretenden Vorsitzenden jemals begegnet zu sein.<br />
»Zurück zum Büro, Witali«, befahl Sergetow, zu tief in Gedanken<br />
versunken, um sich Sorgen über die Nebenbeschäftigung seines<br />
Chauffeurs zu machen.<br />
Northwood, England<br />
Toland musterte mit großem Interesse die Satellitenfotos. Der Späher<br />
KH-11 war vier Stunden nach dem Tomahawk-Angriff über<br />
Kirowsk geflogen und hatte jeden Backfire-Stützpunkt dre<strong>im</strong>al<br />
aufgenommen. Toland griff nach seinem Block, begann zu zählen und<br />
zwang sich, nur solche Flugzeuge als zerstört gelten zu lassen, an denen<br />
große Stücke fehlten.<br />
»Wir gingen von einer Gesamtstärke von fünfundachtzig Maschinen<br />
aus. Es hat den Anschein, als seien einundzwanzig total<br />
zerstört und rund dreißig beschädigt worden. Die Stützpunkte<br />
wurden arg mitgenommen. Nun möchte ich nur noch wissen, wie<br />
schwer das Personal betroffen ist. Wenn auch viele Besatzungen<br />
umkamen, haben wir die Backfire für mindestens eine Woche außer<br />
Gefecht gesetzt. Gut, sie haben noch die Badger, aber die sind dank<br />
ihrer geringeren Reichweite leichter abzuschießen. Admiral, wir<br />
stehen vor einer ganz neuen Lage.«<br />
Admiral Sir Charles Beattie lächelte. So hätte sich sein<br />
Nachrichtendienstmann auch ausgedrückt.<br />
Luftstützpunkt Langley, Virginia<br />
der Abfänger F-15 flitzte in hundert Fuß Höhe über die Landebahn.<br />
Als Major Nakamura den Tower passierte, zog sie ihren<br />
Fighter eine langsame Rolle und machte dann kehrt. Sie war ein As!<br />
Drei Badger-Bomber und zwei Satelliten! Das erste weibliche As in<br />
der Geschichte der US Air Force. Das erste Weltraum-As.<br />
Sie kam zum Stehen, sprang von der Leiter und rannte auf das<br />
Empfangskomitee zu. Der stellvertretende Kommandeur des Tactical<br />
Air Commander war zornrot.<br />
540
»Major, wenn Sie sich noch mal so etwas leisten, fliegen Sie<br />
raus!«<br />
»Jawohl, Sir. Tut mir leid, Sir.« Sie grinste. Diesen Tag konnte ihr<br />
nichts verderben. »Kommt nicht wieder vor, Sir. As wird man nur<br />
einmal, Sir.«<br />
»Wie ich höre, hat der Iwan noch einen RORSAT einsatzbereit<br />
und wird sich wahrscheinlich ein paar Gedanken machen, ehe er<br />
ihn startet«, meinte der General und beruhigte sich etwas.<br />
»Sind inzwischen weitere ASAT zusammengesetzt worden?«<br />
fragte Buns.<br />
»An zweien wird gearbeitet; die könnten bis Ende der Woche zur<br />
Verfügung stehen. Ihr nächstes Ziel wäre dann der Echtzeit-Fotosatellit.<br />
Bis dahin haben die RORSAT höchste Priorität.« Der General<br />
lächelte flüchtig. »Vergessen Sie nicht, den fünften Stern auf Ihre<br />
Maschine zu pinseln, Major.«<br />
Norfolk, Virginia<br />
Ausgelaufen wären sie auf jeden Fall, aber die Zerstörung des<br />
sowjetischen RORSAT machte die Fahrt sicherer. Erst kamen die<br />
Zerstörer und Fregatten, schwärmten fächerförmig aus, suchten<br />
unter einem Schutzschirm von Patrouillenflugzeugen nach U-Booten.<br />
Dann die Kreuzer und Flugzeugträger. Zuletzt die Landungsschiffe<br />
aus dem Little Creek: Tarawa, Guam, Nassau, Inchon und<br />
zwanzig andere. Ingesamt über sechzig Schiffe formierten sich zu<br />
drei Gruppen und fuhren mit zwanzig Knoten nach Nordosten. Die<br />
Passage sollte sechs Tage dauern.<br />
USNS Prevail<br />
Selbst mit drei Knoten lief sie nicht richtig. Das Schiff war gerade<br />
über sechzig Meter lang und scheute vor jeder Welle wie ein Pferd<br />
vorm Hindernis. Die Besatzung war gemischt: Zivilisten bedienten<br />
das Schiff, Leute von der Marine die elektronischen Geräte. Erstaunlich<br />
war nur, wie alle fanden, dass man noch lebte.<br />
Prevail war ein umgebauter Hochsee-Fischkutter, der anstelle<br />
eines Netzes eine Sonar-Batterie am Ende einer achtzehnhundert<br />
541
Meter langen Trosse schleppte. Die aufgefangenen Signale wurden<br />
von Bordcomputern vorverarbeitet und dann mit einem Tempo<br />
von 32000 Bits pro Sekunde über Satellit nach Norfolk<br />
übertragen.<br />
Das Schiff war mit leisen Elektromotoren und mit dem<br />
Prairie-Masker-System ausgerüstet, das seine schwachen<br />
Antriebsgeräusche el<strong>im</strong>inierte. Die Aufbauten bestanden aus<br />
Fiberglas, um die Radarsignatur zu schwächen. Prevail war <strong>im</strong><br />
wahrsten Sinn des Wortes eines der ersten Stealth-Schiffe und<br />
trotz der Tatsache, dass sie unbewaffnet war, wohl die<br />
gefährlichste Anti-U-Boot-Plattform. Zusammen mit drei<br />
Schwesterschiffen fuhr sie auf dem Nordatlantik zwischen<br />
Neufundland und Irland einige Kreise und horchte auf das<br />
verräterische Geräusch eines durchfahrenden U-Boots. Zwei<br />
der von Orion-Maschinen begleiteten Schiffe hatten<br />
bereits Versenkungen erzielt, aber das war nicht ihre Aufgabe:<br />
Sie sollten nur andere warnen.<br />
In Prevails Operationszentrale mittschiffs starrte ein Team von<br />
Ozeanographen auf eine Reihe von Bildschirmen, während andere<br />
die Kurse von Objekten verfolgten, die nahe genug waren, um eine<br />
mögliche Bedrohung darzustellen.<br />
Ein Maat fuhr mit dem Zeigefinger eine unscharfe Linie auf dem<br />
Display entlang. »Das muss der Geleitzug aus New York sein.«<br />
»Ja«, meinte der Techniker neben ihm. »Und hier haben wir die<br />
Kerle, die auf ihn warten.«<br />
Wenigstens wird's nicht einsam«, bemerkte O'Malley.<br />
USS Reuben James<br />
Ist Ihre Haltung <strong>im</strong>mer so positiv?« fragte Frank Ernst.<br />
»Unsere russischen Freunde müssen über vorzügliche Informationen<br />
verfügen. Immerhin hat Ihre Luftwaffe ihren Satelliten abgeschossen.«<br />
Commander Perrin, der mit dem Hubschrauber von<br />
Battleaxe gekommen war, stellte seine Kaffeetasse ab. Die fünf<br />
Offiziere konferierten in Morris Kammer.<br />
»Sie kennen also unsere Zusammensetzung«, sagte Morris, »und<br />
wollen diesen Verein etwas zurückschneiden.«<br />
Aus Norfolk hatten sie erfahren, dass mindestens sechs sowjetische<br />
U-Boote auf den Konvoi zuliefen. Vier wurden <strong>im</strong> Norden<br />
erwartet, dem Gebiet, für das sie verantwortlich waren.<br />
542
»Der Schwanz sollte uns jeden Augenblick Daten liefern«,<br />
meinte Morris. »Jerry, sind Sie für drei Tage Dauereinsatz in<br />
Form?«<br />
O'Malley lachte. »Macht's denn einen Unterschied, wenn ich<br />
Nein sage?«<br />
»Wir sollten dicht beisammenbleiben, finde ich«, sagte Perrin.<br />
»Höchstabstand fünf Meilen. Schwierig wird nur die Wahl des<br />
richtigen Zeitpunkts für unsere Sprints. Der Konvoi will doch nach<br />
Möglichkeit den Direktkurs nehmen, oder?«<br />
»Allerdings.« Morris nickte. »Kann man dem Commodore aber<br />
kaum vorwerfen. Dieser ganze Verein auf Zickzackkurs, das<br />
brächte fast so viel Konfusion wie ein Angriff.«<br />
»Günstig ist aber, dass wir eine Zeitlang Ruhe vor den Backfire<br />
haben«, erinnerte O'Malley. »Die Bedrohung ist wieder eind<strong>im</strong>ensional.«<br />
Die Schiffsbewegungen änderten sich, als die Leistung reduziert<br />
wurde. Die Fregatte beendete einen Achtundzwanzig-Knoten-<br />
Sprint und sollte sich nun mehrere Minuten lang treiben lassen, um<br />
ihrem Passivsonar eine Chance zum Funktionieren zu geben.<br />
USS Chicago<br />
»Sonarkontakt in drei-vier-sechs.«<br />
Noch siebenhundert Meilen bis zum Packeis, dachte McCafferty<br />
auf dem Weg nach vorne. Mit fünf Knoten.<br />
Sie befanden sich in tiefem Wasser. Es war ein kalkuliertes Risiko<br />
gewesen, trotz der lärmenden Providence mit fünfzehn Knoten von<br />
der Küste zu fliehen. Vier Stunden hatten sie bis zur Hundert-<br />
Faden-Kurve gebraucht, eine Zeit konstanter Anspannung und<br />
Sorge um die Reaktion der Russen auf den Tomahawk-Angriff.<br />
Zuerst hatten die Russen Bear geschickt und Sonobojen abwerfen<br />
lassen, doch diesen hatte man sich entziehen können. Die Sonarsysteme<br />
von Providence funktionierten zum größten Teil noch; das<br />
Boot konnte sich zwar nicht mehr verteidigen, aber die Gefahr<br />
wenigstens herannahen hören.<br />
Während der vierstündigen Fahrt hatte das verwundete Boot<br />
geklungen wie eine Wagenladung Röhren, und McCafferty wollte<br />
gar nicht erst daran denken, wie es sich mit dem schlapp hängenden<br />
543
Tiefenruder steuern ließ. Nun aber waren sie in siebenhundert<br />
Meter tiefem Wasser und hatten durch ihr Schleppsonar eine zusätzliche<br />
Warnung vor herannahender Gefahr. Boston und Chicago<br />
liefen drei Meilen links und rechts ihrer verwundeten Schwester.<br />
Siebenhundert Meilen mit fünf Knoten, dachte McCafferty,<br />
das dauert ja fast sechs Tage...<br />
»Na, was haben wir da, Chief?«<br />
»Tauchte langsam auf, Sir, also vermutlich auf direktem Weg.<br />
Wandert langsam ab. Meiner ersten Schätzung nach ein Dieselboot,<br />
das mit Batterien läuft, und zwar in der Nähe.« Der Sonar-<br />
Chief ließ sich keine Emotion anmerken.<br />
McCafferty beugte sich in die Gefechtszentrale. »Kurs null-zwofünf.«<br />
Der Rudergänger brachte das Boot behutsam auf einen Nordostkurs.<br />
Bei fünf Knoten war Chicago ein »Loch <strong>im</strong> Wasser«, das<br />
überhaupt kein Geräusch verursachte, doch der Kontakt war fast<br />
genauso leise. McCafferty sah zu, wie die Linie auf dem Schirm <strong>im</strong><br />
Lauf mehrerer Minuten ganz leicht die Form änderte.<br />
»Ah, Kontakt hat die Richtung geändert, ist jetzt in drei-viereins.«<br />
»Joe?« McCafferty sah seinen Ersten Offizier fragend an.<br />
»Ich schätze die Distanz auf plusminus achttausend Yard. Er ist<br />
auf Gegenkurs, Fahrt rund vier Knoten.«<br />
Viel zu nahe, dachte McCafferty. Hört uns aber vermutlich noch<br />
nicht.<br />
»Drauf.«<br />
Der Mark-48-Torpedo wurde auf Mindestgeschwindigkeit eingestellt,<br />
machte nach Verlassen des Rohres eine Wendung um<br />
vierzig Grad und hielt dann auf den Kontakt zu, schleppte die mit<br />
dem U-Boot verbundenen Lenkdrähte hinter sich her. Die Sonarleute<br />
steuerten den Fisch auf sein Ziel ein, während Chicago sich<br />
langsam vom Abschußpunkt entfernte. Plötzlich hob der Sonar-<br />
Chief ruckartig den Kopf.<br />
»Er hat's gehört und die Maschinen angeworfen! Laut Schraubengeräusch<br />
will er auf fünfzehn Knoten gehen - das ist ein Foxtrott.<br />
Achtung, er hat gerade die Rohre geflutet.«<br />
Der Torpedo beschleunigte und aktivierte sein Zielsuchsonar.<br />
Der Kommandant des Foxtrott hatte gemerkt, dass er geortet worden<br />
war, und reagierte au<strong>tom</strong>atisch, steigerte die Geschwindigkeit,<br />
544
efahl eine scharfe Wendung nach Steuerbord und schoß einen<br />
Torpedo auf den Angreifer ab. Endlich tauchte er tief in der Hoffnung,<br />
den näher kommenden Fisch abzuschütteln.<br />
Die scharfe Wendung hinterließ eine Turbulenzzone <strong>im</strong> Wasser,<br />
von der der Mark-48 kurz verwirrt wurde. Doch der Torpedo fuhr<br />
direkt durch sie hindurch und erfaßte, nachdem er wieder ruhiges<br />
Wasser erreicht hatte, sein Ziel. Die grüne Waffe tauchte hinter<br />
dem Foxtrott her und erwischte es in vierhundert Fuß.<br />
» Richtung des feindlichen Torpedos ändert sich rasch«, sagte der<br />
Sonar-Chief. »Er wird uns achtern passieren - Treffer, wir haben<br />
das Ziel getroffen.« Der Lärm hallte durch den Stahlrumpf wie<br />
ferner Donner. McCafferty stöpselte Kopfhörer ein und vernahm<br />
gerade noch die verzweifelten Versuche des Foxtrott, durch Anblasen<br />
an die Oberfläche zu gelangen, und das Reißen des Schotts. Die<br />
letzte Handlung des Kommandanten bekam er nicht mit: Der Russe<br />
gab die hinten am Turm befestigte Rettungsboje frei. Diese trieb an<br />
die Oberfläche und sendete dort kontinuierlich. Die Besatzung des<br />
Foxtrott lebte schon nicht mehr, doch die Rettungsboje verriet dem<br />
Hauptquartier, wo sie gestorben war - und mehrere U-Boote und<br />
Überwasserschiffe liefen sofort auf diesen Punkt zu.<br />
USS Reuben James<br />
O'Malley zog an der Steuersäule und ging auf fünfhundert Fuß. Aus<br />
dieser Höhe konnte er <strong>im</strong> Südwesten den Nordrand des Geleitzuges<br />
ausmachen. Es waren mehrere Hubschrauber in der Luft - jemand<br />
hatte eine gute Idee gehabt. Viele Handelsschiffe trugen Hubschrauber<br />
als Deckfracht, und mit diesen stiegen die Besatzungen<br />
auf und suchten die Umgebung des Konvois nach Sehrohren ab.<br />
Auf allen Schiffen hielten Soldaten Ausschau und hatten Befehl,<br />
alles, aber auch alles, was sie sahen, zu melden; eine Prozedur, die<br />
zwar zu vielen Fehlsichtungen führte, aber die Männer wenigstens<br />
beschäftigt hielt. Und es war ja auch möglich, dass jemand irgendwann<br />
ein echtes Periskop erspähte. Der Seahawk flog zwanzig<br />
Meilen und begann dann zu kreisen, um nach dem möglichen U-<br />
Boot zu suchen, das vom Passivsonar der Fregatte entdeckt worden<br />
»Okay, Willy. LOFAR abwerfen. «<br />
545
Der Maat drückte auf einen Knopf, worauf aus der Seite der<br />
Maschine eine Sonoboje ausgestoßen wurde. Der Hubschrauber<br />
flog weiter, warf <strong>im</strong> Abstand von zwei Meilen vier weitere Bojen ab<br />
und errichtete so eine zehn Meilen lange Barriere. Dann hielt<br />
O´M alley die Maschine in einem weiten Kreis und spähte die See<br />
ab,während der Maat das Sonar-Display überwachte.<br />
»Sir, ich hab ein schwaches Signal von Nummer Vier.«<br />
O'Malley zog die Maschine nach Nordwesten.<br />
»Vier hat inzwischen mittlere Signalstärke, Sir, und an Fünf rührt<br />
sich etwas.«<br />
»Romeo, hier Hammer. Ich glaube, wir haben hier etwas. Werfen<br />
zwischen Vier und Fünf ein weiteres LOFAR ab, Designation<br />
sechs.«<br />
»Hammer, hier Romeo!«, rief der Controller von der Fregatte.<br />
»Von uns aus gesehen scheint sich der Kontakt nördlich der Linie<br />
zu befinden.«<br />
»Roger, sieht hier auch so aus. In einer Minute sollten wir mehr<br />
wissen.«<br />
»Sir«, rief Willy, »mittelstarkes Signal von Sechs!«<br />
»Romeo, hier Hammer. Wir checken das jetzt mal mit dem<br />
Tauchsonar.«<br />
Auf Reuben James wurde die Position des Hubschraubers zusammen<br />
mit der Sonobojen-Linie eingetragen.<br />
O'Malley ging tiefer, bis der Helikopter fünfzehn Meter über<br />
dem Wasser schwebte. Willy machte das Tauchsonar frei und<br />
senkte es auf zweihundert Fuß ab.<br />
»Sonarkontakt, Sir. Wahrscheinlich U-Boot, Richtung drei-fünfsechs.«<br />
»Dom hoch!« befahl O'Malley.<br />
Der Seahawk stieg auf, raste eine Meile nach Norden und ließ das<br />
Sonar ein zweites Mal eintauchen.<br />
»Kontakt in eins-sieben-fünf! Doppelschraube, klingt nach zehn<br />
Knoten.«<br />
„Den haben wir in der Zange«, sagte der Pilot. »Rechnen wir das<br />
mal aus.« Ralston gab die Werte in den taktischen Computer ein.<br />
„Er scheint nach Backbord abzudrehen - ja«, bestätigte Willy<br />
Dreht ab nach Backbord.«<br />
Hat er uns gehört?« fragte Ralston.<br />
„Vielleicht hat er den Geleitzug geortet und kehrtgemacht, um<br />
546
ihn anzupeilen. Willy, Dom hoch«, befahl O'Malley. »Romeo, hier<br />
Hammer. Wir haben ein manövrierendes Ziel, wahrscheinlich<br />
U-Boot. Bitten um Freigabe der Waffen."<br />
»Roger, Hammer, Waffen frei.«<br />
Der Pilot flog tausend Yards nach Südosten und senkte erneut<br />
das Sonar ab.<br />
"Ich hab ihn wieder, Sir!« rief Willy aufgeregt. «Richtung dreifünf-fünf,<br />
wandert leicht nach links aus.«<br />
»Kommt direkt an uns vorbei«, meinte Ralston und schaute aufs<br />
TACNAV.<br />
»Romeo, hier Hammer. Kontakt ist eindeutig ein U-Boot, und<br />
wir greifen es an.« O'Malley ließ die Maschine schweben. »Angriffssequenz.«<br />
»Gesamtsystem scharf.« Ralston ließ die Finger über die Knöpfe<br />
gleiten. »Torpedowähler: Position eins.«<br />
»Anfangssuchtiefe 250; Kursmodus: Schlange.« Ralston nahm<br />
die entsprechenden Einstellungen vor.<br />
»Eingestellt.«<br />
»Okay, Willy, klar zur Yankee-Suche.« O'Malley befahl so den<br />
Einsatz des Aktivsonar.<br />
»Klar, Sir. Kontakt nun in zwo-null-null, wandert rasch von<br />
rechts nach links.«<br />
»Drauf!« O'Malley schaltete die Sonarsignale auf seinen Kopfhörer<br />
um.<br />
Willy drückte auf den Knopf, und der Sonar-Wandler stieß eine<br />
Serie von Schall<strong>im</strong>pulsen aus, die vom Rumpf des U-Boots zurückgeworfen<br />
wurden. Jäh erhöhte der Kontakt die Leistung seiner<br />
Maschinen.<br />
»Eindeutiger Kontakt in eins-acht-acht, Distanz achthundert<br />
Yard.«<br />
Ralston gab die letzten Werte in das Feuerleitsystem ein. »Eingestellt!«<br />
Der Pilot drückte auf einen Knopf rechts der Steuersäule. Der<br />
Torpedo Mark-46 löste sich von seiner Aufhängung und stürzte ins<br />
Meer. »Torpedo los.«<br />
»Willy, Yankee-Suche einstellen.« O'Malley knipste das Funkgerät<br />
an. »Romeo, wir haben gerade auf ein tauchendes Doppelschrauben-Boot<br />
abgeworfen; Distanz von uns rund achthundert<br />
Yard in eins-acht-acht. Torpedo <strong>im</strong> Wasser. Bitte warten.«<br />
547
Der Mark-46 lief wie eingestellt in Schlangenlinien nach Süden.<br />
Das U-Boot, vom Aktiv-Sonar des Helikopters alarmiert, fuhr mit<br />
äußerster Kraft und versuchte, dem Torpedo auszuweichen.<br />
»Hammer, hier Romeo. Hatchet ist unterwegs für den Fall, dass<br />
Ihr Torpedo sein Ziel verfehlt. Over.«<br />
»Roger«, bestätigte O'Malley.<br />
»Er hat ihn!« rief Willy erregt. Der Torpedo war nun bei der<br />
Annäherung ans Ziel auf au<strong>tom</strong>atische Sonarsuche gegangen. Zwar<br />
versuchte der Kommandant eine radikale Wendung nach rechts,<br />
doch der Hai war zu nahe, um sich noch abschütteln zu lassen.<br />
»Treffer!« schrie Willy und klang fast so laut wie der Lärm der<br />
Explosion. Direkt vor ihnen schien die Oberfläche einen Satz zu<br />
machen, aber es stieg kein Schaum auf - dazu war der Torpedo in zu<br />
großer Tiefe detoniert.<br />
»Tja«, meinte O'Malley, der zum ersten Mal einen scharfen<br />
Torpedo auf ein echtes U-Boot abgefeuert hatte. Die Geräusche des<br />
sterbenden Bootes klangen bedrückend. An der Oberfläche tauchten<br />
Ölblasen auf. »Romeo, das war eine Versenkung. Richten Sie dem<br />
Bootsmann aus, er soll den Pinsel holen. Wir suchen jetzt nach<br />
Wrackteilen und Überlebenden.« Am Vortag hatte eine andere<br />
Fregatte die ganze Crew eines abgeschossenen russischen Bear gerettet.<br />
Doch hier war niemand davongekommen. O'Malley flog noch<br />
zehn Minuten lang Kreise und wandte sich dann zurück zur Fregatte.<br />
Island<br />
»Beagle, sind Sie satt und ausgeruht?« fragte Doghouse.<br />
»Könnte man sagen.« Edwards hatte mit dieser Frage gerechnet,<br />
aber nun klang sie ihm unheilverkündend.<br />
»Erkunden Sie die Südküste des Hvammsfjördur und melden Sie<br />
etwaige Aktivitäten der Russen. Ganz besonders interessiert uns die<br />
kleine Hafenstadt Stykkisholmur rund vierzig Meilen westlich von<br />
Ihnen. Ihr Befehl ist unverändert: Feindkontakte vermeiden, beobachten,<br />
melden. Verstanden?«<br />
»Roger. Wieviel Zeit haben wir?«<br />
»Das weiß ich leider selbst nicht, Beagle. Sie müssen aber sofort<br />
aufbrechen.«<br />
»Okay, wir ziehen in zehn Minuten los. Out.« Edwards zerlegte<br />
548
die Antenne und verstaute das Funkgerät <strong>im</strong> Rucksack. »Leute, es<br />
ist Zeit, unser Versteck zu verlassen. Sergeant Nichols?«<br />
Ja, Sir?« Nichols und Smith kamen herüber.<br />
»Hat man Sie über unseren Auftrag informiert?«<br />
»Nein, Sir. Wir bekamen den Befehl, Ihren Trupp abzulösen und<br />
weitere Anweisungen abzuwarten.« Edwards hatte sich bereits den<br />
Inhalt von Nichols' Kartentasche angesehen. Die Blätter deckten<br />
die gesamte Westküste Islands ab und waren bis auf die Karte der<br />
Absprungzone druckfrisch. Der Zweck ihres Marsches entlang der<br />
Westküste lag wohl auf der Hand. Der Lieutenant nahm eine Karte<br />
heraus und zeichnete ihre Marschroute nach Westen ein.<br />
»Gut, wir teilen uns in drei Gruppen auf. Sergeant Smith, Sie<br />
gehen mit einem unserer neuen Freunde voran. Nichols, Sie bilden<br />
mit Rodgers die Nachhut. Sie haben beide ein Funkgerät, ich nehme<br />
das dritte und führe den Rest des Trupps. Alle drei Gruppen bleiben<br />
in Sichtweite. Die nächste befestigte Straße, die wir überqueren<br />
müssen, ist zehn Meilen entfernt. Wer etwas sieht, geht in Deckung<br />
und meldet sich über Funk bei mir. Jeglicher Feindkontak; ist zu<br />
vermeiden. Es soll bloß niemand den Helden spielen. Klar? In zehn<br />
Minuten brechen wir auf.« Edwards sammelte seine Ausrüstung<br />
ein.<br />
»Wohin geht's, Michael?« fragte Vigdis.<br />
»Nach Stykkisholmur«, erwiderte er. »Schaffen Sie das?«<br />
»Mit Ihnen zusammen schon.« Sie setzte sich neben ihn. »Und<br />
was machen wir in Stykkisholmur?«<br />
Mike lächelte. »Das hat man mir nicht gesagt.«<br />
»Warum sagt man Ihnen eigentlich nie etwas?«<br />
»Eine reine Sicherheitsvorkehrung. Je weniger wir wissen, desto<br />
besser für uns.«<br />
»Das finde ich blöd«, versetzte sie. Edwards hätte ihr gerne<br />
erklärt, warum sie recht und unrecht zugleich hatte, aber ihm<br />
fehlten die Worte.<br />
»Wenn wir dort sind, können wir vielleicht langsam anfangen,<br />
wieder an ein normales Leben zu denken.«<br />
Ihr Ausdruck veränderte sich. »Michael, was ist für Sie ein normales<br />
Leben?«<br />
Gute Frage, dachte Edwards, aber ich habe <strong>im</strong> Augenblick zuviel<br />
um die Ohren, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. »Wir<br />
werden sehen.«<br />
549
Stendal, DDR<br />
Aus der Schlacht um Hameln und der Schlacht um Hannover war<br />
inzwischen praktisch eine einzige Aktion geworden. Vor zwei Stunden<br />
hatten sich die Nato-Kräfte südlich der Stadt nach Westen<br />
zurückgezogen, ihre Linien verkürzt und ihre Stellungen konsolidiert.<br />
Sowjetische Einheiten drangen nur behutsam vor, wähnten<br />
eine neue Falle der Deutschen. Alexejew brütete mit dem OB West<br />
über Karten und versuchte, die Konsequenzen des Rückzugs der<br />
Nato zu analysieren.<br />
»Das versetzt sie in die Lage, eine oder sogar zwei Brigaden in<br />
Reserve zu halten«, meinte Alexejew. »Über die B 217 können sie<br />
rasch Truppen von einem Sektor zum anderen verlegen.«<br />
»Wie oft haben die Deutschen freiwillig Boden autgegeben?«<br />
fragte sein Vorgesetzter. »Ihre Front war zu lang, ihre Einheiten<br />
dez<strong>im</strong>iert.«<br />
»Das trifft für unsere ebenfalls zu. Die Verluste der nun eingesetzten<br />
Einheiten der Kategorie II sind um fast ein Drittel höher als<br />
die der I-Einheiten, die sie abgelöst haben. Unsere Geländegewinne<br />
kommen uns inzwischen teuer zu stehen.«<br />
»Wir haben bereits einen hohen Preis bezahlt! Wenn wir jetzt<br />
versagen, war alles umsonst. Pascha, wir müssen massiert angreifen.<br />
Dieser ganze Frontabschnitt steht kurz vorm Zusammenbruch.«<br />
»Genosse General, diesen Eindruck habe ich nicht. Der Widerstand<br />
ist beherzt, die Kampfmoral der Deutschen trotz ihrer Verluste<br />
hoch. Sie haben uns schwere Verluste zugefügt und wissen das<br />
auch.« Alexejew war erst vor drei Stunden von dem vorgeschobenen<br />
Befehlsstand Fölziehausen zurückgekehrt.<br />
»Frontbeobachtungen sind zwar sehr nützlich, Pascha, verstellen<br />
aber den Blick auf das Gesamtbild.«<br />
Alexejew runzelte die Stirn. Das »Gesamtbild« war häufig eine<br />
Illusion.<br />
»Ich möchte, dass Sie entlang dieser ganzen Front einen Angriff<br />
organisieren. Die Nato hat Versorgungsschwierigkeiten und massive<br />
Verluste erlitten. Ein energisch vorgetriebener Angriff wird<br />
ihre Linien auf einer Front von fünfzig Kilometern aufreißen.«<br />
»Für eine Attacke in diesem Maßstab fehlen uns die Einheiten der<br />
Kategorie I«, wandte Alexejew ein.<br />
550
»Die sollen in Reserve bleiben und dann den Durchbruch ausnutzen.<br />
Den Angriff starten wir mit unseren besten Reservedivisionen,<br />
und zwar von Hannover <strong>im</strong> Norden bis Bodenwerder <strong>im</strong><br />
Süden.»<br />
»Dazu haben wir weder die Truppenstärke noch den Treibstoff«,<br />
warnte Alexejew. »Wenn wir angreifen müssen, empfehle ich einen<br />
Zwei-Divisionen-Abschnitt südlich von Hameln. Die Einheiten<br />
sind an Ort und Stelle. Ihren Plan finde ich zu ehrgeizig.«<br />
»Jetzt ist nicht die Zeit für halbe Maßnahmen, Pascha!« brüllte<br />
der OB West, der bisher bei Alexejew noch nie die St<strong>im</strong>me erhoben<br />
hatte. Der jüngere Mann fragte sich, welcher Druck auf seinen<br />
Vorgesetzten, der sich nun beruhigte, ausgeübt wurde.<br />
»Ein Angriff entlang einer einzigen Achse läßt einen Gegenangriff<br />
entlang einer einzigen Achse zu «, fuhr er fort. »Auf diese Weise<br />
könnten wir dem Feind seine Aufgabe sehr erschweren. Er kann<br />
nicht überall stark sein. Wir finden eine Schwachstelle, brechen<br />
durch und lassen unsere verbliebenen Einheiten der Kategorie I zum<br />
Rhein rollen.«<br />
USS Reuben James<br />
»Abwerfen!« schrie O'Malley. Die achte Sonarboje wurde von dem<br />
Seahawk ausgestoßen. Der Pilot zog die Maschine herum und flog<br />
zurück nach Osten.<br />
O'Malley war nun schon seit drei langen, zermürbenden Stunden<br />
in der Luft und hatte so gut wie nichts vorzuweisen. Anhalten,<br />
Eintauchen, Horchen; Anhalten, Eintauchen, Horchen. Er wusste<br />
genau, dass dort unten ein U-Boot war, doch jedesmal, wenn er<br />
glaubte, ihm langsam auf die Schliche zu kommen, witschte das<br />
verdammte Ding weg! Was war das für ein neuer Trick?<br />
Hatchet hatte ein ähnliches Problem: Sein U-Boot hatte plötzlich<br />
kehrtgemacht und beinahe einen Treffer auf Battleaxe gelandet.<br />
Zum Glück war der Torpedo <strong>im</strong> turbulenten Kielwasser der Fregatte<br />
detoniert, aber das Ganze war viel zu knapp gewesen. Er ließ<br />
den Hubschrauber schweben.<br />
»Dom ab!« Sie blieben eine Minute lang <strong>im</strong> Schwebeflug. Nichts.<br />
Es ging wieder los. »Romeo, hier Hammer. Haben Sie etwas?<br />
Over.«<br />
551
»Hammer, er ist gerade vor einem Augenblick verklungen. Unsere<br />
letzte Peilung war drei-vier-eins.«<br />
»Raffiniert. Dieser Kerl wartet, bis Sie zu sprinten aufhören, und<br />
n<strong>im</strong>mt dann die Leistung zurück.«<br />
»Akzeptable Mutmaßung, Hammer«, sagte Morris.<br />
»Gut, ich habe <strong>im</strong> Westen eine Barriere, falls er in diese Richtung<br />
fahrt. Ich glaube aber, dass er auf Südkurs geht, und suche jetzt mit<br />
dem Tauchsonar nach ihm. Out.« O'Malley stellte auf die Bordsprechanlage<br />
um. »Willy, haben Sie was?«<br />
»Nein, Sir.«<br />
Eine Minute später stieg der Hubschrauber wieder auf. Im Lauf<br />
der nächsten zwanzig Minuten tauchten sie das Sonar sechsmal<br />
ohne Ergebnis ein.<br />
»Noch einmal, Willy. Dom absenken, diesmal auf achthundert<br />
Fuß.«<br />
»Bereit, Sir.«<br />
»Dom absenken.« O'Malley wand sich auf seinem Sitz. Die<br />
Außentemperatur war mäßig, aber die Sonne verwandelte die Kanzel<br />
in ein Treibhaus.<br />
»Suche auf achthundert Fuß«, meldete der Maat. »Sir, da ist<br />
etwas... möglicher Kontakt in eins-acht-fünf.«<br />
»Dom hoch! Romeo, hier Hammer. Haben einen möglichen<br />
Kontakt südlich von uns und sehen jetzt nach.«<br />
»Hammer, wir orten nichts in Ihrer Nähe. Bravo und Hatchet<br />
bearbeiten einen Kontakt und haben zwei Torpedos abgeschossen,<br />
ohne Treffer zu erzielen.«<br />
Hat ja auch keiner behauptet, das wäre ein Kinderspiel, dachte<br />
O'Malley, flog dreitausend Yard weiter und senkte wieder den<br />
Dom ab.<br />
»Kontakt, diesmal ein echter. Maschinenanlage Typ zwei in einsacht-drei.«<br />
O'Malley sah auf die Treibstoffanzeige. Genug für vierzig Minuten.<br />
Nun musste er rasch zuschlagen. Er ließ den Dom hochholen<br />
und flog nach Süden. Seine Schultern spannten sich unter den<br />
Gurten.<br />
»Da ist er wieder, Sir, nördlich von uns in null-eins-drei. Richtung<br />
ändert sich: nun null-eins-fünf.«<br />
»Einstellen!« Noch Treibstoff für dreißig Minuten. Nun arbeitete<br />
die Zeit gegen sie. Ralston machte den Torpedo scharf.<br />
552
»Willy: Yankee-Suche!« Das Aktiv-Sonar sandte fünf Impulse<br />
zur Entfernungsbest<strong>im</strong>mung aus.<br />
»Null-eins-neun, Distanz neunhundert.»<br />
Ralston stellte Suchtiefe und -modus ein. O'Malley warf durch<br />
Knopfdruck den Torpedo ab.<br />
Das U-Boot ging auf AK und drehte von dem Hubschrauber ab.<br />
Inzwischen sank der Torpedo auf achthundert Fuß und begann<br />
dann seine Suche. O'Malley lauschte <strong>im</strong> Kopfhörer dem Surren<br />
der Torpedoschrauben und dem tiefen Trommeln der mächtigen<br />
Doppelschrauben des Charlie. Das A<strong>tom</strong>-U-Boot manövrierte verzweifelt<br />
und versuchte, sich hinter den verfolgenden Torpedo zu<br />
setzen.<br />
»Richtung nun identisch«, meldete Willy. »Ich glaube, der Fisch<br />
hat ihn - jawoll, Treffer!«<br />
Doch das Charlie starb nicht. Sie hörten Preßluft zischen, dann<br />
wurde es wieder still. Eine wilde Kakophonie von Geräuschen<br />
folgte, als der Kontakt sich nach Norden absetzte. Für eine Verfolgung<br />
hatte O'Malley nicht genug Treibstoff. Er flog einen Bogen<br />
nach Westen und hielt auf die Reuben James zu.<br />
»Hammer, hier Romeo. Was ist passiert?«<br />
»Wir haben ihn getroffen, aber nicht versenkt. Achtung, Romeo,<br />
unser Treibstoff ist knapp. Kommen in fünf Minuten rein.«<br />
»Roger, wir sind bereit. Wir setzen einen anderen Hubschrauber<br />
auf das Charly an. Sie operieren dann zusammen mit Hatchet.«<br />
»Wieso haben wir ihn nicht versenkt?« fragte Ralston.<br />
»Fast alle russischen Boote haben Doppelrümpfe, die der mickrige<br />
Sprengkopf des Mark-46 oft nicht knacken kann. Aus diesem<br />
Grund greift man in der Regel von hinten an, aber das ging<br />
diesmal aus Zeitgründen nicht. Bei einem Hecktreffer werden<br />
die Wellenlager zerstört, und dann läuft der Maschinenraum<br />
voll. Das übersteht kein Boot. Hat man Ihnen bei der Ausbildung<br />
denn nicht eingeschärft, nach Möglichkeit Hecktreffer zu landen?«<br />
»Eigentlich nicht.«<br />
»Typisch«, grollte O'Malley.<br />
Nach vier Stunden tat der Anblick der Reuben James gut. Angenehmer<br />
noch wäre ein Gang zur Toilette gewesen, fand O'Malley.<br />
Er steuerte den Hubschrauber über die Backbordkante des Hecks<br />
553
der Fregatte und hielt mit dem Schiff Schritt. Hinter ihm öffnete<br />
Willy die Schiebetür und warf ein Anholtau nach unten. Die Deckbesatzung<br />
der Fregatte befestigte es an einem Treibstoffschlauch,<br />
den Willy dann hochzog und am Tankstutzen verschraubte. Während<br />
O'Malley sich bemühte, den Hubschrauber in der turbulenten<br />
Luft hinter dem Schiff ruhig zu halten, strömte Treibstoff für weitere<br />
vier Stunden Flugzeit in die Tanks. O'Malley steuerte, Ralston<br />
behielt die Treibstoffanzeigen <strong>im</strong> Auge.<br />
»Genug, Willy, voll.«<br />
Der Maat senkte den Schlauch ab und holte sein Tau ein. Er war<br />
froh, die Tür schließen und sich wieder in seinen Sessel schnallen zu<br />
können. Offiziere, dachte er, sind sich für so was zu fein.<br />
»Bravo, hier Hammer. Wo werden wir gebraucht?«<br />
»Hammer, hier Bravo. Gehen Sie auf eins-drei-null und treffen<br />
Sie sich acht Meilen vor Bravo mit Hatchet.«<br />
»Schon unterwegs.« O'Malley zog eine Schleife um die Reuben<br />
James und wandte sich dann nach Südosten.<br />
»Hammer, hier Romeo. Ein Sea Sprite von der S<strong>im</strong>s hat Ihrem<br />
Charlie gerade den Rest gegeben. Der Commodore hat uns für die<br />
Verfolgung belobigt. Over.«<br />
»Gern geschehen. Bravo, hier Hammer. Womit haben wir es zu<br />
tun?«<br />
»Erst hielten wir es für ein Doppelschraubenboot, sind inzwischen<br />
aber nicht mehr so sicher«, erwiderte Perrin auf der Battleaxe.<br />
»Wir haben nun drei Torpedos auf dieses Ziel abgeschossen,<br />
ohne es zu treffen. Er ließ einen Fisch auf uns los, der aber vorzeitig<br />
in unserem Kielwasser explodierte.«<br />
»Wie weit von Ihnen entfernt?«<br />
»Fünfzig Yard.«<br />
Autsch! dachte der Pilot.<br />
»Okay, ich habe Hatchet in Sicht. Bravo, das ist Ihre Schau. Wo<br />
brauchen Sie mich?«<br />
Morris hatte die Fregatte während der Jagd auf das nun versenkte<br />
Charlie weit zurückfallen lassen. Auf sein Kommando ging die<br />
Fregatte auf Höchstfahrt und holte den Vorsprung der Battleaxe<br />
mit fünfundzwanzig Knoten auf. Als Reaktion auf die Bedrohung<br />
durch zahlreiche U-Boote drehte der Konvoi leicht nach Süden ab.<br />
554
O'Malleys Seahawk schwebte sieben Meilen von der Battleaxe<br />
entfernt überm Wasser, während Hatchet zurückflog, um Treibstoff<br />
und Sonobojen an Bord zu nehmen. Dann begann die Suche<br />
mit dem Tauchsonar aufs neue.<br />
»Nichts«, meldete Willy.<br />
»Bravo, hier Hammer. Können Sie mir sagen, was dieses Ziel<br />
bisher getrieben hat?«<br />
»Zwe<strong>im</strong>al hätten wir den Burschen beinahe über der Schicht<br />
erwischt. Er läuft nach Süden.«<br />
»Klingt wie ein Raketen-U-Boot.«<br />
»Finden wir auch«, erwiderte Perrin. »Unser letzter Bezugspunkt<br />
befand sich tausend Yard von Ihrer augenblicklichen Position.<br />
Im Augenblick haben wir nichts.«<br />
O'Malley musterte die von der Battleaxe übertragenen Daten.<br />
»Bravo, Sie haben Erfahrung mit U-Booten. Was meinen Sie?«<br />
»Hammer, bemerkenswert ist seine extrem hohe Geschwindigkeit.«<br />
O'Malley besah sich sein Display genauer.<br />
»Sie haben recht, Bravo.« O'Malley sann nach. Vielleicht ein<br />
Papa? Doppelschraube, Cruise Missiles an Bord, flink wie ein<br />
Dieb.<br />
»Hammer, hier Bravo. Wenn wir von der Annahme ausgehen,<br />
dass er sehr schnell ist, sollten Sie nach Osten fliegen und warten,<br />
bis Romeo ihren Sprint beendet hat und eine Peilung geben kann.«<br />
»Einverstanden, Bravo. Geben Sie mir einen Vektor.« Auf den<br />
Befehl von der Battleaxe hin flog der Seahawk zwanzig Meilen<br />
nach Osten und begann sein Tauchsonar einzusetzen. Es dauerte<br />
fünfzehn Minuten, bis Hatchet mit Treibstoff, Sonobojen und<br />
zwei Stingray-Torpedos beladen war.<br />
»Was haben wir da auf dem Kieker, Sir?« fragte Ralston.<br />
»Wie war's mit einem Papa?«<br />
»Von dieser Klasse haben die Russen doch nur ein Boot«,<br />
wandte der Kopilot ein.<br />
»Das bedeutet noch lange nicht, dass sie es fürs Museum aufheben,<br />
Mister.«<br />
Reuben James beendete ihren Sprint und ging auf Südkurs, um ihr<br />
Schleppsonar auf den Kontakt zu richten.<br />
»Kontakt, möglicherweise U-Boot, in null-acht-eins, wandert<br />
langsam von Nord nach Süd.« Diese Daten gingen sofort an<br />
555
Battleaxe und den Commodore. Ein weiterer Hubschrauber nahm<br />
nun an der Jagd teil.<br />
»Dom ab!« Zum siebenunddreißigsten Mal an diesem Tag, wie<br />
O'Malley feststellte. »Mein Arsch ist eingeschlafen.«<br />
»Angenehme Ruhe«, versetzte Ralston freudlos. Wieder kein<br />
Signal.<br />
»Dom hoch!« O'Malley drückte auf die Sprechtaste. »Bravo,<br />
hier Hammer. Ich habe eine Idee.«<br />
»Hammer, wir hören.«<br />
»Lassen Sie Hatchet südlich von uns eine Kette von Bojen auslegen,<br />
und eine zweite <strong>im</strong> Westen. Dann fange ich an, mit Aktiv-Sonar<br />
zu suchen. Mag sein, dass der Kerl dann etwas tut. Der Bursche hat<br />
Nerven; er weiß genau, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind,<br />
rührte sich aber nicht und bildet sich ein, er könnte uns schlagen.«<br />
»Gut, Hammer, warten Sie, wir organisieren das.«<br />
»Der Kerl führt uns jetzt schon seit vier Stunden an der Nase<br />
herum, Boß«, merkte Willy an.<br />
»Wissen Sie, worauf es be<strong>im</strong> Glücksspiel ankommt? Man muss<br />
wissen, wann es Zeit zum Aufhören ist.« O'Malley flog in großer<br />
Höhe Kreise und schaltete zum ersten Mal an diesem Tag sein<br />
Suchradar ein. Dies eignete sich zwar nicht sonderlich zur Ortung<br />
eines Sehrohrs, konnte aber vielleicht ein in Oberflächennähe fahrendes<br />
U-Boot unter die Thermokline jagen. Vor der tiefstehenden<br />
Sonne zeichneten sich die beiden anderen Hubschrauber ab, die<br />
zwei Ketten passiver Sonobojen legten, je acht Meilen lang <strong>im</strong><br />
rechten Winkel zueinander.<br />
»Hammer, alles fertig!« rief Perrin von der Battleaxe. »Sie können<br />
anfangen.«<br />
Sechshundert Fuß unter dem Hubschrauber peitschten die Hochfrequenz<strong>im</strong>pulse<br />
des Sonarwandlers das Wasser. O'Malley ließ den<br />
Dom nach einer Minute einholen und flog nach Südosten. Nach<br />
einer halben Stunde begann sich die Beinmuskulatur des Piloten zu<br />
verkrampfen.<br />
»Übernehmen Sie mal für ein paar Minuten.« O'Malley nahm<br />
die Füße von den Pedalen und bewegte sich, um die Blutzirkulation<br />
wieder in Gang zu bringen.<br />
»Hammer, hier Bravo. Wir haben einen Kontakt. Boje Sechs,<br />
Kette Echo.« Echo war die von Osten nach Westen verlaufende<br />
Linie, Boje 6 war die dritte vom westlichen Ende, wo die von<br />
556
Norden nach Süden verlaufende Linie November begann. »Signal<br />
noch schwach.«<br />
O'Malley übernahm wieder das Steuer und flog nach Westen.<br />
Die beiden anderen Helikopter kreisten hinter ihren jeweiligen<br />
Bojenketten.<br />
»Sachte, sachte«, murmelte er über die Bordsprechanlage. »Machen<br />
wir ihn nicht zu verrückt.« Er wählte seinen Kurs sorgfältig,<br />
hielt nie direkt auf den Kontakt zu, flog aber auch nie weit von ihm<br />
weg. Eine weitere halbe Stunde zog sich zäh dahin. Endlich hatten<br />
sie den Kontakt so weit, dass er mit rund zehn Knoten tief unter der<br />
Schicht nach Osten fuhr.<br />
»Jetzt haben ihn drei Bojen erfaßt«, berichtete Perrin. »Hatchet<br />
geht in Position.«<br />
O'Malley sah in drei Meilen Entfernung die roten Blinklichter.<br />
Hatchet warf zwei DIFAR-Bojen mit Richtcharakteristik ab und<br />
wartete. Auf O'Malleys Schirm erschien das Display: Der Kontakt<br />
fuhr genau zwischen den beiden DIFAR hindurch.<br />
»Torpedo los!« rief Hatchet. Der schwarze Stingray fiel eine<br />
halbe Meile vor dem herankommenden U-Boot ungesehen ins Wasser.<br />
O'Malley flog näher heran und warf ebenfalls eine Boje ab, um<br />
<strong>im</strong> Schwebeflug mitzuhören.<br />
Der Stingray wurde wie der amerikanische Mark-48 nicht von<br />
konventionellen Schrauben angetrieben und war daher sowohl von<br />
O'Malley als auch von dem U-Boot mit Sonar nur schwer zu orten.<br />
Plötzlich vernahmen sie Kavitationsgeräusche von Schrauben, als<br />
das Boot auf volle Kraft ging und abdrehte. Dann erklang Rumpfknistern,<br />
als der Kontakt in dem Versuch, den Fisch abzuschütteln,<br />
abrupt die Tiefe änderte. Das nutzte nichts. Als nächstes kam das<br />
metallische Krachen des explodierenden Sprengkopfes.<br />
»Treffer!« rief Hatchet.<br />
»Dom ab!«<br />
Willy senkte den Sonarwandler ein letztes Mal ab. Das U-Boot<br />
war auf dem Weg zur Oberfläche. »Distanz vierhundert, Richtung<br />
eins-sechs-drei. Dopplereffekt: Ziel taucht auf.«<br />
»Angreifen! Kreiskurs, Anfangssuchtiefe einhundert.«<br />
»Eingestellt«, erwiderte Ralston.<br />
O'Malley warf den Torpedo sofort ab. »Dom hoch! Bravo, das<br />
Ziel wurde von dem Treffer nicht versenkt. Wir haben gerade einen<br />
zweiten Torpedo abgeworfen.«<br />
557
»Vielleicht raucht er nur auf, um die Mannschaft zu retten«,<br />
meinte Ralston.<br />
»Oder um seine Raketen abzufeuern. Pech, er hätte fliehen sollen,<br />
als noch Gelegenheit dazu war. Ich hätte das an seiner Stelle<br />
getan.«<br />
Der zweite Treffer gab dem U-Boot den Rest. O'Malley flog<br />
sofort zurück zur Reuben James und ließ Ralston den Hubschrauber<br />
landen. Sowie die Keile vor den Rädern lagen und die Maschine<br />
festgezurrt war, stieg er aus. Im Durchgang zwischen den Hubschrauberhangars<br />
wartete Morris auf ihn.<br />
»Großartig, Jerry.«<br />
»Danke, Sir.« O'Malley hatte seinen Helm in der Maschine<br />
gelassen. Das Haar klebte ihm am Schädel, in seinen Augen brannte<br />
der Schweiß.<br />
»Ich wollte einiges mit Ihnen durchgehen.«<br />
»Kann ich mich dabei duschen und umziehen, Sir?« O'Malley<br />
ging durch die Offiziersmesse in seine Kammer, zog sich aus und<br />
stellte sich unter die Dusche.<br />
»Wie viele Pfunde schwitzen Sie sich an solchen Tagen runter?«<br />
fragte Morris.<br />
»Eine Menge.« O'Malley drückte auf den Duschknopf, schloß<br />
die Augen und ließ sich vom kalten Wasser berieseln. »Ich predige<br />
schon seit zehn Jahren, dass der Mark-46 einen stärkeren Sprengkopf<br />
braucht. Hoffentlich hört man jetzt auf mich!«<br />
»Was war das zweite Ziel für ein Typ?«<br />
»Ich würde auf ein Papa setzen. Ihre Sonarleute haben erstklassige<br />
Arbeit geleistet.« O'Malley drückte ein zweites Mal auf den<br />
Duschknopf. Eine Minute später fühlte er sich wieder menschlich<br />
und sah auch so aus.<br />
In der Messe führten die beiden ihr Gespräch fort. »Sie haben ein<br />
Dieselboot und zwei Raketen-U-Boote erwischt. Wie haben sie<br />
operiert? Fiel Ihnen etwas Ungewöhnliches auf?« fragte Morris.<br />
»Sie verhielten sich sehr aggressiv. Das Papa hätte sich zurückziehen<br />
sollen. Der Kommandant der Charlie war schlau, ging aber<br />
ebenfalls zu hart ran.« O'Malley dachte be<strong>im</strong> Leeren seines ersten<br />
Glases Orangensaft darüber nach. »Sie haben recht. Die Russen<br />
machen gewaltig Druck.«<br />
»Genau, und mehr, als ich erwartet hatte. Sie gehen Risiken ein,<br />
die sie normalerweise meiden würden. Was sagt uns das?«<br />
558
»Dass uns zwei ereignisreiche Tage bevorstehen, nehme ich an.<br />
Tut mir leid, Sir, aber für tiefschürfende Gedanken bin ich <strong>im</strong><br />
Augenblick zu kaputt.«<br />
»Gut, legen Sie sich hin.«<br />
559
37<br />
Das Rennen der Krüppel<br />
Stendal, DDR<br />
Zwei Uhr früh. Trotz aller seiner Einwände sollte der Angriff in vier<br />
Stunden beginnen. Alexejew starrte auf die Karte mit den Symbolen,<br />
die die eigenen Einheiten und die vermuteten feindlichen Verbände<br />
darstellten.<br />
»Kopf hoch, Pascha!« sagte der OB West. »Ich weiß, dass wir<br />
ihrer Meinung nach zuviel Treibstoff verbrauchen. Aber der Angriff<br />
wird auch die restlichen Kriegsvorräte des Feindes aufbrauchen.«<br />
»Er kann ebensogut wie wir Nachschub heranführen.«<br />
»Unsinn. Wie wir von unserem Nachrichtendienst erfahren, haben<br />
seine Geleitzüge schwere Verluste erlitten. Im Augenblick ist<br />
ein riesiger Konvoi unterwegs, aber unsere Marine wirft ihm alles<br />
Verfügbare entgegen. Und es wird ohnehin zu spät eintreffen.«<br />
Der Chef hat recht, sagte sich Alexejew. Immerhin hat er sich<br />
seinen Rang ehrlich verdient. Trotzdem...<br />
»Wo werde ich gebraucht?«<br />
»Im Befehlsstand der OMG. Und keinen Schritt näher an der<br />
Front.«<br />
Bei der OMG, dachte Pawel ironisch. Erst hatte die 20. Garde-<br />
Panzerdivision eine Operative Mobile Gruppe sein sollen, dann<br />
eine aus zwei und schließlich eine aus drei Divisionen bestehende<br />
Formation. Jedesmal aber war das Durchbruchsmanöver vereitelt<br />
worden, bis selbst der Begriff »Operative Mobile Gruppe« wie ein<br />
absurder Witz klang. Sein Pess<strong>im</strong>ismus kehrte zurück. Die für die<br />
Ausnutzung des Angriffserfolges zurückgehaltenen Reserveformationen<br />
standen weit hinter der Front, um sich sofort zum vielversprechendsten<br />
Einbruch in die Nato-Linien in Bewegung setzen zu<br />
können. Die Nato hatte die bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen,<br />
für jähe Durchbrüche Kompensation zu schaffen. Wie so viele<br />
andere Gedanken verwarf Alexejew auch diesen, verließ den Be<br />
560
fehlsstand, holte Sergetow und ließ sich aufs neue mit dem Hubschrauber<br />
nach Westen bringen, wie üblich mit Jägerschutz.<br />
Eine Jägereskorte für einen einzigen Hubschrauber war den<br />
Luftüberwachungsoffizieren der Nato nicht zum ersten Mal aufgefallen,<br />
aber es hatten bisher nur die Mittel gefehlt, etwas zu<br />
unternehmen. Diesmal war das anders. Ein AWACS überm Rhein<br />
beobachtete den Start des von drei MiG bewachten Hubschraubers.<br />
Der Abschnittcontroller leitete zwei von einer Mission südlich<br />
von Berlin zurückkehrende F4 Phan<strong>tom</strong> nach Norden um.<br />
Die Jäger flogen in Baumwipfelhöhe mit abgeschaltetem Radar<br />
auf einer Flugschneise, die die Russen für die eigenen Bewegungen<br />
freihielten.<br />
Alexejew und Sergetow saßen allein hinten in dem Kampfhubschrauber<br />
Mi-Z4. Da der Raum Platz für acht Infanteristen mit<br />
Kampfausrüstung bot, konnten sich beide ausstrecken, und Sergetow<br />
nutzte die Gelegenheit zu einem Nickerchen. Über ihnen kreisten<br />
die MiG und hielten nach tieffliegenden Nato-Maschinen<br />
Ausschau.<br />
»Noch sechs Meilen«, kam der Spruch vom AWACS.<br />
Ein Phan<strong>tom</strong> ging in den Steigflug, illuminierte zwei MiG mit<br />
seinem Radar und schoß zwei Sparrow-Luftkampfraketen ab. Der<br />
zweite ließ zwei Sidewinder auf den Hubschrauber los.<br />
Die Piloten der MiG schauten in die falsche Richtung, als ihre<br />
Warngeräte reagierten. Einer ging in den Sturzflug und entkam.<br />
Die Maschine des anderen explodierte in der Luft. Sein Flügelmann<br />
funkte eine Warnung. Alexejew blinzelte verblüfft in den<br />
jähen Lichtblitz von oben und klammerte sich dann an den Gurt,<br />
als der Hubschrauber hart nach links abdrehte und wie ein Stein<br />
abstürzte. Er hatte schon fast die Bäume erreicht, als die Sidewinder<br />
den Heckrotor abriß. Sergetow erwachte und schrie vor Überraschung<br />
und Entsetzen auf. Der Mi-24 wirbelte herum und kollidierte<br />
mit den Bäumen. Der Hauptrotor wurde zerfetzt, seine<br />
Fragmente flogen in alle Richtungen, die linke Seitentür platzte<br />
weg. Alexejew sprang sofort hinaus und zerrte Sergetow mit sich.<br />
Wieder hatte ihm sein Instinkt das Leben gerettet. Die beiden<br />
Offiziere waren gerade zwanzig Meter entfernt, als die Treibstoff<br />
561
tanks explodierten. Die Phan<strong>tom</strong>, die nach Westen und in Sicherheit<br />
flog, hörten und sahen sie nicht.<br />
»Sind Sie verletzt, Wanja?« fragte der General.<br />
«Hab mir noch nicht mal die Hosen naßgemacht. Bin wohl<br />
wirklich ein kampfgehärteter Veteran.« Die St<strong>im</strong>me des jungen<br />
Mannes zitterte wie seine Hände. »Wo sind wir?«<br />
»Gute Frage.» Alexejew schaute sich um. Er hatte gehofft, Lichter<br />
zu sehen, aber das ganze Land war verdunkelt, und bittere<br />
Erfahrungen hatten die Sowjets gelehrt, ohne Licht zu fahren. »Erst<br />
müssen wir eine Straße finden. Marschieren wir nach Süden, bis wir<br />
auf eine stoßen.»<br />
»Und wo ist Süden?«<br />
»Gegenüber von Norden. Und das ist dort.« Der General wies<br />
auf einen Stern, drehte sich dann um und suchte einen anderen.<br />
»Dieser wird uns nach Süden führen.«<br />
Seweromorsk, UdSSR<br />
Admiral Juri Nowikow verfolgte den Verlauf der Schlacht von<br />
seinem unterirdischen Hauptquartier in der Nähe des Marinestützpunktes<br />
aus. Der Verlust seiner wichtigsten Langstreckenwaffe <br />
der Backfire-Bomber - schmerzte, aber ein noch heftigerer Schock<br />
war die Reaktion des Politbüros auf die Attacke mit Marschflugkörpern<br />
gewesen. Irgendwie waren die Politiker zu dem Schluß<br />
gelangt, nun sei auch ein Angriff mit ballistischen Raketen vom<br />
selben Gebiet aus möglich, und kein Gegenargument konnte sie<br />
zum Umdenken bewegen. Als ob die Amerikaner ihre kostbaren<br />
strategischen Boote in diesen engen Gewässern riskieren würden!<br />
grollte der Admiral. Er hatte es mit schnellen Jagd-U-Booten zu tun<br />
und war gezwungen worden, sie mit der Hälfte seiner verfügbaren<br />
Kräfte am Entkommen zu hindern. Und nun wurde es an allen<br />
Ecken und Enden knapp.<br />
Für den Oberbefehlshaber der sowjetischen Nordflotte war der<br />
Krieg bislang günstig verlaufen. Die Eroberung Islands hatte fast<br />
perfekt geklappt - das bisher kühnste sowjetische Unternehmen!<br />
Gleich am nächsten Tag hatte er einen Trägerverband zerschlagen,<br />
ein Sieg von beachtlichen D<strong>im</strong>ensionen. Sein Plan, eine Kombination<br />
von mit Raketen bewaffneten Bombern und U-Booten gegen<br />
562
die Geleitzüge einzusetzen, hatte Erfolg gehabt, besonders nach<br />
seiner Entscheidung, zuerst die Eskorten von Bombern ausschalten<br />
zu lassen. Die U-Boote hatten zwar schwere Verluste erlitten, aber<br />
damit war gerechnet worden.<br />
Nun aber änderte sich die Situation. Der jähe Verlust der Backfire,<br />
die erst in fünf Tagen wieder eingesetzt werden konnten,<br />
zwang ihn, seine eigentlich für die Trägerbekämpfung best<strong>im</strong>mten<br />
U-Boote gegen die Geleitzüge zu schicken, was das Kreuzen des U-<br />
Sperrgürtels der Nato und damit hohe Verluste bedeutete. Seine<br />
Bear-Aufklärungsverbände waren angeschlagen. Dieser verfluchte<br />
Krieg sollte doch eigentlich schon längst vorbei sein, dachte Nowikow<br />
wütend. Ein starker Überwasserverband stand bereit, um<br />
weitere Truppen nach Island zu eskortieren, doch diesen konnte er<br />
erst in Bewegung setzen, wenn eine Entscheidung des Feldzugs in<br />
Deutschland in Sicht war. Es überlebt eben kein Schlachtplan den<br />
ersten Kontakt mit dem Feind, sagte er sich.<br />
»Genosse Admiral, die Satellitenfotos sind da.« Sein Adjutant<br />
reichte ihm eine lederne Kuriertasche. Der höchste Nachrichtendienstoffizier<br />
der Flotte traf wenige Minuten später ein und brachte<br />
einen auf die Interpretation von Satellitenaufnahmen spezialisierten<br />
Mann mit. Die Bilder wurden auf einem Tisch ausgebreitet.<br />
»Ah, da haben wir ein Problem«, meinte der Experte.<br />
Für diese Erkenntnis brauchte Nowikow keinen Fachmann. Der<br />
Hafen Little Creek in Virginia war verlassen; der amerikanische<br />
amphibische Verband war mit einer kompletten Divison Marineinfanteristen<br />
ausgelaufen. Nowikow hatte die Verlegung von Einheiten<br />
der Pazifikflotte nach Norfolk mit großem Interesse verfolgt,<br />
doch dann waren seine beiden Seeaufklärungssatelliten abgeschossen<br />
worden, und mit der Starterlaubnis für den letzten verbleibenden<br />
hielt man sich noch zurück. Das nächste Bild zeigte die Liegeplätze<br />
der Flugzeugträger - ebenfalls verlassen.<br />
»Die N<strong>im</strong>itz liegt noch in Southampton«, erklärte der Mann vom<br />
Nachrichtendienst, »und ist vorerst nicht einsatzfähig. Den Amerikanern<br />
bleiben also drei Träger: Coral Sea, America und Independence.<br />
Saratoga ist zum Schutz der Geleitzüge abgestellt. Die restlichen<br />
Träger ihrer Atlantikflotte sind <strong>im</strong> Indischen Ozean.«<br />
Nowikow grunzte. Pech für die Einheiten <strong>im</strong> Indischen Ozean,<br />
aber um die kümmerte sich die sowjetische Pazifikflotte, sie gingen<br />
ihn nichts an. Er hatte auch so schon Probleme genug und zum<br />
563
ersten Mal mit einem Dilemma zu kämpfen, mit dem er bisher die<br />
Marineverbände der Nato konfrontiert hatte: mehr Aufgaben, als<br />
Schiffe zur Verfügung standen. Und die Tatsache, dass er die Hälfte<br />
seiner ASW-Kräfte hinter schon zurückweichenden U-Booten herschicken<br />
musste, war auch nicht gerade hilfreich.<br />
Northwood, England<br />
»Guten Tag, Admiral«, sagte Toland.<br />
Beattie sah viel besser aus. Die blauen Augen funkelten wie<br />
Kristalle, und der Admiral stand mit verschränkten Armen kerzengerade<br />
vor der riesigen Wandkarte.<br />
»Wie sieht es in Schottland aus, Commander?«<br />
»Gut, Sir. Die beiden letzten Angriffsverbände wurden aufgerieben.<br />
Darf ich fragen, welchen Erfolg Operation Doolittle hatte?<br />
Eines der Boote befehligt ein Freund von mir.«<br />
Beattie drehte sich um. »Welches?«<br />
»Chicago, Sir. Dan McCafferty.«<br />
»Oh. Es hat den Anschein, als sei ein Boot beschädigt worden.<br />
Chicago eskortiert es zusammen mit einem anderen hinaus. Die<br />
Gruppe hat übrigens in der östlichen Barentssee einen ziemlichen<br />
Aufruhr verursacht; die Sowjets schicken beträchtliche Kräfte hinter<br />
ihr her. Wie auch <strong>im</strong>mer, Sie kommen zurück zu Ihrer Trägerflotte<br />
und werden sich dann zuerst mit meinen Leuten vom Nachrichtendienst<br />
besprechen, damit Sie Ihre Kollegen auf den neuesten<br />
Stand bringen können. Ich wollte mich persönlich für Ihren Vorschlag<br />
bedanken, die Backfire bis zu ihrem Stützpunkt zu verfolgen.<br />
Eine nützliche Idee. Warum ließ Ihre Marine sie eigentlich gehen?«<br />
»Weil ich meinen Zerstörer auf eine Sandbank setzte.«<br />
»Nun, diesen Fehler haben Sie wieder wettgemacht, Commander.«<br />
Beattie streckte ihm die Hand hin.<br />
Wackersieben, DDR<br />
»Anhalten, verdammt noch mal!« brüllte Alexejew und stellte sich<br />
dem Laster in den Weg. Als das Fahrzeug stehenblieb, rannte er<br />
zum Führerhaus.<br />
564
»Und wer sind Sie?« fragte der Gefreite hinter dem Steuer.<br />
»Ich bin Generaloberst Alexejew«, kam die erstaunlich umgängliche<br />
Antwort. »Und wie heißen Sie, Genosse?«<br />
»Gefreiter Wlad<strong>im</strong>ir Iwanowitsch Marjachin«, brachte der<br />
Mann heraus und starrte auf die Schulterklappen des Generals.<br />
»Da ich anscheinend den höheren Rang habe, Gefreiter, werden<br />
Sie mich und meinen Adjutanten zum nächsten Verkehrsregelungspunkt<br />
bringen, so schnell dieser Laster fährt. Los!«<br />
Alexejew und Sergetow kletterten auf die Ladefläche. »Drei<br />
Stunden vergeudet!« Der General fluchte.<br />
»Hätte schl<strong>im</strong>mer sein können.«<br />
Brüssel<br />
»Ein Großangriff, Sir, offenbar auf einer achtzig Kilometer breiten<br />
Front.«<br />
Der SACEUR schaute leidenschaftslos auf die Karte. Überraschend<br />
kam diese Entwicklung nicht; sie war schon vor zwölf<br />
Stunden anhand sowjetischer Fahrzeugbewegungen vorhergesagt<br />
worden. Ihm standen für diesen Sektor genau vier Reservebrigaden<br />
zur Verfügung. Nun war er froh, die Deutschen zu der Frontbegradigung<br />
bei Hannover überredet zu haben - die Hälfte seiner Reserven<br />
waren von dort eingetroffen, und keinen Tag zu spät.<br />
»Hauptachse des Angriffs?« fragte der General seinen Operationsoffizier.<br />
»Im Augenblick noch nicht ersichtlich. Sieht aus wie ein Generalangriff<br />
-«<br />
»Starker Druck, nur um eine Schwachstelle ausfindig zu machen«,<br />
schloß der SACEUR. »Welche Reserven hat der Gegner?«<br />
»Sir, wir haben südlich von Fölziehausen Elemente von drei<br />
Divisionen identifiziert; offenbar Einheiten der Kategorie I. Der<br />
gegenwärtige Angriff wird vorwiegend von II-Formationen geführt.«<br />
»Haben wir ihnen denn so zugesetzt?« war die rhetorische Frage<br />
des SACEUR. Seine Nachrichtendienstoffiziere arbeiteten hart an<br />
der Einschätzung der feindlichen Verluste und legten ihm jeden<br />
Abend einen Bericht vor. Seltsamerweise waren vor fünf Tagen die<br />
ersten Einheiten der Kategorie II an der Front aufgetaucht. Der<br />
565
SACEUR wusste, dass die Sowjets in der südlichen Ukraine mindestens<br />
sechs Einheiten der Kategorie I in Reserve hatten, doch nichts<br />
wies darauf hin, dass diese sich in Bewegung setzten. Warum setzte<br />
man diese Verbände nicht an der deutschen Front ein und schickte<br />
statt dessen Reservisten nach vorn?<br />
»Wo ist eine günstige Stelle für einen Gegenangriff?«<br />
»Sir, bei Springe stehen zwei deutsche Panzerbrigaden. Ihnen<br />
gegenüber greifen zwei sowjetische Mot-Schützendivisionen der<br />
Reserve an. Die deutschen Einheiten haben eine zweitägige Kampfpause<br />
hinter sich. Als ausgeruht würde ich sie zwar nicht bezeichnen,<br />
aber -«<br />
»Ja, ja.« Der Saceur neigte dazu, seinen Offizieren das Wort<br />
abzuschneiden. »Setzen Sie sie in Bewegung.«<br />
USS Reuben James<br />
O'Malley umkreiste nach einer langen, vergeblichen Suchaktion<br />
die Fregatte. Im Lauf der vergangenen drei Stunden waren drei<br />
Frachter versenkt worden, zwei von Raketen, die den Sperrgürtel<br />
des Geleitzuges durchbrochen hatten, und einer von einem Torpedo.<br />
Beide U-Boote waren verfolgt worden; Gallerys Hubschrauber<br />
hatte eines mitten <strong>im</strong> Konvoi versenkt. Diese Schlacht haben<br />
wir gewonnen, dachte O'Malley. Der Geleitzug kam mit akzeptablen<br />
Verlusten durch. Noch sechsunddreißig Stunden bis zum Best<strong>im</strong>mungsort.<br />
Die Landung war Routinesache, und anschließend ging O'Malley<br />
in die Offiziersmesse, wo er von Calloway erwartet wurde.<br />
»Ist eine Hubschrauberlandung auf diesem Spielzeugschiff wirklich<br />
so gefährlich, wie sie aussieht?«<br />
»Na ja, auf einem Träger ist schon mehr Platz. Sie schreiben doch<br />
nicht etwa über mich?«<br />
»Warum nicht? Immerhin haben Sie gestern drei U-Boote versenkt.«<br />
O'Malley schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Beteiligt waren zwei<br />
Schiffe und zwei Hubschrauber; dazu hatten wir Unterstützung<br />
vom Rest der Eskorte. Ich fliege einfach, wohin man mich schickt.<br />
Die U-Jagd ist komplex. Alle Elemente müssen zusammenarbeiten,<br />
sonst gewinnt der Feind.«<br />
566
»Wie vergangene Nacht?«<br />
»Manchmal macht auch der Feind etwas richtig. Vier Stunden<br />
lang habe ich erfolglos gesucht. Vielleicht war es ein U-Boot; vielleicht<br />
auch nicht. Aber gestern hatten wir rundum Glück.«<br />
»So eine Versenkung - belastet Sie das?«<br />
»Ich diene jetzt seit siebzehn Jahren in der Navy und bin noch<br />
keinem begegnet, der Spaß am Töten hat. Wir versenken Schiffe<br />
und tun so, als wären es nur Schiffe - Gegenstände ohne Menschen<br />
drin. Ist zwar Augenwischerei, aber so geht's eben. Verflucht, ich tu<br />
zum ersten Mal das, wofür ich ausgebildet worden bin: U-Boote<br />
versenken. Und was das eigentlich bedeutet, darüber habe ich noch<br />
gar nicht richtig nachgedacht.« Er machte eine Pause. »Das Geräusch<br />
ist grauenhaft. Luft zischt. Wenn in großer Tiefe der Rumpf<br />
ein Leck bekommt, führt die plötzliche Druckänderung angeblich<br />
zur Selbstentzündung der Luft, und alle <strong>im</strong> Boot verbrennen. Wie<br />
auch <strong>im</strong>mer, erst hört man das Zischen, dann ein Kreischen, klingt<br />
wie Reifenquietschen. Das sind brechende Schotts. Dann ein dumpfes,<br />
hallendes Donnern: Der Rumpf wird zerquetscht. Und das<br />
war's: hundert Tote. Also, gefallen tut mir das nicht.«<br />
»Aber aufregend ist es schon«, fuhr O'Malley fort. »Es ist eine<br />
extrem schwierige Aufgabe, die Konzentration, Übung und viel<br />
abstraktes Denken erfordert. Einerseits muss man sich in den Gegner<br />
hineinversetzen, andererseits aber <strong>im</strong> Auftrag nur die Vernichtung<br />
eines leblosen Gegenstandes sehen. Klingt widersprüchlich,<br />
nicht wahr?«<br />
»Meinen Sie, dass wir den Krieg gewinnen?«<br />
»Das hängt von den Burschen an Land ab. Wir unterstützen sie ja<br />
nur. Und dieser Konvoi kommt durch, das steht fest.«<br />
Fölziehausen, BRD<br />
»Ich hatte gehört, Sie seien tot«, meinte Beregowoy.<br />
»Diesmal habe ich noch nicht einmal einen Kratzer abbekommen.<br />
Nur Wanja wurde unsanft geweckt. Wie läuft die Offensive?«<br />
»Die ersten Anzeichen sind postiv. Hier haben wir fast sechs<br />
Kilometer gewonnen, und dort, bei Springe, fast genausoviel. Möglich,<br />
dass wir Hannover bis morgen eingeschlossen haben.«<br />
Alexejew fragte sich, ob sein Vorgesetzter nicht doch recht ge<br />
567
habt hatte. Waren die Linien der Nato nun so schwach, dass sie<br />
Gelände aufgeben musste?<br />
»Genosse General«, sagte ein Nachrichtendienstoffizier. »Mir<br />
sind aus Eldagsen deutsche Panzer gemeldet worden. Die Funkverbindung<br />
brach plötzlich ab.«<br />
»Wo, zum Kuckuck, liegt Eldagsen?« Beregowoy spähte auf die<br />
Karte. »Das ist ja zehn Kilometer hinter der Front! Lassen Sie diese<br />
Meldung bestätigen!«<br />
Unter ihnen bebte der Boden. Dann das Getöse von Triebwerken<br />
und startenden Raketen.<br />
»Unsere Sender sind gerade getroffen worden«, meldete der<br />
Fernmeldeoffizier.<br />
»Auf Ausweichsender gehen!« brüllte Alexejew.<br />
»Das war schon der Ausweichsender. Die Hauptanlage wurde<br />
letzte Nacht zerstört«, erwiderte Beregowoy. »Im Augenblick wird<br />
eine Ersatzanlage aufgebaut. Vorerst begnügen wir uns mit dem,<br />
was uns hier zur Verfügung steht.«<br />
»Kommt nicht in Frage«, meinte Alexejew. »Tun wir das be<strong>im</strong><br />
Vormarsch.«<br />
»Unterwegs kann ich nicht gut koordinieren!«<br />
»Als Leiche koordinieren Sie überhaupt nicht mehr.«<br />
USS Chicago<br />
Nun brach die Hölle los. Über ihnen kreisten mindestens drei Bear-<br />
F Patrouillenflugzeuge und warfen Sonobojen ab, was das Zeug<br />
hielt; das Sonar zeigte zwei Fregatten der Kriwak-Klasse und sechs<br />
Grischa-Patrouillenboote an, und obendrein hatte ein U-Boot vom<br />
Typ Victor III beschlossen, an den Festivitäten teilzunehmen.<br />
Chicago hatte die Gegner etwas angeknabbert und so seine<br />
Chancen verbessert. Mit Geschick waren <strong>im</strong> Lauf der letzten Stunden<br />
das Victor und eine Grischa versenkt und eine Kriwak beschädigt<br />
worden, aber die Lage verschlechterte sich. Die Russen griffen<br />
in Massen an, lange konnte er sie nicht mehr auf Distanz halten.<br />
Während der Zeit, die er zur Ortung und Versenkung des Victor<br />
gebraucht hatte, war die Überwassergruppe bis auf fünf Meilen an<br />
ihn herangekommen.<br />
Am liebsten hätte sich McCafferty mit Todd S<strong>im</strong>ms auf der<br />
568
Boston in Verbindung gesetzt, um ihre Aktivitäten zu koordinieren,<br />
aber das ging nicht, denn das Unterwassertelefon reichte nicht weit<br />
genug und machte zu viel Lärm. Und wenn sie sich über Funk<br />
verständigen wollten, musste Boston mit ausgefahrener Antenne in<br />
Oberflächennähe sein. Er war sicher, dass Todd so tief wie möglich<br />
getaucht war. Die amerikanische U-Boot-Doktrin sah vor, dass<br />
jedes Boot für sich allein operierte; bei den Sowjets wurde eine<br />
kooperative Taktik angewandt. Nun war McCafferty um einige<br />
gute Ideen verlegen. Die »Lehrbuchlösung« des anstehenden taktischen<br />
Problems wäre Manövrieren gewesen, Suchen nach Öffnungen,<br />
aber Chicago war an eine feste Position gebunden und durfte<br />
sich nicht zu weit von ihren Schwestern entfernen. Sobald die<br />
Russen erkannten, dass dort draußen ein Krüppel lag, würden sie<br />
wie eine Hundemeute über Providence herfallen und ihm den Rest<br />
geben. Für ein 688 gab der Russe gern ein paar kleine Schiffe hin.<br />
»Irgendwelche Ideen, IO?« fragte McCafferty.<br />
»Von unseren Freunden halten wir die Russen fern, indem wir sie<br />
auf uns aufmerksam machen.«<br />
»Also nach Osten laufen und den Verband von der Seite angreifen?«<br />
»Riskant«, gestand der Erste zu. »Aber riskant ist <strong>im</strong> Augenblick<br />
alles.«<br />
»Sie halten auf Kurs. Zwei Drittel voraus, und bleiben Sie dicht<br />
überm Grund.«<br />
Chicago ging auf Südwestkurs und achtzehn Knoten Fahrt.<br />
Prächtige Gelegenheit, herauszufinden, wie akurat unsere Seekarten<br />
sind, dachte McCafferty. Hatte der Iwan hier Minenfelder<br />
gelegt? Der Erste Offizier hielt das Boot fünfzehn Meter über jener<br />
Tiefe, in der sich laut Karte der Grund befand - mehr noch, er ließ<br />
Vorsicht walten und blieb fünfzehn Meter über der höchsten Erhebung<br />
<strong>im</strong> Umkreis einer Meile. McCafferty entsann sich seiner ersten<br />
Fahrt in der Barentssee. Irgendwo in der Nähe lagen die<br />
Wracks der Zerstörer, die als Ziele versenkt worden waren. Wenn<br />
er eines mit achtzehn Knoten rammte.,. Die Fahrt dauerte vierzig<br />
Minuten.<br />
»Ein Drittel voraus!« befahl McCafferty, als er die Spannung<br />
nicht länger ertragen konnte. Chicago verlangsamte auf fünf Knoten.<br />
Zum Tauchoffizier: »Auf Sehrohrtiefe gehen.«<br />
Maate bedienten die Tiefenruder. Leises Rumpfknistern, als der<br />
569
Wasserdruck nachließ. Auf McCaffertys Befehl wurde zuerst der<br />
ESM-Mast ausgefahren. Dann kam das Suchsehrohr.<br />
Eine Störungsfront zog heran, <strong>im</strong> Westen ging Regen nieder.<br />
Großartig, dachte McCafferty. Zehn Prozent weniger Sonarleistung.<br />
»Mast in zwo-sechs-vier - was ist das?"<br />
»Kein Radarsignal aus dieser Richtung«, sagte ein Techniker.<br />
»Mast gebrochen - das ist die Kriwak. Geben wir ihr den Rest.<br />
Ich-«- Ein Schatten wischte über die Linse. McCafferty richtete das<br />
Instrument nach oben und sah die gepfeilten Flügel und Propeller<br />
eines Bear.<br />
»Hier Sonar- achteraus zahlreiche Sonobojen!«<br />
McCafferty klappte die Griffe hoch und ließ das Periskop einfahren.<br />
»Tauchen! Tiefe vierhundert Fuß, Ruder hart Backbord, äußerste<br />
Kraft voraus.«<br />
Keine zweihundert Yard vom Boot entfernt landete eine Sonoboje<br />
<strong>im</strong> Wasser. Der messingscharfe Klang ihres Peilsignals hallte<br />
durch den Rumpf.<br />
Wie lange, bis die Bear kehrtmacht und einen Torpedo abwirft?<br />
Auf McCaffertys Befehl wurde ein Störer ausgestoßen. Da er versagte,<br />
ließ man einen zweiten los. Eine Minute verging. Der Bear<br />
nahm wohl erst eine Magnetpeilung vor.<br />
»Band zurückspulen.« Der Elektriker vom Dienst war froh, etwas<br />
zu tun zu haben. Die fünf Sekunden lange Aufzeichnung zeigte<br />
etwas, das wie die Überreste des Decks einer Kriwak aussah.<br />
»Nun dreihundert Fuß. Fahrt zwanzig, n<strong>im</strong>mt zu.«<br />
»Dicht überm Grund, Joe«, sagte McCafferty.<br />
»Torpedo <strong>im</strong> Wasser, Backbord achteraus! Torpedo in null-einsfünf.«<br />
»Ruder fünfzehn Grad Steuerbord! AK voraus! Neuer Kurs einssieben-fünf.«<br />
McCafferty kehrte dem Torpedo das Heck zu und<br />
vergegenwärtigte sich au<strong>tom</strong>atisch die taktische Lage: russischer<br />
ASW-Torpedo, Durchmesser vierzig Zent<strong>im</strong>eter, Geschwindigkeit<br />
rund sechsunddreißig Knoten, Reichweite vier Meilen, läuft ungefähr<br />
neun Minuten lang. Wir machen fünfundzwanzig Knoten, der<br />
Fisch liegt eine Meile hinter uns... sieben Minuten, bis er uns<br />
eingeholt hat. Kriegt er uns? Wir beschleunigen pro Minute um<br />
zehn Knoten... nein, er kriegt uns nicht.<br />
»Hochfrequenz<strong>im</strong>pulse achteraus! Klingt wie Torpedo-Sonar.«<br />
570
»Ruhe, Leute, der erwischt uns nicht.« Andererseits werden wir<br />
von russischen Schiffen in der Nachbarschaft gehört, sagte sich<br />
McCafferty.<br />
»Vierhundert Fuß, pendeln nun aus.«<br />
»Torpedo kommt näher, Sir«, meldete der Sonar-Chief. "Die<br />
Impulse klingen aber komisch, wie...« Eine mächtige Explosion<br />
erschütterte das Boot.<br />
»Zwei Drittel voraus, neuer Kurs zwei-sechs-fünf. Das eben war<br />
der russische Torpedo, der den Grund traf. Sonar, Daten bitte.«<br />
Die Russen hatten nördlich von Chicago eine neue Kette von<br />
Sonarbojen ausgelegt, aber wohl in zu großer Distanz. Die Peilungen<br />
der nächsten sowjetischen Schiffe pendelten sich ein: Alles hielt<br />
auf Chicago zu.<br />
»So, jetzt haben unsere Freunde eine Weile Ruhe.«<br />
»Großartig.«<br />
»Fahren wir weiter nach Süden und sehen zu, ob sie uns passieren.<br />
Dann zeigen wir ihnen, mit wem sie es zu tun haben.«<br />
Island<br />
Wenn ich hier heil rauskomme, dachte Edwards, zieh ich nach<br />
Nebraska. Dieser Staat, den er schon oft überflogen hatte, war<br />
nämlich so angenehm platt. Ganz anders als Island. Inzwischen war<br />
wenigstens das Vorankommen leichter. Edwards hielt sich mit<br />
seiner Gruppe auf einer Höhe von hundertfünfzig Metern, mindestens<br />
zwei Meilen von der geschotterten Küstenstraße entfernt, mit<br />
Bergen <strong>im</strong> Rücken und einem schönen weiten Blick. Außer Routineaktivität<br />
hatten sie bislang nichts beobachtet.<br />
»Wohltuende Ruhe, Sergeant?« Edwards und seine Gruppe holten<br />
Smith ein. Eine halbe Meile vor ihnen lag eine Straße, die erste,<br />
die sie seit zwei Tagen zu Gesicht bekamen.<br />
»Sehen Sie diesen Gipfel da? Auf dem ist vor zwanzig Minuten<br />
ein Hubschrauber gelandet«, sagte Smith.<br />
Edwards entfaltete seine Karte und setzte sich. »Höhe 1063,<br />
1067 Meter hoch.«<br />
»Guter Platz für einen Beobachtungsstand. Glauben Sie, dass<br />
man uns von dort sehen kann?«<br />
»Hm, sind zehn oder elf Meilen. Kommt drauf an, Skipper.<br />
571
Vermutlich überwachen sie von dort das Wasser links und rechts.<br />
Und wenn sie Grips haben, behalten sie auch die Felsen <strong>im</strong> Auge.«<br />
»In welcher Stärke sitzen die da oben?«<br />
»Schwer zu sagen. Niemand, ein Zug, eine Kompanie? Wenn<br />
dort jemand ist, wird er ein gutes Fernglas und ein Funkgerät<br />
haben.«<br />
»Und wie kommen wir an dem Posten vorbei?« fragte Edwards.<br />
Das Gelände war offen, nur mit wenigen Büschen bestanden.<br />
»Gute Frage, Skipper. Sorgfältig die Route auswählen, in Dekkung<br />
bleiben, Senken ausnutzen. Auf der Karte ist allerdings eine<br />
kleine Bucht, die so weit ins Landesinnere reicht, dass sie dem<br />
Posten auf vier Meilen nahekommt. Die können wir nicht umgehen,<br />
ohne auf die Landstraße zu stoßen - und das geht nicht.«<br />
»Was gibt's?« Sergeant Nichols traf ein. Smith gab einen Lagebericht,<br />
Edwards ging ans Funkgerät.<br />
»Sie wissen also nur, dass Russen auf dem Berg sind. Stärke und<br />
Bewaffnung sind Ihnen unbekannt?« fragte Doghouse.<br />
»Korrekt.«<br />
»Mist. Wir wollten sie auf dieser Höhe postieren.«<br />
»Ausgeschlossen. Selbstmord können wir auch auf elegantere<br />
Art begehen. Ich überlege mir das einmal und melde mich dann<br />
wieder. Gut so?«<br />
»Gut. Wir warten. Out.«<br />
Edwards sah sich mit seinen Sergeants die Karten an.<br />
»Kommt eigentlich nur darauf an, wie viele Männer sie da oben<br />
haben und wie clever sie sind«, fand Nichols. »Wenn sie in Kompaniestärke<br />
dort sitzen, müssen wir mit Streifen rechnen.«<br />
»Wie viele Männer würden Sie dort stationieren?« fragte Edwards.<br />
»Der Iwan hat eine ganze Fallschirmjägerdivision plus andere<br />
Einheiten hier auf Island - sagen wir insgesamt über zehntausend<br />
Mann. Da er nicht die ganze Insel besetzen und kontrollieren<br />
kann, setzt er eine Kompanie Schützen auf den Berg oder nur ein<br />
Beobachterteam. Die halten nach Ihrer Landungsflotte Ausschau,<br />
und von dort kann man mit einem ordentlichen Fernglas die ganze<br />
Bucht <strong>im</strong> Norden und auf der anderen Seite das Gelände bis Keflavik<br />
übersehen. Man wird auch die Augen nach Flugzeugen offenhalten.«<br />
»Wollen Sie uns etwa Mut machen?« erkundigte sich Smith.<br />
572
» Meiner Ansicht nach ist es relativ sicher, wenn wir uns dem Berg<br />
nähern, bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und uns dann<br />
unter ihnen vorbeischleichen. Dann haben sie nämlich die Sonne in<br />
den Augen.«<br />
»Machen Sie so etwas zum ersten Mal?« fragte Edwards.<br />
Nichols schüttelte den Kopf. »Nein, wir wurden drei Wochen<br />
vor der Invasion auf den Falklands abgesetzt, um einiges auszukundschaften.<br />
Genau wie jetzt.«<br />
»Von einer Invasion sagte Doghouse aber nichts.«<br />
»Lieutenant, Ihre Marines sollen hier landen. Das hat mir zwar<br />
niemand gesagt, aber ich bin doch wohl kaum hier, um nach<br />
Fußballplätzen zu suchen, oder?«<br />
Nichols war Mitte dreißig und hatte eine fast zwanzigjährige<br />
Dienstzeit hinter sich. Er war das bei weitem älteste Mitglied der<br />
Gruppe, und es war ihm nicht leichtgefallen, den Befehlen eines<br />
blutigen Amateurs zu folgen. Eines aber gefiel ihm an dem jungen<br />
Meteorologen - er konnte zuhören.<br />
»Gut, wir sollen also von diesem Hügel aus observieren. Wie<br />
wäre es mit der kleineren Anhöhe <strong>im</strong> Westen?«<br />
»Der Umweg wäre zu weit, wenn wir sie ungesehen erreichen<br />
wollen, aber es wäre möglich, dort einen Posten einzurichten. Nur<br />
dürfen die Russen nicht zu wachsam sein.«<br />
»Gut, wenn wir die Straße überquert haben, sammeln wir uns<br />
und marschieren in einer Gruppe. Sie gehen voran, Sergeant Nichols.<br />
Ich würde aber vorschlagen, dass wir uns erst einmal ausruhen.<br />
Die nächste Etappe kommt mir lang vor.«<br />
»Acht Meilen bis zum Fuß des Hügels. Bei Sonnenuntergang<br />
sollten wir dort sein.«<br />
Edwards schaute auf die Uhr. »Gut, brechen wir in einer Stunde<br />
auf.« Dann ging er hinüber zu Vigdis.<br />
»Michael, was machen wir jetzt?« Er erklärte ihr ausführlich die<br />
Lage.<br />
»Da kommen wir den Russen gefährlich nahe.«<br />
»Michael, wollen Sie mich nicht dabeihaben?«<br />
Sage ich ja, kränke ich sie, dachte Edwards. Sage ich nein...<br />
Mist!<br />
»Ich will nicht, dass Ihnen noch einmal etwas zustößt.«<br />
»Ich bleibe bei Ihnen, Michael. Bei Ihnen bin ich sicher.«<br />
573
Southampton<br />
Es dauerte mehrere Stunden, bis das eingedrungene Wasser, das ihr<br />
Schlagseite gegeben hatte, gelenzt war. Die starken Schlepper Catacombe<br />
und Vecta zogen sie langsam in den Solent. Zweitausend<br />
Arbeiter der Vosper-Werft hatten das Flugdeck repariert; neue<br />
Fangleinen und elektronische Anlagen, die längst nicht an die Leistung<br />
der von den Russen zerstörten heranreichten, waren aus<br />
Amerika eingeflogen worden. Vor Portsmouth warteten Eskorten,<br />
und dann nahm die kleine Formation Kurs auf den Ärmelkanal.<br />
Die Flugoperationen begannen sofort. Erst kamen die Jagdbomber<br />
Corsair, dann die schweren Intruder und die Viking zur U-Jagd.<br />
USS N<strong>im</strong>itz war wieder <strong>im</strong> Einsatz.<br />
USS Chicago<br />
»- und Feuer!« Drei Stunden qualvoller Arbeit gipfelten in einer<br />
halben Sekunde. Das Boot erbebte; Preßluft trieb zwei Torpedos ins<br />
schwarze Wasser der Barentssee.<br />
Der sowjetische Kommandant hatte übereifrig versucht, die Versenkung<br />
von Chicago zu verifizieren, und seine Fregatte knapp<br />
hinter die verbliebenen beiden Grischa gesetzt. Alle drei Schiffe<br />
suchten mit Aktiv-Sonar den Grund nach dem Wrack des U-Bootes<br />
ab. McCafferty aber hatte einen weiten Bogen um die Fregatte<br />
geschlagen, sich am Rand des Erfassungsbereichs ihres Sonars gehalten<br />
und war dann von hinten bis auf zweitausend Yard an sie<br />
herangefahren. Ein Torpedo für die Kriwak und einer, der auf das<br />
nächste Patrouillenboot zulief.<br />
»Kurs und Fahrt der Ziele unverändert, Sir.« Der Torpedo jagte<br />
hinter der sowjetischen Fregatte her. »Sie peilen <strong>im</strong>mer noch in die<br />
andere Richtung, Sir.«<br />
Das Wasserfall-Display leuchtete auf. Gleichzeitig hallte die donnernde<br />
Explosion durch den Rumpf.<br />
»Sehrohr ausfahren!« McCafferty schaute schon auf Deckhöhe<br />
ins Objektiv und folgte ihm langsam nach oben. »Eindeutig Versenkung.<br />
Wir haben ihr das Rückgrat gebrochen. Gut-« Er drehte das<br />
Periskop in die Richtung der nächsten Grischa. »Okay, Ziel Zwei<br />
dreht ab, erhöht die Geschwindigkeit.«<br />
574
»Skipper, Lenkdraht an Torpedo zwei gerissen.«<br />
»Wie lange hat er noch zu laufen?«<br />
»Vier Minuten, Sir.« Wenn die Grischa vier Minuten lang mit<br />
Höchstfahrt lief, hatte sie sich aus dem Erfassungsbereich des Torpedos<br />
entfernt.<br />
»Verflucht, der geht vorbei. Sehrohr einfahren. Verschwinden<br />
wir, diesmal nach Osten. Tiefe vierhundert Fuß, zwei Drittel voraus.<br />
Kurs null-fünf-fünf.«<br />
»Muss die Druckwelle der Explosion gewesen sein, Sir. Eine<br />
halbe Sekunde später rissen die Lenkdrähte von Fisch Zwei.«<br />
McCafferty und sein Waffenoffizier sahen sich das Display an.<br />
»St<strong>im</strong>mt, da habe ich zu knapp kalkuliert. Okay.« McCafferty<br />
trat an den Kartentisch. »Was meinen Sie, wo unsere Freunde<br />
sind?«<br />
»Ungefähr hier, Sir, zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen weg.«<br />
»Na, denen wird die kalte Dusche fürs erste reichen. Mal sehen,<br />
ob wir wieder nach vorne kommen, solange der Iwan noch rauszukriegen<br />
versucht, was eigentlich gespielt wird.«<br />
»Wir haben Schwein gehabt, Sir«, bemerkte der IO.<br />
»Allerdings. Ich muss wissen, wo ihre U-Boote sind. Dieses Victor<br />
eben fuhr uns glatt vors Fadenkreuz. Wo stecken die anderen?«<br />
Bislang war die Beute nicht übel gewesen. Drei Patrouillenboote,<br />
eine Fregatte und ein U-Boot. Noch aber war es nicht vorbei. Erst<br />
musste Providence sicher zum Packeis gebracht werden.<br />
575
Island<br />
38<br />
Verdeckte Operationen<br />
Die erste Etappe war an sich nur eine dreizehn Kilometer lange<br />
gerade Strecke, die sich aber durch Umwege auf der Suche nach<br />
Deckung fast verdoppelte. Zum ersten Mal fühlte Edwards sich<br />
beobachtet. Was, wenn ein russischer Feldwebel mit einem Fernglas<br />
ihre Gewehre und Tornister entdeckt, zum Sprechfunkgerät<br />
gegriffen und einen bewaffneten Hubschrauber gerufen hatte? Der<br />
anstrengende Marsch und die Furcht ließen ihre Herzen schneller<br />
schlagen, ermüdeten sie rascher.<br />
Sergeant Nichols erwies sich als fähiger und anspruchsvoller<br />
Führer. Er war der Älteste, aber sein Durchhaltevermögen - trotz<br />
des verletzten Knöchels - verblüffte Edwards. Alle waren still,<br />
niemand wollte ein Geräusch machen, und Nichols konnte jene, die<br />
nicht mitkamen, nicht anschnauzen. Aber seine verächtlichen<br />
Blicke sagten genug. Er ist zehn Jahre älter als ich, dachte Edwards,<br />
ich bin Leichtathlet und kann trotzdem nicht mithalten.<br />
Nichols hielt die Gruppe außer Sichtweite der Küstenstraße, aber<br />
an einem Punkt folgte die Straße einer kleinen Bucht und kam ihrem<br />
Pfad bis auf eine Meile nahe. Nun standen sie vor einer schweren<br />
Entscheidung: Sie konnten entweder von der Straße aus, auf der<br />
überwiegend russischer Verkehr herrschte, oder vom Berggipfel aus<br />
entdeckt werden. Sie entschieden sich für die Straße, marschierten<br />
langsam und behutsam und beobachteten die Fahrzeuge, die alle<br />
fünfzehn Minuten vorbeikamen. Die Sonne stand schon tief am<br />
Nordwesth<strong>im</strong>mel, als sie durch eine Klamm kletterten und sich<br />
einen Platz für eine kurze Rast vor dem Anstieg zu ihrem Beobachtungsposten<br />
suchten.<br />
»Na, war das kein hübscher Spaziergang?« fragte Nichols von<br />
den Royal Marines, der noch nicht einmal ins Schwitzen geraten<br />
war.<br />
»Wollen Sie uns etwas vormachen, Sergeant?« fragte Edwards.<br />
576
»Verzeihung, Lieutenant, aber ich hörte, Sie seien einigermaßen<br />
fit.«<br />
»Zusammengebrochen bin ich jedenfalls noch nicht«, versetzte<br />
Edwards. »Was nun?«<br />
»Ich schlage vor, dass wir noch eine Stunde warten, bis die Sonne<br />
tiefer steht, und dann weitermarschieren. Es sind nur noch neun<br />
Meilen. Sehen wir zu, dass wir so rasch wie möglich vorankommen.«<br />
Edwards fand die Aussicht auf weitere Strapazen entsetzlich, ließ<br />
sich aber nichts anmerken. »Sind Sie auch sicher, dass man uns nicht<br />
entdecken wird?«<br />
»Sicher? Nein. Aber <strong>im</strong> Zwielicht sieht man am schlechtesten,<br />
weil sich das Auge nicht auf den Kontrast zwischen hellem H<strong>im</strong>mel<br />
und dunklem Boden einstellen kann.«<br />
»Gut, Sie haben uns sicher bis hierher gebracht. Ich sehe jetzt<br />
nach, wie es der Frau geht.«<br />
Nichols schaute ihm nach. »Hm, nach einer Frau würde ich jetzt<br />
auch gerne sehen.«<br />
»Unkluge Bemerkung, Nick«, sagte Smith leise.<br />
»Aber hören Sie mal, ich weiß genau, was er -«<br />
»Nick, bitte keine respektlosen Reden«, warnte Smith. »Sie hat<br />
allerhand hinter sich. Und der Skipper ist ein Gentleman, verstanden?<br />
Zuerst hielt ich ihn auch für einen Schwächling, aber das war<br />
ein Irrtum. Fest steht, dass Miss Vigdis eine patente Frau ist.«<br />
Mike fand sie zusammengerollt neben einem Felsblock liegen.<br />
Rodgers entfernte sich, als er den Lieutenant kommen sah.<br />
»Wie geht's?« fragte Mike. Sie wandte leicht den Kopf.<br />
»Ich bin todmüde, Michael.«<br />
»Geht mir genauso.« Mike setzte sich neben sie und streckte die<br />
Beine aus. Er hatte gerade noch genug Kraft, um ihr übers Haar zu<br />
streichen. Es war von Schweiß verklebt, aber Mike nahm das nicht<br />
mehr wahr. »Nur noch ein kurzes Stück, dann sind wir da. Es war<br />
schließlich Ihre Idee, mit uns zu kommen.«<br />
»Wie dumm von mir!« sagte sie halb <strong>im</strong> Scherz. Mike erinnerte<br />
sich an eine Weisheit seines Vaters: Wer noch Witze reißen kann, ist<br />
noch nicht geschlagen.<br />
»So, und jetzt strecken Sie mal die Beine aus, damit sie nicht steif<br />
werden. Drehen Sie sich um.« Edwards massierte ihr kurz die<br />
Waden. »Bananen brauchten wir jetzt.«<br />
577
Sie hob den Kopf. »Warum ausgerechnet Bananen?«<br />
»Weil sie viel Kalium enthalten, das Muskelkrämpfe verhindert.<br />
« Oder brauchten Schwangere eher Kalzium? fragte er sich.<br />
Was machen wir, wenn wir auf unserem neuen Berg sind?«<br />
»Wir warten auf Verstärkung.«<br />
»Kommt die denn auch?« Ihr Ton veränderte sich ein wenig.<br />
»Ja, ich glaube schon.«<br />
»Und Sie? Müssen Sie dann fort?« Mike schwieg für einen kurzen<br />
Augenblick. Sollte er nun kühn oder weiter schüchtern sein?<br />
»Ohne Sie will ich nicht fort.« Er zögerte wieder. »Vorausgesetzt<br />
natürlich, dass Sie-«<br />
»Ja, Michael.«<br />
Er legte Sich neben sie und stellte verdutzt fest, dass er sie begehrte.<br />
Inzwischen war sie für ihn nicht mehr das Opfer einer<br />
Vergewaltigung, das das Kind eines anderen Mannes trug, und sie<br />
war auch keine Ausländerin mehr. Er bewunderte ihre innere Kraft.<br />
»Du hast recht. Ich liebe dich.« H<strong>im</strong>mel noch mal! Nun war es<br />
heraus. Er ergriff ihre Hand, und sie ruhten sich vor der letzten<br />
Etappe aus.<br />
578
USS Chicago<br />
»Da ist einer, Sir. Wahrscheinlich Providence. Ich höre seltsame<br />
mechanische Geräusche, als schlügen Bleche gegeneinander.«<br />
Sie verfolgten das Ziel nun schon seit zwei Stunden, fuhren<br />
vorsichtig näher heran, als aus der vermuteten Schallquelle eine<br />
wahrscheinliche wurde. Der Sturm an der Oberfläche verminderte; ihre<br />
Sonar-Leistung erheblich, und die He<strong>im</strong>lichkeit des Ziels verhinderte<br />
über einen quälend langen Zeitraum hinweg die Erstellung<br />
einer Signatur. War das ein russisches U-Boot, das sich an ein Ziel<br />
anschlich? Endlich verriet sich Providence durch das Rattern seines<br />
beschädigten Turms. McCafferty ließ sein Boot mit acht Knoten an<br />
das Ziel heranfahren.<br />
Hatten die Männer der Providence das Sonar reparieren können?<br />
"Versucht hatten sie es best<strong>im</strong>mt, vermutete McCafferty, und auf<br />
wen würden sie tippen, wenn sie nun den Schall eines U-Bootes<br />
hörten, das sich von hinten anschlich? Auf ihren alten Freund<br />
Chicago oder auf ein zweites Victor-III? Anders herum: Konnte<br />
579
man denn sicher sein, dass es sich bei dem Ziel überhaupt um<br />
Providence handelte?<br />
Die sowjetischen Überwasserkräfte hatten sie hinter sich gelassen,<br />
getäuscht von McCaffertys Taktik des Zuschlagens und<br />
Flüchtens, und ehe der Lärm verklang, hatten sie einer eifrigen<br />
Jagd mit Flugzeugen und Überwasserschiffen gelauscht. Eine günstige<br />
Entwicklung, doch das Fehlen von Überwasserschiffen in<br />
diesem Gebiet bereitete McCafferty Unbehagen. Er befand sich<br />
nun womöglich in einem Operationsgebiet, das U-Booten vorbehalten<br />
war, und diese stellten viel gefährlichere Gegner dar. Sein<br />
Erfolg gegen das Victor war ein reiner Glücksfall gewesen; der<br />
sowjetische Kommandant hatte vor lauter Jagdeifer nicht auf seine<br />
Flanken geachtet. Es war nicht damit zu rechnen, dass dieser Fehler<br />
wiederholt wurde.<br />
»Distanz?« fragte McCafferty.<br />
»Rund zwei Meilen, Sir.«<br />
Gerade noch in Reichweite der Gertrude, aber McCafferty<br />
wollte viel näher heran. Zwanzig Minuten später waren sie bis auf<br />
tausend Yard an Providence herangekommen. McCafferty griff<br />
nach dem Hörer des Unterwassertelefons.<br />
»Chicago an Providence, over.«<br />
»Wird langsam Zeit, Danny.«<br />
»Wo ist Todd?«<br />
»Fuhr vor zwei Stunden nach Westen, um etwas auszukundschaften,<br />
und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«<br />
»Wie sieht es bei Ihnen aus?«<br />
»Schwanz funktioniert, Rest des Sonars <strong>im</strong> E<strong>im</strong>er. Wir sind in<br />
der Lage, Torpedos abzufeuern. Im Torpedosteuerraum regnet es<br />
zwar, doch damit können wir leben, solange wir nicht tiefer als<br />
dreihundert Fuß tauchen.«<br />
»Können Sie mehr Fahrt machen?«<br />
»Wir haben acht Knoten versucht, stellten aber fest, dass sich das<br />
nicht durchhalten läßt. Der Turm bricht auseinander, Krach wird<br />
<strong>im</strong>mer schl<strong>im</strong>mer. Mehr als sechs schaffen wir nicht.«<br />
»Na gut. Wenn Ihr Schleppsonar funktioniert, setzen wir uns<br />
rund fünf Meilen vor Sie.«<br />
»Danke, Danny.«<br />
McCafferty hängte ein. »Sonar, haben Sie etwas?«<br />
»Nein, <strong>im</strong> Augenblick ist alles klar.«<br />
Zwei Drittel voraus.« Und wo, zum Kuckuck, ist Boston, fragte<br />
sich McCafferty.<br />
580
Komisch, wie ruhig es auf einmal ist«, bemerkte der IO.<br />
»Bloß nichts beschreien.« McCafferty lachte. »Gut, wir sprinten<br />
«nd driften jetzt nach Norden, wechseln den Modus alle fünfzehn<br />
Minuten, bis wir fünf Meilen vor Providence liegen. Dann fahren wir<br />
mit sechs Knoten weiter. Ich lege mich jetzt schlafen. Wecken Sie<br />
mich in zwei Stunden. Sprechen Sie mit Offizieren und Chiefs, sorgen<br />
Sie dafür, dass die Männer sich ausruhen.« McCafferty schnappte<br />
sich auf dem Weg nach vorn ein halbes belegtes Brot, das er schon<br />
verschlungen hatte, als er die Tür zu seiner Kammer erreichte.<br />
»Kommandant in die Zentrale!« Er hatte das Gefühl, gerade erst die<br />
Augen zugemacht zu haben, als der Lautsprecher über seinem Kopf<br />
losblökte. McCafferty schaute be<strong>im</strong> Hinausgehen auf die Uhr. Er<br />
hatte neunzig Minuten geschlafen. Musste reichen.<br />
»Was gibt's?« fragte er den Ersten.<br />
»Möglicher U-Boot-Kontakt an Backbord voraus. Noch keine<br />
Signatur.«<br />
»Boston!«<br />
»Kann sein.«<br />
Chicago lief lautlos mit sechs Knoten. Uns hört niemand, dachte<br />
der Kommandant auf dem Weg in den Sonarraum. Oder...?<br />
»Wie geht's, Chief?«<br />
»Einigermaßen, Sir. Der Bursche da ist raffiniert. Schauen Sie, wie<br />
er auftaucht und dann wieder verschwindet. Fast unmöglich, ihn<br />
festzunageln. Könnte Boston auf dem Rückweg sein. Oder ein<br />
Tango, das mit Batterien fährt. Schwer zu sagen, Sir.« Der Chief rieb<br />
sich die geröteten Augen und seufzte tief.<br />
»Wann haben Sie zuletzt geschlafen?«<br />
»Weiß ich nicht mehr, Sir.«<br />
»Wenn wir mit dieser Sache fertig sind, legen Sie sich in die Falle,<br />
Chief.«<br />
»Aye«, erwiderte der Chief und rief dann: »Was ist denn das? Ein<br />
zweiter Sonarkontakt hinter dem ersten in zwo-fünf-drei. Folgt dem<br />
anderen!«<br />
»Bitte identifizieren, Chief.«<br />
»Dazu habe ich nicht genug Daten, Sir. Beide bewegen sich mit<br />
Schleichfahrt.«<br />
581
Ist einer der beiden Kontakte Boston, fragte sich McCafferty.<br />
Und wenn, dann welcher? Soll ich Todd warnen, wenn er der<br />
vordere ist, und damit unsere Position verraten? Oder das Feuer<br />
eröffnen und womöglich den Falschen treffen? Oder einfach gar<br />
nichts tun?<br />
McCafferry trat ans Display. »Wie weit ist dieser Kontakt von<br />
Providence entfernt?«<br />
»Etwa viertausend Meter, nähert sich von Backbord.«<br />
»Dann hat er Providence erfaßt«, dachte McCafferty laut.<br />
»Torpedo in zwei-vier-neun!« rief der Sonar-Chief.<br />
»Ruder fünfzehn Grad Steuerbord, zwei Drittel voraus!« befahl<br />
McCafferty.<br />
»Hier Sonar, lauteres Maschinengeräusch von Kontakt Sierra<br />
Eins. Achtung, der vordere Kontakt ist ein Doppelschraubenboot,<br />
Fahrt zehn Knoten, beschleunigt weiter. Etwas Kavitation. Ziel<br />
Sierra eins manövriert. Klassifiziert als Tango-Klasse.«<br />
»Boston liegt also hinter ihm. Ein Drittel voraus.« McCafferty<br />
ließ die Fahrt herabsetzen. »Los, Todd, drauf!«<br />
Fünfzehn Sekunden später eine Explosion. S<strong>im</strong>ms hatte die gleiche<br />
Taktik angewandt wie sein Freund von der Chicago: Bis auf ein<br />
paar tausend Meter an das Ziel herangehen, ihm keine Chance<br />
geben, sich freizumanövrieren. Fünfzehn Minuten später gesellte<br />
sich Boston zum unversehrten Schwesterboot.<br />
»Verdammt, das waren vier harte Stunden. Dieses Tango war<br />
gut!« rief S<strong>im</strong>ms über die Gertrude. »Bei euch alles klar?«<br />
»Ja, wir bilden die Vorhut. Wollt ihr für eine Weile die Nachhut<br />
übernehmen?«<br />
»Wird gemacht, Danny. Bis bald.«<br />
Island<br />
»Gehen Sie voran, Sergeant Nichols.«<br />
Der russische Vorposten lag drei Meilen südlich und tausend<br />
Meter über ihnen. Sie erklommen die Wand der Klamm und erreichten<br />
relativ offenes Terrain. Nun befanden sie sich zwischen der<br />
Sonne und dem Vorposten. Edwards fand zwar überzeugend, was<br />
Nichols über die Lichtverhältnisse gesagt hatte, kam sich aber<br />
trotzdem sehr exponiert vor. Sie hatten sich die Gesichter ge<br />
582
schwärzt, und ihre Uniformen ließen sie gut mit Farbe und Struktur<br />
des Geländes verschmelzen. Aber das menschliche Auge achtet auf<br />
Bewegung, dachte Edwards. Und wir bewegen uns. Was tu ich<br />
eigentlich hier?<br />
Ein Schritt nach dem anderen. Langsam, entspannt gehen, keinen<br />
Staub aufwirbeln. Schau an, ich bin unsichtbar.<br />
Edwards zwang sich, nicht zu dem Berg aufzuschauen, riskierte<br />
aber doch hin und wieder einen verstohlenen Blick. Der Berg ragte<br />
direkt über ihnen auf und wurde zum Gipfel hin steiler. Ein<br />
Vulkan? spekulierte Edwards. Kein Lebenszeichen auf dem Gipfel.<br />
Saßen dort vielleicht überhaupt keine Russen? Recht so, tut uns<br />
einen Gefallen, dachte Edwards, pennt, eßt oder haltet nach Flugzeugen<br />
Ausschau. Er konnte den Blick nur mit Mühe abwenden.<br />
Die Felsblöcke, die er überstieg oder umging, lagen <strong>im</strong>mer dichter<br />
beieinander. Jedes Gruppenmitglied ging für sich allein. Niemand<br />
sagte etwas. Alle Mienen waren ausdruckslos und verbargen<br />
entweder stille Entschlossenheit oder Erschöpfung. Das Terrain<br />
verlangte Konzentration.<br />
Das ist das Ende, dachte Edwards. Der letzte Marsch, der letzte<br />
Anstieg. Wenn das vorüber ist, hole ich selbst die Morgenzeitung<br />
mit dem Auto. Und wenn ich kein eingeschossiges Haus finde, lasse<br />
ich mir einen Aufzug einbauen. Den Rasen können die Kinder<br />
mähen. Ich setze mich auf die Terrasse und gucke zu.<br />
Endlich lag der Gipfel hinter ihnen. Seine verstohlenen Blicke<br />
musste er nun über die Schulter werfen. Der Hubschrauber voller<br />
sowjetischer Fallschirmjäger, mit dem er gerechnet hatte, blieb aus.<br />
Und da sie nun in relativer Sicherheit waren, schritt Nichols flotter<br />
aus.<br />
Vier Stunden später war der Vulkan hinter einem messerscharfen<br />
Kamm verschwunden. Nichols ließ Rast machen. Sie waren sieben<br />
Stunden unterwegs gewesen. »So, das Gröbste haben wir hinter<br />
uns. Nun brauchen wir nur noch diesen kleinen Hügel zu besteigen«,<br />
meinte er.<br />
»Vielleicht sollten wir erst Wasser holen«, schlug Smith vor und<br />
wies auf einen nahen Bach.<br />
»Gute Idee. Ich finde, wir sollten den Hügel dann so rasch wie<br />
möglich erkl<strong>im</strong>men.«<br />
»Einverstanden. Das ist der letzte Berg, auf den ich je kraxle!«<br />
schnaufte Edwards.<br />
583
Nichols lachte in sich hinein. »Das hab ich auch schon ein- oder<br />
zwe<strong>im</strong>al gesagt, Sir.«<br />
»Das nehme ich Ihnen nicht ab.«<br />
USS Independence<br />
»Willkommen an Bord, Toland!« Konteradmiral Scott Jacobson,<br />
Flieger und ranghöchster Trägergruppen-Befehlshaber der Navy,<br />
war an die Stelle des gefallenen Admirals Baker getreten. »Einen<br />
erstaunlichen Empfehlungsbrief hat Admiral Beattie Ihnen da geschrieben.«<br />
»Ach, ich hab nur eine Idee weitergegeben, die von jemand<br />
anderem stammte.«<br />
»Na schön. Sie waren auf der N<strong>im</strong>itz, als der Verband angegriffen<br />
wurde?«<br />
»Jawohl, Sir, ich war in der Gefechtszentrale.«<br />
»Aus der außer Ihnen nur Sonny Svenson entkam?«<br />
»Captain Svenson, jawohl, Sir.«<br />
Jacobson griff nach dem Telefon und gab drei Ziffern ein. »Bitten<br />
Sie Captain Spaulding zu mir. Danke. Toland, Sie, ich und mein<br />
Operationsoffizier werden diesen Vorfall noch einmal ablaufen<br />
lassen. Ich will sehen, ob man bei unserem Briefing etwas ausgelassen<br />
hat. In meinen Träger werden die Russen nämlich keine Löcher<br />
schießen.«<br />
»Man sollte sie nicht unterschätzen, Sir.«<br />
»Tu ich auch nicht, Toland. Deshalb habe ich Sie hier. Ihr Verband<br />
wurde damals zu hoch <strong>im</strong> Norden erwischt. Die Eroberung<br />
Islands war ein brillanter Schachzug der Russen, der unsere Pläne<br />
so ziemlich über den Haufen warf. Aber das bringen wir jetzt in<br />
Ordnung, Commander.«<br />
USS Reuben James<br />
»Was für ein schöner Anblick!« meinte O'Malley, warf seine Zigarette<br />
über Bord, verschränkte die Arme und schaute zu dem riesigen<br />
Träger am Horizont. Das Schiff war nur ein trüber grauer Schemen,<br />
auf dessen Deck Flugzeuge landeten.<br />
584
»Eigentlich sollte ich über den Geleitzug schreiben«, murrte<br />
Calloway.<br />
»Tja, <strong>im</strong> Augenblick wird nach Backbord abgedreht, und das<br />
wäre das Ende Ihrer Story.« Der Pilot drehte sich breit grinsend um.<br />
»He, Sie haben mich berühmt gemacht, st<strong>im</strong>mt's?«<br />
»Ihr Flieger seid doch alle gleich!« bellte der Reuter-Korrespondent<br />
böse zurück. »Und der Kommandant verrät mir noch nicht<br />
mal, wo es hingeht.«<br />
»Wissen Sie das denn nicht?« fragte O'Malley überrascht.<br />
»Und wohin fahren wir dann?«<br />
»Nach Norden.«<br />
Le Havre, Frankreich<br />
Der Hafen war für den Geleitzug freigemacht worden. Man bugsierte<br />
die Frachter an den Wracks mehrerer Schiffe vorbei, die<br />
sowjetischen Minen, teils vor dem Krieg gelegt, teils von Flugzeugen<br />
abgeworfen, zum Opfer gefallen waren. Die Anlagen waren<br />
auch mehrere Male von Langstreckenbombern angegriffen worden.<br />
Zuerst liefen die großen Ro/Ro-Containerschiffe ein. Acht trugen<br />
eine komplette Panzerdivision, und sie kamen rasch ins Bassin<br />
Theophile Ducrocq. Nacheinander wurden die gekrümmten Heckrampen<br />
auf den Kai abgesenkt, und die Panzer begannen an Land<br />
zu rollen. Wie Taxis standen in langer Reihe Tieflader bereit, um je<br />
einen Kampf- oder Schützenpanzer an die Front zu transportieren.<br />
Wenn sie beladen waren, fuhren sie nacheinander zum Sammelpunkt,<br />
den Renault-Anlagen am Hafen. Obwohl das Entladen der<br />
Division Stunden in Anspruch nehmen würde, hatte man beschlossen,<br />
alles auf einmal an die knapp fünfhundert Kilometer entfernte<br />
Front zu schaffen.<br />
Nach der scheinbar endlosen Überfahrt war die Ankunft für die<br />
amerikanischen Truppen, vorwiegend Männer der Nationalgarde,<br />
die nur selten ins Ausland reisten, ein Kulturschock. Die Hafenarbeiter<br />
und Verkehrspolizisten waren nach Wochen hektischer Arbeit<br />
zu erschöpft, um Gefühle zu zeigen, aber Zivilisten, die trotz<br />
strenger Gehe<strong>im</strong>haltung erfahren hatten, dass Verstärkung eingetroffen<br />
war, kamen erst in kleinen, dann größeren Gruppen, um<br />
585
sich die Neuankömmlinge zu betrachten. Die amerikanischen<br />
Truppen hatten Befehl, bei ihren Kompanien zu bleiben. Nach<br />
<strong>im</strong>provisierten Verhandlungen ließ man kleine Delegationen von<br />
Zivilisten zu den Soldaten. Das Sicherheitsrisiko war min<strong>im</strong>al,<br />
denn alle Telefonleitungen, die Nato-Häfen mit dem Rest Europas<br />
verbanden, wurden abgehört. Wie ihre Väter und Großväter erkannten<br />
die frisch eingetroffenen Truppen, dass Europa ihren Einsatz<br />
wert war. Diese Menschen, die von den Staaten aus gesehen<br />
hauptsächlich amerikanische Arbeitsplätze gefährdeten, hatten<br />
Hoffnungen und Träume wie jeder andere auch, und ihr Leben war<br />
in Gefahr. Und die Amerikaner kamen nicht, um für ein Prinzip,<br />
eine politische Entscheidung oder eines Paktes wegen zu kämpfen.<br />
Sie waren zum Schutz dieser Menschen gekommen, die sich nicht<br />
von ihren Nachbarn dahe<strong>im</strong> unterschieden.<br />
Das Ganze dauerte zwei Stunden länger als erwartet. Manche<br />
Fahrzeuge waren defekt, doch Hafenverwaltung und Polizei hatten<br />
die Sammelpunkte geschickt organisiert. Am frühen Nachmittag<br />
setzte sich die Division auf allen Fahrspuren einer eigens gesperrten<br />
Autobahn in Bewegung. Alle paar Meter stand jemand, um den<br />
Soldaten, die zum letzten Mal ihre Ausrüstung überprüften, zum<br />
Abschied zuzuwinken. Der einfache Teil der Reise stand kurz vor<br />
dem Abschluß.<br />
Island<br />
Um vier Uhr früh erreichten sie die Anhöhe und mussten feststellen,<br />
dass dieser Berg mehrere Gipfel hatte. Den höchsten, der drei Meilen<br />
entfernt war, nahmen die Russen ein. Edwards' Gruppe hatte<br />
die Wahl zwischen zwei kleineren. Sie wählten den nördlichen über<br />
dem kleinen Fischerhafen Stykkisholmur und der großen, mit Felsblöcken<br />
übersäten Bucht, die laut Landkarte Hvammsfjördur hieß.<br />
»Guter Beobachtungspunkt, Lieutenant Edwards«, fand Nichols.<br />
»Vorzüglich, Sergeant. Ich tu nämlich keinen Schritt mehr.«<br />
Edwards hatte sein Fernglas schon auf die Bergspitze <strong>im</strong> Osten<br />
gerichtet. »Da rührt sich nichts.«<br />
»Keine Angst, sie sind da«, meinte Nichols.<br />
»Allerdings«, st<strong>im</strong>mte Smith zu.<br />
586
Edwards packte sein Funkgerät aus. »Doghouse, hier Beagle.<br />
Wir sind am Ziel. Over.«<br />
»Geben Sie mir Ihre exakte Position.«<br />
Edwards schlug die Karte auf und las die Koordinaten ab. »Wir<br />
vermuten, dass sich auf dem nächsten Gipfel ein sowjetischer Beobachtungsposten<br />
befindet. Der Karte nach ist er rund fünf Kilometer<br />
entfernt. Wir sind hier gut getarnt und haben für fünf Tage Verpflegung<br />
und Wasser. Die Straßen nach Stykkisholmur sind zu übersehen.<br />
Mehr noch, es ist so klar, dass man bis nach Keflavik schauen<br />
kann. Wir können die Halbinsel ausmachen, aber keine Einzelheiten.«<br />
»Gut. Schauen Sie nach Norden."<br />
Edwards gab die Antenne an Smith weiter und richtete dann sein<br />
Fernglas auf die Stadt.<br />
»Also, das Land ist recht flach, wie ein Plateau überm Wasser.<br />
Die Stadt sieht klein aus, hat vielleicht acht Häuserblöcke. Ein paar<br />
kleine Fischerboote <strong>im</strong> Hafen... ich zähle neun. Nördlich und<br />
östlich des Hafens meilenweit Felsenküste. Keine Panzerfahrzeuge,<br />
keine auffälligen Hinweise auf russische Truppen. Augenblick: Da<br />
stehen zwei Allrader auf der Straße, aber Menschen sind keine zu<br />
sehen. Die Sonne steht noch tief, die Schatten sind lang. Auf den<br />
Straßen rührt sich nichts. Das wäre wohl alles.«<br />
»Gut gemacht, Beagle. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie auch nur<br />
einen russischen Soldaten sehen, und bleiben Sie, wo Sie sind.«<br />
»Kommt uns jemand rausholen?«<br />
»Keine Ahnung, wovon Sie reden, Beagle.«<br />
USS Independence<br />
Toland stand in der Gefechtszentrale und beobachtete die Displays.<br />
Seine Hauptaufmerksamkeit galt den U-Booten. Acht alliierte<br />
Boote bildeten westlich von Island eine Barriere. Unterstützt wurden<br />
sie von Orion der Navy, die erst jetzt, da die Anzahl der<br />
russischen Jäger in Keflavik reduziert worden war, von Sondrestrom<br />
auf Grönland aus operieren konnten. Damit war ein möglicher<br />
Zugang zum Angriffsverband Atlantik verriegelt. Andere U-<br />
Boote bildeten parallel zum Kurs der Flotte eine Linie, und diese<br />
bekamen Unterstützung von den trägergestützten S-3 A Viking.<br />
587
Das Pentagon hatte an die Presse durchsickern lassen, diese<br />
Division der Marineinfanterie sei auf dem Weg nach Deutschland,<br />
wo die Schlacht in der Schwebe hing. In Wirklichkeit waren die in<br />
enger Formation laufenden Landungsschiffe nur zwanzig Meilen<br />
von Independence auf Kurs null-drei-neun und noch vierhundert<br />
Meilen von ihrem tatsächlichen Ziel entfernt.<br />
USS Reuben James<br />
»Wir fahren ja gar nicht mehr nach Norden«, sagte Calloway. In<br />
der Offiziersmesse wurde gerade das Abendessen serviert. Die<br />
Männer verschlangen den letzten frischen Salat an Bord.<br />
»Da haben Sie wohl recht«, bemerkte O'Malley. »Sieht so aus,<br />
als ginge es jetzt nach Westen.«<br />
»Sie können mir ruhig verraten, was wir vorhaben. Man hat mir<br />
nämlich den Zugang zum Satellitensender gesperrt.«<br />
»Wir schirmen den N<strong>im</strong>itz-Verband ab, was nicht so einfach ist,<br />
wenn man mit fünfundzwanzig Knoten durch die Wellen pflügt.«<br />
O'Malley mißfiel das Risiko.<br />
»Die Eskorten sind überwiegend Briten, nicht wahr?«<br />
»St<strong>im</strong>mt. Na und?«<br />
»Darüber könnte ich zum Beispiel berichten. Die Menschen dahe<strong>im</strong><br />
sollen erfahren, wie wichtig -«<br />
»Augenblick mal, Mr. Calloway, nehmen wir mal an, Ihre Geschichte<br />
käme in die Zeitungen. Dann liest sie ein sowjetischer<br />
Agent, der sie weitermeldet -«<br />
»Aber wie denn? Die Regierung kontrolliert doch best<strong>im</strong>mt sehr<br />
streng alle Kommunikationsmittel.«<br />
»Der Iwan hat genau wie wir eine Menge Fernmeldesatelliten.<br />
Wir verfügen auf unserem Fregättchen über zwei Satellitensender.<br />
Sie haben ja gesehen, wie billig die wirken. Die kann man sich doch<br />
glatt in den Garten stellen, in einen Busch vielleicht. Außerdem<br />
operiert der ganze Verband unter Funkstille. EMCON total. Im<br />
Augenblick sendet niemand etwas.«<br />
Morris erschien und nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches<br />
ein.<br />
»Sir, wohin geht die Fahrt?« fragte Calloway.<br />
»Das habe ich gerade erst erfahren, aber leider darf ich Ihnen<br />
588
nichts sagen. Battleaxe und wir bilden weiterhin die Nachhut für<br />
die N<strong>im</strong>itz-Gruppe und heißen jetzt »Mike Force«.«<br />
»Kommt noch mehr Hilfe?« fragte O'Malley.<br />
»Die Bunker Hill ist zu uns unterwegs; musste ihre Magazine<br />
nachladen und zu HMS Illustrious stoßen. Beide Schiffe werden<br />
dicht be<strong>im</strong> Verband operieren, wenn sie eintreffen; wir spielen<br />
wieder Vorposten. In vier Stunden geht es ernsthaft mit der ASW-<br />
Arbeit los. Trotzdem ein tierischer Job, mit dem Träger Schritt zu<br />
halten."<br />
USS Chicago<br />
Binnen zehn Minuten waren drei Kontakte aufgetaucht. Zwei lagen<br />
vor Chicago und links und rechts voraus. Der dritte befand sich an<br />
Backbord querab. Offenbar war den Russen nicht entgangen, dass<br />
U-Boote versenkt worden waren. Musste an Funkbojen oder so<br />
etwas liegen, da war McCafferty sicher. Seine taktischen Erfolge<br />
hatten also nur bewirkt, dass dem Trio amerikanischer U-Boote<br />
noch größere Gefahren drohten.<br />
»Sonar an Zentrale. Einige Sonobojen-Signale in zwei-sechssechs.<br />
Insgeamt drei - Moment, vier Bojen.«<br />
Wieder Bear? dachte McCafferty. Eine gemeinschaftliche Jagd?<br />
Er ging nach vorne und stellte fest, dass auf dem Wasserfall-Display<br />
auf einmal einiges los war.<br />
»Sir, hier entstehen gerade drei Linien von Sonobojen. Da oben<br />
müssen mindestens drei Flugzeuge sein. Eine ist ziemlich nahe und<br />
erstreckt sich achtern von uns, erfaßt vielleicht sogar unsere<br />
Freunde.«<br />
McCafferty sah zu, wie die neuen Signale <strong>im</strong> Abstand von einer<br />
Minute erschienen. Jedes kam von einer russischen Sonoboje. Eine<br />
Linie verlängerte sich nach Osten, zwei andere wuchsen auf anderen<br />
Az<strong>im</strong>uten.<br />
»Man will uns einkreisen, Chief.«<br />
»Sieht so aus, Sir.«<br />
Bei jeder Versenkung eines U-Bootes haben wir den Russen einen<br />
Positionshinweis gegeben, dachte McCafferty, und sie so in die<br />
Lage versetzt, mehrmals unseren Kurs und unsere Geschwindigkeit<br />
zu best<strong>im</strong>men. McCafferty hatte sein Boot inzwischen zurück in<br />
589
den Swjatja-Anna-Graben gebracht und einen Weg zum Packeis<br />
vor sich, der hundert Meilen breit und dreihundert Faden tief war.<br />
Doch wie viele russische U-Boote lauerten dort?<br />
»Ich glaube, das ist Providence, Sir. Hat gerade die Geschwindigkeit<br />
erhöht. Die Boje muss direkt in seiner Nähe sein. Boston kann<br />
ich nach wie vor nicht finden.«<br />
Die Richtungspeilungen zu den beiden vorderen U-Kontakten<br />
waren nun konstant. Entfernungen ließen sich nur best<strong>im</strong>men,<br />
wenn manövriert wurde. Wenn er jetzt nach links abdrehte, näherte<br />
er sich einem dritten Kontakt, und das war womöglich keine sehr<br />
gute Idee. Wandte er sich aber nach rechts, floh er vor einem<br />
U-Boot, das dann Providence angreifen konnte. Wenn er nichts tat,<br />
erreichte er auch nichts. McCafferty war unschlüssig.<br />
»Schon wieder eine Boje, Sir.« Die neue war zwischen zwei<br />
Kontakten erschienen. Man versuchte, Providence zu orten.<br />
»Dort ist Boston, fährt an einer Boje vorbei.« Unvermittelt<br />
tauchte eine helle, neue Kontaktlinie auf. Todd hat gerade die<br />
Leistung erhöht und läßt sich erfassen, dachte McCafferty. Und<br />
dann taucht er tief und schüttelt die Verfolger ab.<br />
»Torpedo <strong>im</strong> Wasser in eins-neun-drei!«<br />
Ein russischer Bear hatte ihn auf Boston abgeworfen. McCafferty<br />
verfolgte auf dem Sonar-Display, wie S<strong>im</strong>ms abtauchte, verfolgt<br />
von dem Torpedo. Die helle Linie eines Störers erschien, blieb<br />
konstant, während Boston weiterhin manövrierte. Der Torpedo<br />
jagte hinter dem Lärminstrument her und lief noch drei Minuten,<br />
bis ihm der Treibstoff ausging.<br />
Was treiben die da? Was ist ihr Plan? fragte sich McCafferty. Es<br />
musste sich um Tango handeln, die ihre E-Motoren so weit zurückgefahren<br />
hatten, dass sie gerade noch Steuerfahrt machten, und aus<br />
diesem Grund waren sie von den Schirmen verschwunden. Sie<br />
kamen praktisch zum Stillstand, als die Flugzeuge Providence und<br />
Boston geortet hatten. Also kooperierten sie mit den Bear! Das<br />
bedeutete, dass sie sich in geringer Tiefe befanden und wegen der<br />
Oberflächennähe weniger Sonarleistung zur Verfügung hatten.<br />
»Chief, gehen wir einmal davon aus, dass diese beiden Kontakte<br />
Tangos waren, die zwölf Knoten liefen. Welcher Ortungsbereich<br />
ergibt sich aufgrund der vorliegenden Daten?«<br />
»Unter den herrschenden Wasserverhältnissen zehn bis zwölf<br />
Meilen - vorsichtig geschätzt, Sir.«<br />
590
Nördlich von Chicago erschienen die Linien weiterer Sonobojen.<br />
McCafferty ging in die Zentrale und sah sich ihre Positionen auf<br />
dem taktischen Display an. Wenn man von einem Zwe<strong>im</strong>eilenabstand<br />
zwischen Bojenlinien ausging, ließen sich Distanzen ermitteln.<br />
»Nicht gerade raffiniert«, bemerkte der IO.<br />
»Ist doch auch nicht notwendig. Mal sehen, ob wir uns zwischen<br />
den Bojen hindurchschleichen können.«<br />
»Was treiben unsere Freunde?«<br />
»Die verziehen sich jetzt auch besser nach Norden. Ich wage gar<br />
nicht, mir vorzustellen, was die Russen noch alles auf uns loslassen.<br />
Fahren wir an dieser Stelle durch.«<br />
Der Erste gab die Befehle; Chicago setzte sich wieder in Bewegung.<br />
Nun würde sich erweisen, ob die Gummibeschichtung des<br />
Rumpfes Schallwellen absorbierte oder nicht. Das U-Boot tauchte<br />
tief ab und hielt exakt auf den Mittelpunkt zwischen zwei aktiven<br />
Bojen zu.<br />
Wieder ein Torpedo achtern, und McCafferty ließ rasch ein<br />
Ausweichmanöver fahren, nur um festzustellen, dass der Fisch nicht<br />
auf ihn angesetzt worden war. Sie hörten ihn mehrere Minuten lang<br />
laufen, dann verklang das Geräusch. Die perfekte Methode, einem<br />
die Konzentration zu rauben, dachte McCafferty und brachte sein<br />
Boot zurück auf Nordkurs.<br />
Als sie näher kamen, änderten sich die Richtungen der Sonobojen.<br />
Sie lagen fast genau zwei Meilen voneinander entfernt, als<br />
Chicago dicht überm Grund mit Schleichfahrt die erste Linie überquerte,<br />
und waren auf eine Frequenz innerhalb des Hörbereichs<br />
eingestellt und <strong>im</strong> Boot deutlich zu hören. Wie <strong>im</strong> Film, dachte der<br />
Kommandant. Chicago fuhr ein wenig nach links und auf eine<br />
Lücke in der nächsten, drei Meilen entfernten Linie zu.<br />
Die Geschwindigkeit war nun auf vier Knoten herabgesetzt worden.<br />
Sonar warnte vor einem möglichen Kontakt <strong>im</strong> Norden, der<br />
aber sofort verklang. Vielleicht ein Tango, vielleicht auch nichts.<br />
Dennoch wurde er aufs Display gebracht. Das U-Boot brauchte fast<br />
eine Stunde, bis es die zweite Linie aktiver Bojen erreicht hatte.<br />
»Torpedo an Steuerbord!« rief Sonar.<br />
»Ruder hart Steuerbord, AK voraus!«<br />
Die Schraube wühlte das Wasser auf, erzeugte eine Menge Lärm<br />
für das russische Flugzeug, das den Fisch auf einen möglichen<br />
591
Kontakt abgeworfen hatte. Sie liefen drei Minuten lang weiter,<br />
warteten auf zusätzliche Daten über den Torpedo.<br />
»Wo ist der Fisch?«<br />
»Er peilt, Sir - aber in die andere Richtung, wird schwächer.»<br />
»Zwei Drittel voraus«, befahl McCafferty.<br />
»Noch ein Torpedo - in null-vier-sechs.«<br />
»Ruder hart Steuerbord, AK voraus«, musste McCafferty erneut<br />
befehlen. Er wandte sich an den IO. »Verflucht, die haben den<br />
Fisch eben nur abgeworfen, um uns aufzuscheuchen. Da oben sitzt<br />
ein ausgezeichneter Taktiker, der genau weiß, dass wir es uns nicht<br />
leisten können, einen Torpedo zu ignorieren.«<br />
»Woher wusste er, wo wir sind?«<br />
»Mag sein, dass er es nur <strong>im</strong> Gefühl hatte, mag sein, dass man<br />
einen Pieps von uns empfing. Auf jeden Fall haben sie jetzt einen<br />
Kontakt.«<br />
»Torpedo in null-vier-eins, peilt uns an, ich kann noch nicht<br />
sagen, ob er uns erfaßt hat, Sir. Neuer Kontakt in null-neun-fünf.<br />
Klingt nach Maschinengeräuschen... möglicherweise ein U-<br />
Boot.«<br />
»Was nun?« flüsterte McCafferty. Er kehrte dem russischen<br />
Torpedo das Heck zu und blieb knapp überm Grund. Die Sonarleistung<br />
fiel auf null, als Chicago auf über zwanzig Knoten beschleunigte.<br />
Doch die Instrumente empfingen weiter die Ultraschallsignale<br />
des Torpedos, und McCafferty manövrierte, um die<br />
auf ihn hinabtauchende Waffe hinter sich zu halten.<br />
»Auf hundert Fuß gehen! Störer ausstoßen.«<br />
»Tiefenruder voll anstellen!« Der Tauchoffizier ließ für dieses<br />
Manöver die vorderen Tr<strong>im</strong>mtanks kurz anblasen, eine Maßnahme,<br />
die zusammen mit dem Störer <strong>im</strong> Wasser eine gewaltige<br />
Turbulenz erzeugte. Der Torpedo jagte in diese Zone hinein und<br />
verfehlte Chicago. Ein gutes, aber verzweifeltes Manöver. Das U-<br />
Boot stieg rasch auf, sein elastischer Rumpf knisterte, als der Wasserdruck<br />
auf den Stahl nachließ. Draußen lauerte ein feindliches<br />
Boot, das nun allen möglichen Lärm von Chicago hören musste.<br />
Nun blieb McCafferty nur noch die Flucht. Er ließ die Fahrt auf<br />
fünf Knoten verlangsamen und drehte ab, als dem Torpedo unter<br />
ihm der Treibstoff ausging. Nächstes Problem: ein sowjetisches U-<br />
Boot ganz in der Nähe.<br />
»Jetzt muss er wissen, wo wir sind, Skipper.«<br />
592
»Allerdings. Sonar: Yankee-Suche!« Auch er konnte ungewöhnliche<br />
Taktiken anwenden. »Feuerleittrupp, klar für Schnellschuß.«<br />
Das leistungsfähige, aber nur selten benutzte Aktivsonar <strong>im</strong> Bug<br />
von Chicago peitschte das Wasser mit Niederfrequenz-Peilsignalen.<br />
»Kontakt in null-acht-sechs, Distanz viertausendsechshundert.«<br />
»Einstellen!«<br />
Drei Sekunden später hallten sowjetische Sonarwellen durch den<br />
Stahlrumpf.<br />
»Eingestellt! Rohr drei und zwei klar!«<br />
»Feuer!« Die Torpedos liefen in Sekundenabständen los.<br />
»Drähte kappen! Auf tausend Fuß gehen, AK voraus, Ruder hart<br />
Backbord, neuer Kurs zwei-sechs-fünf!« Das U-Boot machte praktisch<br />
auf der Stelle kehrt und raste nach Westen, als seine Torpedos<br />
auf ihr Ziel zujagten.<br />
»Torpedos achtern - null-acht-fünf.«<br />
»Geduld«, sagte McCafferty. Damit hatte der Russe offenbar<br />
nicht gerechnet. »Gut gemacht, Feuerleittrupp. Wir haben eine<br />
Minute vor dem Gegner gefeuert. Fahrt?«<br />
»Vierundzwanzig Knoten, n<strong>im</strong>mt zu, Sir«, erwiderte der Rudergänger.<br />
»Tiefe nun vierhundert Fuß, Sir.«<br />
»Sonar, wie viele Fische sind hinter uns her?«<br />
»Mindestens drei, Sir. Unsere peilen. Ich vermute, dass sie das<br />
Ziel erfaßt haben.«<br />
»IO, in ein paar Sekunden drehen wir ab und gehen höher. In<br />
diesem Augenblick stoßen Sie in Abständen von fünfzehn Sekunden<br />
vier Lärminstrumente aus.«<br />
»Aye, Sir.«<br />
McCafferty stellte sich hinter den Rudergänger, der gestern erst<br />
zwanzig geworden war. Der Ruderlagenanzeiger stand auf geradeaus,<br />
die Tiefenruder waren auf zehn Grad abwärts gestellt, und das<br />
Boot jagte auf fünfhundert Fuß weiter in die Tiefe. Die Fahrt betrug<br />
nun dreißig Knoten, doch die Beschleunigung ließ nach, da sich<br />
Chicago seiner Höchstgeschwindigkeit näherte. Er klopfte dem<br />
Jungen auf die Schulter.<br />
»So, zehn Grand aufwärts, Ruder zwanzig Grad Steuerbord.«<br />
Eine Explosion donnerte durch den Rumpf- ihr Fisch hatte sein<br />
Ziel gefunden. Chicagos radikales Manöver hatte eine gewaltige<br />
Turbulenzzone <strong>im</strong> Wasser hinterlassen, in die der Erste Offizier nun<br />
593
vier Störer setzte. Die kleinen Gasbehälter füllten die Zone mit<br />
Blasen, die vorzügliche Sonarziele darstellten. Unterdessen eilte<br />
Chicago nach Norden und direkt unter einer Sonoboje hindurch,<br />
aber die Russen konnten keinen weiteren Torpedo abwerten, um<br />
die bereits laufenden nicht zu irritieren.<br />
»Richtungsänderungen an allen Kontakten, Sir«, meldete Sonar.<br />
McCafferty konnte wieder frei atmen. »Ein Drittel voraus.«<br />
Der Rudergänger drehte am Maschinentelegraphen. Die Maschinisten<br />
reagierten sofort, und Chicago verlangsamte die Fahrt.<br />
»Versuchen wir, uns unsichtbar zu machen. Vermutlich wissen<br />
sie noch nicht, wer hier wen versenkt hat. Mittlerweile gehen wir<br />
zurück über Grund und schleichen nach Nordosten. Gut gemacht,<br />
Leute, das war ganz schön haarig.«<br />
Noch hundertfünfzig Meilen zum Packeis.<br />
594
Hunzen, BRD<br />
39<br />
Die Küste von Stykkisholmur<br />
Endlich hatten sie den Gegenangriff zerschlagen. Nein, sagte sich<br />
Alexejew, wir haben ihn nur zurückgeschlagen. Die Deutschen<br />
hatten dem russischen Angriff die Hälfte seines Schwungs genommen<br />
und sich dann freiwillig zurückgezogen. Nur <strong>im</strong> Besitz des<br />
Schlachtfeldes zu sein, war noch kein Sieg.<br />
Es wurde <strong>im</strong>mer schwerer. Beregowoy hatte recht gehabt mit<br />
seiner Bemerkung, eine große Schlacht ließe sich in der Bewegung<br />
viel schwerer koordinieren als von einem festen Gefechtsstand aus.<br />
Allein die Anstrengung, in einem engen Kommandowagen die richtige<br />
Karte aufzuschlagen, war ein Kampf gegen Raum und Zeit,<br />
und für eine achtzig Kilometer breite Front brauchte man eine<br />
Menge Karten. Der Gegenangriff hatte die Generäle gezwungen,<br />
eine ihrer kostbaren Formationen der Kategorie I nach Norden zu<br />
verlegen - gerade rechtzeitig, um mit ansehen zu müssen, wie sich<br />
die Deutschen zurückzogen, nachdem sie drei Mot-Schützendivisionen<br />
der Kategorie II <strong>im</strong> Rücken angegriffen und böse zugerichtet<br />
und bei Tausenden von Reservisten, die mit alter Ausrüstung klarzukommen<br />
versuchten und sich kaum noch an die Ausbildung<br />
erinnern konnten, Panik ausgelöst hatten.<br />
»Warum haben sie sich zurückgezogen?« fragte Sergetow seinen<br />
General.<br />
Alexejew antwortete nicht. Das war eine gute Frage, die er sich<br />
selbst bereits ein halbes dutzendmal gestellt hatte. Vermutlich aus<br />
zwei Gründen, grübelte er. Erstens, weil dem Feind die Kraft fehlte,<br />
zweitens, weil die Hauptsache unseres Angriffs schon fast die Weser<br />
erreicht hat und man sich mit dieser Krise befassen muss. Der<br />
Nachrichtendienstoffizier der Armeegruppe näherte sich.<br />
»Genosse General, eines unserer Aufklärungsflugzeuge hat eine<br />
beunruhigende Meldung gemacht.« Der Offizier gab den knappen<br />
Funkspruch des tieffliegenden Aufklärers wieder. Die Luftherr<br />
595
schaft der Nato hatte diesen hochwichtigen Einheiten ganz besonders<br />
gr<strong>im</strong>mige Verluste zugefügt. Der Pilot dieses MiG-21 hatte auf<br />
der E 8 südlich von Osnabrück eine starke alliierte Panzerkolonne<br />
gemeldet und war seitdem verschollen. Der General griff sofort<br />
zum Funktelefon und rief Stendal an.<br />
»Warum wurden wir nicht sofort über diese Meldung informiert?«<br />
fragte er vorwurfsvoll seinen Vorgesetzten.<br />
»Es ist eine unbestätigte Meldung«, erwiderte der OB West.<br />
»Verdammt, wir wissen doch genau, dass die Amerikaner in Le<br />
Havre Verstärkungen gelandet haben!«<br />
»Die erst morgen an der Front sein können. Wie schnell haben Sie<br />
einen Brückenkopf an der Weser?«<br />
»Im Augenblick sind Einheiten bei Rühle am Fluß -«<br />
»Dann schaffen Sie Ihre Brückeneinheiten dorthin und bringen<br />
Sie die Leute rüber!«<br />
»Genosse, an meiner rechten Flanke herrscht noch Unordnung,<br />
und nun kommt diese Meldung, derzufolge sich dort möglicherweise<br />
eine feindliche Division formiert!«<br />
»Kümmern Sie sich um den Weserübergang und überlassen Sie<br />
diese Phan<strong>tom</strong>division mir. Das ist ein Befehl, Pawel Leonidowitsch!«<br />
Alexejew legte auf. Er hat einen besseren Überblick als ich,<br />
dachte er. Ist die Weser erst einmal überbrückt, liegt für fast hundert<br />
Kilometer kein ernsthaftes Hindernis mehr vor uns. Von der<br />
Weser aus können wir ins Ruhrgebiet vorstoßen. Wenn wir das<br />
zerstören oder auch nur bedrohen, werden die Deutschen womöglich<br />
eine politische Lösung anbieten, und dann ist der Krieg vorbei.<br />
Will der Chef mir das sagen?<br />
Der General schaute sich seine Karten an. Bald würde das führende<br />
Reg<strong>im</strong>ent den Angriff über die Weser beginnen. Ein Pionierreg<strong>im</strong>ent<br />
mit Pontonbrücken war bereits unterwegs. Und er hatte<br />
seine Befehle.<br />
»Setzen Sie die OMG-Einheiten in Bewegung.«<br />
»Und was wird aus unserer rechten Flanke?« protestierte Beregowoy.<br />
»Die muss auf sich selbst aufpassen.«<br />
596
Brüssel<br />
Der Nachschub bereitete dem SACEUR noch <strong>im</strong>mer Sorgen. Er war<br />
auch zu einem großen Risiko gezwungen worden, indem er der<br />
Panzerdivision, die nun auf Springe zurollte, auf den Straßen den<br />
absoluten Vorrang gab. Munition, Ersatzteile und Millionen anderer<br />
wichtiger Versorgungsgegenstände von den Containerschiffen<br />
wurden erst jetzt an die Front geschickt. Seine größte Reserveformation,<br />
die Panzer, waren <strong>im</strong> Begriff, sich mit zwei deutschen<br />
Brigaden und den Überresten des 1. Panzer-Kavallerie-Reg<strong>im</strong>entes<br />
zu vereinigen.<br />
Die Nachschublage war noch <strong>im</strong>mer gespannt. Viele seiner<br />
Fronteinheiten hatten nur noch Reserven für vier Tage, und selbst<br />
wenn alles perfekt klappte, würde das Auffüllen zwei Tage dauern.<br />
Bei einer Übung zu Friedenszeiten mochte diese Marge noch gereicht<br />
haben, doch nun, da Menschenleben und ganze Länder auf<br />
dem Spiel standen, sah das anders aus. Aber er hatte keine Wahl.<br />
»General, es liegt eine Meldung über einen Angriff in Reg<strong>im</strong>entsstärke<br />
auf die Weser vor. Sieht so aus, als wollte der Iwan Truppen<br />
ans linke Ufer bringen.«<br />
»Was haben wir dort?«<br />
»Ein angeschlagenes Bataillon. Zwei Kompanien Panzer sind<br />
unterwegs und sollten in einer guten Stunde an Ort und Stelle sein.<br />
Ersten Hinweisen zufolge stoßen sowjetische Verstärkungen in<br />
diese Richtung vor. Das kann die Hauptangriffsrichtung sein.«<br />
Der SACEUR lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah zum<br />
Kartendisplay. Ein Reservereg<strong>im</strong>ent war drei Fahrstunden von<br />
Rühle entfernt. Der General spielte für sein Leben gern Poker und<br />
gewann gewöhnlich auch. Wenn er nun von Springe aus nach<br />
Süden angriff und erfolglos blieb, dann setzten die Russen zwei<br />
oder drei Divisionen über die Weser, denen er nur ein Reservereg<strong>im</strong>ent<br />
entgegenzustellen hatte. Verlegte er seine neue Panzerdivision<br />
dorthin - vorausgesetzt, sie kam wie durch ein Wunder rechtzeitig<br />
dort an -, vertat er seine beste Chance für einen Gegenangriff,<br />
indem er einmal wieder auf einen sowjetischen Schachzug reagierte.<br />
Nein, das musste jetzt ein Ende haben. Er wies auf Springe. »Wann<br />
sind die marschbereit?«<br />
»Die ganze Division? Bestenfalls in sechs Stunden. Einheiten, die<br />
noch unterwegs sind, können wir nach Süden umleiten -«<br />
597
»Kommt nicht in Frage.«<br />
»Stoßen wir dann mit den verfügbaren Kräften von Springe aus<br />
nach Süden vor?«<br />
»Nein.« Der SACEUR schüttelte den Kopf und legte seinen Plan<br />
dar...<br />
Island<br />
»Ich sehe einen!« rief Garcia. Edwards und Nichols waren <strong>im</strong> Nu<br />
an seiner Seite.<br />
»Hallo, Iwan«, meinte Nichols leise.<br />
Edwards sah eine winzige Gestalt am Kamm des Gipfels entlangmarschieren.<br />
Der Mann trug ein Gewehr und eine Mütze, keinen<br />
Helm. Nun blieb er stehen und hob die Hände ans Gesicht, hatte<br />
offenbar ein Fernglas. Er schaute nach Norden, leicht nach unten,<br />
nach links und rechts. Dann drehte er sich um und spähte in<br />
Richtung Keflavik.<br />
Ein weiterer Mann erschien, näherte sich dem ersten, der nach<br />
Süden wies.<br />
»Worum es da wohl geht?« fragte Edwards.<br />
»Die reden übers Wetter, von Mädchen, Sport oder Essen, wer<br />
weiß?« erwiderte Nichols. »Da ist noch einer!«<br />
Der dritte Mann musste ein Offizier sein, schloß Edwards. Er<br />
sagte etwas, und daraufhin entfernten sich die beiden anderen<br />
rasch. Welchen Befehl hatte er da gerade gegeben?<br />
Schließlich erschien eine Gruppe von Männern, mindestens zehn,<br />
die Hälfte davon bewaffnet. Man marschierte bergab nach Westen.<br />
»Ein guter Soldat«, kommentierte Nichols. »Schickt eine Streife<br />
los, um sicherzustellen, dass das Gebiet sicher ist.«<br />
»Und was unternehmen wir nun?« fragte Edwards.<br />
»Was schlagen Sie vor, Lieutenant?«<br />
»Wir haben den Befehl, uns nicht vom Fleck zu rühren. Tun wir<br />
das, und hoffen wir, dass sie uns nicht entdecken.«<br />
»Wäre auch unwahrscheinlich. Es ist kaum anzunehmen, dass sie<br />
von ihrem Berg steigen, sich durch die Felsblöcke da unten quälen<br />
und dann hier hochklettern nur für den Fall, dass hier Amerikaner<br />
sitzen. Dass sie überhaupt hier sind, wissen wir ja nur, weil wir ihren<br />
Hubschrauber beobachtet haben.«<br />
598
Andernfalls wären wir ihnen glatt vor die Füße gelaufen, sagte<br />
sich Edwards, und das wäre das Ende gewesen. Sicher kann ich<br />
mich erst fühlen, wenn ich wieder in Maine bin. »Kommen da noch<br />
mehr Russen?« fragte er laut.<br />
»Da drüben muss etwa eine Kompanie sein. Ziemlich clever von<br />
unseren Freunden, nicht wahr?«<br />
Edwards baute das Funkgerät auf, um Doghouse diese Entwicklung<br />
zu melden. Inzwischen behielten die Marines die Russen <strong>im</strong><br />
Auge.<br />
»Eine Kompanie, sagen Sie?«<br />
»Das ist Sergeant Nichols' Schätzung. Nicht so einfach, über drei<br />
Meilen Köpfe zu zählen.«<br />
»Gut, wir geben das weiter. Tut sich etwas in der Luft?«<br />
»Seit gestern haben wir kein Flugzeug gesehen.«<br />
»Und Stykkisholmur?«<br />
»Zu weit entfernt, um etwas zu erkennen. Die Allradfahrzeuge<br />
stehen <strong>im</strong>mer noch auf der Straße, aber es sind keine Panzer zu<br />
sehen. Die Fischerboote bleiben <strong>im</strong> Hafen.«<br />
Gut gemacht, Beagle. Bleiben Sie am Ball.« Der Major schaltete<br />
das Funkgerät ab und wandte sich an seinen Nachbarn an der<br />
Konsole. »Eine Schande, sie so <strong>im</strong> dunkeln tappen zu lassen.«<br />
Der SOE-Mann trank einen Schluck Tee. »Schl<strong>im</strong>mer noch,<br />
wenn die ganze Operation aufflöge.«<br />
Edwards zerlegte das Funkgerät nicht, sondern lehnte es an einen<br />
Felsblock. Vigdis lag noch <strong>im</strong>mer schlafend auf einem Felsrand<br />
knapp unterm Gipfel. Schlafen war die angenehmste Beschäftigung,<br />
die Edwards sich <strong>im</strong> Augenblick vorstellen konnte.<br />
»Die kommen auf uns zu«, sagte Garcia und gab Edwards das<br />
Fernglas. Smith und Nichols standen in der Nähe und besprachen<br />
sich.<br />
Mike richtete das Glas auf die Russen und sagte sich, es ist<br />
unwahrscheinlich, dass sie direkt auf diese Position zuhalten. Rede<br />
dir das ruhig weiter ein, dachte er und nahm sich den russischen<br />
Beobachtungsposten vor.<br />
»Da ist es schon wieder«, sagte der Feldwebel seinem Leutnant.<br />
»Was denn?«<br />
599
»Auf diesem Gipfel hat etwas geblitzt, als spiegelt sich die Sonne<br />
in etwas.«<br />
»Ein Gl<strong>im</strong>merstein«, schnaubte der Leutnant und schaute noch<br />
nicht einmal hin. »Genosse Leutnant!« Der Leutnant fuhr bei dem<br />
scharfen Ton herum und sah einen Stein auf sich zufliegen. Er fing<br />
ihn auf. »Sieht das vielleicht aus wie Gl<strong>im</strong>mer?«<br />
»Dann ist's eine Konservendose. Wir haben doch genug Abfall<br />
von Touristen und Bergsteigern gefunden.«<br />
»Warum blitzt das dann auf und verschwindet wieder?«<br />
Endlich geriet der Leutnant sichtlich in Rage. »Feldwebel, ich<br />
weiß, dass Sie ein Jahr Afghanistan-Erfahrung haben. Ich weiß<br />
auch, dass ich ein frischgebackener Offizier bin. Aber ich bin <strong>im</strong>mer<br />
noch der Offizier und Sie nur ein Feldwebel!«<br />
Die Wunder der klassenlosen Gesellschaft, dachte der Feldwebel<br />
und schaute den Offizier unverwandt an. Nur wenige Offiziere<br />
konnten seinem Blick standhalten.<br />
»Na schön, dann bringen Sie es ihnen bei.« Der Leutnant wies<br />
aufs Funkgerät.<br />
»Marchowski, sehen Sie sich den Gipfel zu Ihrer Rechten an, ehe<br />
Sie zurückkommen.«<br />
»Aber der ist doch zweihundert Meter hoch!« versetzte der Zugführer.<br />
»Genau. Eine Kleinigkeit«, meinte der Feldwebel tröstend.<br />
USS Independent<br />
Toland bediente den Projektor. »So, diese Satellitenbilder sind<br />
keine drei Stunden alt. Der Iwan hat drei mobile Radaranlagen, die<br />
Sie hier erkennen können, und er verlegt sie täglich. In Keflavik<br />
stehen fünf Startfahrzeuge für SA-11, vier Raketen pro Fahrzeug.<br />
Diese SAM sind böse Nachrichten. Über ihre Fähigkeiten sind Sie ja<br />
informiert. Außerdem müssen Sie sich auf ein paar hundert tragbare<br />
SAM gefaßt machen. Das Bild zeigt sechs Flakpanzer. Feste<br />
Flakstellungen sieht man nicht, meine Herren, weil sie getarnt sind.<br />
Dazu fünf bis zehn Abfangjäger MiG-29. Hier war einmal ein<br />
Reg<strong>im</strong>ent stationiert, bis die Jungs von der N<strong>im</strong>itz aufräumten.<br />
Vergessen Sie nicht, dass die übrigen Piloten zwei Geschwader<br />
Tomcats überlebt haben. Soviel also zum Gegner in Keflavik.«<br />
600
Fünfzehn Minuten später hob sich der Vorhang. Zuerst starteten<br />
die E-2C-Hawkeye. Von Jägern begleitet, flogen sie bis auf achtzig<br />
Meilen an die isländische Küste heran und dehnten ihren Radarerfassungsbereich<br />
über die ganze Formation aus. Weitere Hawkeye<br />
spähten nach Norden, um den Angriffsverband vor möglichen luftoder<br />
U-Boot-gestützten Raketen zu warnen.<br />
Keflavik, Island<br />
Sowjetisches Bodenradar erfaßte die Hawkeye schon, bevor noch<br />
ihre leistungsfähigen Systeme aktiviert wurden. Zwei der langsamen<br />
Propellerflugzeuge schwebten außerhalb der SAM-Reichweite,<br />
jeweils begleitet von anderen Maschinen, deren weite Achter-Flugbahnen<br />
sie als Tomcat-Abfangjäger auswiesen. Es wurde<br />
Alarm gegeben. Flak- und Raketenbedienungsmannschaften hasteten<br />
auf ihre Posten.<br />
Die russischen Jäger wurden von einem Major befehligt, der sich<br />
dreier Abschüsse rühmen konnte, aber auch die bittere Erfahrung<br />
gemacht hatte, dass Vorsicht sich auszahlt. Einmal war er bereits<br />
abgeschossen worden, einmal mit seinem Reg<strong>im</strong>ent in eine Falle der<br />
Amerikaner geraten. Wie sollte er nun wissen, ob dies ein Angriff<br />
war oder nur eine List, um die verbliebenen Jäger von Island<br />
wegzulocken? Er fällte seine Entscheidung. Auf seinen Befehl hin<br />
starteten die Jäger, stiegen auf zwanzigtausend Fuß, kreisten über<br />
der Halbinsel, sparten Treibstoff und blieben über Land und <strong>im</strong><br />
Schutz der SAM-Batterien. Als sie die befohlene Höhe erreicht<br />
hatten, zeigten ihre Radarwarngeräte weitere Hawkeye <strong>im</strong> Osten<br />
und Westen an.<br />
Zuerst griffen die Intruder an, kamen knapp über den Wellenkämmen<br />
mit Standard-ARM-Raketen unter den Tragflächen von Süden<br />
herangejagt. Ihnen folgten in größerer Höhe Tomcat-Jäger. Nachdem<br />
die Jäger die Radarflugzeuge passiert hatten, illuminierten sie<br />
die kreisenden MiG mit Radar und begannen, Phoenix-Raketen<br />
abzuschießen.<br />
Das konnten die MiG nicht ignorieren. Die sowjetischen Jäger<br />
verteilten sich paarweise.<br />
Die Intruder gingen knapp außerhalb der dreißig Meilen betra<br />
601
genden Reichweite der SAM in den Steigflug und feuerten je vier<br />
Standard-ARM-Raketen ab, die auf die russischen Suchradaranlagen<br />
zuhielten. Die russischen Radar-Operatoren sahen sich vor eine<br />
grausame Wahl gestellt: entweder die Geräte eingeschaltet lassen<br />
und ihre fast sichere Zerstörung in Kauf nehmen oder sie abstellen<br />
und völlig den Überblick über die Luftschlacht verlieren. Sie wählten<br />
einen Mittelweg. Der sowjetische SAM-Kommandeur ließ die<br />
Sender in unregelmäßigen Abständen ein- und ausschalten, um die<br />
Raketen zu verwirren und die anfliegenden Feindverbände dennoch<br />
einigermaßen <strong>im</strong> Auge zu behalten.<br />
Als erste trafen die Phoenix ein. Die Piloten der MiG verloren<br />
plötzlich die Steuerung vom Boden, manövrierten aber weiter. Eine<br />
Maschine, auf die vier Raketen angesetzt worden waren, wich<br />
zweien aus und geriet einer dritten in die Bahn.<br />
Dann kamen die Standard-ARM. Die Russen verfügten über drei<br />
Suchradaranlagen und drei weitere zum Erfassen von Raketen. Alle<br />
waren nach dem ersten Alarm aktiviert und nach der Ortung von<br />
Raketen in der Luft wieder ausgeschaltet worden. Die Standard<br />
ließen sich nur geringfügig verwirren. Ihre Lenksysteme waren so<br />
ausgelegt, dass sie die Position einer Radaranlage nur für den Fall<br />
aufzeichneten, dass sie plötzlich zu senden aufhörte, und diese<br />
Positionen flogen sie jetzt an. Die Raketen zerstörten zwei Radaranlagen<br />
völlig und beschädigten zwei weitere.<br />
Der amerikanische Kommandeur war wütend, denn die russischen<br />
Jäger reagierten nicht wie erwartet. Selbst auf das Aufsteigen<br />
der Intruder hin hatten sie sich nicht gestellt - für diesen Fall waren<br />
tieffliegende amerikanische Jäger in Bereitschaft gewesen. Immerhin<br />
war das sowjetische Bodenradar ausgeschaltet. Er gab den<br />
nächsten Befehl. Drei Geschwader F/A-18 Hornet kamen <strong>im</strong> Tiefflug<br />
von Norden heran.<br />
Der Kommandeur der russischen Luftabwehr ließ sein Radar<br />
wieder anstellen, sah, dass keine Raketen mehr <strong>im</strong> Anflug waren,<br />
und erfaßte bald die niedrig fliegenden Hornet. Dann machte auch<br />
der Kommandeur der MiG die amerikanischen Kampfflugzeuge<br />
aus und erkannte seine Chance. Der MiG-29 war praktisch ein<br />
Zwilling der neuen amerikanischen Maschine.<br />
Die Hornet begannen ihre Lenkgeschosse auf die russischen<br />
SAM-Starter abzuschießen. Flugkörper schrieben Kreuzmuster an<br />
den H<strong>im</strong>mel. Zwei Hornet fielen Raketen zum Opfer, zwei andere<br />
602
der Flak; die restlichen belegten Bodenanlagen mit Bomben und<br />
dem Feuer ihrer Bordkanonen. Dann erschienen die MiG.<br />
Die amerikanischen Piloten wurden zwar gewarnt, befanden sich<br />
aber zu dicht vor ihren Zielen, um sofort reagieren zu können. Von<br />
ihrer Bombenlast befreit, hatten sie wieder die Fähigkeit von Jägern<br />
und stiegen auf - die MiG fürchteten sie mehr als Flugabwehrraketen.<br />
Die nun folgende Luftschlacht entwickelte sich äußerst konfus.<br />
Schon nebeneinander am Boden stehend, hätte man die beiden<br />
Flugzeugtypen kaum voneinander unterscheiden können, doch <strong>im</strong><br />
Gefecht und bei sechshundert Knoten war das noch viel schwieriger.<br />
So kam es, dass die Amerikaner, die in der Überzahl waren, erst<br />
feuern konnten, wenn sie sich ihrer Ziele sicher waren. Die Russen<br />
wussten zwar, was sie angriffen, zögerten aber, einfach ein Ziel<br />
anzugreifen, das einem eigenen Flugzeug derart ähnelte. Das Resultat<br />
war ein anachronistisches Duell mit Bordwaffen, unterstützt<br />
allerdings von Boden-Luft-Raketen der beiden überlebenden russischen<br />
Starter. Die Controller in den amerikanischen Radarflugzeugen<br />
und bei den russischen Bodenstationen bekamen keine Gelegenheit,<br />
steuernd in das Geschehen einzugreifen. Die Jäger gingen<br />
auf Nachbrenner und zogen Kurven, bei denen die Schwerkraft die<br />
Piloten mit dem Mehrfachen ihres Körpergewichts in die Sitze<br />
preßte, Köpfe wurden verdreht, zugekniffene Augen starrten auf<br />
vertraute Umrisse; die Flieger versuchten, Freund oder Feind anhand<br />
des Anstriches der Maschinen zu identifizieren. Die amerikanischen<br />
Hörnet waren dunstgrau und schwerer auszumachen. Zuerst<br />
wurden zwei Hornet abgeschossen, dann ein MiG. Ein weiterer<br />
MiG fiel Bordwaffenfeuer zum Opfer, eine Hornet einer Rakete.<br />
Eine SAM ließ eine MiG und eine Hornet zusammen explodieren.<br />
Der sowjetische Major sah das und befahl den SAM-Bedienungen<br />
brüllend, das Feuer einzustellen; dann schoß er mit seiner<br />
Kanone auf eine Hornet, der vor ihm vorbeifegte, verfehlte ihn,<br />
machte kehrt, um die Verfolgung aufzunehmen. Ein Amerikaner<br />
flog an eine MiG heran und beschädigte mit einem Schuß das<br />
Triebwerk. Der Major wusste nun nicht mehr, wie viele von seinen<br />
Maschinen übrig waren. Darauf kam es auch nicht mehr an, nun<br />
ging es nur noch ums nackte Leben. Er ließ alle Vorsicht fahren,<br />
schaltete den Nachbrenner ein und ignorierte das Warnlicht der<br />
Treibstoffanzeige. Sein Ziel wandte sich nach Norden übers Meer.<br />
603
Der Major feuerte seine letzte Rakete ab und sah, wie sie sich ins<br />
rechte Triebwerk des Hornet bohrte. Im selben Augenblick setzten<br />
seine eigenen Triebwerke aus. Das Leitwerk des Hörnet wurde in<br />
Fetzen gerissen, und der Major schrie vor Begeisterung, als er und<br />
der amerikanische Pilot nur wenige hundert Meter voneinander<br />
entfernt mit dem Schleudersitz ausstiegen. Vier Abschüsse, dachte<br />
der Major. Wenigstens habe ich meine Pflicht getan. Dreißig Sekunden<br />
später lag er <strong>im</strong> Wasser.<br />
Commander Davis kletterte trotz eines gebrochenen Handgelenks<br />
ins Schlauchboot, fluchte über sein Pech und freute sich andererseits<br />
über sein Glück. Als erste bewusste Handlung schaltete er sein<br />
Notfunkgerät ein. Dann schaute er sich um und entdeckte in der<br />
Nähe ein zweites gelbes Schlauchboot. Es war nicht leicht, mit<br />
einem Arm zu paddeln, aber der andere Mann hielt auf ihn zu.<br />
»Ergeben Sie sich!« Der Mann richtete seine Pistole auf ihn.<br />
Davis' Revolver lag auf dem Meeresgrund.<br />
»Und wer, zum Teufel, sind Sie?«<br />
»Major Alexander Georgijewitsch Tschapajew - Sowjetische<br />
Luftwaffe.«<br />
»Tag. Ich bin Commander GUS Davis, U.S. Navy. Wer hat Sie<br />
erwischt?«<br />
»Niemand! Mir ist der Treibstoff ausgegangen!« Er fuchtelte mit<br />
der Waffe. »Und Sie sind mein Gefangener.«<br />
»Quatsch.«<br />
Major Tschapajew, vom Streß des Gefechts und dem knappen<br />
Entkommen noch benommen, schüttelte den Kopf.<br />
»Halten Sie aber die Pistole fest, Major. Ich weiß nicht, ob es hier<br />
Haie gibt.«<br />
»Haie?«<br />
Davis musste angestrengt nachdenken. Wie lautete der Codename<br />
für das neue russische U-Boot noch einmal? »Akula! Akula<br />
<strong>im</strong> Wasser.«<br />
Tschapajew wurde blaß. »Akula?»<br />
Davis zog den Reißverschluß seiner Kombination auf und schob<br />
den verletzten Arm hinein. »Tja, Major, ich liege jetzt schon zum<br />
dritten Mal <strong>im</strong> Bach. Be<strong>im</strong> letzten Mal hab ich zwölf Stunden <strong>im</strong><br />
Schlauchboot gehockt und zwei Haie gesehen. Haben Sie ein Abwehrmittel<br />
dabei?« Davis entleerte einen Kunststoffbeutel ins Was<br />
604
ser. »Vertäuen wir Ihr Schlauchboot mit meinem, das ist sicherer.<br />
Dieses Zeug soll die akula fernhalten.«<br />
Davis versuchte vergeblich, die Schlauchboote mit einer Hand zu<br />
verbinden. Tschapajew legte die Waffe weg und half. Dann schaute<br />
er sich zum ersten Mal um und stellte fest, dass kein Land in Sicht<br />
war. Als er nach seinem Notfunkgerät griff, merkte er, dass er<br />
Fleischwunden am Bein hatte - die Tasche mit dem Gerät war be<strong>im</strong><br />
Aussteigen weggerissen worden. »Was sind wir doch für arme<br />
Schweine«, sagte er in Russisch.<br />
»Wie bitte?«<br />
»Wo ist Land?« Das Meer war ihm noch nie so riesig vorgekommen.<br />
»Da drüben, etwa fünfundzwanzig Meilen entfernt. Ihr Bein<br />
sieht übel aus, Major.« Davis lachte kalt. »Wir müssen den gleichen<br />
Schleudersitz benutzt haben. Verflucht! Tut der Arm weh!«<br />
»He, was ist denn da los?« fragte sich Edwards laut. Sie waren zwar<br />
zu weit entfernt, um etwas zu hören, konnten aber nicht übersehen,<br />
dass von Keflavik Rauch aufstieg.<br />
Eine dringlichere Frage warfen in diesem Augenblick aber die<br />
Russen auf, die sich nun am Fuß des Gipfels befanden. Nichols,<br />
Smith und die vier Soldaten hatten sich um Edwards zu einer<br />
hundert Meter breiten Linie gruppiert und mit geschwärzten Gesichtern<br />
hinter Felsen Deckung genommen.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Hier gibt's Probleme. Over.« Erst nach<br />
dem dritten Ruf kam eine Antwort.<br />
»Was ist los, Beagle?«<br />
»Fünf oder sechs Russen kommen zu uns herauf. Im Augenblick<br />
sind sie etwa noch eine halbe Meile entfernt. Und was ist eigentlich<br />
in Keflavik los?«<br />
»Soviel ich weiß, greifen wir gerade den Stützpunkt an. Halten<br />
Sie uns auf dem laufenden, Beagle. Will sehen, ob ich Ihnen Hilfe<br />
schicken kann.«<br />
»Danke. Out.«<br />
»Ich könnte schwören, da oben eine Bewegung gesehen zu haben«,<br />
sagte der Feldwebel.<br />
»Mal sehen.« Der Leutnant richtete sein starkes Fernglas auf den<br />
Gipfel. »Nichts, überhaupt nichts. War vielleicht ein Vogel.«<br />
605
»Mag sein«, räumte der Feldwebel ein und bedauerte nun, Marchowski<br />
dort hinaufgejagt zu haben.<br />
»Schwerer Luftangriff auf den Stützpunkt.«<br />
»Haben Sie versucht, Funkverbindung aufzunehmen?«<br />
»Ja, aber ich bekomme keine Antwort.« Der Leutnant klang<br />
besorgt. »Warnen Sie Marchowski.«<br />
Edwards sah einen Russen stehenbleiben und mit seinem Sprechfunkgerät<br />
hantieren. Vigdis war aufgewacht.<br />
»Kopf runter, Kleine.«<br />
»Was ist, Michael?«<br />
»Es kommen Leute den Berg hoch.«<br />
»Was für Leute?«<br />
»Rate mal.«<br />
»Skipper, die sind eindeutig auf dem Weg zu uns«, warnte Smith<br />
über Funk.<br />
»Ja, sehe ich auch. Sind alle in Deckung?«<br />
»Lieutenant, ich empfehle, das Feuer erst zu eröffnen, wenn sie<br />
ganz nahe herangekommen sind!« rief Nichols.<br />
»Machen wir, Skipper«, st<strong>im</strong>mte Smith zu.<br />
»Gut. Falls Sie Vorschläge haben, möchte ich sie sofort hören.<br />
Ich habe übrigens Hilfe angefordert. Vielleicht bekommen wir<br />
Luftunterstützung.«<br />
Mike zog den Spannschieber seines Gewehrs zurück, um sicherzustellen,<br />
dass eine Patrone in der Kammer war, sicherte das M-16<br />
und stellte es ab.<br />
Die Fallschirmjäger drangen weiter vor, hielten in einer Hand ihr<br />
Gewehr, suchten mit der anderen Halt oder stützten sich an Felsen<br />
ab. Mike bekam wirklich Angst. Diese Russen waren Elitesoldaten.<br />
Seine Marines zwar auch, er aber nicht. Am liebsten wäre er weggerannt.<br />
Aber was dann? Und Vigdis - konnte er sie <strong>im</strong> Stich lassen?<br />
»Ruhig bleiben«, murmelte er vor sich hin.<br />
»Was?« fragte Vigdis. Sie hatte schon bei seinem Anblick Angst<br />
bekommen.<br />
»Nichts.« Er rang sich mit einigem Erfolg ein Lächeln ab. Die<br />
Russen waren noch fünfhundert Meter entfernt und rückten nun<br />
vorsichtiger vor. Insgesamt waren es sechs, die sich paarweise<br />
bewegten, ausschwärmten und nun nicht mehr den einfachsten<br />
Weg zum Gipfel zu nehmen schienen.<br />
606
»Skipper, die wissen, dass wir hier sind! « rief Smith über Funk.<br />
»Nichols, was meinen Sie dazu?«<br />
»Wir warten ab, bis sie auf hundert Meter heran sind, und ziehen<br />
solange die Köpfe ein. Wenn Sie Unterstützung bekommen können.<br />
Lieutenant, dann fordern Sie sie jetzt an.«<br />
Edwards ging ans andere Funkgerät. »Doghouse, hier Beagle. Wir<br />
brauchen Hilfe.«<br />
»Wir sorgen gerade dafür, dass Freunde diese Frequenz abhören.<br />
Aber das geht nicht so schnell, Lieutenant.«<br />
»In spätestens fünf Minuten wird hier geschossen.«<br />
»Bleiben Sie auf Empfang.«<br />
Was sollen das für Freunde sein? fragte sich Edwards. Und wo sind<br />
sie? Die Felsen, die ihnen sooft Deckung geboten hatten, nahmen<br />
ihnen nun die Sicht. Er war der Offizier, er führte das Kommando, er<br />
hatte den besten Aussichtspunkt und musste jetzt nachsehen, was vor<br />
sich ging. Edwards bewegte sich ein wenig und schaute nach unten.<br />
»Da ist jemand!« rief der Feldwebel und griff nach dem Funkgerät.<br />
»Marchowski, Sie laufen in eine Falle. Ich sehe einen Mann mit Helm<br />
auf dem Gipfel.«<br />
»Sie haben recht«, meinte der Leutnant und drehte sich um.<br />
»Stellen Sie den Mörser auf.« Dann rannte er zu dem großen UKW-<br />
Funkgerät und versuchte Keflavik zu erreichen. Aber Keflavik meldete<br />
sich noch <strong>im</strong>mer nicht.<br />
Edwands sah, wie ein Russe aufstand, sich aber auf einen Warnruf<br />
hin wieder fallen ließ. Als sein Umriß wieder auftauchte, hielt er ein<br />
Gewehr. Edwards hörte ein pfeifendes Geräusch, dann gab es fünfzig<br />
Meter weiter eine Explosion.<br />
»Scheiße!« Edwards warf sich auf den Bauch und drückte sich an<br />
seinen Felsblock. Er sah zu Vigdis, die unversehrt zu sein schien, und<br />
dann hinüber zum Gipfel, an dessen Hang Männer hinabeilten.<br />
Rechts von ihm landete eine weitere Mörsergranate, dann ratterten<br />
au<strong>tom</strong>atische Waffen. Er griff nach seinem Satellitenfunkgerät.<br />
»Doghouse, hier Beagle. Wir werden angegriffen.«<br />
»Beagle, wir haben Kontakt mit einem Träger der Navy. Bitte<br />
warten.« Wieder erzitterte der Boden. Eine Granate explodierte<br />
keine zehn Meter vor seiner Stellung, doch er war gut gedeckt.<br />
»Beagle, der Träger empfängt nun auf Ihrer Frequenz. Bitte senden<br />
Sie. Seine Kennung ist Starbase.«<br />
607
»Starbase, hier Beagle. Over.«<br />
»Roger, Beagle. Ihre Position ist fünf Kilometer westlich von<br />
Höhe 1064. Bitte berichten Sie.«<br />
»Starbase, wir werden von russischer Infanterie angegriffen. Von<br />
dem Beobachtungsposten auf 1064 aus beschießt uns ein Mörser.<br />
Wir brauchen Hilfe, und zwar schnell.«<br />
»Roger, verstanden, Beagle. Warten Sie... Beagle, wir schicken<br />
Ihnen Hilfe. Können Sie Ihre Position markieren?«<br />
»Negativ. Dazu fehlen uns die Mittel.«<br />
»Roger. Nicht aufgeben, Beagle. Wir melden uns wieder. Out.«<br />
Edwards hörte von links einen Schrei, hob den Kopf und sah, dass<br />
in Nichols' Nähe Mörsergranaten einschlugen - und keine hundert<br />
Meter vor ihm waren die Russen. Mike schnappte sein Gewehr,<br />
legte es auf einen sich bewegenden Schemen an, doch der tauchte<br />
weg. Mit der freien Hand griff er nach seinem Sprechfunkgerät.<br />
»Nichols, Smith. Hier Edwards. Bitte melden.«<br />
»Hier Nichols. Wer diesen Mörser bedient, versteht sein Geschäft.<br />
Ich habe hier zwei Verwendete.«<br />
»Wir sind noch okay, Skipper.« Das war Smith. »Zwei Russen<br />
außer Gefecht. Ich schicke Garcia rüber, damit er Ihnen Deckung<br />
gibt.«<br />
»Gut, Jungs, Luftunterstützung ist unterwegs. Ich -« Wieder<br />
tauchte der Schemen auf. Edwards ließ das Funkgerät fallen, zielte<br />
und gab drei Schüsse ab, verfehlte den Angreifer aber. Zurück ans<br />
Radio. »Nichols, brauchen Sie Hilfe?«<br />
»Zwei von uns können noch schießen. Rodgers ist leider tot. Da<br />
-« Das Gerät verstummte für einen Augenblick. »Schon gut, wir<br />
haben einen erschossen, und der andere zieht sich zurück. Aufgepaßt,<br />
Lieutenant, da sind zwei fünfzig Meter links von Ihnen.«<br />
Mike lugte um seinen Felsen herum und wurde sofort beschossen.<br />
Er feuerte zurück, ohne etwas zu treffen.<br />
»Hallo, Skipper!« Garcia fiel neben ihn.<br />
»Zwei Feinde, da drüben.« Der Schütze nickte, ging links hinterm<br />
Gipfel in Deckung. Er hatte zehn Meter zurückgelegt, als vier<br />
Schritte hinter ihm eine Mörsergranate explodierte. Garcia stürzte<br />
schwer und rührte sich nicht.<br />
»Smith, Garcia ist getroffen. Kommen Sie zurück. Nichols, zu<br />
mir, schnell!« Er ging ans andere Funkgerät. »Starbase, hier Beagle.<br />
Richten Sie Ihren Fliegern aus, sie sollen sich beeilen.«<br />
608
»In zwanzig Minuten treffen vier A-7 ein, Beagle. Es ist noch<br />
weitere Hilfe unterwegs, aber die Maschinen kommen zuerst.«<br />
Edwards nahm sein Gewehr und schlich zu Garcia. Der Schütze<br />
atmete noch, aber sein Rücken und seine Beine waren von Granatsplittern<br />
durchsiebt. Der Lieutenant kroch zum Kamm und sah in<br />
zehn Metern Entfernung einen geduckten Russen. Er zielte und gab<br />
zwei Feuerstöße ab. Der Russe stürzte und gab <strong>im</strong> Fallen Schüsse<br />
ab, die Edwards um einen knappen Meter verfehlten. Wo war der<br />
andere? Edwards hob den Kopf und sah einen Gegenstand von der<br />
Größe eines Baseballs durch die Luft fliegen. Er warf sich hastig<br />
rückwärts in Deckung; die Granare ging drei Meter von der Stelle,<br />
an der er sich eben noch befunden hatte, los. Mike rollte sich nach<br />
rechts und kroch wieder bergauf.<br />
Der Russe war wieder verschwunden, doch Edwards sah, dass die<br />
anderen den Fuß seiner Anhöhe <strong>im</strong> Laufschritt erreicht hatten und<br />
nun zu klettern begannen. Der andere - da! Er eilte den Hang<br />
hinab, zog einen Verwundeten hinter sich her. Knapp hinter ihm<br />
fielen Mörsergranaten, deckten seinen Rückzug.<br />
»Okay, Lieutenant?« Das war Smith, der am Arm verwundet<br />
war. »An diesem Mörser sitzt wohl 'n russischer Davy Crockett!«<br />
Drei Minuten später traf Nichols ein. Er war unverletzt, aber der<br />
Soldat der Royal Marines, den er bei sich hatte, blutete aus einer<br />
Bauchverletzung. Edwards schaute auf die Uhr.<br />
»In zehn Minuten kommt Luftunterstützung. Wenn wir hier<br />
oben dicht beieinander bleiben, können die Flugzeuge die ganze<br />
Umgebung bombardieren.«<br />
Die Männer gingen fünfzehn Meter von Edwards entfernt in<br />
Stellung. Mike schnappte Vigdis am Arm und setzte sie zwischen<br />
zwei Felsblöcke.<br />
»Michael, ich hab -«<br />
»Ich auch. Bleib da sitzen, ganz gleich, was auch passiert. Du<br />
kannst -« Wieder das Pfeifen, und diesmal ganz nahe. Mike stolperte<br />
und fiel auf Vigdis. Eine heiße Nadel schien sich durch seinen<br />
Unterschenkel zu bohren.<br />
»Mist!« Die Wunde war knapp überm Stiefel. Er wollte sich<br />
erheben, konnte das Bein aber nicht belasten. Er schaute sich nach<br />
dem Funkgerät um und humpelte fluchend hin. »Starbase, hier<br />
Beagle, over.«<br />
»Noch neun Minuten, Beagle«, sagte die St<strong>im</strong>me geduldig.<br />
609
»Starbase, wir sitzen alle auf dem Gipfel, klar?« Er hob den Kopf.<br />
»Fünfzehn Feinde kommen auf uns zu, sind vielleicht noch siebenhundert<br />
Meter entfernt. Den ersten Angriff haben wir abgeschlagen,<br />
sind aber jetzt nur noch - vier, schätze ich, drei davon verwundet.<br />
Um H<strong>im</strong>mels willen, schalten Sie diesen Mörser aus, der bringt<br />
uns um.«<br />
»Roger. Durchhalten, Hilfe kommt.«<br />
»Sie sind verwundet, Lieutenant«, sagte Nichols.<br />
»Ist mir auch schon aufgefallen. Die Flugzeuge kommen in acht<br />
oder neun Minuten. Ich habe gebeten, dass sie erst den Mörser<br />
ausschalten.«<br />
»Gut. Der Iwan liebt diese Scheißdinger innig.« Nichols schnitt<br />
das Hosenbein auf und verband die Wunde. »Mit dem Tanzen hat<br />
sich's fürs erste.«<br />
»Wie können wir sie hinhalten?«<br />
»Wir eröffnen das Feuer, wenn sie bis auf fünfhundert Meter<br />
herangekommen sind. Das wird sie vorsichtiger machen. Hoffe ich<br />
jedenfalls.« Nichols packte ihn am Arm und zog ihn in eine Dekkung<br />
auf dem Gipfel.<br />
Die Russen gingen überaus geschickt vor, spurteten kurz, nahmen<br />
dann Deckung. Der Mörser schwieg <strong>im</strong> Augenblick, doch dar<br />
würde sich ändern, wenn die Fallschirmjäger nahe genug für einen<br />
Sturmangriff herangekommen waren. Als die Distanz nur noch<br />
fünfhundert Meter betrug, zielte Sergeant Nichols sorgfältig und<br />
drückte ab. Er schoß daneben, aber alle Russen am Hang ließen sich<br />
fallen.<br />
»Wissen Sie, was Sie da gerade getan haben?« fragte Edwards.<br />
»Ja, ich habe weitere Mörsergranaten heraufbeschworen.«<br />
»Hier, Michael, das brauchst du.« Vigdis warf sich neben ihn.<br />
»Hab ich nicht gesagt, du sollst -«<br />
»Da ist dein Funkgerät. Ich gehe wieder -«<br />
»Runter!« Mike zerrte sie neben sich zu Boden, als die Mörsergranate<br />
zehn Meter weiter niederging, gefolgt von vier weiteren<br />
rund um ihre Stellung.<br />
»Sie kommen!« schrie Smith.<br />
Die Marines eröffneten das Feuer, und die Russen schössen<br />
zurück, huschten von Deckung zu Deckung und gingen in zwei<br />
Gruppen vor, die den Gipfel einzuschließen drohten. Mike ging<br />
wieder ans Funkgerät.<br />
610
»Starbase, hier Beagle, over.«<br />
»Roger, Beagle.«<br />
»Sie greifen jetzt an.«<br />
»Beagle, Sie sind in Sichtweite unserer A-7. Ich möchte genau<br />
wissen, wo Sie mit Ihren Männern sind - ganz genau.«<br />
»Starbase, der Berg hat zwei kleinere Gipfel, rund drei Meilen<br />
westlich von Höhe 1064. Wir sind auf dem nördlichen, wiederhole:<br />
dem nördlichen. Alles, was sich bewegt, ist der Feind. Wir sitzen<br />
alle still. Der Mörser steht auf Höhe 1064 und muss so rasch wie<br />
möglich ausgeschaltet werden.«<br />
Eine lange Pause. »Gut, Beagle, ziehen Sie die Köpfe ein, die<br />
Maschinen fliegen in einer Minute von Süden an. Viel Glück.«<br />
»Zweihundert Meter«, sagte Nichols. Edwards kroch neben ihn<br />
und legte das M-16 an. Drei Russen erhoben sich gleichzeitig, beide<br />
Amerikaner schossen, aber Edwards konnte nicht beurteilen, ob er<br />
getroffen hatte oder nicht. Dicht bei ihnen warfen Kugeln Erde und<br />
Steinsplitter auf, und wieder näherten sich pfeifend Mörsergranaten.<br />
Fünf landeten auf dem Gipfel; <strong>im</strong> gleichen Augenblick sah<br />
Edwards rechts von sich den dunstgrauen Umriß eines Jagdbombers.<br />
Der gedrungene A-7E Corsair warf über Höhe 1064 vier Streubomben<br />
ab, die in der Luft zerplatzten. Eine Kaskade von Minibomben<br />
regnete auf den russischen Beobachtungsposten herab.<br />
Über die Entfernung von drei Meilen hinweg klang es wie Feuerwerk,<br />
als der Gipfel in eine Wolke aus Staub und Feuer gehüllt<br />
wurde. Zwanzig Sekunden später wiederholte eine zweite Maschine<br />
das Manöver. Dort oben konnte niemand mehr am Leben<br />
sein.<br />
Die angreifenden Russen blieben wie angewurzelt stehen und<br />
drehten sich zu ihrer Basis um. Dann sahen sie, dass keine zwei<br />
Kilometer entfernt weitere Flugzeuge kreisten. Wenn sie nun noch<br />
fünf Minuten länger leben wollten, mussten sie so nahe wie möglich<br />
an die Amerikaner heran. Wie ein Mann erhoben sich die Russen,<br />
feuerten und stürmten bergan. Zwei Corsair drehten hart ab und<br />
griffen <strong>im</strong> Sturzflug an, kamen knapp dreißig Meter über dem Hang<br />
angefegt und warfen zwei Streubomben. Edwards hörte trotz des<br />
Explosionsdonners Schreie, konnte aber wegen der Staubwolke,<br />
die vor ihnen aufstieg, nichts sehen.<br />
»Verdammt, viel dichter können sie wirklich nicht abwerfen.«<br />
611
»St<strong>im</strong>mt-, antwortete Nichols und wischte sich Blut vom Gesicht.<br />
Doch <strong>im</strong> Staub erklangen noch <strong>im</strong>mer Schüsse. Der Wind verwehte<br />
ihn. und mindestens fünf Russen waren noch <strong>im</strong>mer auf den<br />
Beinen und stürmten auf sie zu. Die Corsair der Navy machten<br />
einen neuen Anflug. mussten ihn aber abbrechen; so dicht bei<br />
Freund-Truppen konnten sie nicht abwerfen. Sie kurvten binnen<br />
Sekunden zurück und feuerten ihre Bordkanonen ab. Die Geschosse<br />
landeten wahllos, einige explodierten sogar ein paar Meter<br />
vor Edwards.<br />
»Wo sind sie hin?<br />
»Nach links, glaube ich-, erwiderte Nichols. -Können Sie nicht<br />
direkt mit den Piloten reden?"<br />
Edwards schüttelte den Kopf. »Mit diesem Funkgerät nicht.<br />
Sergeant.-<br />
Die A-7 kreisten über ihnen, die Piloten hielten nach Bewegung<br />
am Boden Ausschau. Edwards versuchte, ihnen zuzuwinken,<br />
konnte aber nicht beurteilen, ob die Geste erkannt worden war.<br />
Eine Maschine tauchte nach links ab und jagte einen Feuerstoß in<br />
die Felsen. Edwards hörte einen Schrei, sah aber nichts.<br />
Edwards drehte sich um und warf einen Blick auf sein Satellitenfunkgerat.<br />
Bei der letzten Mörsersalve war der Rucksack von einem<br />
Splitter durchbohrt worden.<br />
"Runter!« Nichols packte den Lieutenant, als eine Granate <strong>im</strong><br />
hohen Bogen angeflogen kam und dicht bei ihnen explodierte. "Sie<br />
kommen wieder.«<br />
Edwards wandte sich ab und schob ein neues Magazin in sein<br />
Gewehr. In fünfzehn Meter Entfernung sah er zwei Russen, auf die<br />
er einen langen Feuerstoß abgab. Einer fiel aufs Gesicht. Der andere<br />
schoß zurück und warf sich nach links. Er spürte ein Gewicht auf<br />
den Beinen; Nichols war mit drei roten Löchern in der Schulter auf<br />
den Rücken gefallen. Edwards legte das letzte Magazin ein und<br />
humpelte ungeschickt am Hang nach links.<br />
»Michael...«<br />
»Verzieh dich in die andere Richtung-, versetzte Edwards. "Und<br />
paß auf!-<br />
Er sah ein Gesicht, ein Gewehr - und einen Blitz. Edwards warf<br />
sich nach rechts, aber zu spät: Er wurde in die Brust getroffen. Nur<br />
der Schock verhinderte, dass der Schmerz unerträglich wurde. Er<br />
612
shoß in die Luft, um den Mann in seiner Deckung festzunageln,<br />
sich mit den Beinen nach rückwärts ab. Rechts von ihm<br />
Gewehrfeuer. Warum half ihm niemand? Die A-7 zogen donnernd<br />
Kreise, ohne eingreifen zu können. Sein verwundetes Bein<br />
schmerzte bei der Anstrengung, sein linker Arm hing schlaff herab.<br />
Edwards hielt das Gewehr wie eine überd<strong>im</strong>ensionale Faustfeuerwaffe<br />
und wartete auf den Russen. Er wurde an den Schultern<br />
gepackt und rückwärts geschleift.<br />
»Vigdis, laß mich fallen und lauf weg!"<br />
Sie sagte nichts, sondern schleppte ihn schweratmend über den<br />
Fels. Er begann wegen des Blutverlusts das Bewußtsein zu verlieren,<br />
schaute nach oben und sah die A-7 abfliegen. Dann war da ein<br />
neues Geräusch. Ein jäher Wind wirbelte um ihn herum Staub auf,<br />
ein langer Feuerstoß ratterte, und über ihm tauchte ein großer,<br />
grünschwarzer Umriß auf. Männer sprangen heraus. Er schloß die<br />
Augen, es war vorbei. Der russische Kommandant hatte Keflavik<br />
erreicht, und nun war ein Mi-24 zur Verstärkung gekommen...<br />
Edwards war zu erschöpft, um reagieren zu können. Gewehrfeuer,<br />
dann Stille, als der Hubschrauber wegflog.<br />
»Sind Sie Beagle?«<br />
Er sah einen Schwarzen vor sich.<br />
»Wer sind Sie?«<br />
»Lieutenant Sam Potter. Sie sind Beagle, st<strong>im</strong>mt's?« Er drehte<br />
sich um. »Sanitäter!«<br />
»Meine Leute sind alle verwundet.«<br />
»Darum kümmern wir uns bereits. In fünf Minuten sind Sie hier<br />
raus. Moment noch, Beagle, wir haben zu tun. Okay, Jungs!« rief er<br />
laut, »sehen wir nach den Russen.«<br />
»Michael?« Edwards war <strong>im</strong>mer noch verwirrt. Ihr Gesicht war<br />
über seinem, als er das Bewußtsein verlor.<br />
»Wer ist das eigentlich?« fragte Potter fünf Minuten später.<br />
»Nur ein Wetterfrosch, aber er hat sich prächtig gehalten«, sagte<br />
Smith mit schmerzverzerrtem Gesicht.<br />
»Wie kommen Sie überhaupt hierher?« Potter winkte seinem<br />
Funker.<br />
»Zu Fuß, aus Keflavik.«<br />
»Ganz schöner Weg«, meinte Potter beeindruckt und gab über<br />
Funk einen knappen Befehl. »Hubschrauber ist unterwegs. Die<br />
Dame kommt wohl auch mit.«<br />
613
»Jawohl, Sir. Willkommen auf Island, Sir. Wir haben auf Sie<br />
gewartet.«<br />
»Schauen Sie mal, Sergeant.« Potter wies nach Westen. Eine<br />
Reihe grauer Punkte am Horizont hielt auf Stykkisholmur zu.<br />
USS Chicago<br />
Irgendwo lauerten sie noch <strong>im</strong>mer, das wusste McCafferty mit<br />
Sicherheit - aber wo? Nach der Versenkung des letzten Tango<br />
waren die beiden anderen russischen U-Boote nicht wieder geortet<br />
worden. Seine Ausweichmanöver wurden mit acht relativ friedlichen<br />
Stunden belohnt. Über ihnen kreisten noch <strong>im</strong>mer die russischen<br />
ASW-Flugzeuge und warfen Sonobojen ab, doch in sicherer<br />
Entfernung. Keine unmittelbare Bedrohung also; er konnte sich<br />
und seiner Mannschaft etwas Ruhe gönnen.<br />
Chicago lief rund fünf Meilen vor ihren Schwesterbooten. Stündlich<br />
ging McCafferty auf Ostkurs und peilte sie mit seinem Schleppsonar<br />
präzise an, was nicht einfach war: Selbst über diese Distanz<br />
waren Boston und Providence nur schwer zu orten.<br />
McCafferty fragte sich, was die Russen dachten. Der massierte<br />
Angriff der Grischa-Kriwak-Teams war fehlgeschlagen. Ihre Abhängigkeit<br />
von aktiven Sonobojen hatte die Wirksamkeit ihrer<br />
ASW-Flugzeuge reduziert, und auch der einzige Trick, der fast<br />
geklappt hätte - ein Dieselboot zwischen zwei Sonobojen-Linien zu<br />
plazieren und dann das Ziel durch einen aufs Geratewohl abgeworfenen<br />
Torpedo aufzuscheuchen -, war ohne Erfolg geblieben. Die<br />
Boote der Tango-Klasse waren ernst zu nehmende Gegner, leise<br />
und schwer zu orten, aber die Russen mussten noch <strong>im</strong>mer für ihr<br />
technisch überholtes Sonar zahlen. Insgesamt war McCafferty nun<br />
recht zuversichtlich.<br />
»Nun?« fragte er den Offizier am Kartentisch.<br />
»Es sieht so aus, als liefen sie weiter rund zehntausend Yard<br />
hinter uns. Dieses Boot hier muss Boston sein. Es manövriert viel.<br />
Und Providence hier tuckert auf ziemlich gerader Linie dahin. Wir<br />
haben seine Position genau best<strong>im</strong>mt.«<br />
»Ruder zehn Grad links, neuer Kurs drei-fünf-fünf«, befahl<br />
McCafferty. Der Befehl wurde bestätigt. »Gut.« McCafferty trank<br />
einen Schluck Kakao. Chicago wandte sich langsam nach Norden.<br />
614
Achtern <strong>im</strong> Maschinenraum behielten die Ingenieure des U-Boots<br />
die Anzeigen <strong>im</strong> Auge. Der Reaktor gab gleichmäßig zehn Prozent<br />
Leistung ab.<br />
Unangenehm war nur der Sturm an der Oberfläche. Die Sonar-<br />
Crew schätzte für den arktischen Sommer ungewöhnliche Werte:<br />
Wellenhöhe 4,5 Meter, Windgeschwindigkeit 40 Knoten. Das reduzierte<br />
ihre Sonarleistung zwar um zehn bis zwanzig Prozent,<br />
würde aber am Rand des Packeises ideale Zustände schaffen: Der<br />
Lärm, der entstand, wenn hektargroße Schollen vom Seegang zermahlen<br />
wurden, erschwerte die Ortung von U-Booten außerordentlich.<br />
Noch sechzehn Stunden, dachte McCafferty. In sechzehn<br />
Stunden haben wir es geschafft.<br />
»Sonar an Zentrale, Kontakt in drei-vier-null. Daten reichen zur<br />
Klassifizierung noch nicht aus.«<br />
McCafferty ging in den Sonarraum. »Zeigen Sie mir das mal.«<br />
»Hier, Sir.« Der Sonar-Chief klopfte aufs Display. »Auch die<br />
Schraubenumdrehungen kann ich noch nicht abschätzen. Riecht<br />
aber nach einem A<strong>tom</strong>-U-Boot«, räumte er ein.<br />
»Bringen Sie Ihr Modell auf den Schirm.«<br />
Auf einen Knopfdruck hin zeigte ein zweiter Schirm den vermutlichen<br />
Sonar-Abstand, vom Computer unter Berücksichtigung der<br />
örtlichen Wasserverhältnisse errechnet. Die Distanz auf direktem<br />
Weg betrug rund dreißigtausend Yard. Für Konvergenzzonen war<br />
das Wasser noch nicht tief genug, und sie begannen <strong>im</strong> Niederfrequenzbereich<br />
Hintergrundgeräusche vom Eis zu empfangen, das<br />
ihre Fähigkeit, Sonarkontakte zu isolieren, ähnlich beeinträchtigen<br />
würde wie helles Sonnenlicht, das die Strahlkraft einer elektrischen<br />
Lampe scheinbar reduziert.<br />
»Kontakt wandert langsam von links nach rechts, nun in dreivier-zwei...<br />
wird etwas schwächer. Was ist das?« Der Chief sah auf<br />
eine neue, unscharfe Linie unten auf dem Display. »Möglicher<br />
neuer Kontakt in null-null-vier.« Die Linie verblaßte und blieb zwei<br />
Minuten lang verschwunden, kehrte dann aber in null-null-sechs<br />
zurück.<br />
»Pendelt sich ein. Wir haben nun zwei mögliche U-Kontakte in<br />
drei-vier-null und null-null-vier.«<br />
McCafferty ging zurück in die Zentrale und befahl einen Ostkurs,<br />
der es ihm erlaubte, die neuen Ziele mit dem Schleppsonar<br />
abzutasten und mittels Kreuzpeilungen die Distanzen zu errechnen.<br />
615
»Boston fährt nach Westen, Sir. Ich kann in dieser Richtung<br />
nichts ausmachen, aber sie fährt eindeutig nach Westen.«<br />
»Alle Mann auf Gefechtsstation«, befahl McCafferty. Zurück an<br />
die Arbeit. Er stand am Kartentisch und schätzte die taktische Lage<br />
ab. Zwei möglicherweise feindliche U-Boote verstellten ihm den<br />
Weg zum Packeis. Wenn Boston manövrierte, war S<strong>im</strong>ms vermutlich<br />
ebenfalls auf etwas gestoßen.<br />
»Auf Sehrohrtiefe gehen.« Langsam stieg Chicago von seiner<br />
Marschtiefe von siebenhundert Fuß auf. Fünf Minuten später war<br />
es an der Oberfläche. »ESM ausfahren.«<br />
Der schlanke Mast stieg hydraulisch getrieben auf und sandte<br />
Informationen zu dem für die elektronische Kriegsführung zuständigen<br />
Techniker.<br />
»Skipper, drei Flugzeugradar, J-Band.« Der Mann las die Richtungen<br />
ab. Bear oder May, dachte McCafferty.<br />
»Sehen wir uns mal um. Periskop ausfahren. Okay, da ist ein<br />
May tief überm Horizont auf Westkurs - wirft Bojen ab! Sehrohr<br />
einfahren. Sonar, haben Sie etwas <strong>im</strong> Süden?«<br />
»Nur die beiden Freundkontakte, Sir. Boston wird schwächer.«<br />
»Zurück auf sechshundert.« Sobald sie die befohlene Tiefe erreicht<br />
hatten, ließ er das Boot auf Nordkurs gehen und die Fahrt auf<br />
fünf Knoten reduzieren. Die Russen suchten nun also mit Passivsonar,<br />
eine technisch sehr anspruchsvolle Prozedur; selbst die hochmodernen<br />
Signalverarbeitungsanlagen der Marinen des Westens<br />
meldeten dabei oft Phan<strong>tom</strong>kontakte. Andererseits haben wir unseren<br />
Kurs hinausposaunt, sann McCafferty. Der Gegner kann das<br />
Gebiet saturieren. Warum haben wir es nicht anders versucht? Aber<br />
wie? Die einzige Passage <strong>im</strong> Norden war noch enger als diese. Die<br />
westliche Route zwischen der Bäreninsel und dem Nordkap war<br />
breiter, aber dort lag die halbe sowjetische Nordflotte wie eine<br />
Barriere. Er fragte sich, ob Pittsburgh und die anderen entkommen<br />
waren. Vermutlich ja. Sie sollten in der Lage gewesen sein, dem<br />
Iwan davonzufahren. Anders als wir.<br />
Genauso jagen wir Russen, sinnierte McCafferty weiter. Da sie<br />
unsere Passivbojen nicht hören können, wissen sie nie, ob sie erfaßt<br />
worden sind oder nicht. Der Kommandant stützte sich auf die<br />
Periskopreling. Günstig ist, sagte er sich, dass wir sehr leise sind.<br />
Vielleicht ahnt der Iwan etwas, vielleicht auch nicht. Vermutlich<br />
nicht, denn sonst wäre schon längst ein Torpedo zu uns unterwegs.<br />
616
»Der Kurs der beiden vorderen Kontakte läßt sich nun genauer<br />
best<strong>im</strong>men.«<br />
In offener See konnten sie sich unter Schichten ducken, aber hier<br />
ging das nicht, denn das Meer war nicht sehr rief, und der Sturm<br />
erzeugte viel Oberflächenlärm. Günstig und ungünstig zugleich,<br />
dachte McCafferty.<br />
»Sonar an Zentrale, neuer Kontakt in zwei-acht-sechs, vermutlich<br />
U-Boot. Versuchen nun, Schraubenumdrehungen zu ermitteln.«<br />
McCafferty befahl eine Kursänderung nach Steuerbord und ließ<br />
Chicago auf tausend Fuß gehen. Je weiter er sich von der Oberfläche<br />
entfernte, desto besser die Bedingungen fürs Sonar. Wenn die<br />
Russen in Oberflächennähe fuhren, um Verbindung mit ihren Flugzeugen<br />
zu halten, musste ihre Sonarleistung entsprechend leiden. Er<br />
wollte jede Karte ausspielen, ehe er sich auf ein Gefecht einließ. Was<br />
aber, wenn...?<br />
Es bestand die Möglichkeit, dass es sich bei einem oder mehreren<br />
Kontakten um Freunde handelte. Was, wenn Sceptre und Superb<br />
wegen des Schadens, den Providence erlitten hatte, neue Befehle<br />
erteilt worden waren? Auch der neue Kontakt in zwei-acht-sechs<br />
konnte ein Freund sein.<br />
Nun blieb ihm nur übrig, Distanz und Identität seiner drei Kontakte<br />
festzustellen.<br />
»Alle drei haben nur eine Schraube«, meldete der Sonar-Chief<br />
nach zehn Minuten.<br />
McCafferty zog eine Gr<strong>im</strong>asse. Diese Auskunft schloß nur Möglichkeiten<br />
aus, ohne ihm etwas Positives zu sagen. Alle britischen<br />
U-Boote zum Beispiel waren mit nur einer Schraube ausgerüstet.<br />
Ebenso die russischen Victor und Alfa.<br />
»Maschinensignatur?«<br />
»Alle laufen mit sehr geringer Leistung, Sir; für eine Klassifizierung<br />
reicht das nicht aus. Dampfgeräusche von allen dreien weisen<br />
auf A<strong>tom</strong>antrieb hin. Bedaure, mehr kann ich nicht sagen.«<br />
Je weiter wir nach Osten fahren, sagte sich McCafferty, desto<br />
mehr n<strong>im</strong>mt die Signalstärke ab. Er ließ auf Gegenkurs gehen.<br />
Wenigstens standen inzwischen die Distanzen fest. Die Ziele <strong>im</strong><br />
Norden waren elf und dreizehn Meilen entfernt, der dritte Kontakt<br />
lag neun Meilen <strong>im</strong> Westen. Alle befanden sich in Reichweite seiner<br />
Torpedos.<br />
617
»Zentrale, hier Sonar. Explosion in eins-neun-acht... noch etwas,<br />
möglicherweise Torpedo in zwei-null-fünf, sehr schwach.<br />
Vielleicht Bruchgeräusche in eins-neun-acht. Leider sind die Signale<br />
sehr schwach. Eindeutig war nur die Explosion.« McCafferty betrat<br />
einmal wieder den Sonarraum.<br />
»Schon gut, Chief. Wenn das ein Kinderspiel wäre, brauchte ich<br />
Sie nicht." McCafferty schaute auf den Bildschirm. Der Torpedo<br />
lief noch, änderte leicht die Richtung. Für Chicago stellte er keine<br />
Gefahr dar. »Konzentrieren Sie sich auf die drei U-Boot-Kontakte.«<br />
»Aye, Sir.«<br />
Chicago fuhr weiter nach Südwesten. McCafferty schlich sich<br />
nun an das westliche Ziel heran, an dem er die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass es sich um einen Freund handelte, für am geringsten hielt. Der<br />
Abstand schmolz auf acht, dann sieben Meilen.<br />
»Sir, Kontakt in zwei-acht-null als Alfa klassifiziert!«<br />
»Sind Sie auch sicher?«<br />
»Jawohl, Sir. Maschinen- und Reaktorgeräusche weisen eindeutig<br />
auf ein Alfa hin.«<br />
»Wir lassen einen Torpedo tief unter ihm langsam einen Haken<br />
schlagen und dann mit Tempo gegen ihn aufsteigen.«<br />
Sein Feuerleittrupp wurde von Tag zu Tag besser. Fast hatte es<br />
den Anschein, als arbeitete er schneller als der Computer.<br />
»Sir, wenn wir in dieser Tiefe schießen, verbrauchen wir eine<br />
Menge unserer Preßluftreserven«, warnte der IO.<br />
»Sie haben recht. Auf hundert Fuß gehen.« McCafferty verzog<br />
das Gesicht. Wie konnte er so etwas vergessen?<br />
»Vorne an fünfzehn!«<br />
»Zielkoordinaten eingestellt, Sir.«<br />
»Bereithalten.« Der Kommandant behielt den Zeiger des Tiefenmessers<br />
<strong>im</strong> Auge.<br />
»Hundert Fuß, Sir.«<br />
»Feuer!«<br />
»Zwei laufen, Sir.«<br />
Das Alfa mochte den Preßluftlärm gehört haben. Der Torpedo<br />
entfernte sich mit vierzig Knoten in Richtung drei-fünf-null, also<br />
nicht in die des Zieles. Nach dreitausend Yard wurde ihm über die<br />
Lenkdrähte der Befehl erteilt, abzudrehen und abzutauchen.<br />
McCafferty ging bei diesem Schuß vorsichtiger vor, als ihm lieb<br />
gewesen war. Wenn das Alfa den anlaufenden Fisch ortete, kam er<br />
618
aus einer Richtung, in der sich Chicago nicht befand - ein Gegenschuß<br />
würde also nicht auf sie zukommen. Der Nachteil dieser<br />
Prozedur war das erhöhte Risiko eines Fehlschusses wegen gerissener<br />
Lenkdrähte. Der Torpedo lief in großer Tiefe, weil der dort<br />
herrschende Wasserdruck Kavitationsgeräusche und damit die Distanz<br />
verringerte, aus der er von dem Alfa geortet werden konnte.<br />
Man musste hier besondere Vorsicht walten lassen, weil das Alfa<br />
mit seiner Höchstgeschwindigkeit von vierzig Knoten fast so<br />
schnell wie der Torpedo war. Chicago fuhr weiter nach Südwesten,<br />
um die größtmögliche Distanz zwischen sich und dem Torpedo zu<br />
schaffen.<br />
»Torpedo läuft weiterhin normal«, meldete Sonar.<br />
»Distanz zum Ziel?- fragte McCafferty.<br />
»Rund sechstausend Meter, Sir. Empfehle, bei viertausend hoch<br />
und auf Max<strong>im</strong>algeschwindigkeit zu gehen«, meinte der Waffenoffizier.<br />
»Gut.«<br />
»Hier Sonar. Ziel hat gerade die Leistung erhöht.«<br />
»Er hat's gehört. Fisch mit Höchstfahrt hoch, Sonar aktivieren.«<br />
»Rumpfknistern, Sir. Das Alfa wechselt die Tiefe!« rief der Sonar-Chief<br />
erregt. »Ich habe das Torpedo-Sonar auf dem Schirm.<br />
Unser Fisch peilt, das Ziel ebenfalls.«<br />
»Sir, die Drähte sind gerissen.«<br />
»Sollte jetzt nicht mehr darauf ankommen. Sonar, Schraubenumdrehungen<br />
des Alfa?«<br />
»Geht auf zweiundvierzig Knoten, viel Kavitationslärm. Scheint<br />
abzudrehen und gerade ein Lärminstrument ausgestoßen zu haben.«<br />
»Hat eigentlich jemand schon mal auf ein Alfa geschossen?«<br />
fragte der Erste Offizier.<br />
»Nicht, dass ich wüßte.«<br />
»Fehlschuß!« meldete Sonar. »Der Torpedo ist achtern am Ziel<br />
vorbeigelaufen. Ziel scheint nach Osten zu fahren. Torpedo läuft<br />
noch - nein, dreht jetzt ab, peilt <strong>im</strong>mer noch, Sir. Ich befürchte, dass<br />
er das Lärminstrument jagt.«<br />
»Verflucht, ich dachte, der hätte das Ziel erfaßt«, grollte der<br />
Waffenoffizier.<br />
»Wie weit sind wir von der Abschußstelle?«<br />
»Rund siebentausend Meter, Sir.«<br />
619
»Richtung des Alfa?«<br />
»Drei-vier-acht, bewegt sich nach Westen, Maschinengeräusch<br />
hat nachgelassen, Fahrt nun rund zwanzig Knoten.«<br />
»Er wird weiter versuchen, Distanz zwischen sich und dem Torpedo<br />
zu schaffen«, meinte McCafferty. »Was tun die beiden anderen<br />
Kontakte?«<br />
»Scheinen ihre Positionen mehr oder weniger zu halten.«<br />
»Es sind also Russen.« McCafferty schaute auf die Karte. Als<br />
Briten hätten sie manövriert und selbst Torpedos auf das Alfa, das<br />
<strong>im</strong> Umkreis von zwanzig Meilen hörbar gewesen sein musste, abgeschossen.<br />
Drei gegen einen, und nun sind sie gewarnt, dachte McCafferty<br />
und zuckte die Achseln. Sonar meldete einen weiteren Kontakt <strong>im</strong><br />
Süden. Müßte Boston sein, dachte McCafferty und beorderte Chicago<br />
nach Süden. Wenn er es mit drei U-Booten aufnehmen sollte,<br />
brauchte er Hilfe. Eine Stunde später traf er sich mit Boston.<br />
»Ich habe eine Alfa gehört.«<br />
»Wir haben vorbeigeschossen. Was haben Sie erwischt?«<br />
»Etwas mit zwei Schrauben«, antwortete S<strong>im</strong>ms. Ihre Unterwassertelefone<br />
arbeiteten mit sehr geringer Leistung.<br />
»Drei Boote rund vierzehn Meilen vor uns, eines davon ein Alfa.«<br />
McCafferty legte rasch seinen Plan dar. Die U-Boote sollten zehn<br />
Meilen voneinander entfernt nach Norden fahren und versuchen,<br />
die Ziele in den Flanken anzugreifen. Selbst wenn sie danebenschossen,<br />
sollte Providence durchkommen, sobald die Russen zur<br />
Verfolgung ausschwärmten. S<strong>im</strong>ms st<strong>im</strong>mte zu, und die beiden<br />
Boote trennten sich wieder.<br />
McCafferty stellte fest, dass er noch <strong>im</strong>mer sechzehn Stunden<br />
vom Packeis entfernt war. Über ihm kreisten best<strong>im</strong>mt noch <strong>im</strong>mer<br />
sowjetische Patrouillenflugzeuge. Er hatte einen Torpedo vergeudet<br />
- nein, sagte er sich, das war ein gutgeplanter Angriff gewesen,<br />
der einfach nicht funktioniert hatte. So etwas kam manchmal vor.<br />
Im Nordosten erschien eine Reihe von Sonobojen, aktive diesmal.<br />
Chicago fuhr nach Nordwesten. Dabei wanderten alle ihre<br />
Sonarkontakte nach rechts ab. Das Alfa war noch <strong>im</strong>mer da; sein<br />
Maschinengeräusch klang auf und wieder ab. Theoretisch konnte<br />
er zwar auf den Gegner schießen, aber er hatte gerade feststellen<br />
müssen, dass das Boot mit seinem Tempo und seiner Manövrierfähigkeit<br />
einen Torpedo vom Typ Mark-48 schlug.<br />
620
Der Nordwestkurs verringerte die Distanz zu einem der Kontakte<br />
merklich. Das Alfa und der andere Unbekannte bewegten sich<br />
nach Osten und wahrten so den Abstand von gut zehn Meilen <br />
unwisssentlich, wie McCafferty glaubte. Er stand vor der Karte.<br />
Die Zielkoordinaten für den nächsten Kontakt waren bereits errechnet.<br />
McCafferty betrat erneut den Sonarraum.<br />
»Was können Sie mir zu diesem Kontakt sagen?"<br />
»Sieht langsam aus wie ein Reaktor vom Typ Zwei, neuer Version.<br />
Mag ein Victor-III sein. Lassen Sie mir noch fünf Minuten<br />
Zeit, dann weiß ich das sicher, Sir.«<br />
»Leistungsabgabe?«<br />
»Ziemlich gering, Sir. Macht gerade Steuerfahrt.«<br />
McCafferty lehnte sich gegen die Wand, hinter der sich der<br />
riesige Signalprozessor befand. Die Linien auf dem Wasserfall-<br />
Display, die das unverwechselbare Frequenzmuster der Maschinerie<br />
eines Victor-III darstellen sollten, waren noch unscharf, verengten<br />
sich aber. Drei Minuten später hatten sie sich in einen ziemlich<br />
scharfen vertikalen Lichtstreifen verwandelt.<br />
»Sir, ich kann nur Ziel Sierra Zwei als Victor-III identifizieren.«<br />
McCafferty ging zurück in die Zentrale. »Distanz zu Sierra<br />
Zwei?«<br />
»Vierzehntausendfünfhundert Meter, Sir.«<br />
»Zielgleichung eingeben«, meldete der Waffenoffizier. »Rohr<br />
Eins klar, geflutet. Mündungsklappe geschlossen.«<br />
»Ruder zehn Grad Steuerbord«, befahl McCafferty. Chicago<br />
ging in Feuerposition. Er sah auf den Tiefenmesser: zweihundert<br />
Fuß. Nach dem Abfeuern wollte er rasch nach Osten fahren und auf<br />
tausend Fuß abtauchen.<br />
»Mündungsklappe öffnen!« Der Maat an der Torpedokonsole<br />
drückte auf den Knopf und wartete auf die Leuchtanzeige.<br />
»Mündungsklappe ist offen, Sir.«<br />
»Feuer!« Die siebentausend Tonnen große Chicago erbebte.<br />
McCafferty befahl eine Kurs- und Tiefenänderung und ließ die<br />
Fahrt auf zehn Knoten erhöhen.<br />
Wieder ein Geduldspiel. Wie lange wird es dauern, bis er den<br />
Fisch hört? Dieser lief in geringer Tiefe; McCafferty hoffte, dass sich<br />
sein Antriebsgeräusch <strong>im</strong> Oberflächenlärm verlieren würde. Blieb<br />
die Frage nach der Qualität des Sonars bei der anderen Seite.<br />
621
»Eine Minute.« Der Waffenoffizier hatte eine Stoppuhr in der<br />
Hand. Bei dieser Geschwindigkeitseinstellung lief der Mark-48<br />
dreizehnhundert Meter pro Minute. Noch zehn Minuten. Wie be<strong>im</strong><br />
Fußball kurz vorm Ende der regulären Spielzeit, dachte McCafferty,<br />
nur dass es hier nicht um Punkte geht, sondern um Leben und<br />
Tod. »Drei Minuten.«<br />
Chicago wurde in tausend Fuß Tiefe ausgependelt, und McCafferty<br />
ließ die Fahrt auf sechs Knoten reduzieren. Schon waren die<br />
Koordinaten für die beiden anderen Ziele eingestellt.<br />
»Noch fünf Minuten.«<br />
»Ziel Sierra Zwei hat gerade die Leistung gesteigert«, meldete<br />
Sonar. »Kavitationslärm, Schraubenumdrehungen weisen auf<br />
zwanzig Knoten und weitere Beschleunigung hin.«<br />
»Torpedo auf Höchstgeschwindigkeit«, befahl McCafferty. Der<br />
Mark-48 beschleunigte auf achtundvierzig Knoten, sechzehnhundert<br />
Meter pro Minute.<br />
»Ziel dreht nach Osten ab, Fahrt nun einunddreißig Knoten. Ein<br />
merkwürdiges Signal knapp achtern des Ziels. Ziel nun in dreifünf-acht;<br />
neues Signal in drei-fünf-sechs.«<br />
»Ein Störer?«<br />
»Hört sich nicht so an. Klingt eher wie... eine Nixe vielleicht.<br />
Ziel dreht weiter, Richtung nun drei-fünf-sieben. Sieht aus, als<br />
ginge er auf Gegenkurs.«<br />
»Auf zweihundert Fuß gehen«, sagte der Kommandant.<br />
»Sir, das neue Signal maskiert das Ziel«, verkündete Sonar.<br />
»Sir, der Torpedo peilt.«<br />
»Wenn er einen Köder ausgestoßen hat, befindet sich dieser<br />
zwischen ihm und dem Fisch«, meinte McCafferty leise. »Feuerleitung,<br />
noch einen Torpedo auf Ziel Sierra Zwei. Und arbeiten Sie die<br />
Koordinaten für Ziel Sierra Eins auf.« Das U-Boot war nun in<br />
dreihundert Fuß Tiefe.<br />
McCafferty gab leise den Feuerbefehl und ließ dann das Boot<br />
wieder tiefer tauchen.<br />
»Sir, Explosion in drei-fünf-vier«, meldete Sonar. »Kontakt zu<br />
Ziel Sierra Zwei verloren. Ob der Fisch getroffen hat oder nicht,<br />
kann ich nicht sagen. Die beiden anderen Torpedos scheinen normal<br />
zu laufen.«<br />
»Geduld«, hauchte McCafferty.<br />
»Hier Sonar. Sonobojenabwurf achteraus.«<br />
622
»Eines der anderen Boote hat sich mit seinen Freunden in Verbindung<br />
gesetzt«, vermutete der IO.<br />
»Gut möglich. Diese kooperative Taktik ist unschlagbar, wenn<br />
sie ihren Akt erst mal auf der Reihe haben.'«<br />
»Sierra Zwei ist wieder aufgetaucht, Sir. Maschinensignatur Typ<br />
zwei in drei-vier-neun, Rumpfknistern. Sierra Zwei ändert Tiefe."<br />
Der Waffenoffizier ließ einen der laufenden Torpedos um einige<br />
Grad nach Backbord abdrehen. McCafferty begann, auf einem Stift<br />
zu kauen.<br />
»Wetten, dass er versucht, eine Antenne auszufahren und seinen<br />
Freunden zu verraten, von wo aus wir gefeuert haben? Zwei Drittel<br />
voraus.«<br />
»Torpedo in zwo-acht-sechs!«<br />
»Auf zwölfhundert Fuß gehen!« befahl McCafferty sofort. »Ruder<br />
hart Steuerbord, neuer Kurs eins-sechs-fünf. Freund Victor ist<br />
zu den Fliegern durchgekommen.«<br />
»Sir, Lenkdrähte beider Fische gerissen«, meldete der Waffenoffizier.<br />
»Geschätzte Distanz zu Sierra Zwei?«<br />
»Der Fisch hat rund sechstausend Yard zurückgelegt und ist so<br />
programmiert, dass er in einer Minute zu peilen beginnt.«<br />
»Diesmal hat Mr. Victor einen Fehler gemacht. Er hätte erst mal<br />
seinen Rücken decken sollen, ehe er nach oben ging, um mit den<br />
Flugzeugen Verbindung aufzunehmen. Sonar, Position des Torpedos<br />
achtern?«<br />
»Richtung ändert sich - Sir, Sonarleistung läßt wegen Strömungsgeräuschen<br />
nach. Letzte exakte Peilung war zwei-siebenacht.«<br />
»Ein Drittel voraus!« McCafferty brachte sein Boot zurück auf<br />
langsame, leise Fahrt. Zwei Minuten später erkannte er, dass der<br />
aus der Luft auf sie abgeworfene Torpedo ihnen nichts anhaben<br />
konnte und dass ihr zweiter Schuß auf das Victor sich seinem Ziel<br />
näherte.<br />
Inzwischen herrschte auf dem Sonar-Display die totale Konfusion.<br />
Ziel Sierra Zwei hatte den anlaufenden Fisch zu spät geortet,<br />
jagte aber nun mit Höchstfahrt vor ihm davon. Der auf das andere<br />
Victor abgeschossene Torpedo lief noch, aber dieses Ziel manövrierte,<br />
um einem Torpedo von Boston auszuweichen. Das Alfa<br />
raste mit äußerster Kraft nach Norden, verfolgt von einem Mark<br />
623
48. Im Osten waren zwei weitere russische Torpedos <strong>im</strong> Wasser,<br />
vermutlich hinter Boston her, das aber nicht auf Chicagos Sonar-<br />
Display erschien. Es jagten also fünf U-Boote umher, vier davon<br />
verfolgt von zielsuchenden Waffen.<br />
»Sir, Sierra Eins und Zwei haben Köder ausgestoßen. Unser<br />
Fisch hat Sierra Zwei erfaßt. Ein Fisch anderen Ursprungs peilt<br />
Sierra Eins an, und einer der russischen Torpedos peilt in nulldrei-fünf<br />
- Sir, Explosion in drei-drei-neun.«<br />
Hätte auf meinen Vater hören und Buchhalter werden sollen,<br />
dachte McCafferty. Dann stiege ich hier wenigstens durch. Er ging<br />
hinüber an den Kartentisch.<br />
Auch dort war das Bild nicht klarer. Die Kurslinien der Sonarkontakte<br />
und laufenden Torpedos sahen aus wie Kabelsalat.<br />
»Sir, lautes Maschinengeräusch in drei-drei-neun. Klingt, als<br />
wäre etwas kaputt, viel metallischer Lärm. Druckluftzischen, er<br />
bläst an.<br />
»Ruder hart Backbord, neuer Kurs null-eins-null.«<br />
»Haben wir das Victor nicht versenkt?«<br />
»Mir reicht es schon, wenn es außer Gefecht gesetzt ist. Was<br />
treiben die beiden anderen?«<br />
»Der auf Sierra Eins angesetzte Fisch peilt, und der Torpedo<br />
von Boston auch - ich nehme jedenfalls an, dass er von Boston<br />
kommt.«<br />
Die Konfusion ließ für zehn Minuten etwas nach. Das zweite<br />
Ziel kehrte beiden Torpedos das Heck zu und lief nach Nordwesten.<br />
Auf Chicagos Bahn erschienen die Linien weiterer Sonobojen.<br />
Im Westen wurde noch ein aus der Luft abgeworfener Torpedo<br />
ausgemacht, aber man wusste nicht, wem er galt - nur, dass<br />
er zu weit entfernt war, um Anlaß zur Sorge zu geben. Der Torpedo,<br />
den Chicago auf das zweite Unterseeboot der Victor-Klasse<br />
abgeschossen hatte, war bemüht, ein Ziel einzuholen, das sich mit<br />
äußerster Kraft entfernte. Möglicherweise hatte Boston auch auf<br />
das Alfa geschossen, aber dieses Boot lief fast so schnell wie der<br />
Torpedo. McCafferty bekam wieder Sonarkontakt mit Providence<br />
und fuhr weiter nach Norden. Er machte sich die Tatsache, dass<br />
das Chaos für ihn arbeitete, zunutze und hoffte nur, dass Boston<br />
den Torpedos ausweichen konnte.<br />
»Zwei Explosionen in null-null-drei, Sir.« Dort war das zweite<br />
Victor zuletzt geortet worden, aber Sonar empfing nun nichts wei<br />
624
ter. Hatten die Fische das U-Boot zerstört, den Köder oder sich<br />
womöglich gegenseitig ausgeschaltet?<br />
Chicago hielt weiter nach Norden, erhöhte die Fahrt auf zehn<br />
Knoten und fuhr <strong>im</strong> Zickzack durch die Sonobojen-Kette, um eine<br />
größere Distanz zwischen sich und die beschädigte Providence zu<br />
legen. McCafferty schickte seine Männer paarweise zum Essen und<br />
ließ sich ein Schinkenbrot bringen, das er am Periskop mit geschlossenen<br />
Augen verspeiste. Eine Stunde später ließ er die Mannschaft<br />
die Gefechtsstationen verlassen. Die Hälfte der Crew legte sich<br />
schlafen.<br />
Auf dem Sonarschirm tauchte Boston als gespenstischer Schatten<br />
<strong>im</strong> Osten auf. Providence lief noch mit sechs Knoten hinter ihnen<br />
und machte viel zuviel Lärm. Nun verging die Zeit rascher. McCafferty<br />
blieb sitzen, vergaß seine Würde und dachte an nichts.<br />
Er hob mit einem Ruck den Kopf, schaute auf die Uhr und stellte<br />
fest, dass er eine halbe Stunde lang gedöst hatte. Noch fünf Stunden<br />
bis zum Packeis.<br />
Was war aus dem Alfa geworden? Zehn Sekunden, nachdem er<br />
sich diese Frage gestellt hatte, war McCafferty <strong>im</strong> Sonarraum.<br />
»Was war Ihre letzte Peilung des Alfa?«<br />
»Sir, wir verloren den Kontakt vor drei Stunden. Zuletzt fuhr es<br />
mit äußerster Kraft nach Nordosten und verklang.«<br />
»Besteht die Möglichkeit, dass es uns unterm Eis auflauert?«<br />
»Dann erfassen wir ihn, ehe er uns ortet, Sir. Wenn er in Bewegung<br />
ist, erzeugt sein Antrieb eine Menge Lärm <strong>im</strong> Hoch- und<br />
Mittelfrequenzbereich«, erklärte der Sonar-Chief. »Der Niederfrequenzlärm<br />
des Eises hindert ihn, uns frühzeitig zu erkennen.« Der<br />
Kommandant nickte und ging nach achtern.<br />
»IO, wo wären Sie, wenn Sie dieses Alfa befehligten?«<br />
»Zu Hause!« Der Erste lächelte. »Er muss wissen, dass er es mit<br />
mindestens zwei Booten zu tun hat. Seine Chancen stehen nicht<br />
gerade gut. Ein Victor haben wir außer Gefecht gesetzt, und das<br />
andere wurde von Boston wahrscheinlich versenkt. Was soll er nun<br />
denken? Der Iwan ist tapfer, aber nicht verrückt. Wenn er seine fünf<br />
Sinne beisammen hat, meldet er einen verlorenen Kontakt und läßt<br />
es dabei bewenden.«<br />
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Er hat einen Fisch von uns und<br />
wahrscheinlich auch einen von Boston geschlagen«, meinte der<br />
Kommandant leise.<br />
625
«Da mögen Sie recht haben, Sir, aber er ist nicht auf dem Sonarschirm.«<br />
Dies musste McCafferty zugestehen. «Wir werden uns auf jeden<br />
Fall dem Eis sehr vorsichtig nähern.«<br />
Boston lag fünfzehn Meilen <strong>im</strong> Osten, Providence acht Meilen<br />
<strong>im</strong> Südosten. Noch drei Stunden zum Packeis. Noch achtzehn<br />
Seemeilen, vielleicht sogar weniger, dann waren sie in Sicherheit.<br />
McCafferty döste wieder ein.<br />
»Hier Sonar!" McCafferty fuhr hoch.<br />
»Providence hat die Fahrt etwas erhöht, Sir. Schätzung zehn<br />
Knoten.«<br />
»Wie lange habe ich geschlafen ?« fragte McCafferty den Ersten<br />
Offizier.<br />
«Rund anderthalb Stunden. Kein Problem, bis auf unsere<br />
Freunde ist der Schirm leer.«<br />
McCafferty stand auf und streckte sich. »Entfernung zum Eis?«<br />
»Etwa zwölfhundert Meter.«<br />
McCafferty schaute auf die Karte. Providence hatte inzwischen<br />
aufgeholt. Das gefiel ihm nicht.<br />
»Gehen Sie auf zwölf Knoten und Kurs null-vier-fünf. Er hat es<br />
zu eilig.«<br />
»St<strong>im</strong>mt«, meinte der IO. »Aber wer kann ihm da einen Vorwurf<br />
machen?«<br />
»Ich. Kommt es jetzt noch auf ein paar Minuten an?«<br />
»Hier Sonar. Möglicher Kontakt in null-sechs-drei. Klingt wie<br />
sehr schwaches Maschinengeräusch, verschwindet nun, wird von<br />
Strömungsgeräusch überdeckt.«<br />
»Fahrt verringern?« fragte der IO. Der Kommandant schüttelte<br />
den Kopf.<br />
»Zwei Drittel voraus.« Chicago beschleunigte auf achtzehn<br />
Knoten. McCafferty starrte auf die Karte. Irgend etwas Wichtiges<br />
entging ihm hier. Das Boot lag noch tief, auf tausend Fuß. Providences<br />
Schleppsonar funktionierte noch, aber da das Boot in Oberflächennähe<br />
lief, war seine Sonarleistung beeinträchtigt. Fuhr auch<br />
Boston in geringerer Tiefe? Als Chicago praktisch mit Providence<br />
gleichauf lag, ließ McCafferty die Fahrt auf sechs Knoten reduzieren.<br />
Dann ließ das Strömungsgeräusch nach, und seine Sonaranlagen<br />
brachten wieder ihre volle Leistung.<br />
»Sonarkontakt in null-neun-fünf!«<br />
626
Auf der Karte wurde eine Linie eingetragen, die sich mit der<br />
letzten Peilung schnitt, und zwar fast genau zwischen Boston und<br />
Providence! McCafferty beugte sich vor und las die Tiefe an dieser<br />
Stelle ab - neunzehnhundert Fuß. Tiefer, als ein Boot der 688<br />
Klasse tauchen konnte, doch nicht zu tief für ein Alfa ...<br />
»Verfluchte Scheiße!«<br />
Er konnte nicht auf den Kontakt schießen, weil er zu dicht bei<br />
Providence lag. Wenn die Lenkdrähte rissen, schaltete der Fisch<br />
auf au<strong>tom</strong>atische Suche und konnte Freund nicht von Feind unterscheiden.<br />
»Sonar, Aktivsuche auf Kontakt in null-neun-fünf!«<br />
Es dauerte einen Augenblick, bis das System betriebsbereit war.<br />
Dann ließ das tiefe Bah-Wah den Ozean erzittern. McCafferty<br />
hatte seinen Kameraden warnen wollen. Dass er damit auch das<br />
Alfa aufscheuchte, ließ sich nicht vermeiden.<br />
»Rumpfknistern und lautes Maschinengeräusch in null-neunfünf.<br />
Noch kein Ziel auf dem Display.«<br />
»Los, Todd!« drängte McCafferty.<br />
»Providence erhöht die Leistung, Boston auch, Sir«, meldete<br />
Sonar. »Torpedos in null-neun-fünf!«<br />
»AK voraus!« McCafferty sah auf die Karte. Das Alfa lag gefährlich<br />
dicht hinter den beiden Booten, und Providence konnte<br />
weder fliehen noch wegtauchen. Der Feuerleittrupp machte zwei<br />
Torpedos bereit. Das Alfa hatte vier Fische abgeschossen, je zwei<br />
auf die amerikanischen Boote. Boston und Providence drehten<br />
nach Westen ab. McCafferty und der Erste gingen in den Sonarraum.<br />
Kontaktlinien wischten nach links und rechts über den Schirm;<br />
dicke stellten U-Boote dar, dünnere, hellere die vier Torpedos.<br />
Zwei hielten rasch auf Providence zu. Das beschädigte Boot lief<br />
nun zwanzig Knoten und klang wie ein wildgewordener Kieslaster,<br />
doch sein Schicksal war besiegelt. Drei Störer erschienen auf<br />
dem Schirm, wurden aber von den Torpedos ignoriert. Die Linien<br />
trafen sich an einem Punkt, der hell auf dem Schirm aufleuchtete.<br />
»Er hat Providence erwischt, Sir«, sagte der Sonar-Chief leise.<br />
Boston hatte eine bessere Chance. S<strong>im</strong>ms fuhr nun mit Höchstgeschwindigkeit,<br />
die Torpedos lagen knapp tausend Yard hinter<br />
ihm. Auch er ließ Lärminstrumente ausstoßen und radikal Kurs<br />
und Tiefe ändern. Ein Torpedo ging vorbei, tauchte hinter einem<br />
627
Lärminstrument her und explodierte auf dem Grund. Der andere<br />
erfaßte Boston und holte langsam auf. Ein zweiter heller Fleck<br />
erschien, und das war alles.<br />
»Yankee-Sucher auf das Alfa!« befahl McCafferty erbittert. Die<br />
starken Sonar-Impulse ließen das Boot vibrieren.<br />
»Richtung eins-null-neun, Distanz dreizehntausend.«<br />
»Feuer!«<br />
Das Alfa horchte erst gar nicht auf das Geräusch der anlaufenden<br />
Torpedos. Sein Skipper wusste, dass noch ein drittes Boot lauerte,<br />
dass er angepeilt worden war. Das sowjetische U-Boot ging auf<br />
Höchstfahrt und drehte nach Osten ab. Der Waffenoffizier von<br />
Chicago versuchte, die beiden Torpedos auf Zielkurs zu bringen,<br />
doch diese liefen nur kümmerliche fünf Knoten schneller als das<br />
Alfa, und die Gleichung war klar: Zweitausend Meter hinter dem<br />
Ziel würde ihnen der Treibstoff ausgehen.<br />
»Gut, versuchen wir es noch einmal.« Sie waren nun noch drei<br />
Meilen vom Packeis entfernt, Chicago lief leise. Das Alfa wandte<br />
sich nach Westen. Offenbar rechnete sein Kommandant damit, dass<br />
McCafferty sich unters Packeis flüchtete.<br />
»Neuer Kontakt in null-null-drei«, meldete Sonar.<br />
Eine russische Falle?<br />
»Ich brauche Informationen!«<br />
»Sehr schwach, aber ich habe eine deutliche Richtungspeilung,<br />
jetzt null-null-vier. Abstand Muss weniger als zehntausend Meter<br />
betragen.«<br />
»Torpedo <strong>im</strong> Wasser, null-null-fünf!«<br />
»Ruder hart Backbord, AK voraus!«<br />
»Richtungsänderung! Der Torpedo nun in null-null-fünf!«<br />
»Befehl widerrufen!« schrie McCafferty. Der neue Kontakt<br />
schoß auf das Alfa.<br />
»H<strong>im</strong>mel, was ist das?« fragte der Sonar-Chief.<br />
Das Alfa bemerkte den neuen Torpedo und ging auf Gegenkurs.<br />
Wieder hörten und sahen sie den Donner seiner Maschinen, doch<br />
der Torpedo holte diesmal rasch auf.<br />
»Muss ein Engländer sein. Das ist einer ihrer neuen Spearfish.«<br />
»Wie schnell laufen die?« fragte der Sonar-Chief.<br />
»Sechzig oder siebzig Knoten.«<br />
Das Alfa fuhr drei Meilen geradeaus, wandte sich dann nach<br />
Norden und dem Eis zu, schaffte es aber nicht. Der Torpedo schnitt<br />
628
ab, die Linien auf dem Display trafen sich, und ein greller Fleck<br />
erschien.<br />
McCafferty befahl einen Nordkurs und achtzehn Knoten. »Ich<br />
will sicherstellen, dass der Engländer weiß, wer wir sind«, sagte er<br />
zum Ersten Offizier.<br />
»Wir sind HMS Torbay. Wer sind Sie?«<br />
»Chicago.«<br />
»Wir haben den Aufruhr mitbekommen. Sind Sie allein?« fragte<br />
Captain James Linie.<br />
»Ja. Das Alfa lag <strong>im</strong> Hinterhalt. Wir sind allein.«<br />
»Wir begleiten Sie.«<br />
»Verstanden. War Operation Doolittle ein Erfolg?«<br />
»Ja.«<br />
629
Stykkisholmur, Island<br />
40<br />
Killing Fields<br />
Es gab viel zu tun, und die Zeit war knapp. Lieutenant Potter und<br />
die Männer seiner Vorausabteilung stießen in Stykkisholmur auf<br />
acht Russen. Diese versuchten, über die einzige Straße nach Süden<br />
zu fliehen, liefen aber in einen Hinterhalt. Es gab ein Feuergefecht,<br />
bei dem fünf Russen fielen oder verwundet wurden. Nun war<br />
niemand mehr da, der Keflavik vor den Schiffen am Horizont<br />
warnen konnte.<br />
Die ersten Truppen kamen per Hubschrauber und besetzten in<br />
Zug- oder Kompaniestärke jede Anhöhe überm Hafen. Man war<br />
besonders bemüht, die Maschinen unter Keflaviks Radarhorizont<br />
zu halten, da dort trotz aller Anstrengungen noch ein russischer<br />
Sender operierte. Ein Hubschrauber CH-53 Super Stallion brachte<br />
eine mobile Radaranlage auf einen Berg an der Nordwestküse der<br />
Insel, und ein Team von Technikern begann sofort, sie einsatzbereit<br />
zu machen. Als die Schiffe in den mit Felsblöcken übersäten Hafen<br />
von Stykkisholmur einfuhren, waren schon fünftausend Soldaten<br />
beiderseits der wenigen Straßen, die in die Stadt führten, in Stellung<br />
gegangen.<br />
Hubschrauber, die nicht mehr für den Truppentransport gebraucht<br />
wurden, markierten die Untiefen und Hindernisse mit<br />
Radarreflektoren und Leuchtbaken, und dann wanden sich die<br />
Landungsschiffe LST mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch<br />
das tödliche Labyrinth; eine Operation, die nur wenig sicherer war<br />
als das Überqueren einer Autobahn mit verbundenen Augen.<br />
Lieutenant Potter und seine Kommandos gingen von Haus zu<br />
Haus und machten die Kapitäne und Maate der Fischerboote ausfindig;<br />
diese wurden dann hinausgeflogen, um die großen grauen<br />
LST mit den Panzern an Bord durch die engsten Passagen zu lotsen.<br />
Um die Mittagszeit hatte das erste LST die Laderampe an Land, und<br />
die Panzer der Marineinfanterie rollten auf die Insel. Nach ihnen<br />
630
kamen Lkw, die perforierte Stahlplatten zu einer ebenen Stelle<br />
brachten, wo ein Landeplatz für Hubschrauber und Harrier-Senkrechtstarter<br />
gebaut werden sollte.<br />
Nachdem die Hubschrauber die Felsen und Untiefen markiert<br />
hatten, transportierten sie weitere Soldaten unter dem Schutz von<br />
Sea-Cobra-Kampfhubschraubern und Harrier. Bald war der Brükkenkopf<br />
bis zu den Höhen überm Fluß Hvita ausgedehnt, und die<br />
ersten Zusammenstöße mit russischen Truppen begannen.<br />
Keflavik, Island<br />
»Da sieht man mal wieder, was unser Nachrichtendienst taugt«,<br />
murmelte General Andrejew. Von seinem Hauptquartier aus sah er<br />
mächtige Schemen ins Blickfeld gleiten: die Schlachtkreuzer lowa<br />
und New Jersey, zum Schutz gegen Luftangriffe von Raketenkreuzern<br />
begleitet.<br />
»Wir können jetzt angreifen«, sagte der Chef der Artillerie.<br />
»Dann tun Sie das«, versetzte Andrejew und wandte sich an<br />
seinen Fernmeldeoffizier. »Ist Severomorsk verständigt worden?«<br />
»Ja. Die Flugzeuge der Nordflotte werden heute Angriffe fliegen,<br />
und es sind auch U-Boote unterwegs.«<br />
»Gut. Richten Sie aus. Hauptziele sind die amerikanischen Landungsschiffe<br />
bei Stykkisholmur.«<br />
»Wir sind doch gar nicht sicher, ob dort welche sind. Der Hafen<br />
ist viel zu gefährlich -«<br />
»Wo sollten sie denn sonst sein?« herrschte Andrejew. »Unser<br />
Beobachtungsposten bei Stykkisholmur antwortet nicht, und Meldungen<br />
zufolge bewegen sich feindliche Hubschrauber von dort aus<br />
nach Süden und Osten. Denken Sie doch mal nach, Mann!«<br />
»Genosse General, die Marine wird sich auf den feindlichen<br />
Trägerverband konzentrieren.«<br />
»Dann machen Sie unseren Kameraden in Blau klar, dass die<br />
Träger uns Island nicht abnehmen können, die amerikanische Marineinfanterie<br />
aber sehr wohl!«<br />
Andrejew sah Rauch von einer seiner schweren Batterien aufsteigen.<br />
Ein paar Sekunden später folgte der Donner. Die erste russische<br />
Salve landete tausend Meter vorm Ziel.<br />
Das Schlachtschiff lowa hatte seit dem Koreakrieg kein echtes<br />
631
Ziel mehr beschossen, doch nun drehten sich die mächtigen Geschütztürme<br />
langsam nach Steuerbord. In der Feuerleitzentrale<br />
steuerte ein Techniker an einem Joystick ein unbemanntes Flugzeug<br />
vom Typ Mastiff. Die kleine Drohne, vor einigen Jahren von Israel<br />
erworben, kreiste achttausend Fuß über den russischen Batterien<br />
und richtete ihre eingebaute Fernsehkamera von einer Stellung auf<br />
die andere.<br />
»Ich zähle sechs Geschütze, 155 Mill<strong>im</strong>eter oder so.«<br />
Die exakte Position der russischen Batterie wurde best<strong>im</strong>mt und<br />
eingetragen. Dann ermittelte der Computer unter Berücksichtigung<br />
von Luftdichte, Luftdruck, relativer Luftfeuchtigkeit, Windrichtung<br />
und -geschwindigkeit sowie einem Dutzend anderer Faktoren<br />
die Zielkoordinaten. An der Statuskonsole des Geschützoffiziers<br />
flammte eine Leuchte auf.<br />
»Feuer.«<br />
Das mittlere Geschütz von Turm zwei schoß eine Granate ab. Ein<br />
Mill<strong>im</strong>eterband-Radar verfolgte sie und verglich ihre Flugbahn mit<br />
der vom Feuerleitcomputer errechneten; nicht erstaunlich war, dass<br />
Abweichungen bei der Windgeschwindigkeit auftraten. Der Computer<br />
der Radaranlage gab die neuen, empirisch gewonnenen Daten<br />
an das Hauptsystem weiter, und die restlichen acht Geschütze<br />
der Hauptbatterie änderten leicht die Position. Noch ehe die erste<br />
Granate gelandet war, feuerten sie.<br />
»H<strong>im</strong>mel noch mal!« flüsterte Andrejew. Der orangene Mündungsblitz<br />
ließ das Schiff kurz verschwinden. Links von ihm brüllte<br />
jemand, der vielleicht glaubte, eine russische Granate habe getroffen.<br />
Andrejew indes hegte keine Illusionen. Seine Geschützbedienungen<br />
waren aus der Übung und hatten sich noch nicht auf ihr Ziel<br />
eingeschossen. Er richtete das Fernglas auf seine vier Kilometer<br />
entfernte Batterie.<br />
Die erste Granate landete fünfzehnhundert Meter südöstlich, die<br />
nachten acht nur zweihundert Meter hinter der Geschützstellung.<br />
»Batterie sofort verlegen!«<br />
»Zweihundert ab und Feuer!«<br />
Schon wurden die Geschütze der Iowa au<strong>tom</strong>atisch nachgeladen.<br />
Edelgas trieb die Fetzen der seidenen Treibladungssäcke aus den<br />
Mündungen, dann öffneten sich die Verschlüsse, und die Laderampen<br />
klappten hoch. Nachdem die Bohrung auf gefährliche Rückstände<br />
geprüft worden war, hielten Munitionsaufzüge an der hinte<br />
632
en Kante der Rampen, und in die breiten Geschützrohre wurden<br />
Granaten gerammt. Dann kamen die schweren Pulversäcke, die<br />
Rampe hob sich, der Verschluß ging hydraulisch zu, die Geschütze<br />
kehrten zurück auf die eingestellte Elevation. Die Bedienungen<br />
traten aus dem Laderaum und hielten die Hände über die Ohrenschützer.<br />
In der Feuerleitzentrale wurden Knöpfe gedrückt, und<br />
die Verschlüsse glitten aufs neue zurück. Der Zyklus begann wieder;<br />
die jungen Matrosen erfüllten die gleichen Funktionen wie<br />
ihre Großväter vor vierzig Jahren.<br />
Andrejew ging nach draußen und sah ebenso entsetzt wie fasziniert<br />
zu. Er hörte das Geräusch zerreißenden Leinens, als das riesige<br />
Projektil über ihn hinwegflog, und drehte sich dann nach<br />
seiner Batterie um. Lastwagen stießen zu den Geschützen zurück,<br />
deren Bedienungen die letzten Schüsse abfeuerten und hastig die<br />
Verlegung vorbereiteten. Die Batterie verfügte über sechs Geschütze<br />
125 mm und zahlreiche Lkw für Bedienungen und Munition.<br />
Ein Vorhang aus Erde und Steinen stieg auf, gefolgt von drei<br />
Sekundärexplosionen und vier weiteren Salven, denn auch die<br />
New Jersey nahm nun an dem Bombardement teil.<br />
»Was ist das?« Ein Leutnant wies auf einen Punkt am H<strong>im</strong>mel.<br />
Der Artilleriekommandant wandte den Blick von den Überresten<br />
eines Drittels seiner Geschütze und identifizierte das ferngelenkte<br />
Flugzeug. »Ich kann es abschießen lassen.«<br />
»Nein!« brüllte Andrejew. »Wollen Sie denn verraten, wo unsere<br />
letzten SAM-Starter stehen?« Der General hatte in Afghanistan<br />
nur Mörser- und Raketenfeuer erlebt und machte nun zum<br />
ersten Mal die Erfahrung eines Beschüsses durch schwere Geschütze.<br />
»Meine anderen Batterien sind alle getarnt.«<br />
»Lassen Sie für jedes Geschütz mindestens drei neue Ausweichstellungen<br />
bauen, alle voll getarnt.« Der General ging zurück ins<br />
Gebäude, zuversichtlich, dass die Amerikaner die Stadt Keflavik<br />
vorerst nicht beschießen würden. An der Wand hing eine große<br />
Karte der Westküste Islands. Stabsoffiziere markierten bereits mir<br />
Fähnchen die vermuteten Positionen amerikanischer Einheiten.<br />
»Was haben wir auf der Hvita?« fragte er seinen Operationsoffizier.<br />
»Ein Bataillon. Zehn Schützenpanzer, ansonsten Lkw und requirierte<br />
Fahrzeuge. Ausgerüstet mit Mörser, Panzerabwehrrake<br />
633
ten und SAM-Sieben. Die Einheit ist an der Straßenbrücke über<br />
Bogarnes in Stellung.«<br />
»Die Amerikaner sitzen bereits auf dieser Höhe hier und<br />
schauen auf sie hinab. Welche Flugzeugtypen sind gesehen worden?«<br />
»Wir sind in Reichweite mehrerer amerikanischer Flugzeugträger.<br />
Jeder Träger verfügt über vierundzwanzig Jäger und vierunddreißig<br />
Bomber. Wenn eine volle Division Marineinfanterie an<br />
Land gebracht worden ist, haben wir es auch mit einer beträchtlichen<br />
Anzahl von Hubschraubern und Senkrechtstartern vom Typ<br />
Harrier zu tun. Diese können von Schiffen oder Behelfsflugplätzen<br />
an Land, die sich mit dem richtigen Material binnen sechs Stunden<br />
einrichten lassen, operieren. Eine Division der Marineinfanterie ist<br />
doppelt so stark wie eine vergleichbare Einheit bei uns, verfügt<br />
über ein starkes Panzerbataillon, hat mehr Artillerie, aber weniger<br />
Mörser. Was mir Kummer bereitet, ist ihre Beweglichkeit. Sie können<br />
nämlich quasi um uns herumtanzen, mit Hubschraubern und<br />
Landungsfahrzeugen Truppen nach Belieben plazieren -«<br />
»Genau wie wir bei unserer Landung«, st<strong>im</strong>mte der General<br />
nüchtern zu. »Wie gut sind sie?«<br />
»Die amerikanischen Marines verstehen sich als Elitetruppe,<br />
genau wie wir. Einige ihrer Offiziere und Unteroffiziere haben<br />
Gefechtserfahrung, die meisten Kompanieoffiziere und Feldwebel<br />
aber nicht.«<br />
»Wie ernst ist die Lage?« Der KGB-Offizier war eingetreten.<br />
»Ausgerechnet Sie! Sagten Sie nicht, die amerikanische Division<br />
sei auf dem Weg nach Europa? Während wir hier reden, sterben<br />
meine Männer.« Ferner Donner unterstrich Andrejews Worte. Die<br />
Schlachtschiffe beschossen nun ein Versorgungslager, in dem zum<br />
Glück nicht mehr viel war.<br />
»Genosse General, ich -«<br />
»Verschwinden Sie! Ich habe zu tun.« Schon fragte sich Andrejew,<br />
ob seine Lage hoffnungslos war. Er verfügte über zehn Kampfhubschrauber,<br />
die nach dem Angriff auf Keflavik allesamt verteilt<br />
und versteckt worden waren. »Wie können wir es bewerkstelligen,<br />
dass sich jemand diesen Hafen einmal ansieht?«<br />
»Wir werden permanent von amerikanischen Radarflugzeugen<br />
überwacht. Um nach Stykkisholmur zu gelangen, müßte ein Hubschrauber<br />
feindliche Stellungen überfliegen. Die Amerikaner verfü<br />
634
gen über bewaffnete Hubschrauber und Düsenjäger-das wäre also<br />
ein H<strong>im</strong>melfahrtskommando, und es stünde auch gar nicht fest,<br />
dass unser Mann überhaupt nahe genug herankäme.«<br />
»Dann sehen Sie zu, dass wir vom Festland eine Aufklärungsmaschine<br />
oder Satellitendaten bekommen. Ich muss wissen, welche<br />
Kräfte uns gegenüberstehen. Wenn es uns gelingt, ihren Brückenkopf<br />
zu zerschlagen, haben wir eine gute Chance, ihre Bodentruppen<br />
zu besiegen, und zur Hölle mit den Marinefliegern!«<br />
Das Ganze war kompliziert, doch eine Blitzanforderung vom OB<br />
der Nordflotte räumte die bürokratischen Hindernisse beiseite.<br />
Einer der beiden sowjetischen Satelliten verbrannte ein Drittel seines<br />
Treibstoffs zum Manövrieren, um die Umlaufbahn zu ändern<br />
und zwei Stunden später in geringer Höhe Island zu überfliegen.<br />
Minuten später wurde vom Kosmodrom Baikonur der letzte ROR<br />
SAT gestartet. Schon be<strong>im</strong> ersten Umlauf kam Island in seine<br />
Radarreichweite. Vier Stunden nach Andrejews Spruch hatten die<br />
Russen ein klares Bild von dem Aufmarsch vor und auf Island.<br />
Brüssel<br />
»Sind sie bereit?« fragte der SACEUR.<br />
»Zwölf Stunden mehr wäre besser, aber sie sind bereit.« Der<br />
Operationsoffizier schaute auf die Armbanduhr. »In zehn Minuten<br />
fahren sie los.« Die Zeit bis zur Plazierung der neuen Division war<br />
gewinnbringend genutzt worden. Aus mehreren zusätzlichen Brigaden<br />
hatte man zwei nach Nationalitäten gemischte Divisionen gebildet.<br />
Dabei war die Front fast ganz ihrer Reserven beraubt worden.<br />
Im Zuge eines hastig ausgedachten Täuschungs- und Ablenkungsplans<br />
wurden entlang der ganzen Front Funkeinheiten tätig<br />
und s<strong>im</strong>ulierten die Anwesenheit der verlegten Formationen. Die<br />
Nato hatte bis zu diesem Augenblick ihre »Maskirowka« absichtlich<br />
eingeschränkt, um dem SACEUR Gelegenheit zu geben, mit<br />
einer Reihe von Assen in der Hand um ganz Westeuropa zu wetten.<br />
635
Hunzen, BRD<br />
Es war ein aufregendes Manöver. Alexejew ließ seine Kräfte der<br />
Kategorie I vorrücken, während eine angeschlagene Mot-Schützendivision<br />
bei der Erzwingung eines Übergangs über die Weser bluten<br />
musste. In der Zwischenzeit wartete der General nervös auf Nachrichten<br />
von seiner wackligen rechten Flanke, doch es kam nichts.<br />
Der OB West hielt Wort und startete einen Scheinangriff auf Hamburg,<br />
um Nato-Kräfte von dem neuesten sowjetischen Durchbruch<br />
abzuziehen.<br />
Dies war alles andere als ein s<strong>im</strong>ples Manöver. Von anderen<br />
Abschnitten waren Fla- und Flarak-Einheiten abgezogen worden.<br />
Sobald die Nato erkannte, was bevorstand, sollten diese Einheiten<br />
jeden Versuch, die Sowjets am Vorstoß auf die Ruhr zu hindern,<br />
zerschlagen. Bisher war der Widerstand nur schwach gewesen.<br />
Vielleicht war dem Gegner nicht klar, was geschah, sagte sich<br />
Alexejew, oder er war tatsächlich am Ende.<br />
Die erste Einheit der Kategorie I war die 120. Mot-Schützendivision,<br />
die berühmte Rogatschew-Garde, deren Spitzen gerade bei<br />
Rühle über den Fluß gingen, gefolgt von der 8. Garde-Panzerdivision.<br />
Zwei weitere Panzerdivisionen steckten auf den Straßen nach<br />
Rühle fest. Ein Pionierreg<strong>im</strong>ent quälte sich mit der Errichtung von<br />
sieben Brücken ab. Laut Einschätzung des Nachrichtendienstes<br />
standen ihnen zwei, vielleicht drei Nato-Brigaden gegenüber. Nicht<br />
genug, dachte Alexejew, diesmal reicht es nicht. Selbst die Luftmacht<br />
des Feindes war geschwunden. Seine Heeresflieger meldeten<br />
bei Rühle nur geringen Widerstand. Vielleicht hatte der OB doch<br />
recht gehabt.<br />
»Starke Feindaktivität bei Salzhemmendorf«, meldete ein Fernmeldeoffizier<br />
der Luftwaffe.<br />
Dort stand die 40. Panzerdivision, eine Einheit der Kategorie II,<br />
die von dem deutschen Gegenstoß stark dez<strong>im</strong>iert worden war.<br />
»Die vierzigste Panzerdivision meldet einen feindlichen Großangriff<br />
auf ihre Front.«<br />
»Was soll das heißen, >Großangriff
»In Brigadestärke?«<br />
»Feindangriff bei Dunsen.«<br />
»Dunsen? Das liegt dicht bei Gronau. Teufel, wie kommen die<br />
dorthin?« fauchte Alexejew. »Lassen Sie diese Meldung bestätigen!<br />
Handelt es sich um einen Boden- oder Luftangriff?«<br />
»Die hundertzwanzigste Mot-Schützendivision hat ein volles Reg<strong>im</strong>ent<br />
über die Weser geschafft, das nun auf Brökeln vorstößt. Die<br />
Spitzen der achten Panzerdivision haben die Weser in Sicht. SAM-<br />
Einheiten gehen zum Schutz des Übergangs in Stellung.«<br />
Es war, als würden Alexejew gleichzeitig verschiedene Artikel<br />
einer Zeitung vorgelesen. General Beregowoy war an der Front,<br />
koordinierte die Verkehrsregelung und legte die Manöver nach<br />
dem Übergang fest. Die Artillerie aller vorrückenden Einheiten war<br />
weit vorne in Stellung gegangen, um den Übergang vor Gegenangriffen<br />
zu schützen.<br />
»General, der Angriff bei Dunsen wird von feindlichen Panzerund<br />
motorisierten Truppen mit starker taktischer Luftunterstützung<br />
geführt. Der Reg<strong>im</strong>entskommandeur schätzt Brigadestärke.«<br />
Eine Brigade bei Dunsen, eine bei Salzhemmendorf ? Dort stehen<br />
Einheiten der Kategorie II, befehligt von unerfahrenen, ungeübten<br />
Offizieren.<br />
»Feindliche Bodentruppen bei Bremke, Stärke unbekannt.«<br />
Nur fünfzehn Kilometer von hier! dachte Alexejew und zog<br />
Karten heran. Da es in dem Kommandowagen zu eng war, stieg er<br />
aus und breitete sie auf dem Boden aus.<br />
»Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte er seinen Nachrichtenoffizier.<br />
»Das ist ein Angriff auf einer Zwanzig-Kilometer-Front.«<br />
»Die neue feindliche Division soll noch nicht an Ort und Stelle<br />
sein.
Vier Jagdbomber machten die Stadtmitte mit den Sendern dem<br />
Erdboden gleich.<br />
»Ausweichsender Eins einschalten«, befahl Alexejew.<br />
Weitere Maschinen fegten über sie hinweg nach Südwesten und<br />
auf die B 240 zu, über die Alexejews I-Einheiten nach Rühle rollten.<br />
Der General fand ein funktionstaugliches Funkgerät und setzte sich<br />
mit dem OB West in Stendal in Verbindung.<br />
»Feindlicher Großangriff von Springe her, Stärke meiner Schätzung<br />
nach mindestens zwei Divisionen.«<br />
»Ausgeschlossen, Pascha - der Feind hat keine zwei Divisionen<br />
in Reserve!«<br />
»Mir wurden feindliche Bodentruppen bei Bremke, Salzhemmendorf<br />
und Dunsen gemeldet. Meiner Meinung nach ist die rechte<br />
Flanke gefährdet, und ich muss meine Kräfte umgruppieren, um<br />
dieser Gefahr zu begegnen. Ich bitte daher um Erlaubnis, den<br />
Angriff von Rühle aus abzubrechen und mich dieser Bedrohung<br />
zuzuwenden.«<br />
»Abgelehnt.«<br />
»Genosse General, ich bin vor Ort. Die Lage ist kontrollierbar,<br />
wenn ich ermächtigt werde, die entsprechenden Maßnahmen zu<br />
ergreifen.«<br />
»General Alexejew, Ihr Angriffsziel ist die Ruhr. Wenn Sie nicht<br />
in der Lage sind, es zu erreichen, werde ich einen Kommandeur<br />
finden müssen, der das schafft.«<br />
Alexejew starrte ungläubig den Hörer an. Er hatte zwei Jahre<br />
lang für diesen Mann gearbeitet, ihn für einen Freund gehalten.<br />
»Sie befehlen mir also, den Angriff ungeachtet feindlicher Aktivitäten<br />
weiterzuführen?«<br />
»Pascha, das ist nur ein Angriff, der uns ablenken soll. Schaffen<br />
Sie die vier Divisonen über die Weser«, sagte der OB West sanfter.<br />
»Ende.«<br />
»Major Sergetow!« rief Alexejew. Einen Augenblick später erschien<br />
der junge Offizier. »Besorgen Sie sich ein Fahrzeug und<br />
sehen Sie nach, was sich bei Dunsen tut. Aber seien Sie vorsichtig,<br />
Iwan Michailowitsch. In weniger als zwei Stunden will ich Ihre<br />
Meldung hören. Und nun los.«<br />
»Und sonst wollen Sie nichts unternehmen?« fragte der Nachrichtendienstoffizier.<br />
Pascha sah Sergetow in einen Kleinlaster steigen und konnte dem<br />
638
Offizier nicht in die Augen schauen. »Ich habe meine Befehle. Der<br />
Übergang über die Weser geht weiter. Bei Holle steht ein Panzerabwehr-Bataillon.<br />
Das soll sich in Bewegung setzen und auf der Straße<br />
von Bremke auf feindliche Kräfte gefaßt sein. General Beregowoy<br />
weiß, was er zu tun hat.«<br />
Und wenn ich ihn warne, disponiert er um, dachte Alexejew.<br />
Dann kommt Beregowoy wegen Befehlsmißachtung dran. Kommt<br />
nicht in Frage - wenn ich nicht in der Lage bin, einen Befehl<br />
zurückzuweisen, darf ich den Schwarzen Peter keinem anderen<br />
zuschieben.<br />
Alexejew schaute auf. »Die Befehle bleiben unverändert.«<br />
»Jawohl, Genosse General.«<br />
»Die Meldung über feindliche Panzer bei Bremke war falsch.«<br />
Ein junger Offizier trat zu ihnen. »Der Beobachter sah unsere<br />
Tanks auf dem Weg nach Süden und identifizierte sie nicht richtig!«<br />
»Und das halten Sie für positiv?« herrschte Alexejew.<br />
»Aber gewiß, Genosse General«, erwiderte der Hauptmann zaghaft.<br />
»Ist Ihnen vielleicht eingefallen, sich zu erkundigen, warum unsere<br />
Panzer nach Süden fahren? Verdammt, muss ich denn hier für<br />
alle denken?«<br />
Sie hatten den Auftrag, weil sie über die größte Gefechtserfahrung<br />
verfügten. Dass sie <strong>im</strong> Vorrücken unerfahren waren, war niemandem<br />
aufgefallen. Vorgerückt waren Nato-Einheiten nur bei lokalisierten<br />
Gegenangriffen, und Lieutenant Mackall - er dachte noch<br />
<strong>im</strong>mer wie ein Sergeant - wusste, dass sie sich für diese Rolle am<br />
besten eigneten. Der Panzer M-1 war mit einem Drehzahlbegrenzer<br />
ausgerüstet, der nur eine Höchstgeschwindigkeit von 65 km zuließ<br />
und aus diesem Grund von den Besatzungen als erstes ausgebaut<br />
wurde.<br />
Sein M-1 brauste mit 92. km/h nach Süden. Dabei wurden ihm die<br />
Knochen durchgerüttelt, doch er empfand eine unglaubliche Erregung,<br />
ein Gemisch aus Kühnheit und Wahnsinn. Kampfhubschrauber<br />
flogen voraus, erkundeten die Route und erklärten sie bis Alfeld<br />
für frei. Es handelte sich nicht um eine Straße, sondern die Trasse<br />
einer Erdgasleitung, eine dreißig Meter breite, grasbewachsene<br />
schnurgerade Schneise, durch die der Panzer, Erdbrocken aufwerfend,<br />
nach Süden raste.<br />
639
Der Fahrer setzte vor einer weiten Biegung die Geschwindigkeit<br />
herab, Mackall hielt nach feindlichen Fahrzeugen Ausschau, die<br />
vielleicht von den Hubschrauberbesatzungen übersehen worden<br />
waren. Es brauchte noch nicht einmal ein Fahrzeug zu sein - drei<br />
Mann mit einem Raketenstarter reichten schon, und dann bekam<br />
Mrs. Mackall ein Telegramm, in dem ihr mit Bedauern mitgeteilt<br />
wurde, ihr Sohn sei...<br />
Dreißig Kilometer! dachte er. Verdammt! Vor einer halben<br />
Stunde erst hatten die Deutschen die russische Front durchbrochen,<br />
und schon stieß die Black Horse Cavalry nach. Irre - aber es war<br />
auch irre, nach dem ersten Gefecht eine Stunde nach Kriegsbeginn<br />
noch am Leben zu sein. Noch zehn Kilometer.<br />
»Sehen Sie sich das an!« fauchte Sergetow seinen Fahrer an. »Schon<br />
wieder Panzer von uns auf dem Weg nach Süden. Was geht hier<br />
vor?«<br />
»Sind das wirklich unsere Panzer?« fragte der Fahrer.<br />
Der junge Major schaute genauer hin und schüttelte den Kopf.<br />
Erneut kam ein Panzer aus dem Wald - sein Turm war oben<br />
abgeflacht, nicht kuppeiförmig wie bei sowjetischen Kampfwagen.<br />
Darüber erschien ein Hubschrauber und machte in der Luft eine<br />
Wendung. Der Fahrer riß das Steuer nach rechts, noch ehe die <strong>im</strong><br />
Bug der Maschine montierte Maschinenkanone aufflammte. Sergetow<br />
sprang aus dem Fahrzeug, als die Leuchtspurgeschosse nach<br />
ihm zu greifen drohten, landete auf dem Rücken und rollte auf den<br />
Waldrand zu. Obwohl er den Kopf nach unten hielt, spürte er die<br />
Hitzewelle, als die Leuchtspurgeschosse die Ersatzkanister auf der<br />
Ladefläche des Kleinlasters zur Explosion brachten. Der junge<br />
Offizier hastete in den Wald und spähte hinter dem Stamm einer<br />
hohen Kiefer hervor. Der amerikanische Hubschrauber flog bis auf<br />
hundert Meter an das Fahrzeug heran, um sicherzustellen, dass es<br />
zerstört war, wirbelte dann herum und knatterte nach Süden. Sergetows<br />
Funkgerät lag in dem umgestürzten, brennenden Fahrzeug.<br />
»Buffalo Einunddreißig, hier Comanche, over.«<br />
»Comanche, hier Einunddreißig. Bitte Meldung, over.«<br />
»Haben gerade einen russischen Lkw abgeschossen. Ansonsten<br />
scheint die Luft rein zu sein. Los mit der Herde, Cowboy!« feuerte<br />
der Hubschrauberpilot an.<br />
640
Darüber musste Mackall lachen und sich klarmachen, dass dies<br />
eigentlich kein Spaß war. Früher waren viele Panzerfahrer in<br />
Schwulitäten geraten, weil sie in der deutschen Landschaft zu<br />
heftig draufgetreten hatten, und jetzt bekamen sie den Befehl loszubrettern!<br />
Zwei Minuten, in deren Verlauf er drei Kilometer zurücklegte.<br />
»Buffalo Einunddreißig, drei russische Fahrzeuge auf der Anhöhe,<br />
sehen aus wie Bravo-Tango-Romeo. Auf der Brücke nur<br />
Lkw. Der Instandsetzungspunkt ist nördlich der Stadt am Ostufer.«<br />
Vor der letzten Biegung verlangsamte der Panzer die Fahrt, rollte<br />
ins Gras und kroch schwerfällig um eine Baumgruppe herum.<br />
»Ziel BTR, elf Uhr, zweitausendsiebenhundert! Feuer, Woody!«<br />
Das erste achträdrige Fahrzeug explodierte, ehe die Besatzungen<br />
merkten, dass ein Panzer in der Nähe war. Vierzig Kilometer hinter<br />
der Front hielt man nach Flugzeugen Ausschau, nicht nach feindlichen<br />
Tanks. Die beiden nächsten BTR erwischte es binnen einer<br />
Minute, und dann stürmte Mackalls aus vier Panzern bestehender<br />
Zug los.<br />
Die Anhöhe erreichten sie drei Minuten später. Einer nach dem<br />
anderen rollten die mächtigen Abrams über den Kamm. Unter<br />
ihnen lagen die Überreste einer Stadt. Zahlreiche Lkw stauten sich<br />
vor vier Pontonbrücken.<br />
Zuerst griffen die Panzer alles an, das auch nur vage gefährlich<br />
aussah, bestrichen die Laster mit MG-Feuer, beschossen mit der<br />
Kanone den Instandsetzungspunkt für Tanks nördlich der Stadt.<br />
Inzwischen waren zwei Kompanien zur Stelle; Schützenpanzer nahmen<br />
die Lkw unter Feuer. Binnen fünfzehn Minuten standen über<br />
hundert Lkw mit Versorgungsmaterial, das eine ganze russische<br />
Division einen ganzen Tag <strong>im</strong> Feld halten konnte, in Flammen. Der<br />
Rest der Bataillons holte die Vorausabteilung ein und besetzte<br />
diesen russischen Verbindungsposten. Die Deutschen hatten bereits<br />
Gronau eingenommen, und den russischen Kräften östlich der<br />
Leine war nun der Nachschub abgeschnitten. Zwei russische Brükken<br />
waren intakt und frei, und über diese jagten nun M-2 Bradley,<br />
um am Ostrand der Stadt in Stellung zu gehen.<br />
Iwan Sergetow robbte an den Rand der grasbewachsenen<br />
Schneise und bekam ein eisiges Gefühl in der Magengrube, als er die<br />
Einheiten vorbeifahren sah: Amerikaner, mindestens in Bataillonstärke,<br />
wie er schätzte, ohne den üblichen Lkw-Troß. Er brachte<br />
641
noch die Geistesgegenwart auf, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit<br />
vorbeirasenden Panzer, Schützenpanzer und Mannschaftstransporter<br />
zu zählen. Am meisten beeindruckte ihn das<br />
Geräusch: Die turbinengetriebenen M-1 röhrten nicht wie Panzer<br />
mit Dieselmotoren, sondern waren erst zu vernehmen, wenn sie<br />
schon auf wenige hundert Meter herangekommen waren. Und<br />
dieser Verband hielt auf Alfeld zu!<br />
Ich muss das melden, dachte er. Aber wie? Sergetows Funkgerät<br />
war verbrannt, und er musste erst einmal versuchen, sich zu orientieren<br />
... zwei Kilometer von der Leine entfernt, die hinter der<br />
bewaldeten Anhöhe flöß. Nun stand er vor einer schwierigen Wahl.<br />
Die Rückkehr zum Gefechtsstand bedeutete einen Zwanzig-Kilometer-Marsch.<br />
Wenn er nach hinten floh, konnte er viel früher auf<br />
eigene Einheiten stoßen. Aber in diese Richtung laufen war doch<br />
feige?<br />
Feigheit hin oder her, er musste nach Osten. Sergetow hatte das<br />
gräßliche Gefühl, dass noch kein Alarm gegeben worden war. Er<br />
trat an den Waldrand und wartete auf eine Lücke in der amerikanischen<br />
Kolonne. Nur dreißig Meter bis zur anderen Seite, sagte er<br />
sich.<br />
Wieder rauschte ein M-1 an ihm vorbei. Er schaute nach links<br />
und sah, dass der nächste noch dreihundert Meter entfernt war.<br />
Sergetow holte tief Luft und rannte los.<br />
Der Panzerkommandant sah ihn, kam aber nicht rasch genug ans<br />
Maschinengewehr. Außerdem war ein Unbewaffneter zu Fuß das<br />
Anhalten nicht wert. Er meldete die Beobachtung über Funk und<br />
fuhr weiter.<br />
Sergetow rannte, bis er hundert Meter tief <strong>im</strong> Wald war, setzte<br />
sich an einen Baum, um zu verschnaufen. Erst nach einigen Minuten<br />
war er in der Lage, den steilen Hang zu erkl<strong>im</strong>men, und dann lag<br />
vor ihm wieder die Leine.<br />
Der Anblick der amerikanischen Panzer war schon ein Schock<br />
gewesen, doch was er nun sah, war schl<strong>im</strong>mer. Der Panzer-Instandsetzungspunkt<br />
war eine qualmende Ruine. Überall brannten Lastwagen.<br />
Er rannte den Abhang hinunter, schnallte sich rasch den<br />
Pistolengürtel ab und sprang in die schnelle Strömung des Flusses.<br />
»Was ist denn das? He, da schw<strong>im</strong>mt ja ein Russe!« Ein MG-<br />
Schütze schwang den Lauf der 50-mm-Waffe herum. Der Kommandant<br />
des Fahrzeugs gebot ihm Einhalt.<br />
642
»Sparen Sie sich Ihre Munition für die MiG!«<br />
Am Ostufer kletterte Sergetow die Böschung hoch und drehte<br />
sich dann um. Die amerikanischen Fahrzeuge gruben sich ein. Er<br />
rannte in Deckung und zählte. Dann machte er sich <strong>im</strong> Laufschritt<br />
auf zu einem Verkehrsknotenpunkt bei Sack.<br />
Nach einer Stunde beruhigte sich die Lage etwas. Lieutenant Makkall<br />
kletterte aus dem Panzer, um die Stellungen seines Zuges zu<br />
inspizieren. Einer der wenigen Munitionstransporter, die die Einheit<br />
begleitet hatten, hielt kurz bei jedem Panzer an, und die Mannschaft<br />
warf jeweils fünfzehn Granaten heraus: Zwar nicht genug,<br />
um das zu ersetzen, was verschossen worden war, aber es reichte.<br />
Nun musste mit Luftangriffen gerechnet werden. Die Panzerbesatzungen<br />
fällten Bäume und hackten Büsche ab, um sich zu tarnen.<br />
Bei der Infanterie gingen bereits die Stinger-Crews in Stellung, und<br />
über Alfeld kreisten Jäger der Air Force. Nachrichtendienstmeldungen<br />
zufolge standen acht russische Divisionen westlich der Weser.<br />
Und Mackall blockierte ihren Nachschubweg. Das machte diesen<br />
Flecken Erde sehr wertvoll.<br />
USS Independence<br />
Im Gegensatz zum letzten Mal wurden Nägel mit Köpfen gemacht,<br />
dachte Toland. Die Air Force ließ von Sondrestrom aus zum Schutz<br />
der Flotte eine E-3 Sentry operieren, und es waren auch vier E-2C<br />
Hawkeye der Marine in der Luft. Auf Island nahm sogar eine<br />
Bodenradarstation der Army den Betrieb auf. Zwei Aegis-Kreuzer<br />
begleiteten die Träger, ein dritter die Landungsflotte.<br />
»Wen greifen sie zuerst an, die Landungsschiffe oder uns?« fragte<br />
Admiral Jacobson.<br />
»Schwer zu sagen, Admiral«, erwiderte Toland. »Kommt darauf<br />
an, wer die Befehle gibt. Die russische Marine wird erst uns ausschalten<br />
wollen. Das Heer hat es eher auf die Landungsflotte abgesehen.«<br />
Jacobson verschränkte die Arme und schaute sich das Kartendisplay<br />
an. »Sie können aus jeder beliebigen Richtung kommen.«<br />
Sie rechneten mit höchstens fünfzig Backfire, aber der Feind<br />
verfügte noch über eine Menge älterer Badger, und die Flotte war nur<br />
643
fünfzehnhundert Meilen von den sowjetischen Bomberstützpunkten<br />
entfernt: Man konnte also mit Max<strong>im</strong>alladung anfliegen. Um<br />
die Russen aufzuhalten, hatte die Navy fast hundertvierzig Kampfflugzeuge,<br />
Tomcats und Hornet, aufgeboten. Vierundzwanzig waren<br />
nun von Tankflugzeugen unterstützt in der Luft, während die<br />
Erdkampfflugzeuge pausenlos die russischen Stellungen angriffen.<br />
Die Schlachtschiffe hatten ihren ersten Besuch vor Keflavik beendet<br />
und gaben jetzt aus dem Hvalfjördur den Marines nördlich von<br />
Bogarnes Feuerunterstützung. Bei der Planung des Unternehmens<br />
war mit einem russischen Raketenangriff gerechnet worden. Wann<br />
die Vampire kamen, war nur noch eine Frage der Zeit.<br />
Der Verlust Nordnorwegens hatte Echtzeit überflüssig gemacht.<br />
Das U-Boot war zwar noch <strong>im</strong>mer auf Station und hörte Signale ab,<br />
doch die Aufgabe, sowjetische Bomberverbände auszumachen, fiel<br />
von Schottland aus operierenden norwegischen Patrouillenflugzeugen<br />
zu. Der Pilot einer dieser Maschinen entdeckte drei Badger auf<br />
Südwestkurs und funkte eine Warnung. Die russischen Flugzeuge<br />
waren noch siebzig Minuten von der Flotte entfernt.<br />
Tolands Station, die Gefechtszentrale, befand sich unmittelbar unterm<br />
Flugdeck, und er konnte das Röhren der Triebwerke hören,<br />
wenn die Jäger vom Katapult gestartet wurden. Er war nervös.<br />
Zwar wusste er, dass sich die heutige taktische Situation stark von<br />
der des zweiten Kriegstages unterschied, konnte aber nicht vergessen,<br />
dass er einer der beiden Männer war, die aus der GZ der N<strong>im</strong>itz<br />
lebend entkommen waren. Eine Flut von Informationen erreichte<br />
den Raum; landgestütztes Radar, die E-3 der Air Force und die E-2.<br />
der Navy gaben allesamt ihre Daten an die Träger weiter. Das<br />
Display zeigte Jäger, die zu ihren Stationen flogen. Die Tomcats<br />
reichten bis über Islands Nordküste, flogen träge Schleifen und<br />
warteten auf die russischen Bomber.<br />
»Ideen, Toland, ich brauche Ideen!« sagte der Admiral leise.<br />
»Wenn sie es auf uns abgesehen haben, kommen sie von Osten.<br />
Geht es um die Landungsflotte, fliegen sie auf direktem Weg an.<br />
Täuschungsmanöver sind überflüssig, wenn Stykkisholmur das<br />
Ziel ist.«<br />
Jacobson nickte. »Ja, so sehe ich das auch.«<br />
Oben auf dem Flugdeck rumste es weiter; Erdkampfflugzeuge<br />
644
landeten, um neue Bomben an Bord zu nehmen. Abgesehen von<br />
der unmittelbaren Wirkung hatten ihre Einsätze den Zweck, die<br />
sowjetischen Fallschirmjäger durch kontinuierliche Luftangriffe<br />
zu demoralisieren. Auch Harrier der Marines und Hubschrauber<br />
waren <strong>im</strong> Einsatz. Man kam besser als erwartet voran, denn die<br />
russischen Truppen waren nicht so weit verteilt wie angenommen,<br />
und auf ihre bekannten Stellungen ging ein Hurrikan von Bomben<br />
und Raketen nieder.<br />
»Starbase, hier Hawk-Blue-Drei. Ich empfange Störsignale aus<br />
null-zwei-vier... werden stärker.« Die Daten gingen direkt von<br />
der Radarmaschine an den Träger und erschienen als dicke gelbe<br />
Blitze auf dem elektronischen Display. Kurz darauf meldeten auch<br />
die anderen Hawkeyes Störtätigkeit.<br />
Der für die Luftoperationen der Flotte zuständige Offizier lächelte<br />
schwach und griff zum Telefon. Da alle seine Einheiten an<br />
Ort und Stelle waren, hatte er mehrere Optionen.<br />
»Plan Delta.«<br />
Die russischen Störflugzeuge, umgebaute Badgers, kamen in<br />
breiter Front mit fünfhundert Knoten an, deckten die mit Raketen<br />
bewaffneten Bomber und waren nun noch dreihundert Meilen von<br />
den Radarflugzeugen entfernt. Die Tomcats jagten ihnen mit fünfhundert<br />
Knoten entgegen.<br />
Zwanzig Störflugzeuge waren identifiziert worden. Achtzehn<br />
Jäger hielten auf sie zu; jedem Ziel galten mindestens zwei Raketen.<br />
»Delta - ausführen!«<br />
Die Tomcats schossen auf diesen Befehl hin vierzig Meilen von<br />
ihren Zielen entfernt ab. Wieder fegten Phoenix-Raketen durch<br />
die Luft. Die Flugzeit betrug nun sechsundfünfzig Sekunden. Sechzehn<br />
Badger verstummten, die restlichen vier schalteten die Sender<br />
ab, als sie die Rauchspuren der Raketen sahen, und gingen in den<br />
Sturzflug, von Tomcats verfolgt.<br />
»Zahlreiche Radarkontakte. Verband Eins besteht aus fünfzig<br />
Maschinen in drei-sechs-null, Geschwindigkeit sechshundert Knoten,<br />
Höhe dreißigtausend. Verband Zwei -« Der Sprecher fuhr<br />
fort, die feindlichen Flugzeuge erschienen auf dem Display.<br />
»Der Hauptverband greift wahrscheinlich die Landungsflotte<br />
an, setzt sich aus Badger zusammen. Dieser zweite hier, das sind<br />
645
Backfire, die vermutlich aus großer Distanz Raketen auf uns abfeuern<br />
wollen«, sagte Toland.<br />
Jacobson besprach sich kurz mit seinem Operationsoffizier.<br />
Hawk-Green-1 sollte die Verteidigung der Landungsflotte steuern,<br />
Hawk-Blue-4 die des Trägerverbandes koordinieren. Die Jäger verteilten<br />
sich laut Plan und gingen an die Arbeit. Toland fiel auf, dass<br />
Jacobson die Leitung des Luftgefechts den Offizieren in den Radarflugzeugen<br />
überließ. Alle Lenkwaffenschiffe wurden von der USS<br />
Yorktown kommandiert.<br />
»Hoffen wir nur, dass die Russen nicht wieder ein Täuschungsmanöver<br />
versuchen«, murmelte Jacobson.<br />
»Gut, das hat einmal geklappt«, st<strong>im</strong>mte Toland zu. »Aber sie<br />
waren noch nie so weit von ihren Stützpunkten entfernt wie jetzt.«<br />
Die Tomcats teilten sich in Gruppen zu je vier Maschinen auf.<br />
Ihre Piloten waren ebenfalls über den Raketentrick informiert worden,<br />
auf den die N<strong>im</strong>itz hereingefallen war, und ließen die Radargeräte<br />
abgeschaltet, bis sie auf fünfzig Meilen an ihre Ziele herangekommen<br />
waren.<br />
»Hawk-Blue-Vier!« rief einer. »Tallyho, ich sichte einen Backfire.<br />
Greife jetzt an. Out.«<br />
Die Russen waren bei ihrem Angriffsplan von der Annahme<br />
ausgegangen, die amerikanischen Jäger würden versuchen, den<br />
Störvorhang <strong>im</strong> Norden zu durchbrechen, um dann vom Auftauchen<br />
der Backfire <strong>im</strong> Osten überrascht zu werden. Doch die Störflugzeuge<br />
waren ausgeschaltet worden, und die Backfire hatten den<br />
amerikanischen Trägerverband noch nicht auf dem Radarschirm.<br />
Nur aufgrund einer mehrere Stunden alten Satellitenaufnahme<br />
konnten sie ihre Raketen nicht abschießen; Flucht kam auch nicht<br />
in Frage. Die überschallschnellen russischen Bomber schalteten die<br />
Nachbrenner und Radaranlagen ein und begannen ein Rennen<br />
gegen Zeit, Distanz und die amerikanischen Abfangjäger.<br />
Wieder schien auf dem Display ein Videospiel abzulaufen. Die<br />
Symbole für die Backfire änderten sich, als die Maschinen zum<br />
Schutz ihre Störgeräte einschalteten. Das Stören verminderte die<br />
Treffsicherheit der Phoenix-Raketen, aber die Verluste der Russen<br />
waren bereits ernst. Die Backfire waren noch dreihundert Meilen<br />
entfernt. Ihr Radar reichte nur halb so weit, und schon schwärmten<br />
Jäger über ihrer Formation. Triumphierende Rufe der Tomcat-<br />
Piloten erklangen über Funk, und die Symbole begannen, von den<br />
646
Radarschirmen zu verschwinden. Die Backfire jagten mit Mach 2<br />
dahin und suchten mit Radar verzweifelt nach der amerikanischen<br />
Flotte.<br />
»Ein paar werden durchkommen«, meinte Toland.<br />
»Sechs bis acht«, st<strong>im</strong>mte Jacobson zu.<br />
Inzwischen hatten die Tomcats alle ihre Raketen verschossen<br />
und zogen sich zurück, um den Hornet mit ihren Raketen vom Typ<br />
Sparrow und Sidewinder das Feld zu überlassen. Den Kampfflugzeugen<br />
fiel es nicht leicht, mit ihren Zielen Schritt zu halten, sie erzielten<br />
aber Treffer, die kein Stör- oder Ausweichmanöver verhindern<br />
konnte. Endlich bekam eine russische Maschine die Flotte auf den<br />
Radarschirm und gab über Funk die Position durch. Die übriggebliebenen<br />
sieben Backfire schossen ihre Raketen ab und flohen mit<br />
Mach 2. nach Norden. Drei weitere fielen Luftkampfraketen zum<br />
Opfer, ehe die Hornet wegen Treibstoffmangel abdrehen mussten.<br />
Wieder erging die Vampir-Warnung. Toland verzog schmerzlich<br />
das Gesicht. Zwanzig anfliegende Raketen wurden erfaßt. Die<br />
Flotte aktivierte Störsender und SAM-Systeme; zwei Aegis-Kreuzer<br />
lagen auf der Bedrohungsachse. Binnen Sekunden hatten sie zu<br />
feuern begonnen, und auch die anderen mit SM-2 ausgerüsteten<br />
Schiffe warfen ihre Raketen in den »Korb«, ließen sie von den<br />
Aegis-Computern steuern. Auf die zwanzig anfliegenden Raketen<br />
waren neunzig SM-2 angesetzt. Nur drei schafften es durch die<br />
Wolke von Abwehrraketen, und nur eine hielt auf einen Flugzeugträger<br />
zu. Die au<strong>tom</strong>atischen Abwehrkanonen von America erfaßten<br />
und zerstörten die AS-6 dreihundert Meter vor dem Schiff. Die<br />
beiden anderen Raketen fanden und trafen den Kreuzer Wainwright<br />
und brachten ihn nur vier Meilen von der Independence<br />
entfernt zur Explosion.<br />
»Verdammt.« Jacobsons Züge verhärteten sich. »Verdammt,<br />
damit hatte ich nicht gerechnet. Holen wir die Flugzeuge rein. Da<br />
oben sind welche, die kaum noch etwas <strong>im</strong> Tank haben.«<br />
Nun galt alle Aufmerksamkeit den Badger, die gerade in Reichweite<br />
der Tomcat-Gruppen <strong>im</strong> Norden kamen. Die Badger-Crews<br />
hatten erwartet, hinter Störflugzeugen anzufliegen und erkannten<br />
zum Teil zu spät, dass es keine elektronische Mauer mehr gab,<br />
hinter der sie sich verstecken konnten. Fünf Minuten Flugzeit von<br />
ihren Abschußpunkten entfernt, machten sie angreifende Jäger<br />
aus. Die Badger blieben auf Kurs und gingen auf Höchstgeschwin<br />
647
digkeit, um die Zeit der Verwundbarkeit auf ein Min<strong>im</strong>um zu<br />
beschränken. Ihre Besatzungen hielten ängstlich nach Raketen Ausschau.<br />
»Tallyho! Badger in zwölf Uhr!« Der erste Tomcat ließ aus<br />
vierzig Meilen Entfernung das erste Raketenpaar los.<br />
Anders als den Backfire war den Badger die Position der Ziele<br />
bekannt, was sie in die Lage versetzte, ihre Raketen SA-4 aus der<br />
Max<strong>im</strong>aldistanz abzuschießen. Eine nach der anderen drehten die<br />
zwanzig Jahre alten Maschinen so scharf ab, wie ihre Piloten es<br />
wagten, und ergriffen die Flucht. Dank dieses Manövers überlebte<br />
die Hälfte, da die Kampfflugzeuge der Navy sie nicht verfolgen<br />
konnten, Raketen waren <strong>im</strong> Anflug auf Stykkisholmur, aber in den<br />
Radarflugzeugen rechnete man bereits die Abschüsse zusammen.<br />
Die sowjetischen Marineflieger hatten schwere Verluste erlitten.<br />
USS Nassau<br />
Edwards dämmerte noch in den Nachwirkungen der Narkose, als<br />
er den elektronischen Gong des Generalalarms hörte. Er wusste nur<br />
vage, wo er war. An den Hubschrauberflug konnte er sich noch<br />
erinnern; irgendwann war er dann einmal in einer Koje aufgewacht<br />
und hatte festgestellt, dass er vor Nadeln und Schläuchen nur so<br />
starrte. Mühsam hob er den Kopf. Vigdis saß auf einem Stuhl an<br />
seinem Bett und hielt seine rechte Hand. Er drückte sie, ohne zu<br />
merken, dass sie schlief. Einen Augenblick später fiel auch er wieder<br />
in den Schlaf.<br />
Fünf Decks höher stand der Kommandant der Nassau in der<br />
Brückennock. Eigentlich war seine Gefechtsstation in der GZ, doch<br />
da sich das Schiff nicht bewegte, konnte er auch genausogut von<br />
hier aus das Geschehen beobachten. Aus dem Nordosten waren<br />
über hundert Raketen <strong>im</strong> Anflug. Auf die vor einer Stunde ergangene<br />
Luftwarnung hin hatten seine Bootsbesatzungen auf den Felsen<br />
in diesem sogenannten Hafen Rauchbomben entzündet. Das<br />
soll meine beste Verteidigung sein, sagte er sich ungläubig. Die<br />
au<strong>tom</strong>atischen Abwehrkanonen an den Ecken des Flugdecks waren<br />
bereit. Die Läufe der CIWS, wegen ihrer an den kleinen Roboter aus<br />
»Krieg der Sterne« erinnernden Form auch R2D2 genannt, waren<br />
um zwanzig Grad eleviert und auf die Bedrohungsachse ausgerich<br />
648
tet. Mehr konnte er nicht tun. Luftabwehrexperten waren zu dem<br />
Schluß gekommen, dass selbst Doppelraketen mehr schaden als<br />
nutzen würden. Der Kommandant zuckte mit den Achseln. In fünf<br />
Minuten würde sich erweisen, ob sie recht gehabt hatten.<br />
Im Osten fuhr der Aegis-Kreuzer Vincennes langsam Kreise.<br />
Plötzlich fauchte es, an seinen Raketenstartern erschienen vier<br />
Rauchschleppen, und der Abschußzyklus begann. Bald verhängte<br />
dicker grauer Rauch den Nordh<strong>im</strong>mel. Durchs Fernglas machte er<br />
die ersten Abschüsse aus, jähe schwarze Explosionswolken. Sie<br />
kamen näher, und die Raketen auch: Der Aegis-Kreuzer konnte sie<br />
nicht alle ausschalten. Die Vincennes leerte ihre Magazine innerhalb<br />
von vier Minuten und raste dann mit voller Kraft zwischen<br />
zwei Felseninseln. Der Kommandant wollte seinen Augen nicht<br />
trauen: Da steuerte doch tatsächlich jemand ein Milliarden-Dollar-<br />
Schiff mit fünfundzwanzig Knoten in den Steingarten. Selbst der<br />
Guadalcanal...<br />
Eine Explosion erschütterte die vier Meilen entfernte Insel<br />
Hrappsey. Dann knallte es auf Seley. Es funktionierte!<br />
In zehn Meilen Höhe gingen die Radarsuchknöpfe der russischen<br />
Raketen an und fanden ihren Zielbereich mit Blips übervölkert.<br />
Überlastet suchten sie nach dem Objekt, das die stärkste Hitze<br />
ausstrahlte, und wählten sich be<strong>im</strong> letzten Sturzflug mit Mach 3 das<br />
größte aus. Dass sie Vulkangestein angriffen, wussten sie nicht.<br />
Dreißig Raketen durchbrachen den SAM-Abwehrgürtel, aber nur<br />
fünf davon hielten auf Schiffe zu.<br />
Zwei R2D2 der Nassau drehten sich gleichzeitig und feuerten auf<br />
eine Rakete, die so schnell flog, dass das Auge sie nicht mehr<br />
verfolgen konnte. Der Kommandant schaute in die Zielrichtung der<br />
Läufe und sah einen weißen Blitz dreihundert Meter über sich. Der<br />
folgende Knall raubte ihm fast das Gehör, und Splitter, die geräuschvoll<br />
vom Ruderhaus abprallten, zeigten, wie unverantwortlich<br />
exponiert er war. Zwei weitere Raketen landeten westlich von<br />
ihm auf Stykkisholmur. Dann klärte sich der H<strong>im</strong>mel wieder auf.<br />
Ein Feuerball <strong>im</strong> Westen: Ein Schiff war getroffen.<br />
Er griff zum Telefon und rief die GZ. »Hier Brücke. Zwei Raketen<br />
haben Stykkisholmur getroffen. Schicken wir einen Hubschrauber<br />
rüber, es muss Verwundete gegeben haben.«<br />
649
Die Bandaufnahmen des Gefechts wurden <strong>im</strong> schnellen Vorlaut<br />
abgespielt; ein Computer zählte die Abschüsse.<br />
»Sieht besser aus als be<strong>im</strong> letzten Mal, was?« merkte Jacobson<br />
an. »Spaulding, wie sieht es bei der Landungsflotte aus?«<br />
»Die Meldung geht gerade ein, Sir. Die Charleston wurde getroffen<br />
und brach auseinander. Leichte Schäden auf Guam und Ponce <br />
das wäre alles, Admiral.«<br />
»Und die Wainwright.« Jacobson holte tief Luft. Zwei wertvolle<br />
Schiffe und fünfzehnhundert Mann einfach weg, und doch musste<br />
er das Ganze als Erfolg werten.<br />
Keflavik, Island<br />
»Der Angriff sollte inzwischen vorüber sein.«<br />
Mit Informationen rechnete Andrejew so bald nicht. Es war den<br />
Amerikanern schließlich gelungen, sein letztes Radar zu beschädigen,<br />
so dass er keine Möglichkeit hatte, die Luftschlacht mitzuverfolgen.<br />
Seine Fernmeldetrupps hatten zahlreiche Sprechfunksendungen<br />
abgehört, die aber zu schwach und zu schnell gewesen<br />
waren, um einen anderen Schluß zuzulassen als den, dass eine<br />
Schlacht stattgefunden hatte.<br />
»Als wir das letzte Mal einen Trägerverband der Nato erwischten,<br />
zerschlugen wir ihn«, meinte der Operationsoffizier opt<strong>im</strong>istisch.<br />
»Unsere Truppen über Bogarnes liegen noch <strong>im</strong>mer unter schwerem<br />
Feuer«, meldete ein anderer. Die amerikanischen Schlachtschiffe<br />
beschossen sie nun schon seit über einer Stunde. »Sie erleiden<br />
ernste Verluste.«<br />
»Genosse General, ich empfange. Moment, hören Sie lieber<br />
selbst hin, es kommt über unseren Führungskreis.«<br />
Der Spruch wurde viermal wiederholt: »An den Befehlshaber der<br />
sowjetischen Streitkräfte Island - hier spricht der Befehlshaber des<br />
Kampfverbandes Atlantik. Wenn Sie diesen Spruch nicht empfangen,<br />
bekommen Sie ihn von anderer Seite zugestellt. Richten Sie<br />
Ihren Bombern aus, sie brauchen be<strong>im</strong> nächsten Mal mehr Glück.<br />
Wir sehen uns bald. Ende.«<br />
650
Sack, BRD<br />
Sergetow taumelte zum Verkehrsknotenpunkt und sah ein Panzerbataillon<br />
in Richtung Alteid rollen.<br />
»Weisen Sie sich aus!« befahl ein KGB-Leutnant. Inzwischen<br />
hatte das KGB die Verkehrsregelung übernommen.<br />
«Major Sergetow. Ich muss sofort den Gebietskommandeur sprechen.«<br />
»Ihre Einheit, Sergetow?«<br />
Iwan richtete sich auf. Diese Anrede paßte ihm nicht. »Ich bin<br />
Adjutant von General Alexejew, dem Stellvertreter des OB West.<br />
Und jetzt bringen Sie mich gefälligst zu Ihrem Kommandeur!«<br />
»Ihre Papiere.« Der Leutnant streckte mit einem kalten, arroganten<br />
Lächeln die Hand aus.<br />
Sergetow griff in die Tasche und händigte eine Karte aus, die ihm<br />
sein Vater noch vor der Mobilisierung besorgt hatte.<br />
»Und wie kommen Sie zu einem Passierschein der Klasse Eins?«<br />
Der Leutnant war nun vorsichtig geworden.<br />
»Und was geht Sie das an? Entweder bringen Sie mich jetzt auf<br />
der Stelle zu Ihrem Kommandeur, oder ich melde Sie!«<br />
Der Tschekist wurde <strong>im</strong> Handumdrehen klein und führte ihn zu<br />
einem Major.<br />
»Ich brauche Zugang zum Führungskreis der Armeegruppe«,<br />
sagte Sergetow barsch.<br />
»Ich habe nur Funkgeräte auf Reg<strong>im</strong>ents- und Divisionsebene«,<br />
erwiderte der Major.<br />
»Wo ist das nächste Divisionshauptquartier?«<br />
«Vierzigste Panzerdivision in -«<br />
»Ist zerstört. Verdammt noch mal, ich brauche ein Fahrzeug, und<br />
zwar sofort! Die Amerikaner stehen bei Alfeld.«<br />
»Wir haben gerade ein Bataillon in Marsch gesetzt -«<br />
»Weiß ich. Beordern Sie es zurück.«<br />
»Dazu bin ich nicht befugt.«<br />
»Sie Idiot, es fährt in eine Falle! Setzen Sie sich sofort mit der<br />
Einheit in Verbindung!«<br />
»Dazu bin ich nicht be-«<br />
»Was sind Sie? Ein deutscher Agent vielleicht? Wissen Sie denn<br />
nicht, was dort los ist?«<br />
»Ich habe etwas von einem Luftangriff gehört.«<br />
651
»Amerikanische Panzer sind in Alfeld, Sie Narr! Wir müssen<br />
einen Gegenangriff starten, aber ein Bataillon reicht nicht. Wir -«<br />
Sechs Kilometer entfernt donnerten Explosionen. »Major, Sie haben<br />
die Wahl. Entweder stellen Sie mir sofort ein Fahrzeug zur<br />
Verfügung, oder Sie geben mir Ihren Namen und Ihre Dienstnummer,<br />
damit ich Sie melden kann.« Die beiden KGB-Offiziere schauten<br />
sich ungläubig an. So wagte niemand mit ihnen zu reden, aber<br />
wer sich das herausnahm, musste Beziehungen haben. Sergetow<br />
bekam sein Fahrzeug und raste los. Eine halbe Stunde später kam er<br />
<strong>im</strong> Nachschublager Holle an ein Funkgerät.<br />
»Wo stecken Sie?« herrschte der General.<br />
»In Holle. Die Amerikaner haben unsere Linien durchbrochen<br />
und stehen mit mindestens einem Panzerbataillon in Alfeld.«<br />
»Was?« Für einen Augenblick herrschte Schweigen. »Sind Sie<br />
auch ganz sicher?«<br />
»Genosse, ich musste den Fluß durchschw<strong>im</strong>men, um hierherzukommen.<br />
Nördlich der Stadt sah ich fünfundzwanzig gepanzerte<br />
Fahrzeuge, die den Instandsetzungspunkt zerschossen und eine<br />
Kolonne Lkw massakriert haben. General, ich wiederhole: In Alfeld<br />
steht ein amerikanischer Verband von mindestens Bataillonstärke.«<br />
»Fahren Sie nach Stendal und erstatten Sie persönlich dem OB<br />
West Meldung.«<br />
USS Independence<br />
»Guten Abend, Major Tschapajew, was macht das Bein?« fragte<br />
Toland und ließ sich neben der Lazarettkoje nieder. »Sind Sie mit<br />
der Behandlung zufrieden?«<br />
»Ich kann nicht klagen. Ihr Russisch ist - annehmbar.«<br />
»Ich bekommen nur selten Gelegenheit, es mit einem Sowjetbürger<br />
zu üben. Vielleicht können Sie mir ein wenig helfen.« Major<br />
Alexander Georgijewitsch Tschapajew, 30, hatte auf einem Computerausdruck<br />
gestanden. Zweiter Sohn des Generals Georgi Konstantinowitsch<br />
T., Kommandeur des Luftschutzbezirks Moskau.<br />
Ehefrau: jüngste Tochter des ZK-Mitglieds Ilja Nikolajewitsch<br />
Goworow. Also ein junger Mann mit Zugang zu vielen vertraulichen<br />
Informationen.<br />
652
»Mit Ihrer Grammatik vielleicht?« schnaubte Tschapajew.<br />
»Sie führten die MiG, nicht wahr?«<br />
»Jawohl, ich war der ranghöchste Fliegeroffizier.«<br />
»Man hat mich angewiesen. Sie zu beglückwünschen. Ich bin<br />
zwar selbst kein Flieger, hörte aber. Ihre Taktik über Keflavik sei<br />
brillant gewesen. Sie haben fünf MiG, aber wir verloren gestern<br />
insgesamt sieben Maschinen - drei durch MiG, zwei durch Raketen,<br />
zwei durch Abwehrfeuer vom Boden. Angesichts des Kräfteverhältnisses<br />
war das für uns eine unangenehme Überraschung.«<br />
»Ich tat meine Pflicht.«<br />
»Da, das tun wir alle«, st<strong>im</strong>mte Toland zu. »Keine Sorge, wir<br />
werden Sie gut behandeln. Ich weiß nicht, worauf man Sie vorbereitet<br />
hat, aber es ist Ihnen best<strong>im</strong>mt hin und wieder aufgefallen, dass<br />
nicht alles, was die Partei sagt, st<strong>im</strong>mt. Aus Ihren Papieren ersehe<br />
ich, dass Sie verheiratet sind und zwei Kinder haben. Auch ich habe<br />
Familie. Wir werden unsere Lieben Wiedersehen, Major - höchstwahrscheinlich.«<br />
»Und wenn unsere Bomber Sie angreifen?«<br />
»Das taten sie vor drei Stunden.«<br />
»Na ja, be<strong>im</strong> ersten Mal -«<br />
»Ich war auf der N<strong>im</strong>itz. Wir bekamen zwei Treffer ab.« Toland<br />
beschrieb kurz den Angriff. »Aber diesmal war der Ausgang anders.<br />
Wir führen gerade eine Rettungsaktion durch, aber ich weiß<br />
nicht, wann die Überlebenden eintreffen. Ihre Luftwaffe stellt für<br />
uns keine Bedrohung mehr dar. Aus diesem Grund wäre es überflüssig,<br />
einen Luftwaffenoffizier zu verhören. Und dies ist eigentlich<br />
auch kein Verhör.«<br />
»Warum sind Sie dann hier?«<br />
»Ich möchte Ihnen später ein paar Fragen stellen. Im Augenblick<br />
wollte ich Ihnen nur guten Tag sagen und mich nach Ihrem Befinden<br />
erkundigen. Brauchen Sie irgend etwas?«<br />
Tschapajew wusste nicht, was er davon halten sollte. Abgesehen<br />
von der Möglichkeit, dass die Amerikaner ihn auf der Stelle erschossen,<br />
wusste er nicht, womit er hätte rechnen sollen. Man hatte ihm<br />
zwar eingeschärft, nach Möglichkeit zu fliehen, aber das kam auf<br />
einem Schiff wohl kaum in Frage.<br />
»Ich glaube Ihnen nicht«, erklärte er schließlich.<br />
»Genosse Major, es wäre sinnlos, Sie über die Mig-29 zu befragen;<br />
auf Island gibt es nämlich keine mehr. Nur Ihre Unterseeboote<br />
653
stellen noch eine Bedrohung für uns dar, und was verstehen Sie<br />
schon davon? Major, denken Sie doch einmal nach. Immerhin sind<br />
Sie ein gebildeter Mensch. Verfügen Sie über Informationen, die wir<br />
brauchen? Das möchte ich bezweifeln. Sie werden bald gegen andere<br />
Gefangene ausgetauscht. Und bis dahin behandeln wir Sie<br />
anständig.« Toland legte eine Pause ein. Jetzt sprich doch mal.<br />
Major, dachte er...<br />
»Ich habe Hunger«, meinte Tschapajew nach einem Augenblick.<br />
»In einer halben Stunde gibt es Abendessen.«<br />
»Sie wollen mich nach Hause schicken, obwohl -«<br />
»Wir haben keine Arbeitslager und töten auch keine Gefangenen.<br />
Hat Ihnen unser Arzt nicht das Bein genäht und Schmerzmittel<br />
verschrieben?«<br />
»Wo sind meine Fotos?«<br />
»Die hätte ich fast vergessen.« Toland reichte dem Russen seine<br />
Brieftasche. »Ist es nicht vorschriftswidrig, so etwas mit in die Luft<br />
zu nehmen?«<br />
»Sie sind mein Talisman«, erwiderte Tschapajew und nahm das<br />
Schwarzweißbild seiner Familie heraus.<br />
Bob lachte in sich hinein. »Er hat gewirkt, Genosse Major. Hier,<br />
das sind meine.«<br />
»An Ihrer Frau ist nicht genug dran, aber auch Sie sind ein<br />
glücklicher Mann.« Tschapajew, dessen Augen feucht wurden,<br />
legte eine Pause ein, blinzelte dann und sprach weiter: »Ich hätte<br />
Lust auf einen Schnaps.«<br />
»Ich auch. Ist auf unseren Schiffen aber leider verboten.« Er<br />
schaute sich die Fotos an. »Ihre Töchter sind bildhübsch, Major.<br />
Eine Schande, sie alleinlassen zu müssen.«<br />
»Wir haben unsere Pflicht«, sagte Tschapajew. Toland machte<br />
eine zornige Geste.<br />
»Daran sind nur die verdammten Politiker schuld. Die sagen uns,<br />
was wir zu tun haben, und wir folgen - wie die Idioten! Verdammt,<br />
wir wissen noch nicht einmal, wie dieser verfluchte Krieg überhaupt<br />
angefangen hat!«<br />
»Wirklich nicht?«<br />
Volltreffer! Mitgefühl und Codein... Das Tonbandgerät in Tolands<br />
Tasche lief bereits.<br />
654
Hunzen, BRD<br />
»Wenn ich den Angriff fortsetze, werden wir hier vernichtet«,<br />
protestierte Alexejew. »Ich habe zwei Divisionen in der Flanke, und<br />
aus Alfeld werden amerikanische Panzer gemeldet.«<br />
»Ausgeschlossen!« versetzte der OB West zornig.<br />
»Major Sergetow hat sie mit eigenen Augen gesehen. Ich habe ihn<br />
nach Stendal befohlen, um Ihnen persönlich Meldung zu machen.«<br />
»Die sechsundzwanzigste Mot-Schützendivision ist auf dem Weg<br />
nach Alfeld und wird mit den Amerikanern schon fertigwerden <br />
falls es dort überhaupt welche gibt.«<br />
Das ist eine Einheit der Kategorie III, dachte Alexejew. Reservisten<br />
mit veralteter Ausbildung, unzulänglich ausgerüstet.<br />
»Welche Fortschritte haben Sie be<strong>im</strong> Flußübergang gemacht?«<br />
»Zwei Reg<strong>im</strong>enter sind am anderen Ufer, eines setzt gerade über.<br />
Der Feind hat seine Aktivität in der Luft verstärkt - verdammt! Ich<br />
habe feindliche Verbände <strong>im</strong> Rücken!«<br />
»Fahren Sie zurück nach Stendal, Pascha, ich brauche Sie dort.<br />
Für Hunzen ist Beregowoy verantwortlich.«<br />
Ich bin abgelöst! dachte Alexejew ungläubig.<br />
»Verstanden, Genosse General«, erwiderte er und schaltete das<br />
Funkgerät aus. Kann ich meine Truppen so verwundbar zurücklassen?<br />
fragte er sich. Darf ich es versäumen, meine Truppenführer<br />
ungewarnt zu lassen? Alexejew hieb auf den Tisch. »Geben Sie mir<br />
General Beregowoy!«<br />
Alfeld, BRD<br />
Für Artillerieunterstützung waren sie zu weit von den Nato-Linien<br />
entfernt und zudem gezwungen gewesen, ihre eigenen Geschütze<br />
zurückzulassen. Mackall sah durch die Zieloptik die russischen<br />
Verbände <strong>im</strong> Dunst vorgehen. Er schätzte ihre Stärke auf zwei<br />
Reg<strong>im</strong>enter. Seltsam, keine SAM-Starter. Der befehlshabende<br />
Oberst begann, über Funk seine Anweisungen zu geben. Nato-<br />
Flugzeuge erschienen.<br />
Direkt hinter ihren Stellungen tauchten Apache-Kampfhubschrauber<br />
auf, flogen nach Süden, um die angreifenden russischen<br />
Fahrzeuge in der Flanke zu fassen, feuerten ihre Hellfire-Raketen<br />
auf die Panzerspitze ab. Die Piloten hielten nach SAM-Startfahr-<br />
655
zeugen Ausschau, entdeckten aber keine. Dann kam die A-10,<br />
flogen <strong>im</strong> Tiefflug an, zur Abwechslung einmal nicht von SAM<br />
bedroht. Mit Maschinenkanonen und Streubomben führten sie<br />
weiter, was die Apache begonnen hatten.<br />
»Was für ein schwachsinniger Angriff, Boss«, kommentierte der<br />
Richtschütze.<br />
"Die sind vielleicht grün, Woody.«<br />
»Soll mir recht sein.«<br />
Als nächstes griffen die Bradley am Ostrand der Stadt mit ihren<br />
Raketen an. Die erste sowjetische Welle wurde übel zugerichtet, ehe<br />
sie überhaupt in Reichweite der Panzer am anderen Flußufer kam.<br />
Die Attacke begann, an Schwung zu verlieren. Nun blieben die<br />
russischen Panzer stehen, machten Nebel und begannen, in seinem<br />
Schutz ziellos zu feuern. Ein paar Granaten landeten in der Nähe<br />
von Mackalls Stellung, richteten aber keinen Schaden an. Der<br />
Angriff wurde zwei Kilometer vor der Stadt zum Stehen gebracht.<br />
»Nach Norden«, befahl Alexejew.<br />
»Genosse General, wenn wir nach Norden fliegen -«, setzte der<br />
Pilot an.<br />
»Nach Norden, hab ich gesagt! Bleiben Sie tief«, fügte er hinzu.<br />
Der schwerbewaffnete Mi-24 ging abrupt tiefer. Alexejew stieg<br />
der Magen in den Hals, als sich der Pilot für den dummen und<br />
gefährlichen Befehl rächte. Er saß hinten, klammerte sich an den<br />
Gurt und lehnte sich aus der linken Tür, versuchte, etwas zu sehen.<br />
Der Hubschrauber wurde heftig nach links und rechts, oben und<br />
unten gerissen. Der Pilot kannte die Gefahren hier.<br />
»Da!« rief Alexejew über die Bordsprechanlange. «In zehn Uhr.<br />
Sind das amerikanische oder deutsche Panzer?«<br />
»Ich sehe auch ein paar Flarakpanzer, Genosse General. Wollen<br />
Sie sich die auch aus der Nähe ansehen?« fragte der Pilot sarkastisch<br />
und tauchte über einer Waldstraße ab.<br />
»Das war mindestens ein Bataillon«, meinte der General.<br />
»Mehr, würde ich sagen«, erwiderte der Pilot. Er flog nun mit<br />
voller Leistung und suchte den H<strong>im</strong>mel voraus nach Feindflugzeugen<br />
ab.<br />
Der General kämpfte mit seiner Karte. Am Ende musste er sich<br />
hinsetzen und anschnallen, um sie mit beiden Händen festhalten zu<br />
können. »Verdammt, so weit <strong>im</strong> Süden?«<br />
656
»Hab ich's nicht gesagt«, antwortete der Pilot über die Bordsprechanlage.<br />
»Der Feind hat einen Druchbruch erzwungen.«<br />
»Wie dicht können Sie an Alfeld heran?«<br />
»Hängt vom Überlebenswillen des Genossen General ab.« Alexejew<br />
hörte Zorn und Angst in den Worten und musste sich ins<br />
Gedächtnis rufen, dass der Hauptmann, der diesen Hubschrauber<br />
flog, wegen seiner Kühnheit überm Schlachtfeld schon zwe<strong>im</strong>al<br />
zum Helden der Sowjetunion gemacht worden war.<br />
»So dicht, wie Sie es verantworten können, Genosse Hauptmann.<br />
Ich will mit eigenen Augen sehen, was der Feind treibt.«<br />
»Verstanden. Festhalten, jetzt geht's rund.« Der Mi-24 machte<br />
einen Satz über eine Hochspannungsleitung, sackte dann wieder<br />
weg wie ein Stein, wurde so dicht über dem Boden abgefangen, dass<br />
Alexejew eine schmerzliche Gr<strong>im</strong>asse zog. »Feindflugzeuge über<br />
uns... vier auf Westkurs.«<br />
Sie überflogen einen grasbewachsenen Streifen mit Kettenfahrzeugen<br />
darauf. Das Gras war aufgewühlt. Er schaute auf die Karte.<br />
Diese Schneise führte nach Alfeld.<br />
»Ich überfliege die Leine und nähere mich Alfeld von Osten her.<br />
So sind wir wenigstens über eigenen Truppen, wenn was passiert«,<br />
verkündete der Pilot. Gleich darauf vollführte die Maschine wieder<br />
Sprünge. Im Vorbeijagen bekam Alexejew Panzer auf der Hügelkuppe<br />
zu sehen, viele Panzer. Ein paar Leuchtspurgeschosse jagten<br />
dem Hubschrauber entgegen, erreichten ihn aber nicht. »Ganz<br />
schön viele Panzer hier, Genosse General; ein Reg<strong>im</strong>ent, taxiere ich.<br />
Der Panzer-Instandsetzungspunkt ist <strong>im</strong> Süden - oder seine Überreste.<br />
Achtung! Feindliche Hubschrauber <strong>im</strong> Süden!«<br />
Die Maschine hielt an und drehte sich um die eigene Achse.<br />
Fauchend löste sich eine Luftkampfrakete von der Flügelspitze, dann<br />
flog der Mi-z4 weiter. Über sich sah der General eine Rauchspur.<br />
»Das war knapp.«<br />
»Haben Sie getroffen?«<br />
»Wünscht der General, dass ich anhalte und nachschaue? Moment<br />
mal, das war doch vorhin noch nicht da.«<br />
Der Hubschrauber verharrte kurz <strong>im</strong> Schwebeflug. Alexejew sah<br />
brennende Fahrzeuge und fliehende Männer. Die Tanks waren alte<br />
T-55. Das also war der Gegenangriff, von dem er gehört hatte!<br />
Zerschlagen. Eine Minute später sah er, wie sich die Fahrzeuge für<br />
eine neue Attacke sammelten.<br />
657
«Ich habe genug gesehen. Zurück nach Stendal, so schnell Sie<br />
können.« Der General lehnte sich mit seinen Karten zurück und<br />
versuchte, sich ein klares Bild von der Lage zu machen. Eine halbe<br />
Stunde später landete der Hubschrauber.<br />
Sie hatten recht, Pascha«, sagte der OB zur Begrüßung und hielt<br />
ihm drei Aufklärungsfotos hin.<br />
»Der erste Angriff der sechsundzwanzigsten Mot-Schützendivision<br />
wurde zwei Kilometer vor den feindlichen Linien zerschlagen.<br />
Als ich die Einheit überflog, gruppierten sie sich für eine neue<br />
Attacke. Das ist ein Fehler«, sagte Alexejew eindringlich und leise.<br />
»Wenn wir die Stellung zurückerobern wollen, muss der Angriff<br />
wohlgeplant sein.«<br />
»Wir müssen den Brückenkopf so rasch wie möglich wieder in<br />
die Hand bekommen.«<br />
»Gut. Dann sagen Sie Beregowoy, er soll zwei seiner Einheiten<br />
abkommandieren und zurück nach Osten fahren lassen.«<br />
»Wir können den Weserübergang nicht aufgeben!«<br />
»Genosse General, entweder ziehen wir diese Einheit zurück,<br />
oder wir lassen sie von der Nato an Ort und Stelle vernichten. Eine<br />
andere Wahl haben wir <strong>im</strong> Augenblick nicht.«<br />
»Nein, aber wenn wir Alfeld zurückerobert haben, können wir<br />
verstärken. Dann fallen wir dem feindlichen Gegenangriff in die<br />
Flanke und setzen den Vormarsch fort.«<br />
»Was haben wir gegen Alfeld einzusetzen?«<br />
»Es sind drei Divisionen unterwegs -«<br />
Alexejew sah sich die Bezeichnungen auf der Karte an. »Das sind<br />
ja alles Einheiten der Kategorie III!«<br />
»St<strong>im</strong>mt, die meisten Zweier musste ich nach Norden verlegen,<br />
weil die Nato auch bei Hamburg einen Gegenangriff gestartet<br />
hatte. Kopf hoch, Pascha, es kommen viele Dreier an die Front.«<br />
Ist ja toll, dachte Alexejew. Alte, fettleibige, ungeübte Reservisten<br />
marschieren an eine von kampferprobten Truppen gehaltene<br />
Front.<br />
»Warten wir, bis alle drei Divisionen in Stellung sind. Bringen<br />
wir Artillerie nach vorne und lassen die Nato-Stellungen beschießen.<br />
Wie sieht es bei Gronau aus?«<br />
»Die Deutschen sind über die Leine gegangen, aber wir haben sie<br />
gebunden. Auch dort treten zwei Divisionen zum Angriff an.«<br />
Alexejew ging hinüber an die Hauptkarte und suchte nach Ver<br />
658
änderungen der taktischen Lage seit seinem letzten Besuch. Im<br />
Norden hatten sich die Linien nicht merklich verschoben, und der<br />
Gegenangriff der Nato auf die Frontausbuchtung bei Alfeld und<br />
Rühle wurde gerade erst eingezeichnet. Bei Alfeld und Gronau<br />
steckten blaue Fähnchen. Vor Hamburg griff der Feind an.<br />
Wir haben die Initiative verloren, dachte Alexejew. Wie gewinnen<br />
wir sie zurück?<br />
Begonnen hatte die Sowjetunion den Krieg mit zwanzig in Ostdeutschland<br />
stationierten Divisionen der Kategorie I, unterstützt<br />
von zehn weiteren und Verstärkungen, die in der Folge herangezogen<br />
worden waren. Alle waren nun <strong>im</strong> Kampf eingesetzt, viele hatte<br />
man wegen hoher Verluste von der Front abziehen müssen. Die<br />
letzte Reserve von Formationen in Sollstärke stand bei Rühle und<br />
lief nun Gefahr, eingeschlossen zu werden.<br />
»Wir müssen den Angriff abbrechen«, erklärte Beregowoy.<br />
»Die Offensive ist eine politische und militärische Notwendigkeit«,<br />
erwiderte der OB West. »Wenn wir vorstoßen, muss die Nato<br />
einen Teil ihrer Angriffsverbände für die Verteidigung der Ruhr<br />
abziehen. Dann haben wir sie am Schlafittchen.«<br />
Alexejew machte keine Einwände mehr. Der Gedanke kam wie<br />
ein Eishauch: Haben wir verloren?<br />
USS Independence<br />
»Admiral, ich muss einen Offizier der Landungstruppen sprechen.«<br />
»Wen?«<br />
»Chuck Lowe, er ist Reg<strong>im</strong>entskommandeur und arbeitete früher<br />
be<strong>im</strong> CINCLANT mit mir zusammen.«<br />
»Ist die Information denn so heiß?«<br />
»Davon bin ich überzeugt, aber ich brauche noch ein Gegengutachten.<br />
Chuck ist der beste Experte, den wir zur Hand haben.«<br />
Jacobson griff zum Telefon. »Verbinden Sie mich sofort mit<br />
General Emerson ... Billy? Hier Scott. Gibt's bei Ihnen einen Colonel<br />
Chuck Lowe? Wo? Okay, einer meiner Leute muss ihn sofort<br />
sprechen... ja, es ist wichtig, Billy. Meinetwegen, er macht sich<br />
sofort auf den Weg.« Der Admiral legte auf. »Haben Sie diese<br />
Kassette kopiert?«<br />
»Jawohl, Sir, das Original liegt <strong>im</strong> Safe.«<br />
659
»Ein Hubschrauber steht für Sie bereit.«<br />
Der Flug nach Stykkisholmur dauerte eine Stunde. Von dort<br />
brachte ein Helikopter der Marines ihn nach Südwesten. Er traf<br />
Chuck Lowe in seinem Zelt be<strong>im</strong> Kartenstudium an.<br />
»Sie kommen ja ganz schön rum. Von der N<strong>im</strong>itz hab ich gehört.<br />
Gut, dass Sie da lebend rausgekommen sind. Was liegt an?«<br />
»Hören Sie sich doch bitte mal diese Kassette an. Dauert nur<br />
zwanzig Minuten.« Toland erklärte Lowe, wer der Russe war.<br />
Dann gingen die beiden Offiziere aus dem Zelt und an einen verhältnismäßig<br />
ruhigen Platz. Lowe spulte das Band zwe<strong>im</strong>al zurück,<br />
um sich eine Stelle noch einmal anzuhören.<br />
»Verdammt noch mal!« sagte er leise, als das Band abgelaufen<br />
war.<br />
»Er dachte, wir wüßten das schon.«<br />
Colonel Lowe bückte sich, hob einen Stein auf, wog ihn kurz in<br />
der Hand und warf ihn dann, so weit er konnte. »Warum auch<br />
nicht? Wir halten das KGB schließlich auch für kompetent. Die<br />
Information lag bei uns die ganze Zeit vor..., und wir haben das<br />
verpennt!« sagte er ärgerlich. »Macht uns der Mann auch nichts<br />
vor?«<br />
»Als wir ihn aus dem Wasser zogen, hatte er eine häßliche<br />
Beinverletzung. Der Doc nähte ihn zusammen und gab ihm ein<br />
Schmerzmittel. Ich bekam den Mann geschwächt vom Blutverlust<br />
und ziemlich berauscht vom Codein in die Finger. Chuck, ich will<br />
Ihre Meinung hören.«<br />
»Wollen Sie mich zurück zum Nachrichtendienst locken?« Lowe<br />
lächelte kurz. »Bob, diese Geschichte macht Sinn und sollte so rasch<br />
wie möglich nach oben gehen.«<br />
»Ich finde, das müßte der SACEUR erfahren.«<br />
»Bei dem kriegst du nicht so einfach einen Termin, Bob.«<br />
»Ich kann es über den COMEASTLANT versuchen. Das Original<br />
geht nach Washington. Die CIA wird das Band mit einem Stress<br />
Analyzer prüfen wollen. Aber ich habe dem Mann in die Augen<br />
geschaut, Chuck.«<br />
»Einverstanden, Bob. Das muss so schnell wie möglich nach<br />
oben, und der SACEUR kann es sich am schnellsten zunutze machen.«<br />
»Danke, Colonel. Wie rufe ich den Hubschrauber?«<br />
660
»Das erledige ich. Ach ja, herzlich willkommen auf Island.«<br />
»Wie läuft's?«<br />
»Der Feind hat gute Truppen, aber eine ungünstige Verteidigungslage.<br />
Wir verfügen über alle Feuerkraft, die wir brauchen.<br />
Kein Problem, die Lage haben wir <strong>im</strong> Griff.«<br />
Zwei Stunden später saß Toland in einer Maschine nach London.<br />
Moskau<br />
Marschall Fjodr Borissowitsch Bucharin leitete die Lagebesprechung.<br />
Die Marschälle Schawyrin und Roschkow waren am Vortag<br />
verhaftet worden, eine Entwicklung, die Minister Sergetow mehr<br />
sagte, als bei dieser Besprechung herauskommen konnte.<br />
»Der Angriff nach Westen von Alfeld aus ist wegen schlechter<br />
Planung und Ausführung durch den OB West steckengeblieben.<br />
Wir müssen die Initiative zurückgewinnen. Zum Glück stehen uns<br />
die erforderlichen Truppen zur Verfügung, und nichts kann die<br />
Tatsache ändern, dass die Nato schwerste Verluste erlitten hat. Ich<br />
schlage vor, den Stab des Oberkommandos West auszutauschen<br />
und -«<br />
»Moment, dazu möchte ich etwas anmerken«, unterbrach Sergetow.<br />
»Lassen Sie uns Ihre Meinung hören, Michail Eduardowitsch«,<br />
sagte der Verteidigungsminister sichtlich gereizt.<br />
»Marschall Bucharin, Sie wollen den gesamten Stab ablösen?«<br />
Die praktischen Konsequenzen für die Betroffenen sind ja wohl<br />
klar, dachte Sergetow.<br />
»Mein Sohn gehört dem Stab des Stellvertretenden OB West,<br />
General Alexejew, an«, fuhr Sergetow fort. »Diesem Mann gelangen<br />
die Durchbrüche bei Alfeld und Rühle. Er wurde zwe<strong>im</strong>al<br />
verwundet; feindliche Jäger schössen seinen Hubschrauber ab - er<br />
entkam, requirierte ein Fahrzeug, raste an die Front und leitete<br />
einen weiteren erfolgreichen Angriff. Diesen General, den besten,<br />
den wir meines Wissens haben, wollen Sie durch jemanden ersetzen,<br />
der mit der Lage nicht vertraut ist. Das ist doch der helle<br />
Wahnsinn!« rief er zornig.<br />
Der Innenminister beugte sich vor. »Nur weil Ihr Sohn zu seinem<br />
Stab gehört -«<br />
661
Sergetow wurde dunkelrot. »Nur meines Sohnes wegen? Mein<br />
Sohn kämpft an der Front, dient dem Staat. Er wurde verwundet<br />
und entkam bei dem Hubschrauberabschuß an der Seite seines<br />
Generals knapp dem Tode. Wer sonst in dieser Runde kann das von<br />
sich behaupten? Wo sind Ihre Söhne?" Er hieb auf den Tisch.<br />
Sergetow schloß in milderem Tonfall und traf seine Kollegen an der<br />
verletzlichsten Stelle: »Wo sind hier die Kommunisten?«<br />
Ein kurzes, aber tödliches Schweigen. Sergetow wusste, dass er<br />
seine politische Karriere nun entweder ruiniert oder sehr weit vorangebracht<br />
hatte. Wer als nächster das Wort ergriff, würde über<br />
sein Schicksal entscheiden.<br />
»Im Großen Vaterländischen Krieg«, ließ sich Pjotr Bromkowski<br />
würdevoll vernehmen, »lebten die Mitglieder des Politbüros an der<br />
Front. Viele verloren Söhne. Selbst Genosse Stalin gab seine Söhne<br />
dem Staat, und sie dienten Seite an Seite mit den Söhnen gewöhnlicher<br />
Arbeiter und Bauern. Michail Eduardowitsch hat wohl gesprochen.<br />
Genosse Marschall, darf ich Sie um eine Beurteilung des<br />
Generals Alexejew bitten? Ist Genosse Sergetows Einschätzung<br />
korrekt?«<br />
Bucharin sah unbehaglich drein. »Alexejew ist ein junger, intelligenter<br />
Offizier. Jawohl, auf seinem gegenwärtigen Posten hat er<br />
Gutes geleistet.«<br />
»Warum wollen Sie ihn dann ablösen?«<br />
»Vielleicht war der Entschluß zu übereilt«, gestand der Verteidigungsminister<br />
zu und stellte fest, dass die St<strong>im</strong>mung am Tisch<br />
dramatisch umschlug. Das zahle ich dir he<strong>im</strong>, Michail Eduardowitsch,<br />
dachte er. Schlägst dich auf die Seite des ältesten Mitglieds <br />
na schön, der alte Pjotr lebt nicht ewig. Und du auch nicht.<br />
»Gut, das wäre dann beschlossen«, meinte der Generalsekretär.<br />
»Nun, Bucharin, wie ist die Lage auf Island?«<br />
»Meldungen zufolge landete der Feind Truppenteile, aber wir<br />
griffen die Nato-Flotte sofort an und erwarten nun die Beurteilung<br />
der Verluste, die wir ihr zugefügt haben.« Bislang kannte Bucharin<br />
nur die sowjetischen Verluste und wollte diese erst bekanntgeben,<br />
wenn er gleichzeitig günstige Resultate des Luftangriffs zu melden<br />
hatte.<br />
662
Stendal, DDR<br />
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kamen sie, KGB-Offiziere <strong>im</strong><br />
Kampfanzug. Alexejew arbeitete an der Aufstellung der neu eingetroffenen<br />
Divisionen der Kategorie III und sah sie nicht. Fünf<br />
Minuten später wurde er herbeizitiert.<br />
»Genosse General, Sie sind ab sofort Oberbefehlshaber des Operationsgebietes<br />
West«, sagte sein Vorgesetzter schlicht, »Viel<br />
Glück.«<br />
Be<strong>im</strong> Tonfall des Generals sträubten sich Alexejew die Nackenhaare.<br />
Links und rechts von dem Mann standen Oberste des KGB<br />
<strong>im</strong> Kampfanzug.<br />
Was soll ich sagen, was kann ich tun? dachte er. Dieser Mann ist<br />
mein Freund.<br />
Der ehemalige OB West nahm ihm das ab. »Leben Sie wohl,<br />
Pascha.«<br />
Sie führten den General ab. Alexejew schaute ihm nach, sah ihn<br />
an der Tür stehenbleiben. Sein Blick war resigniert, sein Pistolenhalfter<br />
leer. Alexejew wandte sich ab und sah auf dem Schreibtisch<br />
ein Fernschreiben, das ihn in seiner neuen Funktion bestätigte und<br />
ihm versicherte, er habe das volle Vertrauen der Partei, der Politbüros<br />
und des Volkes. Er knüllte den Fetzen zusammen und warf ihn<br />
an die Wand.<br />
Wieviel Zeit habe ich? dachte Alexejew und rief seinen Fernmeldeoffizier.<br />
»Geben Sie mir General Beregowoy!«<br />
Brüssel<br />
Der SACEUR gönnte sich eine Mahlzeit. Seit Kriegsausbruch hatte<br />
er sich von Kaffee und belegten Broten ernährt und dabei fünf Kilo<br />
abgenommen. Alexander der Große war noch keine dreißig gewesen,<br />
als er seine Armeen von Sieg zu Sieg führte, dachte der General.<br />
Und jung genug, das durchzuhalten.<br />
Sein Plan klappte. Amerikanische Panzer standen in Alfeld. Die<br />
Deutschen hatten Gronau und Brüggen fest in der Hand, und wenn<br />
der Russe nicht schnell reagierte, stand seinen Divisionen an der<br />
Weser eine unangenehme Überraschung bevor. Die Tür ging auf,<br />
663
sein deutscher Nachrichtendienstoffizier kam herein, begleitet von<br />
einem Marineoffizier.<br />
»Verzeihung, Herr General, ich habe hier einen Marineoffizier,<br />
der Ihnen etwas vortragen möchte.«<br />
Der SACEUR starrte mürrisch auf seinen Teller. »Raus damit.«<br />
»General, ich bin Commander Bob Toland. Bis vor kurzem war<br />
ich bei der Kampfflotte Atlantik -«<br />
»Wie sieht es auf Island aus?«<br />
»Die sowjetischen Luftangriffe wurden abgeschlagen, Sir. Die U-<br />
Boote sind <strong>im</strong>mer noch ein Problem, aber die Marines befinden sich<br />
auf dem Vormarsch. Dort werden sie gewinnen, General.«<br />
»Je mehr U-Boote sie auf die Träger loslassen, desto weniger<br />
stören meine Geleitzüge«, knurrte der SACEUR.<br />
So kann man es auch sehen, dachte Toland. »Admiral, wir haben<br />
einen russischen Kampfflieger gefangengenommen, der aus einer<br />
einflußreichen Familie stammt. Ich habe ihn vernommen; hier ist<br />
das Band. Ich glaube, dass wir nun wissen, aus welchem Grund die<br />
Sowjetunion den Krieg anfing.«<br />
Der SACEUR machte schmale Augen. »Raus damit, Sohn.«<br />
»Erdöl -«<br />
664
Brüssel<br />
41<br />
Gelegenheitsziele<br />
Von der Kassette wurden drei Kopien gezogen. Eine ging zum<br />
Aufklärungsstab des SACEUR, wo eine neue Übersetzung angefertigt<br />
und mit Tolands verglichen wurde. Eine zweite kam zur elektronischen<br />
Analyse an den französischen Gehe<strong>im</strong>dienst. Die dritte<br />
erhielt ein belgischer Psychiater, der das Russische fließend beherrschte.<br />
Inzwischen brachte die Hälfte aller Nachrichtendienstoffiziere<br />
<strong>im</strong> Nato-Hauptquartier alle Informationen über den bisherigen<br />
Treibstoffverbrauch der Sowjets auf den neuesten Stand. CIA<br />
und andere Gehe<strong>im</strong>dienste kümmerten sich sofort um die sowjetische<br />
Erdölproduktion. Toland konnte das Ergebnis schon vorhersagen,<br />
ehe es vorlag: unzureichende Daten. Die denkbaren Schlußfolgerungen<br />
reichten von »Treibstoff für mehrere Monate« bis »die<br />
Russen haben keinen Tropfen mehr«.<br />
Ernst genommen wurde die Sache zuerst bei der Air Force. Dort<br />
wusste man bereits, dass die feindlichen Treibstofflager kleiner als<br />
erwartet waren. Nach der Zerstörung des großen Lagers bei Wittenberg<br />
waren die Russen zu kleineren übergegangen. Die Nato<br />
hatte sich bei ihren Angriffen weit hinter den feindlichen Linien auf<br />
Flugplätze, Munitionslager, Nachschublinien und Panzerkolonnen<br />
auf dem Weg an die Front konzentriert, lukrativere Ziele als die<br />
kleinen Treibstofflager, die obendrein noch schwer auszumachen<br />
waren.<br />
Nach einer fünfzehnminütigen Besprechung mit dem Chef seiner<br />
Flieger setzte der SACEUR eine neue Priorität.<br />
Stendal, DDR<br />
»Entweder das eine oder das andere«, flüsterte Alexejew vor sich<br />
hin. Seit zwölf Stunden hatte er sich erfolglos um eine Lösung<br />
665
emüht. Er hatte nun den Befehl, war nicht länger der aggressive<br />
Untergebene; aber ein Erfolg war sein Erfolg; ein Versagen sein<br />
Versagen. Sein Befehl war unmöglich auszuführen: Die Frontausbuchtung<br />
halten und weiter vordringen. Er verfügte über die Kräfte<br />
für das eine oder das andere, aber nicht für beides. »Von der Weser<br />
aus nach Nordwesten vorstoßen, die feindlichen Kräfte an der<br />
rechten Flanke abschneiden und den entscheidenden Stoß ins Ruhrtal<br />
vorbereiten.« Wer diesen Befehl erteilt hatte, war entweder<br />
ignorant oder realitätsblind.<br />
Doch bei der Nato wusste man Bescheid. Ihre Luftmacht hatte die<br />
Kolonnen auf jeder Straße zwischen Rühle und Alfeld zerschlagen.<br />
Die beiden Panzerdivisionen, die Beregowoys Nordflanke deckten,<br />
waren überrascht und in die Flucht geschlagen worden. Kräfte von<br />
Bataillonsstärke hielten die wichtigsten Kreuzungen; in der Zwischenzeit<br />
wurde das Reg<strong>im</strong>ent bei Alfeld verstärkt. In den Wäldern<br />
nördlich von Rühle lauerten vermutlich zwei Panzerdivisionen,<br />
hatten Beregowoy aber bisher noch nicht angegriffen. Durch ihre<br />
Inaktivität luden sie ihn ein, über die Weser zu gehen und <strong>im</strong><br />
Norden einen Gegenangriff zu starten.<br />
Alexejew entsann sich einer wichtigen Lektion, die er an der<br />
Frunse-Akademie gelernt hatte: die Charkow-Offensive 1942. Die<br />
Deutschen hatten die angreifende Rote Armee weit vordringen<br />
lassen - und sie dann abgeschnitten und aufgerieben. Das Oberkommando<br />
(also Stalin) hatte die Realitäten der Lage ignoriert und<br />
sein Augenmerk auf einen Scheinerfolg gerichtet. Der General<br />
fragte sich, ob zukünftige Generationen von Hauptleuten und Majoren<br />
an der Frunse-Akademie die bevorstehende Schlacht analysieren<br />
und darlegen würden, was für ein Esel der Generaloberst Pavel<br />
Leonidowitsch Alexejew gewesen war!<br />
Er konnte auch seine Truppen zurückziehen, die Niederlage<br />
eingestehen und dann womöglich als Verräter erschossen werden.<br />
»Major Sergetow, fahren Sie nach Moskau und sagen Sie den<br />
Leuten dort persönlich, welche Optionen ich hier habe. Ich werde<br />
eine Division von Beregowoy abziehen und sie nach Osten vorstoßen<br />
lassen, damit der Weg nach Alfeld wieder frei wird. Die Attacke<br />
auf Alfeld erfolgt aus zwei Richtungen, und wenn sie Erfolg gehabt<br />
hat, können wir den Übergang über die Weser fortsetzen, ohne<br />
befürchten zu müssen, dass unsere Spitzen abgeschnitten werden.«<br />
»Ein geschickter Kompromiß«, meinte der Major hoffnungsvoll.<br />
666
So ein Spruch hat mir gerade noch gefehlt, dachte Alexejew.<br />
Bitburg, BRD<br />
Zwölf Frisbees waren übrig. Zwe<strong>im</strong>al waren sie kurz aus dem<br />
Einsatz genommen worden, weil man neue Taktiken zur Verminderung<br />
des Risikos finden wollte - mit einigem Erfolg, wie sich<br />
Colonel Ellington sagte. Es hatte sich herausgestellt, dass einige<br />
sowjetische Luftabwehrsysteme unbekannte Fähigkeiten hatten,<br />
aber die Hälfte der Verluste war unerklärlich. Handelte es sich um<br />
Unfälle, wie sie mit dem Einsatz schwerbeladener Maschinen <strong>im</strong><br />
extremen Tiefflug einhergingen, oder kamen nun nur die Gesetze<br />
der Wahrscheinlichkeit zum Tragen? Ein Pilot mochte ein einprozentiges<br />
Risiko, bei einem Einsatz abgeschossen zu werden, noch<br />
akzeptabel finden; aber dann würde er erkennen, dass dieser Wert<br />
nach fünfzig Einsätzen auf vierzig Prozent stieg.<br />
Er startete allein nach Osten. Heute hatte er außer Sidewinder<br />
und Antiradarraketen zur Selbstverteidigung keine Waffen an<br />
Bord; die Maschine war statt mit Bomben mit Zusatztreibstofftanks<br />
beladen. Er ging für den Anfang auf dreitausend Fuß und<br />
überprüfte seine Instrumente, veränderte die Tr<strong>im</strong>mung leicht und<br />
begann dann einen langsamen Sinkflug, bis er auf fünfhundert Fuß<br />
war. In dieser Höhe überflog er die Weser.<br />
»Aktivität am Boden, Duke«, meldete Eisly. »Sieht aus wie eine<br />
Kolonne von Panzern und Lastern, die auf der B 64 nach Nordosten<br />
rollt.«<br />
»Geben Sie das weiter.« Alles, was sich in diesem Sektor bewegte,<br />
stellte ein Ziel dar. Eine Minute später überflogen sie nördlich von<br />
Alfeld die Leine. In der Ferne blitzte Artilleriefeuer; Ellington zog<br />
die Maschine hart nach links, um auszuweichen.<br />
Sie flogen weiter nach Osten, parallel zu einer Nebenstraße, die<br />
Eisly über die <strong>im</strong> Bug eingebaute Fernsehkamera überwachte.<br />
SAM-Batterien, die den H<strong>im</strong>mel nach Eindringlingen absuchten,<br />
ließen die Radarwarnanlage ansprechen.<br />
»Panzer«, sagte Eisly leise. »Eine ganze Menge.«<br />
»In Bewegung?«<br />
»Glaube ich nicht. Sieht eher so aus, als stünden sie neben der<br />
Straße am Waldrand. »Moment- Raketenstart! SAM in drei Uhr!«<br />
667
Ellington drückte den Knüppel nach vorne links. Binnen Sekunden<br />
musste er in eine Richtung abdrehen und gleichzeitig den Kopf<br />
in die andere nach der anfliegenden Rakete wenden, dann wieder<br />
zurückschauen, um sicherzustellen, dass er mit seinem fünfzig Millionen<br />
Dollar teuren Flugzeug keine Furche in den Acker pflügte.<br />
Von der SAM sah er nur eine gelblichweiße Stichflamme, die sich<br />
auf ihn zubewegte. Kaum flog die Maschine wieder geradeaus, da<br />
riß er sie scharf nach rechts. Hinter ihm behielt Eisly die Rakete <strong>im</strong><br />
Auge.<br />
»Dreht ab, Duke - hui!« Die Rakete ging hinter dem F-19 über<br />
den Baumwipfeln in den Horizontalflug, tauchte dann ab und<br />
explodierte <strong>im</strong> Wald. »Laut Instrument war das eine SA-Sechs. Das<br />
Suchradar der Batterie ist in ein Uhr und ganz nahe.«<br />
»Gut«, meinte Ellington, aktivierte eine Sidearm-Antiradarrakete<br />
und feuerte sie aus einer Entfernung von vier Meilen auf den<br />
Sender ab. Die Russen entdeckten sie zu spät. »Steck das ein«,<br />
grunzte Ellington befriedigt.<br />
»Ich glaube, Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, auf welche<br />
Weise die uns erwischen, Duke.«<br />
»Sieht wohl so aus.« Das Frisbee war für von oben kommende<br />
Radarstrahlen praktisch unsichtbar, aber von unten ziemlich leicht<br />
zu erfassen. Diese Schwäche ließ sich durch extremen Tiefflug<br />
ausgleichen, aber dann hatte der Pilot nicht genug Übersicht. Ellington<br />
drehte sich noch einmal nach den Panzern um. »Wie viele?«<br />
»Ein ganzer Haufen, über hundert.«<br />
»Geben Sie das durch.« Ellington ging wieder auf Nordkurs,<br />
während Major Eisly Meldung machte. In wenigen Minuten würden<br />
Phan<strong>tom</strong> der Bundesluftwaffe dem Panzersammelpunkt einen<br />
Besuch abstatten. Wo so viele Panzer standen, befand sich wahrscheinlich<br />
auch ein Treibstoffverteiler. Entweder waren die Tanklaster<br />
schon an Ort und Stelle oder noch unterwegs. Diese stellten<br />
nun sein Hauptziel dar, eine überraschende Abwechslung nach<br />
Wochen der Angriffe und Versorgungspunkte und Kolonnen.<br />
»Lkw direkt voraus!« Der Duke betrachtete das vom Computer<br />
verstärkte Bild auf dem Head-Up-Display. Eine lange Kolonne von<br />
Tanklastern, die dicht aufgeschlossen und ohne Licht schnell dahinrollte.<br />
Anhand der runden Tanks ließen sich die Fahrzeuge leicht<br />
identifizieren. Er flog eine Schleife. Auf Eislys Infrarotbild leuchteten<br />
die Motoren und Auspuffrohre hell auf.<br />
668
»Ich zähle rund fünfzig, Duke, und sie fahren auf diese Ansammlung<br />
von Panzern zu.«<br />
Rund zwanzigtausend Liter pro Fahrzeug dachte Ellington, insgesamt<br />
also eine Million Liter Dieseltreibstoff, genug, um alle<br />
Panzer zweier sowjetischer Divisionen zu füllen. Eisly meldete auch<br />
diese Kolonne.<br />
»Shade drei«, funkte der Controller aus dem AWACS zurück.<br />
»Acht Vögel sind unterwegs, Ankunft vier Minuten. Bitte kreisen<br />
und beobachten.«<br />
Ellington bestätigte nicht, sondern flog mehrere Minuten lang in<br />
Baumwipfelhöhe und fragte sich, wie viele russische Soldaten mit<br />
tragbaren SA-7 unter ihm lauerten.<br />
Von Osten her kamen die Tornado der Royal Air Force herangefegt.<br />
Die erste Maschine warf vor der Kolonne eine Streubombe ab,<br />
der Rest stieß <strong>im</strong> spitzen Winkel auf die Straße nieder und ließ<br />
Minibomben auf die Tanklastwagen hinabregnen. Fahrzeuge explodierten,<br />
brennender Treibstoff stieg hoch gen H<strong>im</strong>mel. Dieselöl<br />
verbreitete sich links und rechts der Straße; unbeschädigte Laster<br />
hielten an, wendeten, versuchten, der Feuersbrunst zu entkommen.<br />
Manche wurden von ihren Fahrern verlassen, andere ließen die<br />
Flammen hinter sich und versuchten, weiter nach Süden zu fahren.<br />
Wenigen gelang das. Die meisten schwerbeladenen Tanker blieben<br />
<strong>im</strong> weichen Boden stecken.<br />
»Geben Sie durch, sie hätten die Hälfte erwischt. Nicht übel.«<br />
Eine Minute später bekam das Frisbee den Befehl, wieder nach<br />
Nordosten zu fliegen.<br />
In Brüssel wurde mit Hilfe der vom Radarüberwachungsflugzeug<br />
gefunkten Daten der Weg der Kolonne ermittelt. Inzwischen war<br />
ein Computer auf die Funktion des Videorecorders programmiert<br />
worden, und dieser verfolgte nun den Weg der Kolonne bis zum<br />
Ausgangspunkt zurück. Acht Kampfflugzeuge hielten auf diese<br />
Waldung zu. Das Frisbee traf zuerst ein.<br />
»Ich empfange SAM-Radar, Duke«, sagte Eisly. »Sagen wir, eine<br />
Batterie SA-Sechs und eine Batterie SA-Elf. Der Platz muss ihnen<br />
wichtig sein.«<br />
»Und dazu hundert kleine Scheißer mit tragbaren SAM« fügte<br />
Ellington hinzu. »Wann sollen die Maschinen eintreffen?«<br />
669
»In vier Minuten.«<br />
Zwei SAM-Batterien, dachte Ellington. Übel für unsere Jungs in<br />
den Maschinen. »Räumen wir erst mal ein bißchen auf.«<br />
Eisly isolierte das Such- und Ortungsradar der SA-11. Ellington<br />
flog mit vierhundert Knoten auf die Anlage zu, flog dabei über einer<br />
Straße und blieb unter den Baumwipfeln, bis er auf zwei Meilen<br />
herangekommen war. Eine weitere Sidearm löste sich von der<br />
Tragfläche und fauchte auf den Radarsender zu. Im selben Augenblick<br />
flogen zwei Raketen auf sie an. Duke ging auf Max<strong>im</strong>alschub<br />
und drehte hart nach Osten ab, warf dabei Düppel und Magnesiumbomben.<br />
Eine Rakete griff die Aluminiumstreifen an und<br />
explodierte, ohne Schaden anzurichten. Die zweite erfaßte das<br />
unscharfe Radarecho des Frisbee und wollte nicht lockerlassen.<br />
Ellington riß die Maschine hoch und in eine enge Kurve in der<br />
Hoffnung, die Rakete auszumanövrieren. Aber die SA-11 war zu<br />
schnell, detonierte knapp hinter dem Frisbee. Gleich darauf retteten<br />
sich die beiden Piloten mit dem Schleudersitz aus dem auseinanderbrechenden<br />
Flugzeug; gerade hundert Meter überm Boden öffneten<br />
sich ihre Fallschirme.<br />
Ellington landete am Rand einer kleinen Lichtung, hakte rasch<br />
den Fallschirm ab und aktivierte sein Rettungsfunkgerät, ehe er den<br />
Revolver zog. Dann sah er Eislys Fallschirm von einem Baum<br />
hängen und rannte in diese Richtung.<br />
»Scheiß-Bäume!« rief Eisly. Seine Füße baumelten überm Boden.<br />
Ellington kletterte hoch und schnitt ihn ab. Der Major hatte Blut <strong>im</strong><br />
Gesicht.<br />
Explosionsdonner <strong>im</strong> Norden.<br />
»Sie haben's erwischt!« sagte Ellington.<br />
»Aber wer hat uns erwischt?« stöhnte Eisly. »Verdammt, ich hab<br />
was <strong>im</strong> Rücken.«<br />
»Können Sie laufen, Don?«<br />
»Ja.«<br />
Stendal, DDR<br />
Die Verteilung der Treibstoffreserven auf kleinere Depots hatte die<br />
Nato-Angriffe praktisch auf Null reduziert. Die Sowjets hatten<br />
sich daraufhin fast einen Monat sicher gefühlt. Die Attacken auf<br />
670
Panzerkolonnen und Munitionslager waren ernst, doch für beides<br />
gab es genug Ersatz. Be<strong>im</strong> Treibstoff sah das anders aus.<br />
»Genosse General, die Nato hat das Schema ihrer Luftangriffe<br />
geändert.«<br />
Alexejew wandte den Blick von der Karte. Fünf Minuten später<br />
kam sein Versorgungsoffizier herein.<br />
»Wie schl<strong>im</strong>m ist es?«<br />
»Insgesamt vielleicht zehn Prozent unserer vorgeschobenen Bestände.<br />
Im Sektor Alfeld sogar über dreißig Prozent.«<br />
Dann ging das Telefon: der General, dessen Divisionen in fünf<br />
Stunden Alfeld angreifen sollten.<br />
»Mein Treibstoff ist weg! Zwanzig Kilometer von hier wurde die<br />
Kolonne angegriffen und zerstört.«<br />
»Können Sie mit dem angreifen, was Sie haben?« fragte Alexejew.<br />
»Schon, aber manövrieren können meine Einheiten dann nicht!«<br />
»Sie müssen mit dem Verfügbaren angreifen.«<br />
»Aber -«<br />
»Vier Divisionen sowjetischer Soldaten müssen sterben, wenn sie<br />
nicht von Ihnen ersetzt werden. Der Angriff findet wie geplant<br />
statt!« Alexejew legte auf. Auch Beregowoy war mit dem Treibstoff<br />
knapp dran. Ein Panzer hatte genug <strong>im</strong> Tank, um dreihundert<br />
Kilometer geradeaus zu fahren, doch geradeaus fuhr man so gut wie<br />
nie, und die Besatzungen ließen die Motoren auch befehlswidrig<br />
laufen, wenn die Fahrzeuge stillstanden - die Zeit, die das Anlassen<br />
der Diesel erforderte, konnte <strong>im</strong> Falle eines Luftangriffes den Tod<br />
bedeuten. Beregowoy war gezwungen gewesen, seine Treibstoffreserven<br />
seinen nach Osten vorstoßenden Panzern zu überlassen,<br />
damit diese <strong>im</strong> Zusammenspiel mit den von Westen her Alfeld<br />
angreifenden Dreier-Divisionen operieren konnten. Die beiden Divisionen<br />
am linken Ufer der Weser waren praktisch bewegungsunfähig.<br />
Alexejew setzte bei dieser Offensive auf seine Fähigkeit, die<br />
Versorgungsrouten wieder zu öffnen. Er wies den Versorgungsoffizier<br />
an, mehr Treibstoff heranzuschaffen. Wenn der Angriff Erfolg<br />
haben sollte, würde er noch sehr viel mehr brauchen.<br />
671
Moskau<br />
Der Kontrast war grotesk - in knapp zwei Stunden mit dem Flugzeug<br />
von Stendal nach Moskau, aus dem Krieg in den Frieden<br />
Witali, der Chauffeur seines Vaters, holte ihn vom Militärflughafen<br />
ab und brachte ihn sofort zur Dienst-Datscha des Ministers in den<br />
Birkenwäldern nahe der Hauptstadt. Als er das Wohnz<strong>im</strong>mer betrat,<br />
fand er seinen Vater mit einem Fremden vor.<br />
»Das ist also der berühmte Iwan Michailowitsch Sergetow, Major<br />
der Roten Armee.«<br />
»Verzeihung, Genosse, aber ich glaube nicht, dass wir uns schon<br />
einmal begegnet sind.«<br />
»Wanja, das ist Boris Kosow.«<br />
Der junge Offizier ließ sich nur eine winzige Gefühlsregung<br />
anmerken, als er dem Direktor des KGB vorgestellt wurde. Er<br />
lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte den Mann, der den<br />
Bombenanschlag <strong>im</strong> Kreml befohlen und dafür gesorgt hatte, dass<br />
zum Zeitpunkt der Explosion Kinder anwesend waren. Es war zwei<br />
Uhr früh. Draußen patrouillierten KGB-Truppen und schirmten<br />
das Gehe<strong>im</strong>treffen ab.<br />
»Iwan Michailowitsch«, begann Kosow jovial, »wie schätzen Sie<br />
die Lage an der Front ein?«<br />
Der junge Offizier unterdrückte das Bedürfnis, sich mit einem<br />
Blick bei seinem Vater Rat zu holen. »Erfolg oder Mißerfolg der<br />
Operation hängen in der Schwebe - bitte vergessen Sie nicht, dass<br />
ich nur ein junger Offizier und für eine verläßliche Einschätzung der<br />
Situation nicht qualifiziert bin. Der Nato fehlen die Truppen, aber<br />
sie hat eine jähe Nachschub-Transfusion bekommen.«<br />
»Die rund zwei Wochen reichen wird.«<br />
»Wahrscheinlich weniger«, meinte Sergetow. »An der Front haben<br />
wir gelernt, dass der Nachschub viel rascher als erwartet verbraucht<br />
wird. Treibstoff, Munition, alles scheint sich fast in Luft<br />
aufzulösen. Unsere Kameraden von der Marine müssen also weiter<br />
auf die Geleitzüge einschlagen.«<br />
»Diese Fähigkeit ist nun ernsthaft eingeschränkt«, sagte Kosow.<br />
»Ich rechne nicht damit. Die Wahrheit ist: Unsere Marine ist geschlagen.<br />
Die Rückeroberung Islands durch die Nato steht bevor.<br />
»Davon hat Bucharin kein Wort gesagt!« wandte Sergetow Senior<br />
ein.<br />
672
Er hat uns auch nicht verraten, dass die Langstreckenbomber<br />
Nordflotte so gut wie ausradiert sind. Die Narren meinen, sie<br />
könnten mich hinters Licht führen! Die Amerikaner haben inzwischen<br />
eine ganze Division auf Island gelandet, die von ihrer Flotte<br />
massiv unterstützt wird. Wenn unsere U-Boote diese Konzentration<br />
von Schiffen nicht zerstören können - und solange sie das versuchen,<br />
können sie die Geleitzüge nicht angreifen -, geht Island<br />
binnen einer Woche verloren. Damit fiele unsere Strategie zur<br />
Isolierung Europas flach. Und was wird, wenn die Nato nach<br />
Belieben Nachschub heranschaffen kann?«<br />
Iwan Sergetow rutschte unbehaglich hin und her. Er merkte nun,<br />
worauf das Gespräch hinauslief. »Dann haben wir also unter Umständen<br />
verloren?«<br />
»Unter Umständen?« schnaubte Kosow. »Dann sind wir erledigt.<br />
Dann haben wir gegen die Nato verloren, haben keine neuen<br />
Energiequellen erobert, und unsere Streitkräfte sind nur noch ein<br />
Schatten ihrer selbst. Was soll das Politbüro dann unternehmen?«<br />
»Aber wenn die Offensive bei Alfeld Erfolg hat -« Beide Mitglieder<br />
des Politbüros ignorierten diese Bemerkung.<br />
.»Wie entwickeln sich die Gehe<strong>im</strong>verhandlungen mit den Deutschen<br />
in Indien?« fragte Minister Sergetow.<br />
»Ah, ist Ihnen aufgefallen, wie der Außenminister da beschönigt<br />
hat?« Kosow lächelte sanft. »Die Deutschen sind von ihrer Verhandlungsposition<br />
nicht abgewichen. Bestenfalls war das Angebot<br />
eine Rückversicherung für den Fall des Zusammenbruchs der Nato.<br />
Vielleicht war es auch von Anfang an nur ein Trick. Genau können<br />
wir das nicht sagen.« Der KGB-Chef goß sich ein Glas Mineralwasser<br />
ein. »Das Politbüro tritt in acht Stunden zusammen. Ich werde<br />
der Sitzung nicht beiwohnen; meine Angina pectoris meldet sich<br />
wieder einmal.«<br />
»Also wird Larionow an Ihrer Stelle vortragen?«<br />
»Jawohl.« Kosow grinste. »Armer Josef, er ist jetzt der Gefangene<br />
seiner eigenen Lagebeurteilung und wird berichten, dass nicht<br />
alles nach Plan läuft, aber trotzdem gut klappt. Er wird sagen, die<br />
gegenwärtige Offensive der Nato sei nur ein verzweifelter Versuch,<br />
unseren Vorstoß zu verhindern, und die Verhandlungen mit den<br />
Deutschen seien noch vielversprechend. Genosse Major, ich muss Sie<br />
warnen: Einer seiner Männer ist in Ihrem Stab. Ich kenne zwar seinen<br />
Namen, habe seine Berichte aber nicht zu Gesicht bekom<br />
673
men. Es waren vermutlich seine Informationen, die zur Ablösung<br />
und Verhaftung des bisherigen OB West führten.«<br />
»Was soll nun aus ihm werden?« fragte der Offizier.<br />
»Das geht Sie nichts an«, erwiderte Kosow kalt. Im Lauf der<br />
vergangenen sechsunddreißig Stunden waren sieben hohe Offiziere<br />
verhaftet worden. Alle saßen jetzt <strong>im</strong> Lefortowo-Gefängnis, und<br />
Kosow hätte nichts an ihrem Schicksal ändern können, selbst wenn<br />
er es gewollt hätte.<br />
»Vater ich muss wissen, wie es mit dem Treibstoff aussieht.«<br />
»Wir sind bei den Min<strong>im</strong>alreserven angelangt - ihr bekommt<br />
Treibstoff für zwei Wochen, die für den Vorstoß an den Persischen<br />
Golf ausersehenen Armeen genug für eine Woche.«<br />
»Sie können also Ihrem Vorgesetzten ausrichten, dass er zwei<br />
Wochen Zeit hat, den Krieg zu gewinnen«, ließ sich Kosow vernehmen.<br />
»Wenn er versagt, rollt sein Kopf, denn Larionow wird der<br />
Armee die Schuld für seine Fehleinschätzung zuschieben. Auch<br />
Ihnen droht dann Gefahr, junger Mann.«<br />
»Wer ist der KGB-Mann in unserem Stab?«<br />
»Der Operationsoffizier. Da sein Führungsoffizier zur Larionow-Fraktion<br />
gehört, weiß ich nicht genau, was er meldet.«<br />
»General Alexejew mißachtet praktisch seinen Befehl, indem er<br />
eine Einheit von der Weser abzieht und zur Unterstützung von<br />
Alfeld nach Osten schickt.«<br />
»Dann ist er bereits in Gefahr, und ich kann ihm auch nicht<br />
helfen.«<br />
»Wanja, du solltest jetzt zurückfahren. Genosse Kosow und ich<br />
haben noch andere Themen zu besprechen.« Sergetow umarmte<br />
seinen Sohn und brachte ihn an die Tür.<br />
»Ich benutze meinen Sohn nur ungern auf diese Weise«, sagte er,<br />
als er wieder bei Kosow saß.<br />
»Wem wollen Sie sonst vertrauen, Michail Eduardowitsch? Das<br />
Vaterland ist von der Vernichtung bedroht, die Parteiführung ist<br />
verrückt geworden, und ich habe das KGB nicht mehr voll in der<br />
Hand. Verstehen Sie doch: Wir haben verloren! Nun müssen wir<br />
retten, was zu retten ist.«<br />
»Noch <strong>im</strong>mer halten wir feindliches Gebiet -«<br />
»Was gestern oder heute war, ist unwesentlich. Wichtig ist, wie<br />
sich die Lage in einer Woche darstellt. Was tut unser Verteidigungsminister,<br />
wenn selbst ihm klar wird, dass wir verloren haben? Was<br />
674
wird, wenn Männer, die sich in einer verzweifelten Lage befinden,<br />
die Verfügungsgewalt über A<strong>tom</strong>waffen haben?«<br />
In der Tat, was dann? dachte Sergetow und fügte zwei Fragen<br />
hinzu: Was soll ich tun? Was sollen wir tun?<br />
Alfeld, BRD<br />
Mackall stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Russen nicht<br />
besonders schnell reagierten. In der Nacht hatte es Luftangriffe und<br />
heftigen Artilleriebeschuß gegeben, doch der erwartete Angriff der<br />
Bodentruppen war ausgeblieben; ein entscheidender Fehler der<br />
Russen. Es war Munition eingetroffen, so dass sie zum ersten Mal<br />
seit Wochen voll versorgt waren. Besser noch, eine Brigade deutscher<br />
Panzergrenadiere hatte die dez<strong>im</strong>ierte 1. Panzer-Kavalleriedivision<br />
verstärkt, und auf diese Männer vertraute Mackall ebenso<br />
wie auf die Verbundpanzerung seines M-1. Im Osten und Westen<br />
hatten ihre Kräfte Verteidigungsstellungen in der Tiefe eingenommen.<br />
Vom Norden her vorstoßende gepanzerte Verbände konnten<br />
nun Alfeld mit weitreichenden Geschützen unterstützen. Pioniere<br />
hatten die russischen Brücken über die Leine repariert, und Mackall<br />
war <strong>im</strong> Begriff, mit seinen Panzern nach Osten zu fahren, um die<br />
mechanisierten Truppen, die die Trümmer von Alfeld hielten, zu<br />
verstärken.<br />
Ein seltsames Gefühl, über die sowjetische Pontonbrücke zu<br />
fahren - komisch überhaupt, sich ostwärts zu bewegen! Mackalls<br />
Fahrer steuerte den Panzer nervös mit acht Stundenkilometer über<br />
die schmale, zerbrechlich wirkende Brücke. Drüben fuhren sie in<br />
nördlicher Richtung am Flußufer entlang, umrundeten die Stadt. Es<br />
war neblig, aus tiefhängenden Wolken fiel ein leichter Regen, typisches<br />
mitteleuropäisches Sommerwetter, das die Sichtweite auf<br />
knapp einen Kilometer reduzierte. Soldaten, die den Panzern vorbereitete<br />
Verteidigungsstellungen zuwiesen, empfingen sie. Zur Abwechslung<br />
hatten die Sowjets ihnen einmal geholfen: In ihrem<br />
permanenten Bemühen, die Straßen von Schutt zu befreien, hatten<br />
sie ordentliche, zwei Meter hohe Steinhaufen zurückgelassen, hinter<br />
denen sich Panzer vorzüglich verstecken konnten. Der Lieutenant<br />
stieg ab, um die Positionen seiner vier Panzer zu überprüfen,<br />
und besprach sich dann mit dem Chef der Kompanie Infanterie, die<br />
675
er unterstützen sollte. Am Rand von Alteid hatten sich zwei Bataillone<br />
Infanterie tief eingegraben. Über sich hörte er das Jaulen von<br />
Granaten des neuen Typs, die Minen auf das nebelverhangene<br />
Schlachtfeld vor ihm warfen. Als er auf seinen Panzer kletterte,<br />
änderte sich das Geräusch: Die Geschosse waren <strong>im</strong> Anflug.<br />
Stendal, DDR<br />
»Hat viel zu lange gedauert, sie in Marsch zu setzen«, grollte<br />
Alexejew.<br />
»Immerhin waren es drei Divisionen. Jetzt rollen sie«, erwiderte<br />
sein Operationsoffizier.<br />
»Aber welche Verstärkungen sind eingetroffen?«<br />
Der Offizier hatte Alexejew vor seinem Zangenangriff gewarnt,<br />
aber der General war nicht von seinem Plan abgewichen. Beregowoys<br />
Einser-Einheiten standen nun bereit, um von Westen aus<br />
vorzustoßen, und die drei Divisionen der Kategorie III schlugen von<br />
Osten aus zu. Den Panzerverbänden fehlte die Artillerie - dazu war<br />
der Vormarsch zu hastig gewesen -, aber dreihundert Panzer und<br />
sechshundert Mannschaftstransporter stellten an sich schon eine<br />
nicht zu verachtende Macht dar, dachte der General. Doch wogegen<br />
traten sie an, und wie viele Fahrzeuge waren auf dem Vormarsch<br />
bei Luftangriffen zerstört oder beschädigt worden?<br />
Sergetow erschien.<br />
»Wie war's in Moskau?« fragte Alexejew.<br />
»Finster, Genosse General. Wie verlief der Angriff?«<br />
»Er beginnt gerade eben.«<br />
»So?« Der Major war von den Verzögerungen überrascht und<br />
warf dem Operationsoffizier am Kartentisch einen scharfen Blick<br />
zu.<br />
»Ich habe eine Nachricht vom Oberkommando für Sie, Genosse<br />
General.« Sergetow reichte ihm ein amtlich aussehendes Schreiben.<br />
Alexejew überflog es - und hörte zu lesen auf, verkrampfte kurz die<br />
Finger, ehe er die Selbstbeherrschung zurückgewann.<br />
»Kommen Sie mit in mein Z<strong>im</strong>mer.« Der General sagte kein<br />
Wort, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Sind Sie ganz<br />
sicher?«<br />
»Ich habe es von Direktor Kosow persönlich gehört.«<br />
676
Alexejew saß auf der Schreibtischkante. Er riß ein Streichholz an<br />
und verbrannte das Schreiben, sah zu, wie die Flammen das Papier<br />
verzehrten, bis sie fast seine Finger erreicht hatten.<br />
»Dieser verfluchte Dreckskerl. Stukatsch!« Ein Spitzel bei seinem<br />
Stab! »Was noch?«<br />
Sergetow gab wieder, was er erfahren hatte. Der General schwieg<br />
eine Minute und rechnete den Treibstoffbedarf gegen die Treibstoffreserven<br />
auf.<br />
»Wenn der heutige Angriff mißlingt, haben wir -« Er wandte<br />
sich ab, unfähig, es laut auszusprechen. Habe ich ihnen nicht geraten,<br />
sofort anzugreifen? dachte er verbittert. Habe ich nicht gewarnt,<br />
der strategische Überraschungseffekt ginge verloren, wenn<br />
wir zu lange abwarten? Habe ich nicht die Abriegelung des Atlantiks<br />
verlangt, um der Nato die Nachschubwege abzuschneiden? Na<br />
bitte: Nichts ist erreicht, mein Freund sitzt <strong>im</strong> Gefängnis, und ich<br />
schwebe selbst in Gefahr, weil mir wahrscheinlich nicht gelingt,<br />
was ich von Anfang an für unmöglich gehalten habe.<br />
Der Operationsoffizier schaute herein. »Die Divisionen rollen.«<br />
»Danke, Jewgeni Iljitsch«, antwortete Alexejew liebenswürdig<br />
und erhob sich. »So, Major, jetzt wollen wir mal sehen, wie rasch<br />
wir die Linien der Nato durchstoßen!«<br />
Alfeld, BRD<br />
»Jetzt geht die Post ab«, meinte Woody.<br />
»Sieht so aus«, st<strong>im</strong>mte Mackall zu.<br />
Ihnen war gesagt worden, sie hätten mit zwei oder drei sowjetischen<br />
Reservedivisionen zu rechnen. Die schlechten Sichtverhältnisse<br />
wirkten sich für beide Seiten negativ aus. Die russische Artillerie<br />
hatte Schwierigkeiten bei der Feuerleitung, die Nato-Truppen<br />
bekamen nur min<strong>im</strong>ale Luftunterstützung. Wie üblich waren be<strong>im</strong><br />
einleitenden Bombardement die wie Hagel fallenden Geschosse der<br />
Raketenwerfer am schl<strong>im</strong>msten. Männer fielen, Fahrzeuge explodierten,<br />
aber die Verteidiger waren gut vorbereitet und die Verluste<br />
leicht.<br />
Woody schaltete sein Infrarot-Sichtgerät an, das seine Sichtweite<br />
auf tausend Meter verdoppelte. Links vom Turm saß nervös der<br />
Ladeschütze und hatte den Fuß leicht auf dem Pedal, mit dem er die<br />
677
Klappe des Munitionsbehälters bediente. Der Fahrer in seinem<br />
Raum unter der Kanone trommelte auf den Steuerknüppel.<br />
»Panzer, zwölf Uhr», sagte Woody und drückte ab.<br />
Die leere Karrusche wurde ausgeworfen. Der Ladeschütze trat<br />
aufs Pedal, die Klappe glitt auf, und er zog eine neue Sabot-Granate<br />
heraus, knallte sie in den Verschluß.<br />
»Bereit!«<br />
Woody hatte schon ein neues Ziel gefunden. Er handelte größtenteils<br />
aus eigener Initiative, denn Mackall musste sich um die<br />
gesamte Front des Zuges kümmern. Der Kompaniechef forderte<br />
Artillerieunterstützung an. Direkt hinter der ersten Panzerreihe<br />
sahen sie abgesessene Infanteristen rennen. An dem Angriff nahmen<br />
auch achträdrige Mannschaftstransportwagen teil. Die Bradleys<br />
nahmen sie mit ihren 25-mm Kanonen unter Feuer; sechs<br />
Meter überm Boden explodierten Granaten mit Annäherungszünder<br />
und ließen Splitter auf die Soldaten herabregnen.<br />
Die russischen Panzer, alte T-55 mit überholten l00-mm-Geschützen,<br />
rollten dichter geschlossen als gewöhnlich vor und konzentrierten<br />
sich auf eine schmale Front. Woody schoß drei ab, ehe<br />
sie die Nato-Positionen überhaupt zu sehen bekamen. Eine Granate<br />
landete auf dem Trümmerhaufen vor ihrem Panzer und ließ eine<br />
Wolke von Stahlfragmenten und Steinsplittern auf das Fahrzeug<br />
niedergehen. Den Kommando-Panzer erledigte Woody mit einer<br />
HEAT-Granate. Rauchgranaten begannen zu fallen; sie nutzten<br />
den Russen aber nichts, denn die Sichtgeräte an den Nato-Fahrzeugen<br />
durchdrangen den Nebel. Nun, da die Russen besser sehen<br />
konnten, kamen die amerikanischen Stellungen unter Artilleriebeschuß,<br />
der ein Artillerieduell auslöste, da sich die Geschütze der<br />
Nato auf die russischen Batterien einschossen.<br />
»Panzer mit Antenne! Wuchtmunition!« Der Richtschütze nahm<br />
den T-55 ins Visier, drückte ab und schoß daneben. Der zweite<br />
Schuß sprengte den Turm des feindlichen Kampffahrzeugs in die<br />
Luft. Das Infrarot-Sichtgerät zeigte helle Flecke, Panzerabwehrraketen,<br />
die dem Gegner entgegen jagten, und die fontänengleichen<br />
Explosionen der Fahrzeuge, die sie trafen. Auf einmal machten die<br />
Russen halt. Die meisten Fahrzeuge wurden <strong>im</strong> Stillstand zerstört,<br />
aber einige drehten ab und ergriffen die Flucht.<br />
»Feuer einstellen!« befahl Mackall seinem Zug. »Bitte Meldung.«<br />
678
»Uns ist eine Kette abgerissen worden«, meldete ein Panzer. Die<br />
anderen waren hinter ihren schützenden Steinwällen unversehrt<br />
geblieben.<br />
»Neun Granaten verschossen, Boss«, sagte Woody. Mackall<br />
und der Ladeschütze öffneten die Luken, um dem beißenden Gestank<br />
der Treibladungen aus dem Turm zu lassen. Der Richtschütze<br />
nahm den Lederhelm ab und schüttelte den Kopf. Sein<br />
sandfarbenes Haar starrte vor Dreck. »Wißt ihr, eins fehlt an<br />
diesem Panzer.«<br />
»Was wäre das, Woody?«<br />
»'ne Luke zum Rauspissen.«<br />
Mackall musste lachen. Zum ersten Mal hatten sie den Russen<br />
gestoppt, ohne sich zurückziehen zu müssen. Und wie reagierte die<br />
Besatzung? Mit Witzen!<br />
USS Reuben James<br />
O'Malley startete wieder. Im Augenblick leistete er durchschnittlich<br />
zehn Flugstunden am Tag. Drei Schiffe waren in den letzten vier<br />
Tagen torpediert, zwei von U-Boot-gestützten Raketen getroffen<br />
worden, aber diese Erfolge hatten die Russen teuer bezahlen müssen.<br />
Rund zwanzig U-Boote hatten sie in die isländischen Gewässer<br />
geschickt. Acht waren bei dem Versuch, den aus U-Booten bestehenden<br />
äußeren Verteidigungsring der Flotte zu durchbrechen,<br />
versenkt worden. Weitere waren den mit Schleppsonar ausgerüsteten<br />
Schiffen zum Opfer gefallen, zu deren Hubschraubern inzwischen<br />
noch die Maschinen von HMS Illustrious gestoßen waren.<br />
Einem kühnen russischen Kommandanten war es tatsächlich gelungen,<br />
in eine der Trägergruppen einzudringen und America mit<br />
einem Torpedo eins auf den dicken Pelz zu brennen. Aber sofort<br />
war er von dem Zerstörer Caron versenkt worden. Der Träger<br />
schaffte nun nur noch fünfundzwanzig Knoten, gerade genug für<br />
Flugoperationen, blieb aber <strong>im</strong> Einsatz.<br />
Die aus Reuben James, Battleaxe und Illustrious bestehende<br />
»Mike Force« eskortierte eine Gruppe von Landungsschiffen zur<br />
Küste. Noch war die Gefahr nicht gebannt, noch konnte der Russe<br />
die Landungsschiffe angreifen. Aus tausend Fuß Höhe konnte<br />
O'Malley die Nassau und drei andere Schiffe <strong>im</strong> Norden sehen.<br />
Von Keflavik stieg Rauch auf. Man ließ den russischen Truppen dort<br />
keine Ruhe.<br />
679
»Wird ihnen nicht leichtfallen, uns zu erfassen«, dachte Ralston<br />
laut.<br />
»Haben die russischen Truppen Funkgeräte?- fragte O'Malley.<br />
»Sicher,"<br />
»Und wenn sie auf diesen Bergen sitzen und ihre Beobachtungen<br />
an ein U-Boot weitermelden?«<br />
»An diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht«, räumte der<br />
Ensign ein.<br />
»Macht nichts. Der Iwan hat sie nicht vergessen.« O'Malley<br />
schaute wieder nach Norden. Auf diesen Schiffen waren dreitausend<br />
Marines. Und Marineinfanteristen hatten ihm in Vietnam mehr als<br />
einmal das Leben gerettet.<br />
Reuben James und O'Malley schützten die dem Land zugewandte<br />
Seite des kleinen Konvois, die Briten und ihre Hubschrauber gaben<br />
von See her Deckung. Da das Wasser verhältnismäßig seicht war,<br />
mussten sie das Schleppsonar einziehen.<br />
»Willy, Boje abwerfen!« Die erste aktive Sonoboje stürzte ins<br />
Wasser, <strong>im</strong> Lauf der nächsten fünf Minuten von fünf weiteren<br />
gefolgt. Mit den passiven, <strong>im</strong> freien Ozean verwandten Bojen war<br />
hier nicht viel anzufangen; besser, die Russen zu verjagen, als<br />
Finessen anzuwenden.<br />
Noch drei Stunden.<br />
»Hammer, hier Romeo!« rief Morris. »Bravo und India haben<br />
seewärts einen möglichen Kontakt, Distanz neunundzwanzig Meilen,<br />
Richtung zwei-vier-sieben.«<br />
»Roger, Romeo«, bestätigte O'Malley. Zu Ralston sagte er dann:<br />
»Verdammt, die Marines sind in Reichweite seiner Raketen.«<br />
»Kontakt! Boje Vier hat möglichen Kontakt«, sagte Willy und<br />
behielt das Sonar-Display <strong>im</strong> Auge. »Signal schwach.«<br />
O'Malley zog seinen Hubschrauber herum und flog zurück.<br />
Keflavik, Island<br />
»Wo sie wohl sind?« fragte Andrejew den Verbindungsoffizier der<br />
Marine. Die Position der Flotte war aufgrund der Meldungen von<br />
Beobachtungsposten auf der Karte eingetragen worden.<br />
680
Der Mann hob die Schultern. »Auf der Suche nach Zielen.«<br />
General Andrejew hatte seine Divisionen so aufgestellt, dass sie<br />
die Amerikaner so lange wie möglich vom Gebiet Reykjavik-Keflavik<br />
fernhielten. Sein ursprünglicher Befehl, die Nato an der Benutzung<br />
des Luftstützpunktes Keflavik zu hindern, galt noch, und ihn<br />
konnte er auch ausführen, wenngleich um den Preis der Aufreibung<br />
seiner Truppen. Sein Problem war, dass Reykjavik dem Feind<br />
ebenso nützlich sein würde. Eine leichte Division war nicht genug,<br />
um beide Anlagen zu halten.<br />
Wenn die Landungsschiffe erst einmal auf ihren Positionen waren,<br />
konnte sie <strong>im</strong> Schutz der relativen Dunkelheit die bereits gelandeten<br />
Truppen verstärken. Wie sollte er dieser Bedrohung entgegentreten?<br />
Seine Radaranlagen waren zerstört, er hatte nur noch<br />
einen SAM-Starter übrig, und die Schlachtschiffe hatten den Großteil<br />
seiner Artillerie systematisch zerschlagen.<br />
»Wie viele U-Boote haben wir da draußen?«<br />
»Kann ich nicht sagen, Genosse General.«<br />
Morris betrachtete das Sonar-Display. Der von der Sonarboje erfaßte<br />
Kontakt war nach einigen Minuten verklungen - es konnte<br />
auch ein Schwärm Heringe gewesen sein. Sein eigenes Sonar war<br />
praktisch nutzlos, da die Reuben James nur mühsam mit den Landungsschiffen<br />
Schritt hielt. Ein mögliches U-Boot seewärts - jeder<br />
U-Kontakt konnte ein mit Cruise Missiles bestücktes Boot sein <br />
war ein ausreichender Grund, auf Höchstfahrt zu gehen.<br />
Nun tauchte O'Malley sein Sonar ein und versuchte, den verlorenen<br />
Kontakt wieder zu erfassen.<br />
»Romeo, hier Bravo. Wir spüren einem unter Umständen mit<br />
Raketen bewaffneten U-Boot nach." Doug Perrin musste mit dem<br />
Schl<strong>im</strong>msten rechnen.<br />
»Roger, Bravo.« Laut Display unterstützten drei Hubschrauber<br />
die Battleaxe, die sich zwischen den Kontakt und die Landungsschiffe<br />
gesetzt hatte.<br />
»Kontakt!« rief Willy. »Aktivsonar-Kontakt in drei-null-drei, Distanz<br />
zweitausenddreihundert.«<br />
681
O'Malley brauchte gar nicht erst aufs taktische Display zu<br />
schauen. Das U-Boot befand sich eindeutig zwischen ihm und den<br />
Landungsschiffen.<br />
»Dom hoch!« Der Hubschrauber verharrte <strong>im</strong> Schwebeflug, bis<br />
der Sonarwandler eingeholt worden war. Nun war der Kontakt<br />
alarmiert. Das machte die Aufgabe schwerer. »Romeo, hier Hammer.<br />
Wir haben einen möglichen Kontakt.«<br />
»Roger, verstanden.« Morris warf einen Blick aufs Display und<br />
ließ die Fregatte mit voller Kraft auf den Punkt zulaufen. Keine sehr<br />
elegante Taktik, doch er musste auf den Kontakt losgehen, ehe die<br />
Landungsschiffe in Gefahr gerieten. »Signalisieren Sie Nassau, dass<br />
wir einen möglichen Kontakt haben.«<br />
»Dom ab!« befahl O'Malley. »Auf vierhundert absenken und peilen!«<br />
Sobald die richtige Tiefe erreicht war, aktivierte Willy das Sonar.<br />
Der Wandler schwebte so dicht überm Grund, dass fast zwanzig<br />
Felsnadeln sichtbar wurden. Eine rasche Tide bewirkte, dass Strömungsgeräusche<br />
an den Felsen zu Fehlanzeigen auf dem Passiv-<br />
Display führten.<br />
»Nichts und wieder nichts, Sir.«<br />
»Ich kann den Kerl spüren, Willy. Als wir das letzte Mal peilten,<br />
war er best<strong>im</strong>mt auf Periskoptiefe und tauchte dann ab.«<br />
»Sir, da bewegt sich was.«<br />
O'Malley bat Morris über Funk um Feuererlaubnis. Ralston<br />
stellte eine kreisförmige Suchbahn ein und ließ den Torpedo dann<br />
ins Meer stürzen. Der Pilot stellte das Sonar-Signal auf Kopfhörer<br />
um, hörte das Heulen der Schrauben des Torpedos, dann das<br />
Hochfrequenzsignal des Sonar-Suchkopfes. Der Torpedo kreiste<br />
fünf Minuten lang, schaltete dann auf kontinuierliches Peilen um <br />
und explodierte.<br />
»Die Detonation klang komisch, Sir«, meinte Willy.<br />
»Hammer, hier Romeo - bitte Meldung.«<br />
»Romeo, hier Hammer. Ich glaube, wir haben gerade einen<br />
Felsen versenkt.« O'Malley machte eine Pause. »Romeo, da ist ein<br />
U-Boot, aber ich kann noch nichts beweisen.«<br />
»Wie kommen Sie darauf, Hammer?«<br />
»Weil das hier ein vorzügliches Versteck ist, Romeo.«<br />
»Einverstanden.« Morris hatte gelernt, O'Malleys Instinkt zu<br />
682
vertrauen. Er setzte sich mit der Nassau in Verbindung. »November,<br />
hier Romeo, wir haben einen möglichen Kontakt und empfehlen,<br />
dass Sie sich nach Norden absetzen, während wir ihn verfolgen.«<br />
»Negativ, Romeo. India befaßt sich mit einem wahrscheinlichen<br />
Kontakt, der sich wie ein Raketen-U-Boot verhält. Wir halten mit<br />
Höchstfahrt auf unser Angriffsziel zu. Sehen Sie zu, dass Sie ihn<br />
erwischen, Romeo.«<br />
»Roger, out.« Morris legte den Hörer des Funktelefons auf.<br />
»Fahren wir weiter auf den Bezugspunkt zu.«<br />
»Ist es nicht gefährlich, einem U-Boot-Kontakt so einfach hinterherzujagen?«<br />
fragte Calloway. »Haben Sie denn nicht Ihren Hubschrauber,<br />
der Ihnen so etwas auf Distanz hält?«<br />
»Sie lernen rasch, Mr. Calloway. Jawohl, gefährlich ist es, aber<br />
die Sicherheit der Landungsschiffe geht vor.«<br />
Beide Turbinen der Fregatte liefen mit Höchstdrehzahl, ihr messerscharfer<br />
Bug durchschnitt mit über dreißig Knoten das Wasser.<br />
Die Drehkraft der einen Schraube gab dem Schiff vier Grad Schlagseite<br />
nach Backbord, als es auf den Kontakt zuraste.<br />
»Jetzt wird's unangenehm.« O'Malley konnte den Kreuzmast der<br />
Fregatte nun deutlich überm Horizont sehen. »Was gibt's, Willy?«<br />
»Eine Menge Grundechos, Sir. Sieht aus wie eine Stadt da unten.<br />
Aller möglicher Kram ragt hoch. Wirbel, Strudel, Strömungen. Die<br />
Sonarbedingungen sind beschissen, Sir!«<br />
»Auf Passivmodus gehen.« Der Pilot betätigte einen Schalter und<br />
hörte mit. Willy hatte recht - zu viel Strömungsgeräusch.<br />
»Romeo, hier Hammer. Können Sie dafür sorgen, dass sich die<br />
Landungsschiffe von hier fernhalten? Over.«<br />
»Negativ, Hammer. Die fliehen schon vor einem wahrscheinlichen<br />
Kontakt seewärts.«<br />
»Ist ja toll!« grollte O'Malley über die Bordsprechanlage. »Dom<br />
hoch, Willy.« Eine Minute später flogen sie nach Westen.<br />
»Dieser U-Boot-Fahrer hat Mumm«, meinte der Pilot. »Und<br />
Grips -« O'Malley rief die Reuben James. » Romeo, hier Hammer.<br />
Bringen Sie Novembers Kurs auf Ihr taktisches Display und übertragen<br />
Sie zu mir.«<br />
Das nahm eine Minute in Anspruch. O'Malley dankte dem Ingenieur,<br />
der diese Einrichtung in den taktischen Computer des Sea<br />
683
hawk eingebaut harte. Der Pilot zog eine <strong>im</strong>aginäre Linie von ihrem<br />
Kontakt zum Kurs der Nassau. Nehmen wir einmal an, dass das U-<br />
Boot zwanzig bis fünfundzwanzig Knoten fährt. .. Der Pilot wies<br />
mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm.<br />
»Da ist der Kerl!«<br />
»Woher wissen Sie das?« fragte Ralston.<br />
»Weil ich an seiner Stelle auch dort wäre! Willy, be<strong>im</strong> nächsten<br />
Eintauchen halten Sie den Dom in genau hundert Fuß Tiefe.«<br />
O'Malley kreiste über der bezeichneten Stelle und ging in den<br />
Schwebeflug.<br />
»Dom ab, Willy, nur passive Suche.«<br />
»Hundert Fuß. Ich horche, Skipper.« Sekunden zogen sich zu<br />
Minuten hin, während der Pilot den Hubschrauber stationär hielt.<br />
»Möglicher Kontakt in eins-sechs-zwei.«<br />
»Auf Aktivmodus gehen?« fragte Ralston.<br />
»Nein, noch nicht.«<br />
»Kontakt wandert langsam aus, nun in eins-fünf-neun.«<br />
»Romeo, hier Hammer. Haben einen möglichen U-Boot-Kontakt.«<br />
Die Daten wurden vom Bordhubschrauber des Seahawk zur<br />
Reuben James übertragen. Morris ließ den Kurs ändern und fuhr<br />
auf den Kontakt zu. O'Malley holte den Dom ein, warf zur Markierung<br />
der Stelle eine Sonoboje ab und wechselte die Position. Die<br />
Fregatte war nun vier Meilen von seinem Hubschrauber entfernt.<br />
»Dom ab!« Wieder eine Minute Warten.<br />
»Kontakt in eins-neun-sieben. Boje Sechs hat Kontakt in einsvier-zwei.«<br />
»Hab ich dich! Dom hoch!«<br />
Ralston bediente das Angriffssystem, O'Malley flog nach Süden,<br />
um sich direkt hinter das Ziel zu setzen. Der Kopilot stellte den<br />
letzten Torpedo auf eine Suchtiefe von zweihundert Fuß und<br />
Schlangenkurs ein.<br />
»Dom ab!«<br />
»Kontakt in zwei-neun-acht!«<br />
»Aktivpeilung!«<br />
Willy schaltete das Aktivsonar an. »Eindeutiger Kontakt in zweineun-acht,<br />
Distanz sechshundert.«<br />
»Eingestellt!« sagte Ralston sofort, und O'Malley drückte auf<br />
den roten Abwurfknopf. Der grüne Torpedo fiel ins Wasser.<br />
Und nichts geschah.<br />
684
»Skipper, Torpedo ist ein Blindgänger.«<br />
Zum Fluchen war keine Zeit. »Romeo, hier Hammer. Haben<br />
gerade auf einen passiven Kontakt abgeworfen, aber der Torpedo<br />
funktionierte nicht.«<br />
Morris krampfte die Finger um den Hörer des Funktelefons und<br />
befahl eine Kursänderung. »Hammer, können Sie das Ziel weiter<br />
verfolgen?«<br />
»Ja. Ziel fährt schnell auf Kurs zwei-zwei-null - Moment, dreht<br />
nach Norden ab. Scheint jetzt Fahrt zu verlangsamen.«<br />
Die Reuben James war nun sechstausend Yard vom U-Boot<br />
entfernt. Die beiden Wasserfahrzeuge liefen aufeinander zu, jedes <strong>im</strong><br />
Feuerbereich des anderen.<br />
»Volle Kraft zurück!« Binnen Sekunden vibrierte das ganze Schiff,<br />
als die Turbinen ihre volle Leistung abgaben. Nach einer Minute war<br />
das Tempo der Fregatte auf fünf Knoten gefallen, also knapp<br />
Steuerfahrt. »Prairie/Masker?«<br />
»In Betrieb, Sir«, bestätigte der Schiffskontrolloffizier.<br />
Calloway hatte sich stumm <strong>im</strong> Hintergrund gehalten, aber das<br />
war nun zuviel. »Sir, sind wir jetzt eine leichte Beute?«<br />
»Allerdings.« Morris nickte. »Aber wir können rascher verzögern<br />
als er. Inzwischen sollte sein Sonar wieder arbeiten - und wir sind zu<br />
leise, um von ihm gehört zu werden. Die Sonarbedingungen sind für<br />
alle ungünstig. Ein Glücksspiel ist es aber schon«, gestand der<br />
Kommandant zu. Dann forderte er über Funk einen weiteren Hubschrauber<br />
an. Illustrious versprach, ihm innerhalb von fünfzehn<br />
Minuten einen zur Verfügung zu stellen.<br />
Morris beobachtete O'Malleys Hubschrauber auf dem Radarschirm.<br />
Das russische U-Boot hatte die Fahrt verlangsamt und war<br />
abgetaucht.<br />
»Vampire, Vampire!« rief der Radartechniker. »Zwei Raketen in<br />
der Luft.«<br />
»Bravo meldet, ihr Hubschrauber hat gerade einen Torpedo auf<br />
ein Raketen-U-Boot abgeworfen!«<br />
»Jetzt wird's kompliziert«, merkte Morris kühl an. »Waffen frei.«<br />
»Bravo hat eine Rakete abgeschossen, Sir! Die andere fliegt auf<br />
India zu!«<br />
Morris konzentrierte sich aufs Hauptdisplay. Ein Symbol wanderte<br />
rasch auf HMS Illustrious zu.<br />
685
»Vampir als SSN-I9 evaluiert. Bravo evaluiert ihren Kontakt als<br />
Oscar, meldet einen Treffer, Sir.« Vier Hubschrauber umschwärmten<br />
nun den Kontakt.<br />
»Romeo, hier Hammer. Der Kerl sitzt genau unter uns - ist<br />
gerade auf Gegenkurs gegangen.-«<br />
»Sonar, Yankee-Suche eins-eins-drei!« Morris griff zum Funktelefon.<br />
»November, drehen Sie jetzt nach Norden ab«, wies er die<br />
Nassau an.<br />
»India ist eingetroffen, Sir. Moment... Indias Helikopter meldet<br />
einen weiteren Abwurf auf den Kontakt.«<br />
Illustrious Muss nun selbst auf sich aufpassen, dachte Morris.<br />
»Sonarkontakt in eins-eins-acht, Distanz fünfzehnhundert.« Die<br />
Daten gingen in den Feuerleitcomputer.<br />
»Feuer!« Morris machte eine kurze Pause. »Brücke: AK voraus!<br />
Kurs null-eins-null.«<br />
An der Steuerbordseite der Fregatte wurde ein Drillingsrohr<br />
ausgeschwenkt, das einen Torpedo ausstieß. Unter Deck lauschten<br />
die Ingenieure dem Lauf der Turbinen, die von Leerlauf auf Vollast<br />
gingen. Das Heck der Fregatte tauchte tiefer ein, als die Schraube<br />
das Wasser aufschäumen ließ. Die starken Turbinen verliehen dem<br />
Schiff eine Beschleunigung, die fast an ein Auto erinnerte.<br />
»Romeo, hier Hammer. Achtung, das Ziel hat gerade einen<br />
Torpedo auf Sie abgefeuert!«<br />
»Nixie?« fragte Morris. Das Schiff lief so schnell, dass sein eigenes<br />
Sonar nicht funktionierte.<br />
»Eine <strong>im</strong> Wasser, eine zweite klar zum Abwerfen, Sir«, antwortete<br />
ein Maat.<br />
»Das war's dann wohl.« Morris griff nach einer Zigarette,<br />
schaute sie an und warf dann die ganze Packung in den Papierkorb.<br />
»Romeo, hier Hammer. Kontakt hat Antriebssystem Typ Zwei.<br />
Evaluiert als Victor-Klasse. Läuft nun mit voller Kraft, dreht nach<br />
Norden ab. Ihr Torpedo peilt das Ziel an. Den Fisch, den es auf Sie<br />
abgeschossen hat, habe ich verloren.«<br />
»Roger. Bleiben Sie dran.«<br />
»Der Kerl hat die Ruhe weg!« sagte O'Malley in die Bordsprechanlage.<br />
Von HMS Illustrious konnte er Rauch aufsteigen sehen.<br />
»Skipper, Torpedo peilt nun kontinuierlich, scheint aufs Ziel<br />
zuzuhalten. Rumpfknistern, das U-Boot taucht auf.«<br />
686
O'Malley sah Turbulenz <strong>im</strong> Wasser. Plötzlich brach der gewölbte<br />
Bug des Victor durch die Oberfläche. Das U-Boot hatte bei<br />
dem Versuch, dem Torpedo auszuweichen, die Tiefenkontrolle<br />
verloren. Gleich darauf erfolgte die erste Sprengkopfexplosion, die<br />
O'Malley je zu Gesicht bekommen hatte. Das U-Boot glitt zurück in<br />
die Tiefe, als dreißig Meter von der Stelle, an der der Bug erschienen<br />
war, eine Wassersäule aufstieg.<br />
»Romeo, hier Hammer. Das war ein Treffer! Ich hab den Kerl<br />
sogar gesehen!«<br />
Commander Perrin war fassungslos. Das Oscar hatte inzwischen<br />
drei Torpedotreffer eingesteckt, brach aber noch <strong>im</strong>mer nicht auseinander.<br />
Doch seine Maschinen waren verstummt, und er hatte<br />
es mit Aktiv-Sonar erfaßt. Battleaxe hielt mit fünfzehn Knoten auf<br />
die Stelle zu, als aus zahllosen Luftblasen an der Oberfläche ein<br />
schwarzer Schemen auftauchte. Der Commander rannte auf die<br />
Brücke und richtete sein Fernglas auf das russische Boot. Es war nur<br />
eine knappe Meile entfernt. Auf seinem Turm erschien ein Mann<br />
und winkte heftig.<br />
Der Rumpf des Oscar wies an der Oberseite zwei mächtige Risse<br />
auf, und leckgeschlagene Ballasttanks gaben dem Boot dreißig<br />
Grad Schlagseite. Männer kletterten hastig auf den Turm und aus<br />
der vorderen Luke.<br />
»Bravo, hier Romeo. Haben gerade ein Victor versenkt. Bitte<br />
informieren Sie uns über Ihre Situation. Over.«<br />
Perrin griff zum Hörer. »Romeo, wir haben ein beschädigtes<br />
Oscar an der Oberfläche, das von der Besatzung aufgegeben wird.<br />
Das Boot feuerte zwei Raketen ab. Unsere Sea Wolf schalteten eine<br />
aus, die andere traf den Bug der India. Bereiten Rettungsaktion vor.<br />
Richten Sie November aus, sie könne ihre Spazierfahrt fortsetzen.<br />
Over.«<br />
»Gut gemacht, Bravo! Out.« Er schaltete auf einen anderen<br />
Kanal um. »November, hier Romeo. Haben Sie Bravos letzten<br />
Spruch mitgehört? Over.«<br />
»Affirmativ, Romeo. Sehen wir zu, dass dieser Verein festen<br />
Boden unter die Füße bekommt.«<br />
General Andrejew nahm die Meldung vom Beobachtungsposten<br />
selbst entgegen und gab erst dann seinem Operationsoffizier den<br />
687
Hörer. Die amerikanischen Landungsschiffe waren nun noch fünf<br />
Kilometer von dem Leuchtturm bei Akranes entfernt. Er vermutete<br />
dass sie zu der verlassenen Walfängerstation <strong>im</strong> Hvalfjördur fuhren,<br />
um dort ihre Chance abzuwarten.<br />
»Wir werden bis zum letzten Blutstropfen kämpfen«, tönte der<br />
KGB-Oberst, »und ihnen zeigen, woraus der sowjetische Soldat<br />
gemacht ist!»<br />
»Ihr Kampfgeist ist bewundernswert, Genosse Oberst«, meinte<br />
Andrejew, ging in eine Ecke und nahm ein Gewehr. »Hier, das<br />
dürfen Sie mit an die Front nehmen.«<br />
»Aber -«<br />
»Leutnant Gasparenko, besorgen Sie dem Oberst einen Fahrer.<br />
Er will an die Front, um den Amerikanern zu zeigen, wie sowjetische<br />
Soldaten kämpfen.« Andrejew empfand gr<strong>im</strong>mige Befriedigung.<br />
Nun konnte der Tschekist keinen Rückzieher machen. Als<br />
der Mann gegangen war, ließ Andrejew den Fernmeldeoffizier der<br />
Division kommen. Alle weitreichenden Sender bis auf zwei waren<br />
zu zerstören. Noch konnte er nicht kapitulieren, vorher hatten seine<br />
Soldaten eine Rechnung zu bezahlen, in Blut. Doch er wusste, dass<br />
der Augenblick, in dem weiterer Widerstand nutzlos war, kommen<br />
würde.<br />
Alfeld, BRD<br />
Für eine Weile herrschte Ruhe. Bei der zweiten Attacke hätten die<br />
Russen es fast geschafft, dachte Mackall. Ihre Panzer waren mit<br />
Höchstgeschwindigkeit bis auf fünfzig Meter an die amerikanischen<br />
Stellungen herangefahren und hatten mit ihren alten Geschützen<br />
die Hälfte der Panzer der Kompanie zerstört. Doch dieser<br />
Angriff war kurz vorm Erfolg zusammengebrochen, und der dritte,<br />
eine halbherzige, von erschöpften Männern vorgetragene Sache,<br />
hatte bei Einbruch der Dunkelheit die Todeszone noch nicht einmal<br />
erreicht. Von Westen her dröhnte Geschützdonner: Nun wurden<br />
die Deutschen westlich der Stadt angegriffen.<br />
688
Stendal DDR<br />
"General Beregowoy meldet einen schweren Gegenangriff aus dem<br />
Norden - Stoßrichtung Alfeld.«<br />
Alexejew nahm die Nachricht gleichmütig auf. Er hatte alles<br />
riskiert und verloren. Was nun?<br />
Im Kartenz<strong>im</strong>mer war es totenstill. Der General stand neben<br />
seinem Operationsoffizier.<br />
»Jewgeni Iljitsch, ich bitte um Ihre Vorschläge.«<br />
Der Mann zuckte die Achseln. »Wir müssen weitermachen. Unsere<br />
Männer sind erschöpft, aber die des Gegners ebenfalls.«<br />
»Wie werfen unerfahrene Truppen kampfgehärteten Veteranen<br />
entgegen. Das muss anders werden. Wir werden Offiziere und Unteroffiziere<br />
von Einheiten der Kategorie I abziehen und mit ihnen<br />
die gerade eintreffenden Dreier-Verbände verstärken. Die Reihen<br />
dieser Reservisten müssen mit kampferfahrenen Soldaten durchsetzt<br />
werden. Anschließend stellen wir die Offensivoperationen<br />
vorübergehend ein -«<br />
»Genosse General, wenn wir das tun -«<br />
»Wir sind stark genug für einen letzten Vorstoß. Zeit und Ort<br />
dieses Schlages best<strong>im</strong>me ich, und es wird eine perfekt vorbereitete<br />
Attacke sein. Beregowoy werde ich empfehlen, sich abzusetzen <br />
diesen Befehl kann ich nicht über Funk geben. Jewgeni Iljitsch, Sie<br />
fliegen heute abend zu Beregowoys Hauptquartier und stehen ihm<br />
zur Seite.» Auf diese Weise schaffte er sich den KGB-Spitzel vom<br />
Hals. Nachdem der Mann sich entfernt hatte, nahm Alexejew<br />
Sergetow mit in sein Büro.<br />
»Sie fahren zurück nach Moskau.«<br />
689
Brüssel<br />
42<br />
Die Lösung des Konflikts<br />
»Erstaunlich, was zwei Fünfer bewirken -«<br />
»Wie bitte, Herr General?« fragte der für den Nachrichtendienst<br />
verantwortliche Bundeswehrgeneral. Der SACEUR schüttelte nur<br />
den Kopf und schaute zur Abwechslung einmal zuversichtlich auf<br />
die Karte. Alfeld gehalten; den Deutschen war zwar westlich davon<br />
mörderisch zugesetzt worden, aber ihre Front hatte nur nachgegeben,<br />
zusammengebrochen war sie nicht. Nun war zu ihrer Verstärkung<br />
eine Panzerbrigade unterwegs. Die frisch eingetroffene Panzerdivision<br />
drang nach Süden vor, um eine russische Division von<br />
jenen an der Weser abzuschneiden. Die am weitesten vorgedrungenen<br />
sowjetischen Divisionen hatten alle ihre Boden-Luft-Raketen<br />
verschossen und wurden von der Nato mit entschlossener Regelmäßigkeit<br />
aus der Luft angegriffen.<br />
Die Luftaufklärung stellte das offene Gelände östlich von Alfeld<br />
als einen Friedhof von ausgebrannten Tanks dar. Auch in diese<br />
Richtung waren Verstärkungen unterwegs. Mit den Russen musste<br />
zwar bald wieder gerechnet werden, aber der H<strong>im</strong>mel war frei. Nun<br />
kam die volle Macht der Nato-Luftwaffen ins Spiel.<br />
»Joach<strong>im</strong>, ich glaube, wir haben sie zum Stehen gebracht.«<br />
»Jawohl, Herr General! Und jetzt treiben wir sie zurück!«<br />
Moskau<br />
»Vater, General Alexejew hat mir aufgetragen, dir auszurichten,<br />
dass es uns seiner Ansicht nach unmöglich ist, die Nato zu schlagen.«<br />
Major Sergetow nahm <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer des Ministers Platz. »Die<br />
strategische Überraschung ist uns mißlungen. Wir haben die Luftmacht<br />
der Nato unterschätzt und ihr den Nachschub nicht abschneiden<br />
können. Wäre diese letzte Gegenoffensive nicht gewe<br />
690
sen, hätte es vielleicht klappen können. Doch wir haben noch eine<br />
Chance. Der General setzt die Offensivoperationen aus, um einen<br />
letzten Angriff vorzubereiten. Und dazu -«<br />
»Ich dachte, alles sei verloren?«<br />
»Wenn wir die Nato so weit schwächen, dass sie zu einer großen<br />
Gegenoffensive nicht <strong>im</strong>stande ist, können wir die eroberten Gebiete<br />
halten und damit euch - das Politbüro - in die Lage versetzen,<br />
aus einer Position der Stärke zu verhandeln. Sicher ist auch diese<br />
Option nicht, aber der General hält sie für die beste. Er bittet dich,<br />
dem Politbüro die Notwendigkeit einer raschen diplomatischen<br />
Lösung zu unterbreiten, ehe die Nato sich so weit erholt, dass sie zur<br />
Offensive übergehen kann.«<br />
Der Minister nickte, drehte sich um und schaute aus dem Fenster.<br />
»Vorher wird man Alexejew verhaften«, meinte er schließlich. »Du<br />
weißt wohl, was aus den anderen Festgenommenen geworden ist.«<br />
Sein Sohn begriff nicht sofort.<br />
»Das kann doch nicht wahr sein!«<br />
»Gestern abend wurden alle sieben hingerichtet, einschließlich<br />
des früheren OB West.«<br />
»Aber er war doch ein tüchtiger Offizier -«<br />
»Er hatte keinen Erfolg, Wanja«, sagte Sergetow leise. »Der Staat<br />
toleriert keine Fehlschläge, und ich habe mich um deinetwillen mit<br />
Alexejew verbündet.« Seine St<strong>im</strong>me verklang. Nun bleibt mir keine<br />
andere Wahl, dachte er. Ich muss mit Kosow zusammenarbeiten,<br />
ungeachtet der Tatsache, dass er ein Verbrecher ist, ungeachtet aller<br />
Konsequenzen. Und ich muss dein Leben aufs Spiel setzen, Wanja.<br />
»Witali bringt dich zur Datscha. Dort ziehst du dir Zivilkleider an<br />
und wartest auf mich. Verlasse das Haus nicht, niemand darf dich<br />
sehen.«<br />
»Du wirst doch best<strong>im</strong>mt überwacht.«<br />
»Aber sicher.« Sein Vater lächelte kurz. »Von zwei KGB-Offizieren<br />
aus Kosows persönlichem Stab.«<br />
»Und wenn er dich zum Narren hält?«<br />
»Dann bin ich ein toter Mann, Wanja, und du ebenfalls. Vergib<br />
mir, ich hätte so etwas nie für möglich gehalten. Du hast mich in<br />
den letzten Wochen sehr stolz gemacht.« Er erhob sich und umarmte<br />
seinen Sohn. »Geh jetzt, und vertraue mir.«<br />
Als sein Sohn gegangen war, rief Sergetow die KGB-Zentrale an.<br />
Direktor Kosow war nicht <strong>im</strong> Hause; der Minister ließ ausrichten,<br />
691
die von Kosow angeforderten Daten über die Ölförderung <strong>im</strong> Persischen<br />
Golf lägen nun vor.<br />
Das Treffen, um das der Minister mir dem Codesatz gebeten<br />
hatte, fand bald nach Sonnenuntergang statt. Um Mitternacht saß<br />
Iwan Michailowitsch wieder in einer Maschine nach Deutschland.<br />
Stendal, DDR<br />
„Ihre Methode, sich des Verräters zu entledigen, fand Direktor<br />
Kosows Beifall. Ihn zu töten, meinte er, selbst bei einem vorgetäuschten<br />
Unfall, hätte Verdacht geweckt. Nun aber, da er sicher hinter den<br />
feindlichen Linien ist, wird er keinen Argwohn erwecken.«<br />
»Richten Sie dem Dreckskerl meinen Dank aus, wenn Sie ihn<br />
sehen.«<br />
»Ihr Freund wurde vor sechsunddreißig Stunden erschossen«,<br />
fuhr Sergetow fort. Der General zuckte zusammen.<br />
»Der frühere OB West, Marschall Schawyrin, Roschkow und<br />
andere wurden erschossen.«<br />
»Und dieses Schwein Kosow gratuliert mir - «<br />
»Er sagt, er härte es nicht verhindern können, und spricht Ihnen<br />
sein Beileid aus.«<br />
Aha, das Beileid des Komitees für Staatssicherheit, dachte Alexejew.<br />
Warte nur, Genosse Kosow, wenn die Zeit reif ist. . .<br />
»Ich bin natürlich als nächster dran.«<br />
»Ihr Vorschlag, mich erst einmal bei meinem Vater vorfühlen zu<br />
lassen, war gut. Er und Kosow sind nämlich der Meinung, dass Sie<br />
sofort verhaftet würden, wenn Sie STAWKA Ihre Pläne unterbreiteten.<br />
Das Politbüro hält nach wie vor einen Sieg für möglich. Wenn<br />
es diese Überzeugung verliert, ist alles denkbar.«<br />
Alexejew wusste genau, was damit gemeint war. »Weiter.«<br />
»Ihre Idee, den anrückenden Dreier-Divisionen erfahrene Soldaten<br />
beizugeben, ist vernünftig - das Muss jedem einleuchten. Eine<br />
Reihe solcher Divisionen radeln täglich durch Moskau.«<br />
Sergetow hielt inne, um dem General Zeit für eigene Rückschlüsse<br />
zu geben.<br />
Alexejew schien am ganzen Leib zu erbeben. »Wanja, das ist<br />
Hochverrat.«<br />
692
»Es geht um die Existenz des Vaterlandes -«<br />
»Verwechseln Sie Ihre eigene Haut nicht mit dem Vaterland! Sie<br />
sind Soldat, Iwan Michailowitsch. Genau wie ich. Wir sind entbehrlich<br />
-<br />
»Für die politische Führung?« höhnte Sergetow. »Ihr Respekt<br />
vor der Partei kommt reichlich spät. Genosse General."<br />
»Ich hatte gehofft. Ihr Vater könnte das Politbüro zu einer gemäßigteren<br />
Handlungsweise überreden. Einen Aufstand wollte ich<br />
nicht anzetteln.«<br />
»Die Zeit für Mäßigung ist längst vorbei«, sagte Sergetow.<br />
»Mein Vater sprach sich mit anderen gegen den Krieg aus-vergeblich.<br />
Wenn Sie nun eine diplomatische Lösung vorschlagen, werden<br />
Sie verhaftet und erschossen - erstens wegen Versagens, zweitens<br />
für die Unverfrorenheit, der Parteihierarchie die Politik diktieren zu<br />
wollen. Und wer träte an Ihre Stelle, was wäre das Ergebnis? Mein<br />
Vater befürchtet, das Politbüro könne zu einer nuklearen Lösung<br />
des Konflikts neigen. Genosse General, die Partei und die Revolution<br />
sind verraten worden. Wenn wir sie nicht retten, sind wir beide<br />
verloren. Mein Vater sagt, Sie müßten sich entscheiden, wem Sie<br />
wie dienen.«<br />
»Und wenn ich die falsche Entscheidung treffe?«<br />
»Dann müssen wir alle sterben, und Sie haben nichts gerettet.«<br />
Er hat in allen Punkten recht, dachte der General. Die Revolution<br />
ist verraten worden. Man hat die Idee der Partei verraten, aber -<br />
»Sie versuchen, mich zu manipulieren. Ich bin doch kein Kind!<br />
Ihr Vater sagte Ihnen best<strong>im</strong>mt, ich nähme nur teil, wenn Sie mich<br />
überzeugen können, dass die Sache idealistisch und« - Alexejew<br />
hielt inne, suchte nach dem richtigen Wort- »und rechtmäßig ist.«<br />
»Mein Vater sagte, Sie seien <strong>im</strong> Sinne des wissenschaftlichen<br />
Marxismus konditioniert. Ihr Leben lang hat man Ihnen eingeredet,<br />
die Armee habe der Partei zu dienen und sei der Hüter des<br />
Staates. Ich soll Sie erinnern, dass Sie ein Mann der Partei sind. Es sei<br />
an der Zeit, dass das Volk die Kontrolle über die Partei zurückgewinnt.«<br />
»Ah, und deshalb steckt er mit dem Direktor des KGB unter einer<br />
Decke!«<br />
»Sollen wir uns lieber bärtige Popen der orthodoxen Kirche oder<br />
jüdische Dissidenten aus dem Gulag holen, damit die Reinheit der<br />
Revolution garantiert ist? Wir müssen mit dem kämpfen, was uns<br />
693
zur Verfügung steht.« Es war für Sergetow ein starkes Stück, so zu<br />
einem Mann zu sprechen, unter dessen Befehl er <strong>im</strong> Feuer gelegen<br />
hatte, aber er wusste, dass sein Vater recht hatte. Zwe<strong>im</strong>al in einem<br />
halben Jahrhundert hatte die Partei die Streitkräfte nach ihrem<br />
Willen radikal umgebildet. Trotz ihres Stolzes und ihrer Macht<br />
hatten die Generäle der Sowjetunion den rebellischen Instinkt eines<br />
Schoßhündchens. Doch ist die Entscheidung erst einmal gefallen,<br />
hatte sein Vater gesagt... »Das Vaterland ruft um Hilfe. Es muss<br />
gerettet werden, Genosse General.«<br />
»Reden Sie mir nicht von der rodina! Ich bin kein Bonapartist!«<br />
Er erinnerte sich an den tausendfach wiederholten Spruch: »Die<br />
Partei ist die Seele des Volkes.«<br />
»Denken Sie an die Kinder von Pskow!«<br />
»Dafür war das KGB verantwortlich!«<br />
»Wem geben Sie die Schuld - dem Schwert oder der Hand, die es<br />
führt?« forderte Sergetow.<br />
Alexejew schwankte. »Ein Staatsstreich ist keine Kleinigkeit,<br />
Iwan Michailowitsch.«<br />
»Genosse General, ist es Ihre Pflicht, Befehle auszuführen, die<br />
zwangsläufig die Vernichtung des Staates herbeiführen müssen?<br />
Wir wollen den Staat nicht zerschlagen, sondern wiederaufbauen«,<br />
fügte Sergetow milde hinzu.<br />
»Es wird uns wahrscheinlich nicht gelingen.« Alexejew weidete<br />
sich auf masochistische Art an seinem Pess<strong>im</strong>ismus. Er setzte sich<br />
an seinen Schreibtisch. »Aber wenn ich schon sterben muss, dann<br />
wie ein Soldat.« Der General nahm einen Block und formulierte<br />
einen Plan, der den Erfolg garantierte und sicherstellte, dass er vor<br />
seinem Tod noch eine Tat vollbringen konnte.<br />
Höhe 914 Island<br />
Dort oben saß eine Elitetruppe, das wusste Colonel Lowe. Fast die<br />
gesamte Artillerie der Division beschoß den Hügel, von den unablässigen<br />
Luftangriffen und dem Feuer der Fünfzöller auf den<br />
Schlachtschiffen ganz zu schweigen. Er sah zu, wie seine Männer<br />
unter dem Feuer der verbliebenen Russen den steilen Hang erklommen.<br />
Die Schlachtschiffe lagen dicht vor der Küste und schössen<br />
Granaten mit Annäherungszünder, die rund fünf Meter überm<br />
694
Boden explodierten und Splitter über den Hügel fetzen ließen. Die<br />
schweren Geschütze der Marine wühlten die Kuppe auf. Alle vier<br />
Minuten stellte die Artillerie das Feuer ein, um den Flugzeugen<br />
Gelegenheit zu geben, mit Napalm- und Streubomben herabzustoßen.<br />
Doch die Russen wehrten sich weiter.<br />
»Hubschrauber los!« befahl Lowe.<br />
Zehn Minuten später hörte er Rotoren; fünfzehn Helikopter<br />
flogen an seinem Befehlsstand vorbei nach Osten, umrundeten die<br />
Rückseite des Hügels. Sein Feuerleitoffizier ließ den Beschüß kurz<br />
einstellen, als zwei Kompanien am südlichen Fuß des Hügels abgesetzt<br />
wurden. Die Männer, unterstützt von Cobra-Kampfhubschraubern,<br />
gingen <strong>im</strong> Laufschritt gegen die russischen Stellungen<br />
auf der Nordseite der Anhöhe vor.<br />
Der russische Kommandeur war verwundet worden, und sein<br />
Stellvertreter erkannte zu spät, dass er den Feind <strong>im</strong> Rücken hatte.<br />
Aus seiner hoffnungslosen Lage wurde eine verzweifelte. Die Nachricht<br />
verbreitete sich nur langsam. Viele russische Funkgeräte waren<br />
zerstört worden. Manche Soldaten erfuhren also nichts und mussten<br />
in ihren Schützenlöchern sterben. Doch das waren die Ausnahmen.<br />
Die meisten hörten, dass das Feuer schwächer wurde, und sahen<br />
erhobene Hände. Beschämt und erleichtert zugleich entluden sie ihre<br />
Waffen und warteten auf die Gefangennahme. Der Kampf um den<br />
Hügel hatte vier Stunden gedauert.<br />
»Höhe 914 antwortet nicht, Genosse General«, sagte der Fernmeldeoffizier.<br />
»Es ist hoffnungslos«, murmelte Andrejew. Seine Artillerie, seine<br />
SAM waren zerstört. Man hatte ihm befohlen, die Insel nur wenige<br />
Wochen lang zu halten, hatte ihm Verstärkung von See her versprochen<br />
und gesagt, der Krieg in Europa würde nur zwei, höchstens vier<br />
Wochen dauern. Nun hatte er viel länger ausgehalten. Eines seiner<br />
Reg<strong>im</strong>enter war nördlich von Reykjavik vernichtet worden, und<br />
jetzt hatten die Amerikaner Höhe 914 eingenommen; von dort aus<br />
konnten sie die Hauptstadt überblicken. Von seinen Soldaten waren<br />
zweitausend tot oder vermißt, tausend verwundet. Es war genug.<br />
»Versuchen Sie, über Funk Verbindung mit dem amerikanischen<br />
Kommandeur aufzunehmen. Sagen Sie, ich schlüge einen Waffenstillstand<br />
vor und sei bereit, mich an einem Ort seiner Wahl mit ihm<br />
zu treffen.«<br />
695
USS Nassau<br />
»Sie sind also Beagle?«<br />
»Jawohl, General.« Edwards versuchte, sich trotz des Gipsbeins<br />
<strong>im</strong> Bett aufzusetzen. Das Lazarett des Landungsschiffs war voller<br />
Verwundeter.<br />
»Und das muss Miss Vigdis sein. Man hat mir erzählt, wie hübsch<br />
Sie sind. Ich habe eine Tochter in Ihrem Alter.«<br />
Sanitäter hatten ihr Kleider besorgt, die einigermaßen paßten.<br />
Ein Arzt hatte sie untersucht und bestätigt, dass ihre Schwangerschaft<br />
weiter normal verlief.<br />
»Ich habe Michael mein Leben zu verdanken.«<br />
»Das hat man mir berichtet. Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«<br />
Sie schaute auf Edwards hinab, und damit war die Frage beantwortet.<br />
»Für einen Wetterfrosch haben Sie sich prächtig gehalten, Lieutenant.«<br />
»Wir haben uns ja nur versteckt, Sir.«<br />
»Nein, Sie haben uns gemeldet, was der Iwan auf dieser Insel<br />
hatte und wo er saß... nun, wenigstens, wo er nicht saß. Sie haben<br />
uns sehr geholfen.« Der General nahm ein Etui aus der Tasche.<br />
»Gut gemacht, Marine!«<br />
»Sir, ich gehöre zur Air Force.«<br />
»So? Nun, hier steht, dass Sie bei der Marineinfanterie sind.« Der<br />
General steckte ein Navy Cross ans Kopfkissen. Ein Major kam auf<br />
den General zu und reichte ihm eine Meldung. Der General steckte<br />
den Bogen ein und schaute versonnen an der langen Reihe der<br />
Betten entlang.<br />
»Wurde auch Zeit«, hauchte er. »Miss Vigdis, würden Sie sich<br />
bitte um diesen Mann kümmern?«<br />
Swerdlowsk, UdSSR<br />
Noch zwei Tage, dann ging es an die Front. Die 77. Mot-Schützendivision<br />
war eine Einheit der Kategorie III, setzte sich aus Reservisten<br />
in den Dreißigern zusammen und verfügte über ein gutes<br />
Drittel der normalen Ausrüstung. Seit der Mobilmachung war<br />
696
unablässig geübt worden; ältere Männer hatten ihre militärischen<br />
Erfahrungen an die frisch eingezogenen Wehrpflichtigen weitergegeben.<br />
Es war eine seltsame Kombination. Die Neuankömmlinge<br />
waren körperlich fit, aber in militärischen Dingen unerfahren. Die<br />
älteren Männer hatten noch manches aus ihrer Wehrdienstzeit<br />
behalten, waren aber <strong>im</strong> Lauf der Jahre weich geworden. Die<br />
jungen Männer waren mit dem Eifer der Jugend bereit, ihr Land bis<br />
zum Letzten auf dem Schlachtfeld zu verteidigen; die Familienväter<br />
hatten mehr zu verlieren. Dann kam die Nachricht: Es ging nach<br />
Deutschland. In Moskau sollten kampferprobte Offiziere und Unteroffiziere<br />
zu ihnen stoßen. Eine Woche noch, dann sollte die<br />
77. Mot-Schützendivision <strong>im</strong> Gefecht eingesetzt werden. An diesem<br />
Abend war es still <strong>im</strong> Lager. Männer standen vor den ungeheizten<br />
Kasernenblocks und schauten auf die Nadelwälder an den<br />
Osthängen des Urals.<br />
Moskau<br />
»Warum greifen wir nicht an?« forderte der Generalsekretär.<br />
»General Alexejew hat mir mitgeteilt, dass er eine Großoffensive<br />
vorbereitet«, erwiderte Bucharin.<br />
»Richten Sie dem Genossen Alexejew aus«, fuhr der Verteidigungsminister<br />
dazwischen, »dass uns an Taten gelegen ist, nicht an<br />
Worten.«<br />
»Genossen«, sagte Sergetow, »aus meiner Militärzeit weiß ich<br />
noch, dass man erst angreifen soll, wenn man mit Männern und<br />
Waffen entscheidend in der Überzahl ist. Alexejews Angriff ist zum<br />
Scheitern verurteilt, wenn er überhastet erfolgt. Geben wir dem<br />
Mann Zeit.«<br />
»Sind Sie auf einmal Verteidigungsexperte?« höhnte der Verteidigungsminister.<br />
»Wenn Sie auf Ihrem eigenen Gebiet so beschlagen<br />
wären, säßen wir jetzt nicht in der Klemme.«<br />
»Genosse Minister, Ihre Einschätzung des Treibstoffverbrauchs<br />
an der Front war viel zu opt<strong>im</strong>istisch. Sie rechneten mit einem<br />
Feldzug von zwei, höchstens vier Wochen, nicht wahr?« Sergetow<br />
schaute in die Runde. »Sachkenntnis dieses Kalibers hat uns in die<br />
Katastrophe geführt!«<br />
»Wir werden den Westen besiegen!«<br />
697
»Genossen!« Kosow betrat den Raum. »Entschuldigen Sie meine<br />
Verspätung, aber ich habe erfahren, dass unsere Streitkräfte auf<br />
Island kapitulieren. Als Gründe führt der kommandierende General<br />
Verluste in Höhe von dreißig Prozent und eine hoffnungslose<br />
taktische Situation an.«<br />
»Lassen Sie ihn sofort verhaften!« brüllte der Verteidigungsminister.<br />
»Und die Familie des Verräters auch!«<br />
»Das Verhaften unserer eigenen Leute scheint dem Genossen<br />
Verteidigungsminister viel leichter von der Hand zu gehen als das<br />
Schlagen unserer Feinde«, merkte Sergetow trocken an.<br />
»Sie junger Schnösel!« Der Verteidigungsminister wurde blaß<br />
vor Zorn.<br />
»Ich will nicht behaupten, dass wir geschlagen sind, aber gesiegt<br />
haben wir eindeutig nicht. Es ist an der Zeit, dass wir eine politische<br />
Lösung suchen.«<br />
»Wir könnten die Vorschläge der deutschen Bundesregierung<br />
akzeptieren«, meinte der Außenminister hoffnungsvoll.<br />
»Das ist leider nicht möglich«, erwiderte Kosow. »Ich habe<br />
Grund zu der Annahme, dass sie nur eine deutsche maskirowka<br />
waren.«<br />
»Ihr Stellvertreter sagte aber erst gestern -«<br />
»Ich sagte ihm und Ihnen, dass ich meine Zweifel habe. Le Monde<br />
meldet heute, die Deutschen hätten das sowjetische Angebot, nach<br />
dem Krieg eine politische Lösung auszuhandeln, abgelehnt. Zeit<br />
und Ort des Treffens wurden korrekt wiedergegeben - die Informationen<br />
können also nur aus offiziellen deutschen Quellen kommen.<br />
Für mich steht fest, dass das Ganze von Anfang an nur den Zweck<br />
hatte, unser strategisches Denken zu beeinflussen. Man gibt uns<br />
einen Wink, Genossen: Der Gegner ist bereit, den Krieg bis zum<br />
bitteren Ende zu führen.«<br />
»Marschall Bucharin, wie stark ist die Nato?« fragte der Generalsekretär.<br />
»Sie hat massive Verluste an Menschen und Material erlitten.<br />
Ihre Armeen sind erschöpft. Das muss so sein, denn sonst hätte sie<br />
schon einen starken Gegenangriff geführt.«<br />
»Es bedarf also nur noch einer letzten Offensive«, sagte der<br />
Verteidigungsminister und suchte am Kopfende des Tisches Unterstützung.<br />
»Mag sein, dass Alexejew recht hat. Wir müssen ihre<br />
Linien mit einem wohlvorbereiteten Schlag zertrümmern.«<br />
698
Jetzt greift er nach fremden Strohhalmen, dachte Sergetow.<br />
»Der Verteidigungsminister wird dies erörtern«, erklärte der<br />
Generalsekretär.<br />
»Nein!« wandte Sergetow ein. »Dies ist nun eine politische<br />
Frage, die das gesamte Politbüro angeht. Über das Schicksal des<br />
Landes dürfen nicht nur fünf Männer entscheiden!«<br />
»Einwände stehen Ihnen nicht zu, Michail Eduardowitsch. Sie<br />
sind an diesem Tisch nicht st<strong>im</strong>mberechtigt.« Sergetow war wie vor<br />
den Kopf geschlagen, denn diese Worte kamen von Kosow.<br />
»Vielleicht sollte man ihm dieses Recht geben«, meinte Bromkowski.<br />
»Keine Frage, über die jetzt entschieden werden sollte«, verkündete<br />
der Generalsekretär.<br />
Sergetow schaute in die Runde am Eichentisch. Jetzt brachte<br />
niemand den Mut auf, offen seine Meinung zu sagen. Beinahe hätte<br />
er das Gleichgewicht der Macht <strong>im</strong> Politbüro verändert, doch bis<br />
sich die stärkere Fraktion herauskristallisiert hatte, galten die alten<br />
Regeln. Die Runde wurde vertagt. Die Mitglieder gingen bis auf die<br />
fünf Männer des Verteidigungsrates und Bucharin hinaus.<br />
Draußen blieb der Kandidat stehen, suchte nach Verbündeten.<br />
Seine Kollegen gingen einer nach dem anderen an ihm vorbei.<br />
Mehrere schauten ihm in die Augen, sahen dann aber weg.<br />
Dann sprach ihn der Landwirtschaftsminister an. »Michail Eduardowitsch,<br />
wie sieht es mit dem Treibstoff für die Lebensmittelverteilung<br />
aus?«<br />
»Wie ist die Versorgungslage?«<br />
»Besser als Sie glauben. Wir haben die privaten Anbauflächen in<br />
der ganzen russischen SSR verdreifacht.«<br />
»Was?«<br />
»Ja, die alten Leute auf den Kolchosen bauen viel Gemüse an <br />
zumindest genug fürs erste. Nur die Verteilung ist noch problematisch.«<br />
»Davon hat mir kein Mensch etwas gesagt.« Ist das eine positive<br />
Entwicklung? fragte sich Sergetow.<br />
»Wissen Sie, wie oft ich das vorgeschlagen habe? Nein, natürlich<br />
nicht, Sie waren <strong>im</strong> letzten Juli ja noch nicht hier. Seit Jahren<br />
predige ich, mit dieser Maßnahme ließen sich viele Probleme lösen<br />
- und endlich hört man auf mich! Lebensmittel haben wir genug,<br />
Michail Eduardowitsch - ich hoffe nur, dass wir auch die Bevölke<br />
699
ung haben werden, sie zu essen. Ich brauche Treibstoff, um Lebensmittel<br />
in die Städte zu transportieren. Bekomme ich ihn?«<br />
»Ich will sehen, was ich machen kann, Filip Moisejewitsch.«<br />
»Gut gesprochen, Genosse. Hoffentlich hört man auf Sie.«<br />
»Danke.«<br />
»Geht es Ihrem Sohn gut?«<br />
»Als ich zuletzt von ihm hörte, war alles in Ordnung.«<br />
»Es beschämt mich, dass mein Sohn nicht dabei ist.« Der Landwirtschaftsminister<br />
machte eine Pause. »Wir müssen - nun, dafür<br />
haben wir jetzt keine Zeit. Schicken Sie mir die Treibstoffdaten so<br />
rasch wie möglich.«<br />
Ein Bekehrter? Oder ein Agent provocateur?<br />
Stendal, DDR<br />
Alexejew hielt die Nachricht in der Hand: Er wurde sofort zu<br />
Beratungen nach Moskau befohlen. War das sein Todesurteil? Der<br />
General ließ seinen Stellvertreter rufen.<br />
»Nichts Neues. Einige Vorausangriffe bei Hamburg und anscheinend<br />
Vorbereitungen für eine Attacke nördlich von Hannover, aber<br />
damit werden wir schon fertig.«<br />
»Ich muss nach Moskau.« Alexejew sah die Besorgnis <strong>im</strong> Gesicht<br />
des Mannes. »Keine Sorge, ich bin noch nicht lange genug auf<br />
diesem Posten, um in Gefahr zu sein. In spätestens vierundzwanzig<br />
Stunden bin ich wieder da. Richten Sie Major Sergetow aus, er soll<br />
meine Kartentasche holen und sich in zehn Minuten draußen mit<br />
mir treffen.«<br />
Im Wagen reichte Alexejew seinem Adjutanten mit einem ironischen<br />
Seitenblick den Befehl.<br />
»Was hat das zu bedeuten?«<br />
»In ein paar Stunden wissen wir Bescheid, Wanja.«<br />
Moskau<br />
»Die sind ja wahnsinnig!«<br />
»Sie sollten Ihre Worte sorgfältiger wählen, Boris Georgijewitsch«,<br />
sagte Sergetow. »Was hat die Nato jetzt angestellt?«<br />
700
Der KGB-Chef schüttelte überrascht den Kopf. »Ich sprach vom<br />
Verteidigungsrat, Sie Grünschnabel.«<br />
»Der Grünschnabel ist, wie Sie bereits betont haben, <strong>im</strong> Politbüro<br />
nicht st<strong>im</strong>mberechtigt.« Sergetow hegte die schwache Hoffnung,<br />
dass sich das Politbüro noch zur Vernunft bringen ließ.<br />
»Michail Eduardowitsch, ich habe mich bis zu diesem Punkt sehr<br />
bemüht, Sie zu schützen. Hoffenlich muss ich das nicht bereuen.<br />
Wenn es Ihnen gelungen wäre, eine offene Abst<strong>im</strong>mung zu erzwingen,<br />
hätten Sie verloren und Ihr Leben verspielt. Man hat mich<br />
gebeten« - Kosow legte eine Pause ein und grinste wieder einmal -,<br />
»man hat mich ersucht, die Entscheidung des Politbüros mit Ihnen<br />
zu besprechen, und hofft, dass Sie sie mittragen. Sie sind doppelt<br />
verrückt geworden«, sagte Kosow. »Erstens möchte der Verteidigungsminister<br />
ein paar kleine taktische Kernsprengköpfe einsetzen.<br />
Zweitens hofft er auf Ihre Unterstützung, Michail Eduardowitsch.<br />
Wieder einmal soll es eine maskiroiwka geben: In der DDR soll ein<br />
kleiner Sprengkopf zur Detonation gebracht werden, und wir<br />
schlagen dann zurück. Doch es könnte schl<strong>im</strong>mer sein. Man hat<br />
Alexejew nach Moskau bestellt, um seine Meinung über den Plan<br />
und seine Durchführungsmöglichkeiten zu hören. Er sollte jetzt<br />
unterwegs sein.«<br />
»Diesem Wahnsinn st<strong>im</strong>mt das Politbüro niemals zu. Haben Sie<br />
diese Narren über die wahrscheinliche Reaktion der Nato aufgeklärt?«<br />
»Selbstverständlich. Bei der Nato wird eine solche Konfusion<br />
herrschen, dass sie erst einmal überhaupt nicht reagiert, sagte ich.«<br />
»Sie haben Sie auch noch ermuntert?« fragte Sergetow.<br />
»Vergessen Sie bitte nicht, dass man Larionows Auffassung der<br />
meinen vorzieht.«<br />
»Die st<strong>im</strong>mberechtigten Mitglieder des Politbüros -«<br />
»Werden den Verteidigungsrat unterstützen. Denken Sie doch<br />
einmal nach. Bromkowski wird sich dagegen aussprechen, und der<br />
Landwirtschaftsminister auch, obwohl ich das bezweifle. Damit ist<br />
die Opposition auf den alten Petja reduziert. Ein guter alter Mann,<br />
auf den aber kaum noch jemand hört.«<br />
»Da mache ich niemals mit!«<br />
»Sie müssen aber. Und auch Alexejew muss zust<strong>im</strong>men.« Kosow<br />
stand auf und schaute aus dem Fenster. »Keine Angst, es werden<br />
keine Kernwaffen eingesetzt. Dafür habe ich bereits gesorgt.«<br />
701
»Was meinen Sie damit?«<br />
»Sie wissen doch sicherlich, wer in diesem Land die Kernwaffen<br />
kontrolliert?«<br />
»Natürlich, die Strategischen Raketenstreitkräfte, das Heer «<br />
»Verzeihung, ich habe die Frage ungeschickt formuliert. Gewiß,<br />
die kontrollieren die Raketen, aber die Sprengköpfe sind <strong>im</strong> Gewahrsam<br />
meiner Leute, und in dieser Abteilung des KGB hat Larionows<br />
Fraktion nichts zu sagen. Nur aus diesem Grund müssen Sie<br />
mitspielen.«<br />
»Gut. Dann müssen wir Alexejew warnen.«<br />
»Aber mit Vorsicht. Es scheint noch niemandem aufgefallen zu<br />
sein, dass Ihr Sohn mehrere Male in Moskau war, aber wenn Sie mit<br />
Alexejew gesehen werden, ehe er vor dem Verteidigungsrat erscheint<br />
-«<br />
»Ja, das verstehe ich.« Sergetow dachte kurz nach. »Kann Witali<br />
sie vielleicht vom Flughafen abholen und ihnen Bescheid sagen?«<br />
»Prächtig! Aus Ihnen mache ich noch einen Tschekisten!«<br />
Der Fahrer des Ministers wurde gerufen und bekam einen Zettel<br />
für Alexejew. Der Mann verschwand sofort und fuhr mit dem Sil<br />
des Ministers zum Flughafen. Eine Kolonne gepanzerter Mannschaftstransporter<br />
hielt ihn auf. Vierzig Minuten später fiel ihm<br />
auf, dass der Zeiger der Kraftstoffanzeige nach links kroch. Seltsam,<br />
er hatte den Wagen erst am Vortag aufgetankt - Mitglieder des<br />
Politbüros kannten natürlich keine Versorgungsengpässe. Aber das<br />
Instrument zeigte weniger und weniger an. Dann blieb der Motor<br />
stehen. Witali hielt sieben Kilometer vorm Flughafen und öffnete<br />
die Motorhaube, prüfte Keilriemen und Kontakte. Alles schien in<br />
Ordnung zu sein. Kurz darauf erkannte er, dass die Lichtmaschine<br />
ausgefallen war. Er ging ans Autotelefon. Die Batterie war entladen.<br />
Ein Wagen für Alexejew, zur Verfügung gestellt vom Kommandeur<br />
des Militärbezirks Moskau, fuhr am Flughafen vor, und der General<br />
und sein Adjutant stiegen ein. Was Alexejew anging, war der<br />
gefährlichste Augenblick des Fluges das Aussteigen. Er rechnete<br />
damit, von KGB-Truppen erwartet zu werden.<br />
Auf der Fahrt blieben Alexejew und Major Sergetow stumm;<br />
unterhalten hatten sie sich in dem lärmenden Flugzeug, wo Abhörgeräte<br />
keine Chance hatten. Alexejew fielen die leeren Straßen, die<br />
702
wenigen Lastwagen auf - die meisten waren inzwischen an der<br />
Front - und die inzwischen kürzeren Käuferschlangen vor den<br />
Lebensmittelläden. Ein Land <strong>im</strong> Krieg, dachte er.<br />
Bald rollte der Wagen durchs Kremltor. Vorm Gebäude des<br />
Ministerrats riß ein Feldwebel den Schlag auf und grüßte zackig.<br />
Alexejew erwiderte den Gruß und ging zur Tür, wo ein weiterer<br />
Feldwebel stand. Der General schritt kerzengerade und militärisch,<br />
blickte streng. Seine polierten Stiefel glänzten, und in seinen Augen<br />
spiegelten sich die Deckenlampen der Empfangshalle. Er verschmähte<br />
den Aufzug und nahm die Treppe zum Konferenzraum.<br />
Dabei fiel ihm auf, dass das Gebäude seit dem Bombenanschlag<br />
renoviert worden war.<br />
Ein Hauptmann der Tamanischen Garde, einer in Alabino bei<br />
Moskau stationierten zeremoniellen Einheit, empfing oben den<br />
General und führte ihn durch die Doppeltür des Konferenzz<strong>im</strong>mers.<br />
Sergetow musste draußen warten, als Alexejew mit der Schildmütze<br />
unterm Arm eintrat.<br />
»Genossen: Generaloberst P. L. Alexejew wie befohlen zur<br />
Stelle!«<br />
»Willkommen in Moskau, Genosse General«, sagte der Verteidigungsminister.<br />
»Wie ist die Lage in Deutschland?«<br />
»Beide Seiten sind erschöpft, aber es wird weitergekämpft. Gegenwärtig<br />
herrscht eine Pattsituation. Uns stehen mehr Truppen<br />
und Waffen zur Verfügung, doch wir leiden unter kritischer Treibstoffknappheit.«<br />
»Können Sie siegen?« fragte der Generalsekretär.<br />
»Jawohl! Wenn ich einige Tage zum Neuorganisieren meiner<br />
Kräfte und der eintreffenden Reserveeinheiten bekomme, läßt sich<br />
die Front der Nato wahrscheinlich aufreißen.«<br />
»Wahrscheinlich? Nicht mit Sicherheit?« fragte der Verteidigungsminister.<br />
»Sicher ist <strong>im</strong> Krieg nichts«, erwiderte der General schlicht.<br />
»Diese Erfahrung haben wir auch schon gemacht«, bemerkte der<br />
Außenminister trocken. »Warum haben wir eigentlich noch nicht<br />
gewonnen?«<br />
»Genossen, das taktische und strategische Überraschungselement<br />
haben wir von Anfang an nicht erzielt. Wäre das gelungen,<br />
hätten wir vermutlich innerhalb von zwei oder drei Wochen Erfolg<br />
gehabt.«<br />
703
»Was brauchen Sie jetzt für den Erfolg?«<br />
»Genosse Verteidigungsminister, ich brauche die Unterstützung<br />
des Volkes, der Partei und ein wenig Zeit.«<br />
»Sie weichen der Frage aus!« meinte Marschall Bucharin.<br />
»Be<strong>im</strong> ersten Sturmangriff wurde uns der Einsatz chemischer<br />
Waffen verboten. Dieser hätte uns einen entscheidenden Vorteil<br />
verschafft -«<br />
»Der politische Preis schien zu hoch«, meinte der Außenminister<br />
defensiv.<br />
»Könnten Sie diese Waffen jetzt gewinnbringend einsetzen?«<br />
fragte der Generalsekretär.<br />
»Wohl kaum. Hauptziele hätten ganz zu Anfang die Gerätedepots<br />
sein sollen. Diese sind inzwischen fast alle leer. Und ihr Einsatz<br />
an der Front stellt auch keine vernünftige Option mehr dar. Den<br />
nun eintreffenden Einheiten der Kategorie III fehlt die Ausrüstung<br />
für den wirkungsvollen Einsatz in chemisch verseuchter Umgebung.«<br />
»Ich wiederhole meine Frage«, beharrte der Verteidigungsminister.<br />
»Was brauchen Sie für einen sicheren Sieg?«<br />
»Um einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen, müssen wir<br />
ein Loch in die Nato-Linien reißen, das mindestens dreißig Kilometer<br />
breit und zwanzig Kilometer tief ist. Hierzu brauche ich zehn<br />
Divisionen - und mehrere Tage zu ihrer Vorbereitung.«<br />
»Wie wäre es mit taktischen Kernwaffen?« Alexejew verzog<br />
keine Miene und dachte: Sind Sie von allen guten Geistern verlassen,<br />
Genosse Generalsekretär?<br />
»Das Risiko ist zu hoch.« Die Untertreibung des Tages.<br />
»Und wenn es uns gelingen sollte, einen Vergeltungsschlag der<br />
Nato mit politischen Mitteln zu verhindern?« fragte der Verteidigungsminister.<br />
»Ich weiß nicht, wie das zu bewerkstelligen wäre.«<br />
»Und wenn es uns doch gelingen sollte?«<br />
»Dann sähen unsere Chancen merklich besser aus.« Alexejew<br />
legte eine Pause ein. Sie wollen also tatsächlich, dass an der Front<br />
Kernwaffen eingesetzt werden. Und was, wenn die Nato Gleiches<br />
mit Gleichem vergilt? Bleibt es dann bei einem Schlagabtausch,<br />
oder kommt es zur Eskalation? Wenn ich ihnen jetzt sage, dass sie<br />
nicht bei Trost sind, suchen sie sich einen anderen willfährigen<br />
General. »Das Problem, Genossen, ist die Kontrolle.«<br />
704
»Bitte erläutern Sie das näher.«<br />
Alexejew drückte sich vorsichtig aus, vermischte Wahrheiten mit<br />
Lügen und Mutmaßungen. Heuchelei fiel ihm nicht leicht, aber dies<br />
war wenigstens ein Thema, das er schon seit Jahren mit seinen<br />
Kollegen diskutiert hatte. »Genosse Generalsekretär, Kernwaffen<br />
sind vor allem politische Waffen, die von der politischen Führung<br />
kontrolliert werden, auf beiden Seiten. Damit ist ihr Nutzen auf<br />
dem Schlachtfeld eingeschränkt. Die Entscheidung, Kernwaffen in<br />
einem taktischen Kontext einzusetzen, muss von dieser Führung<br />
getroffen werden. Bis die Genehmigung erteilt ist, hat sich die<br />
taktische Situation mit Sicherheit geändert, und die Waffe hat ihren<br />
Nutzwert verloren. Dies scheint man bei der Nato nie begriffen zu<br />
haben. Wegen des langwierigen Entscheidungsprozesses ist es<br />
wahrscheinlicher, dass nicht taktische Waffen <strong>im</strong> Feld eingesetzt<br />
werden, sondern strategische gegen strategische Ziele.«<br />
»Das widerspräche der Doktrin der Nato«, wandte der Verteidigungsminister<br />
ein.<br />
»Als wir die Durchbrüche bei Alfeld und Rühle erzielten, wurden<br />
unsere Brückenköpfe nicht mit A<strong>tom</strong>waffen angegriffen, obwohl<br />
dies in Vorkriegsstudien der Nato empfohlen worden war. Es folgt<br />
der Schluß, dass die Gleichung mehr Variablen enthält, als wir<br />
vermuteten. Immerhin haben wir selbst gelernt, dass <strong>im</strong> Krieg die<br />
Realität von der Theorie abweichen kann.«<br />
»Sie unterstützen also unsere Entscheidung, taktische Kernwaffen<br />
einzusetzen?« fragte der Außenminister.<br />
Die Lüge kam Alexejew glatt über die Lippen. »Gewiß, vorausgesetzt,<br />
Sie können einen Vergeltungsschlag verhindern. Ich muss aber<br />
die Warnung aussprechen, dass sich meine Einschätzung der Reaktion<br />
der Nato stark von den tatsächlich ergriffenen Maßnahmen<br />
unterscheiden kann. Meiner Auffassung nach wird der nukleare<br />
Gegenschlag Stunden später als erwartet fallen und gegen strategische,<br />
nicht gegen taktische Ziele gerichtet sein, also Straßen- und<br />
Eisenbahnknotenpunkte, Flugplätze und Versorgungseinrichtungen.<br />
Diese sind stationär; unsere Panzer bewegen sich.« Bedenkt,<br />
was ich da gerade gesagt habe, Genossen: Das Ganze wird sehr<br />
schnell unserer Kontrolle entgleiten. Macht Frieden, ihr Narren!<br />
»Sie meinen also, wir könnten ungestraft taktische Waffen einsetzen,<br />
wenn wir gleichzeitig strategische Ziele bedrohen?« fragte<br />
der Generalsekretär hoffnungsvoll.<br />
705
«Das stünde <strong>im</strong> Einklang mit der Vorkriegsdoktrin der Nato.<br />
Übersehen wird hierbei nur die Tatsache, dass man den Einsatz von<br />
Kernwaffen auf befreundetem Territorium nicht so leicht nehmen<br />
darf. Genossen, ich warne Sie: Ein Gegenschlag der Nato wird nicht<br />
so einfach zu verhindern sein.«<br />
»Kümmern Sie sich um das Schlachtfeld, Genosse General«,<br />
schlug der Verteidigungsminister leichthin vor. »Und überlassen<br />
Sie die politischen Fragen uns.«<br />
Nun gab es nur noch einen Weg, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.<br />
»Gut. In diesem Fall brauche ich die direkte Verfügungsgewalt<br />
über die Waffen.«<br />
»Warum?« herrschte der Generalsekretär.<br />
Damit sie nicht abgeschossen werden, du Arsch! dachte Alexejew.<br />
»Das ist eine rein praktische Frage. Ziele werden sich von<br />
Minute zu Minute bieten und wieder verschwinden. Wenn ich die<br />
Nato-Front mit Kernwaffen aufreißen soll, werde ich nicht die Zeit<br />
haben, auf Ihre Genehmigung zu warten.«<br />
Alexejew stellte entsetzt fest, dass selbst dies sie nicht ins Wanken<br />
brachte.<br />
»Wie viele brauchen Sie denn?« wollte der Verteidigungsminister<br />
wissen.<br />
»Das hängt von Zeit und Ort des Durchbruchs ab. Wir würden<br />
die Waffen auch nur gegen festumrissene militärische Ziele und<br />
nicht gegen Bevölkerungszentren einsetzen. Sagen wir, max<strong>im</strong>al<br />
dreißig Sprengköpfe <strong>im</strong> Bereich von fünf bis zehn Kilotonnen, die<br />
wir mit Kurzstreckenraketen ins Ziel bringen würden.«<br />
»Wie bald können Sie bereit sein?« fragte Marschall Bucharin.<br />
»Das hängt davon ab, wie rasch ich kampferfahrene Soldaten in<br />
die neuen Divisionen bringen kann. Wenn diese Reservisten auf<br />
dem Schlachtfeld überleben sollen, müssen erfahrene Männer ihre<br />
Reihen stärken.«<br />
»Eine gute Idee, Genosse General«, sagte der Verteidigungsminister.<br />
»Und nun wollen wir Sie nicht länger aufhalten. In zwei Tagen<br />
möchte ich die detaillierten Pläne für Ihren Durchbruch sehen.«<br />
Alexejew grüßte, machte auf den Hacken kehrt und ging hinaus.<br />
Kosow sah Marschall Bucharin an.<br />
»Und diesen Mann wollten Sie ablösen?«<br />
Der Generalsekretär war seiner Meinung. »Der erste richtige<br />
Kämpfer, der mir seit Jahren untergekommen ist.«<br />
706
Alexejew bedeutete Sergetow mit einer Geste, ihm zu folgen. Nun<br />
er hatte den eiskalten Klumpen in der Magengrube, nun er hatte<br />
weiche Knie, als sie die Marmortreppe hinunterschritten. Alexejew<br />
glaubte nicht an Gott, aber er hatte gerade einen Blick in die Hölle<br />
getan.<br />
»Major Sergetow«, meinte er be<strong>im</strong> Besteigen des Wagens beiläufig,<br />
»möchten Sie nicht Ihren Vater besuchen, ehe wir zurück an die<br />
Front fahren?«<br />
»Sehr freundlich von Ihnen, Genosse General.«<br />
»Sie haben es verdient. Außerdem würde mich die Versorgungslage<br />
be<strong>im</strong> Treibstoff interessieren.«<br />
Den Inhalt des Gesprächs würde der Fahrer natürlich weitermelden.<br />
»Die wollen, dass ich an der Front Kernwaffen einsetze!« flüsterte<br />
Alexejew, sowie sich die Tür zum Amtsz<strong>im</strong>mer des Ministers geschlossen<br />
hatte.<br />
»Ja, das hatte ich befürchtet.«<br />
»So weit darf es nicht kommen! Unvorstellbar, was für eine<br />
Katastrophe das heraufbeschwören könnte!«<br />
»Der Verteidigungsminister meint, ein taktisches nukleares Umfeld<br />
ließe sich leicht unter Kontrolle halten.«<br />
»Der schwätzt daher wie diese Idioten von der Nato! Zwischen<br />
einem taktischen und einem strategischen nuklearen Schlagabtausch<br />
gibt es keine Wand, sondern nur eine unscharfe Linie in der<br />
Phantasie der Amateure und Akademiker, die die politische Führung<br />
beraten. Der nukleare Holocaust - unser Überleben hinge von<br />
der Entscheidung des psychisch labilsten Nato-Führers ab.«<br />
»Was haben Sie ihnen gesagt?« fragte der Minister.<br />
»Ich muss überleben und in der Lage sein, diesem Wahnsinn einen<br />
Riegel vorzuschieben. Aus diesem Grund sagte ich, ich fände die<br />
Idee großartig!« Der General setzte sich. »Außerdem verlangte ich<br />
Verfügungsgewalt über die Waffen. Dem werden sie wohl zust<strong>im</strong>men.<br />
Ich werde auf jeden Fall dafür sorgen, dass diese Waffen<br />
niemals eingesetzt werden.«<br />
»Sie sind also der Auffassung, dass dem Verteidigungsrat Einhalt<br />
geboten werden Muss?«<br />
»Ja.« Der General schaute zu Boden, hob den Kopf dann wieder.<br />
»Die Alternative ist unvorstellbar. Der Plan könnte eine Entwick<br />
707
lung in Gang setzen, die sich von niemandem mehr aufhalten läßt.<br />
Wenn wir schon sterben müssen, dann wenigstens für eine gute<br />
Sache.«<br />
»Wie bewerkstelligen wir das praktisch?«<br />
»Wann tritt das Politbüro zusammen?«<br />
»Im Augenblick täglich um halb zehn.«<br />
»Auf wen können wir uns verlassen?«<br />
»Kosow steht a uf unserer Seite, vielleicht auch noch andere<br />
Mitglieder des Politbüros, aber ich weiß nicht, wen ich ansprechen<br />
kann.«<br />
»Ich brauche etwas Zeit. Vor meiner Rückkehr an die Front<br />
möchte ich noch den Angriffsplan ausarbeiten. Sie erreichen mich<br />
<strong>im</strong> Hauptquartier der Armee.«<br />
»Viel Glück, Pawel Leonidowitsch.«<br />
»Ihnen auch, Michail Eduardowitsch.« Der General sah zu, wie<br />
Vater und Sohn einander umarmten.<br />
Keflavik, Island<br />
»Guten Tag, ich bin Generalmajor William Emerson. Dies ist Colonel<br />
Lowe, mein Dolmetscher.«<br />
»Generalmajor Andrejew. Ich spreche Englisch.«<br />
»Bieten Sie die Kapitulation an?« fragte Emerson.<br />
»Ich biete Verhandlungen an«, erwiderte Andrejew.<br />
»Ich verlange, dass Ihre Truppen sofort die Feindseligkeiten einstellen<br />
und ihre Waffen abliefern.«<br />
»Und was wird aus meinen Männern?«<br />
»Sie kommen in Kriegsgefangenschaft und werden <strong>im</strong> Einklang<br />
mit den völkerrechtlichen Konventionen behandelt.«<br />
»Kann ich sicher sein, dass Sie die Wahrheit sprechen?«<br />
»Nein.«<br />
Die Antwort war schonungslos ehrlich. Andrejew blieb keine<br />
andere Wahl. »Ich schlage einen Waffensillstand vor« - er schaute<br />
auf die Armbanduhr - »um fünfzehn Uhr.«<br />
»Einverstanden.«<br />
708
Brüssel<br />
»Wie lange noch?« fragte der SACEUR.<br />
»Noch drei Tage. Wir werden mit vier Divisionen angreifen<br />
können.«<br />
Mit den Überresten von vier Divisionen, dachte der SACEUR.<br />
Aufgehalten haben wir die Russen, aber was ist nun noch da, um sie<br />
zurückzutreiben?<br />
Doch man war zuversichtlich. Zu Beginn des Krieges hatte die<br />
Nato nur über eine technologische Überlegenheit verfügt, die inzwischen<br />
noch ausgeprägter war. Die russischen Bestände an neuen<br />
Panzern und Geschützen waren größtenteils zerstört worden, und<br />
die Divisionen, die nun an die Front kamen, verfügten nur über<br />
zwanzig Jahre alten Ausschuß. Dennoch waren die Russen zahlenmäßig<br />
überlegen, und jede Offensive der Nato musste sorgfältig<br />
geplant werden. Nur in der Luft war der Westen eindeutig überlegen,<br />
aber Luftmacht hatte noch keinen Krieg gewonnen. Die Deutschen<br />
drängten auf einen Gegenstoß. Zu viel Land, zu viele deutsche<br />
Bürger befanden sich auf der falschen Seite der Linien. Schon<br />
führte die Bundeswehr an mehreren Fronten aggressive Vorausangriffe,<br />
musste ansonsten aber abwarten. Die deutsche Armee war<br />
nicht stark genug, um allein vorzustoßen. Bei ihrer Hauptaufgabe,<br />
den sowjetischen Vormarsch aufzuhalten, hatte sie zu schwere<br />
Verluste erlitten.<br />
Kasan, UdSSR<br />
Den jungen Soldaten raubte die Erregung den Schlaf, den alten die<br />
Sorge. Die Männer der 77. Mot-Schützendivision saßen zusammengepfercht<br />
in Zügen, die mit hundert Stundenkilometer nach<br />
Westen rollten. In Kasan hielten die Züge an, und neue Männer<br />
drängten sich in die Wagen.<br />
»Achtung!« rief eine laute St<strong>im</strong>me. »Frontsoldaten kommen!«<br />
Rund zwanzig selbstbewusste Männer bestiegen jeden Wagen<br />
und besorgten sich erst einmal bequeme Sitzplätze. Wer dabei<br />
verdrängt wurde, musste stehen. Auch fronterfahrene Offiziere gesellten<br />
sich zu ihren Kameraden der 77. und gaben ihnen Informationen<br />
aus erster Hand über Doktrin und Taktik der Nato. Die<br />
709
Wehrpflichtigen bekamen keinen Unterricht. Sie starrten Männer<br />
an, die selbst auf dem Weg an die Front schlafen konnten.<br />
Faslane, Schottland<br />
Chicago lag am Kai und nahm Torpedos und Raketen für den<br />
nächsten Einsatz an Bord. Die Hälfte der Besatzung war an Land,<br />
um sich die Beine zu vertreten und der Crew von HMS Torbay<br />
Runden auszugeben.<br />
Ihr Boot hatte sich in der Barentssee einen solchen Ruf erworben,<br />
dass es gleich wieder hinausfahren sollte, um Trägergruppen, die<br />
nun <strong>im</strong> Norwegischen Meer auf die sowjetischen Stützpunkte auf<br />
der Halbinsel Kola zuhielten, zu eskortieren.<br />
McCafferty saß allein in seiner Kammer und fragte sich, weshalb<br />
eine Mission, die in einer Katastrophe geendet hatte, dennoch als<br />
erfolgreich galt...<br />
Moskau<br />
»Gute Nachrichten, Genosse General!« Ein Oberst steckte den<br />
Kopf in das Z<strong>im</strong>mer, das Alexejew mit Beschlag belegt hatte. »Ihre<br />
Männer sind in Kasan zur 77. gestoßen.«<br />
»Danke.« Alexejew beugte sich sofort wieder über seine Karten,<br />
als der Oberst sich zurückzog.<br />
»Unglaublich.«<br />
»Was meinen Sie, Wanja?«<br />
»Die Männer, die Sie für die siebenundsiebzigste auswählten, der<br />
Papierkrieg, die Befehle - das alles ging glatt durch!«<br />
»Warum auch nicht, war doch nur eine routinemäßige Verlegung?«<br />
fragte der General. »Und vom Politbüro genehmigt.«<br />
»Es war die erste Gruppe, die ausgeflogen wurde.«<br />
»Sie hatte auch den weitesten Weg.« Alexejew hielt einen Befehl<br />
hoch, den er gerade ausgegeben hatte. Hauptmann - inzwischen<br />
Major Arkadi Semjonowitsch Sorokin von der 76. Garde-Luftlandedivision<br />
hatte sich sofort in Moskau zu melden. Schade, dass<br />
der Major seine Männer nicht mitbringen konnte, aber sie waren<br />
dem Zugriff eines sowjetischen Generals entzogen.<br />
710
»Nun, Michail Eduardowitsch, was plant General Alexejew?«<br />
Sergetow reichte Kosow die Unterlagen. Nach ein paar Minuten<br />
hatte der KGB-Chef sie durchgelesen.<br />
»Wenn ihm das gelingt, ist ihm ein Leninorden sicher.« Dieser<br />
General ist viel zu schlau, dachte Kosow. Sein Pech. Schade um ihn.<br />
»Davon sind wir noch weit entfernt. Wie steht es mit dem Zeitpunkt?<br />
Wir müssen uns darauf verlassen, dass Sie die Voraussetzungen<br />
schaffen.«<br />
»Ich habe einen Oberst, der auf solche Dinge spezialisiert ist.«<br />
»Kann ich mir denken.«<br />
»Nur noch eins muss erledigt werden«, sagte Kosow und erklärte,<br />
was. Als er gegangen war, warf Sergetow die Unterlagen von Alexejew<br />
in den Shredder und ließ Witali die Überreste verbrennen.<br />
Warnlicht und Summer erregten die Aufmerksamkeit des Fahrdienstleiters<br />
sofort. Auf der Elektrosawodskaja-Brücke drei Kilometer<br />
östlich vom Bahnhof Kasan st<strong>im</strong>mte etwas nicht mit den<br />
Gleisen.<br />
»Schicken Sie einen Inspektor hin.«<br />
»Ein Zug ist nur noch fünfhundert Meter von der Stelle entfernt«,<br />
warnte sein Assistent.<br />
»Sofort anhalten!« Der Fahrdienstleiter legte einen Schalter um<br />
und stellte das Hauptsignal auf Rot.<br />
Sein Stellvertreter griff zum Hörer des Funktelefons. »Zug 1191,<br />
hier Hauptstellwerk Kasan. Probleme auf der Brücke vor Ihnen.<br />
Halten Sie sofort an.«<br />
»Ich sehe das Signal. Wir bremsen«, erwiderte der Lokomotivführer.<br />
»Aber das schaffen wir nicht.«<br />
Zug 1191 bestand aus hundert Waggons, Flachwagen mit gepanzerten<br />
Fahrzeugen darauf und gedeckten Güterwagen, die Munition<br />
enthielten. Funken flogen in die Morgendämmerung, als alle<br />
Bremsen griffen, doch ein paar hundert Meter Bremsweg reichten<br />
nicht. Der Lokomotivführer spähte voraus - hoffentlich nur ein<br />
defektes Signal, dachte er.<br />
Nein! An der Westseite der Brücke war eine Schiene lose. Der<br />
Lokführer rief seiner Mannschaft eine Warnung zu und zog eine<br />
Gr<strong>im</strong>asse. Die Lok sprang von den Gleisen und stellte sich quer, die<br />
drei Loks dahinter und acht Flachwagen wollten weiter und entgleisten<br />
ebenfalls, und nur das Stahlgerüst der Brücke verhinderte, dass<br />
711
sie in den Fluß Jausa stürzten. Eine Minute später erschien der<br />
Gleisinspektor und ging fluchend ans Streckentelefon.<br />
»Hier werden zwei schwere Kranwagen gebraucht!«<br />
»Wie schl<strong>im</strong>m ist es?« erkundigte sich der Fahrdienstleiter.<br />
»Nicht so schl<strong>im</strong>m wie <strong>im</strong> letzten August. Zwölf bis sechzehn<br />
Stunden, dann ist die Strecke wieder frei.«<br />
»Was ist die Ursache?«<br />
»Der <strong>im</strong>mense Verkehr auf dieser Brücke - wen wundert das?«<br />
»Wurde jemand verletzt?«<br />
»Ich glaube nicht, sie fuhren langsam.«<br />
»Ich schicke gleich einen Bergungstrupp los.« Der Fahrdienstleiter<br />
schaute zu der Tafel mit der Liste der erwarteten Züge auf.<br />
»Verflucht, was fangen wir mit denen an?«<br />
»Die können wir nicht auseinanderreißen, weil sie eine ganze<br />
Division transportieren. Sie sollten über die Nordumgehung fahren.<br />
Nach Süden können wir sie auch nicht umleiten; die Nowodanilowski-Brücke<br />
ist auf Stunden verstopft.«<br />
»Leiten wir sie über den Kursker Bahnhof um. Ich rufe den<br />
Fahrdienstleiter in Rschewskaja an.«<br />
Um sieben Uhr dreißig trafen die Züge ein und wurden auf<br />
Abstellgleise rangiert. Viele Soldaten waren noch nie in Moskau<br />
gewesen, doch nur jene, die auf den äußeren Abstellgleisen standen,<br />
sahen mehr als nur die Züge mit ihren Kameraden darin.<br />
»Sabotage!« tobte der KGB-Oberst.<br />
»Eher abgenutzte Gleise, Genosse«, meinte der Fahrdienstleiter.<br />
»Aber Sie haben recht mit Ihrer Vorsicht.«<br />
»Abgenutzte Gleise?« fauchte der Oberst, der mit Sicherheit<br />
wusste, dass ein anderer Grund vorlag. »Ich habe das Gefühl, dass Sie<br />
diesen Vorfall nicht ernst genug nehmen.«<br />
Der Fahrdienstleiter bekam eine Gänsehaut. »Ich habe ebenfalls<br />
meine Verantwortung. Erst muss ich jetzt einmal die Trümmer von<br />
der Brücke schaffen, damit meine Züge wieder rollen können. Im<br />
Kursker Bahnhof stehen jetzt sieben Züge, und wenn ich die nicht<br />
nach Norden bringe -«<br />
»Laut Gleisplan läßt sich der Verkehr über eine einzige Weiche<br />
nördlich an der Stadt vorbeileiten.«<br />
»Gewiß, aber für diese Weiche ist der Fahrdienstleiter von<br />
Rschewskaja zuständig.«<br />
712
»Haben Sie schon mal an die Möglichkeit gedacht, dass Saboteure<br />
andere Zuständigkeitsbereiche haben als Fahrdienstleiter?<br />
Hat jemand diese Weiche überprüft?«<br />
»Das kann ich nicht sagen.«<br />
»Dann kümmern Sie sich gefälligst darum. Ach, lassen Sie, das<br />
erledigen meine Leute, ehe ihr Eisenbahner noch mehr ruiniert.«<br />
»Aber der Fahrplan -« Der Fahrdienstleiter war ein stolzer<br />
Mann, wollte aber sein Glück nicht zu sehr auf die Probe stellen.<br />
»Willkommen in Moskau«, sagte Alexejew jovial.<br />
Major Arkadi Semjonowitsch Sorokin war wie so viele Fallschirmjägeroffiziere<br />
kleinwüchsig. Die blauen Augen des gutaussehenden<br />
jungen Mannes mit dem hellbraunen Haar brannten aus<br />
einem Grund, den Alexejew besser verstand als der Major selbst.<br />
Zwei Kugeln, die er bei der Erstürmung des Luftstützpunkts Keflavik<br />
auf Island ins Bein bekommen hatte, ließen ihn noch leicht<br />
hinken. Auf seiner Brust prangte das Band des Ordens vom Roten<br />
Banner, den er sich dabei verdient hatte. Sorokin und die meisten<br />
anderen Verwundeten des erste Gefechtes waren zur Behandlung<br />
ausgeflogen worden und warteten nun auf neue Befehle, da ihre<br />
Division auf Island in Gefangenschaft geraten war.<br />
»Wie kann ich dem General dienen?« fragte Sorokin.<br />
»Ich brauche einen neuen Adjutanten, vorzugsweise einen Offizier<br />
mit Fronterfahrung. Mehr noch, Arkadi Semjonowitsch, ich<br />
brauche Sie für eine diffizile Aufgabe. Aber erst muss ich Ihnen<br />
etwas erklären. Bitte nehmen Sie Platz. Was macht das Bein?«<br />
»Es macht sich, aber als ich gestern meine zehn Kilometer laufen<br />
wollte, musste ich schon nach zweien aufgeben.« Alexejew konnte<br />
sich vorstellen, dass der junge Mann seit Mai nicht mehr gelächelt<br />
hatte - und erklärte ihm, weshalb das so war. Fünf Minuten später<br />
öffnete und schloß sich Sorokins Hand an der Armlehne des Sessels,<br />
etwa dort, wo sein Pistolenhalfter gewesen wäre.<br />
»Major, die wichtigste Eigenschaft des Soldaten ist Disziplin«,<br />
schloß Alexejew. »Ich habe Sie aus einem best<strong>im</strong>mten Grund hierhergeholt,<br />
muss aber sicher sein, dass Sie Ihre Befehle genau ausführen.<br />
Wenn Sie das nicht können, habe ich Verständnis.«<br />
Das Gesicht verriet keine Gemütsbewegung, aber die Hand entspannte<br />
sich. »Jawohl, Genosse General, und ich danke Ihnen aus<br />
tiefstem Herzen. Ich werde Ihnen aufs Wort gehorchen.«<br />
713
»Gut, dann kommen Sie mit. Wir haben zu tun.«<br />
Der Wagen des Generals stand schon bereit. Alexejew und Sorokin<br />
fuhren zu der inneren Ringstraße von Moskau, die alle paar<br />
Kilometer den Namen ändert. Wo sie am Stern-Theater vorbei<br />
und weiter zum Kursker Bahnhof führt, heißt sie Schkalowa.<br />
Der Kommandeur der 77. Mot-Schützendivision döste. Zehn<br />
Stunden lang hatte er mit seinem neuen Stellvertreter, einem Brigadegeneral<br />
mit Fronterfahrung, über die Taktik der Nato gesprochen<br />
und nutzte nun den unvermuteten Aufenthalt in Moskau, um<br />
eine Mütze Schlaf zu erwischen.<br />
»Was zum Kuckuck soll das!«<br />
Der Kommandeur der 77. schlug die Augen auf und sah einen<br />
Vier-Sterne-General, der auf ihn herabstarrte. Er sprang auf und<br />
nahm Haltung an wie ein Kadett.<br />
»Guten Morgen, Genosse General!«<br />
»Gleichfalls. In Deutschland sterben unsere Männer, und hier<br />
steht eine ganze Division auf dem Bahnhof und pennt!« Alexejew<br />
brüllte fast.<br />
»Die Züge können nicht fahren, weil die Schienen kaputt sind<br />
»An den Schienen liegt es? Sie haben doch Ihre Fahrzeuge, oder?<br />
Wenn die Züge nicht fahren können, holen Sie Ihre Fahrzeuge von<br />
dem Flachwagen und bringen sie zum Kiewer Bahnhof. Und jetzt<br />
wachen Sie auf und setzen die Division in Marsch, ehe ich mir<br />
jemanden besorge, der das besser kann!«<br />
Der General fand schon <strong>im</strong>mer faszinierend, was ein bißchen<br />
Gebrüll ausrichten konnte. Der Chef der Division brüllte die Reg<strong>im</strong>entskommandeure<br />
an, und diese entfernten sich, um ihre Bataillonskommandeure<br />
anzuschreien. Zehn Minuten später wurde auf<br />
Kompanieebene gebrüllt. Weitere zehn Minuten darauf wurden<br />
die Mannschaftstransporter BTR-6o losgekettet, vom Zug gefahren<br />
und auf dem Korskogo-Platz vor dem Bahnhof aufgestellt. Die<br />
Infanteristen, die in ihren Kampfanzügen und mit ihren Waffen<br />
sehr gefährlich aussahen, bestiegen ihre Fahrzeuge.<br />
»Sind Ihre neuen Fernmeldeoffiziere schon da?« fragte Alexejew.<br />
»Jawohl, sie haben alle meine Leute abgelöst«, erwiderte der<br />
Divisionskommandeur.<br />
714
»Gut. Wir haben an der Front auf bittere Weise gelernt, wie<br />
wichtig Sicherheit bei der Fernmeldetruppe ist. Und die neuen<br />
Schützen?«<br />
»Eine Kompanie Veteranen pro Reg<strong>im</strong>ent, dazu andere auf die<br />
Schützenreg<strong>im</strong>enter verteilt.«<br />
»Vorzüglich. Lassen Sie Ihre Division in Reg<strong>im</strong>entskolonnen<br />
Aufstellung nehmen. Führen wir dem Volk einmal etwas vor, Genosse.<br />
Zeigen wir ihm, wie eine Division des sowjetischen Heeres<br />
aussehen soll.«<br />
»Wie kommen wir durch die Stadt?«<br />
»Die Verkehrsregelung übern<strong>im</strong>mt das KGB. Es soll sich niemand<br />
verfahren.«<br />
Ein Major kam angeeilt. »Marschbereit in zwanzig Minuten.«<br />
»Fünfzehn!« beharrte der Kommandeur.<br />
» Sehr gut«, merkte Alexejew an. » General, ich werde Sie begleiten<br />
und mir ansehen, wie vertraut Ihre Leute mit ihrer Ausrüstung sind.«<br />
Michail Sergetow kam, wie es seine Gewohnheit war, etwas früher<br />
zur Sitzung des Politbüros. Wie üblich waren die Kremlwachen auf<br />
ihren Posten, eine leicht bewaffnete Kompanie Infanteriesoldaten.<br />
Sie gehörten der Tamanischen Gardedivision an, einer zahnlosen<br />
Prätorianergarde, die nur oberflächlich an der Waffe ausgebildet<br />
war. Wie die meisten zu zeremoniellen Zwecken eingesetzten Truppen<br />
hatten sie lediglich zu exerzieren, ihre Stiefel blank zu putzen und<br />
wie Soldaten auszusehen. Andererseits stand bei Alabino die volle<br />
Ausrüstung einer Division - Panzer und Geschütze - für sie bereit.<br />
Die wirklichen Kremlwächter waren Grenztruppen des KGB und<br />
eine vor Moskau stationierte Division des MWD. Es war typisch für<br />
das sowjetische System, dass nebeneinander drei bewaffnete Verbände<br />
existierten, die drei verschiedenen Ministerien unterstanden.<br />
Die Tamanische Garde hatte die besten Waffen, aber die schlechteste<br />
Ausbildung. Die Männer des KGB waren am besten ausgebildet,<br />
hatten aber nur leichte Waffen. Die MWD-Truppen gehörten zum<br />
Innenministerium, hatten ebenfalls nicht genug Waffen und eine<br />
unzureichende Ausbildung und stellten eine paramilitärische Polizei<br />
dar, setzten sich aber aus Tataren zusammen, die für ihre Grausamkeit<br />
und ihren Russenhaß berüchtigt waren. Das Verhältnis zwischen<br />
diesen drei Verbänden war mehr als nur komplex.<br />
»Michail Eduardowitsch?«<br />
715
"Ah.« Es war der Landwirtschaftsminister. "Guten Morgen,<br />
Filip Moisejewitsch.«<br />
»Ich mache mir Sorgen», sagte der Mann leise. »Ich befürchte,<br />
dass der Verteidigungsminister den Einsatz von A<strong>tom</strong>waffen erwägt.»<br />
»So verzweifelt können sie doch unmöglich sein.«<br />
Das offene slawische Gesicht des Mannes blieb unverändert.<br />
»Hoffentlich haben Sie recht. Ich habe nicht für die Ernährung des<br />
Landes gekämpft, um alles in die Luft sprengen zu lassen.«<br />
Ein Verbündeter! dachte Sergetow. »Was wird, wenn es zur<br />
Abst<strong>im</strong>mung kommt?«<br />
»Das kann ich be<strong>im</strong> besten Willen nicht sagen, Mischa. Zu viele<br />
von uns werden von den Ereignissen mitgerissen.«<br />
»Wollen Sie gegen diesen Wahnsinn die St<strong>im</strong>me erheben?«<br />
»Allerdings! Ich werde bald Großvater, und das Kind soll ein<br />
Land haben, in dem es aufwachsen kann, auch wenn es mein Leben<br />
kostet!«<br />
»Wie <strong>im</strong>mer als erster da, Michail Eduardowitsch?« Kosow und<br />
der Verteidigungsminister trafen gemeinsam ein.<br />
»Filip und ich besprechen die Treibstoffzuteilung für den Lebensmitteltransport.«<br />
»Der kann warten. Kümmern Sie sich lieber um meine Panzer!«<br />
Der Verteidigungsminister schritt an ihnen vorbei in den Sitzungssaal.<br />
Sergetow und sein Verbündeter tauschten nur einen Blick.<br />
Zehn Minuten später begann die Sitzung. Der Generalsekretär<br />
erteilte sofort dem Verteidigungsminister das Wort.<br />
»In Deutschland muss ein entscheidender Schlag geführt werden!«<br />
»Den versprechen Sie uns schon seit Wochen«, ließ sich Bromkowski<br />
vernehmen.<br />
»Diesmal werden wir Erfolg haben. In einer Stunde wird uns<br />
General Alexejew hier seinen Plan unterbreiten. Zuerst aber besprechen<br />
wir den Einsatz taktischer Kernwaffen an der Front und<br />
die Verhinderung eines nuklearen Gegenschlags der Nato.«<br />
Sergetow gehörte zu jenen, die ausdruckslos lauschten. Vier<br />
Männer am Tisch sahen entsetzt aus. Die folgende Diskussion war<br />
lebhaft.<br />
716
Alexejew fuhr die ersten paar Kilometer mit dem Divisionskommandeur,<br />
vorbei an der Indischen Botschaft und dem Justizministerium.<br />
Der Kommandowagen war praktisch ein Sender auf acht<br />
Rädern. Hinten saßen sechs Fernmeldeoffiziere, die es dem Kommandeur<br />
ermöglichten, die Division von dort zu führen. Diese<br />
Fernmeldeleute kamen von der Front und waren jenen Offizieren<br />
gegenüber loyal, die sie mitgebracht hatten.<br />
Sie kamen nur langsam voran. Zwar waren die Kampffahrzeuge<br />
für hohe Geschwindigkeit ausgelegt, aber Tempo barg ein Pannenrisiko,<br />
und bei über 20 km/h bestand die Gefahr, dass die Panzerketten<br />
den Asphalt aufrissen. So rollten sie gemächlich dahin, angestarrt<br />
und beklatscht von Mannschaftstrauben. Die Kolonne war<br />
nicht so geordnet wie bei den Paraden, für die die Tamanische<br />
Garde täglich übte. Aber das steigerte die Begeisterung der Bevölkerung<br />
noch. Hier fuhren echte Soldaten an die Front. Entlang der<br />
Route standen KGB-Offiziere und »rieten« der Moskauer Miliz,<br />
die Division durchzulassen - als Grund nannte man die Unterbrechung<br />
der Bahnlinie. Die Verkehrspolizisten machten den Soldaten<br />
des Vaterlandes nur zu gern Platz.<br />
Als die Kolonne den Nogina-Platz erreichte, stand Alexejew in<br />
der Schützenluke auf.<br />
»Sie haben Ihre Männer gut ausgebildet«, sagte der Divisionskommandeur.<br />
»Ich werde nun sehen, wie sich der Rest Ihrer<br />
Truppe hält. In Stendal sehen wir uns wieder.« Alexejew sprang mit<br />
der Agilität eines jungen Gefreiten von dem rollenden Fahrzeug,<br />
blieb auf der Straße stehen und winkte die Fahrzeuge weiter und<br />
erwiderte den Gruß der Offiziere. Fünf Minuten später hatte das<br />
zweite Reg<strong>im</strong>ent ihn erreicht; nun wartete er auf dessen zweites<br />
Bataillon. Major Sorokin, der <strong>im</strong> Führungsfahrzeug saß, lehnte sich<br />
hinaus, packte den General an der Hand und zog ihn hinein.<br />
»Ein alter Mann wie Sie könnte sich verletzen, Genosse General«,<br />
warnte Sorokin.<br />
»Still, Sie junger Spund!« Alexejew war stolz auf seine körperliche<br />
Verfassung. Er betrachtete den Bataillonskommandeur, einen<br />
Mann frisch von der Front. »Bereit?«<br />
»Bereit, Genosse General.«<br />
»Halten Sie sich an Ihren Befehl, halten Sie Ihre Männer unter<br />
Kontrolle.« Alexejew löste die Klappe seines Halfters. Sorokin<br />
hatte eine AK-47 in der Hand.<br />
717
Nun konnte er die Basiliuskathedrale sehen, eine Ansammlung<br />
von Zwiebeltürmen am Ende der Rasinastraße. Eines nach dem<br />
anderen bogen die Fahrzeuge an der alten Kirche nach rechts ab.<br />
Die Soldaten hinter ihm in dem BTR, einem alten Modell ohne<br />
Dach, reckten die Hälse und betrachteten neugierig die Sehenswürdigkeiten.<br />
Nun rollten sie durch das Erlösertor und auf das Ministerratsgebäude<br />
zu. Es war zehn Uhr zwanzig. Zehn Minuten zu früh für<br />
Alexejews Termin be<strong>im</strong> Politbüro.<br />
»Sind wir denn alle wahnsinnig geworden?« fragte der Landwirtschaftsminister.<br />
»Meinen Sie wirklich, wir könnten mit A<strong>tom</strong>waffen<br />
spielen wie mit Knallfröschen?«<br />
»Genosse Verteidigungsminister, Sie haben uns an den Rand des<br />
Abgrunds geführt«, sagte Pjotr Bromkowski. »Nun verlangen Sie,<br />
dass wir hinter Ihnen herspringen!«<br />
»Es gibt kein Zurück mehr«, erklärte der Generalsekretär. »Die<br />
Entscheidung ist gefallen.«<br />
Eine Explosion strafte diesen Ausspruch Lügen.<br />
»Jetzt!« rief Alexejew. Hinten <strong>im</strong> Kommandowagen aktivierten die<br />
Fernmeldeoffiziere den Führungskreis der Division und gaben bekannt,<br />
<strong>im</strong> Kreml habe sich eine Explosion ereignet, und ein Schützenbataillon<br />
unter General Alexejew stelle nun Ermittlungen an.<br />
Alexejew war schon in Bewegung. Drei BRT fuhren durch das<br />
zerschmetterte Tor und hielten vor der Freitreppe des Ministerratsgebäudes<br />
an.<br />
»Was geht hier vor?« brüllte Alexejew den Hauptmann der<br />
Tamanischen Garde an.<br />
»Das weiß ich nicht. Was wollen Sie hier, das ist verboten -«<br />
Sorokin schoß ihn mit einem kurzen Feuerstoß nieder, sprang<br />
vom Fahrzeug und rannte gefolgt vom General auf das Gebäude zu.<br />
In der Tür drehte sich Alexejew um.<br />
»Das Gebiet sichern! Das Politbüro soll ermordet werden!« Der<br />
Befehl wurde an die eintreffenden Truppen weitergegeben. Tamanische<br />
Garden rannten über den freien Platz vorm alten Arsenal.<br />
Einige Warnschüsse wurden abgegeben. Erst zögerte die Garde,<br />
aber dann leerte ein Leutnant das Magazin seines Gewehrs. Im<br />
Kreml begann ein Feuergefecht. Zwei sowjetische Einheiten, von<br />
718
denen nur zehn Soldaten wussten, worum es eigentlich ging, schössen<br />
aufeinander, und Mitglieder des Politbüros schauten von den<br />
Fenstern aus zu.<br />
Alexejew war ergr<strong>im</strong>mt, weil Sorokin die Führung übernahm,<br />
aber der Major wusste, wessen Leben am gewinnbringendsten aufs<br />
Spiel gesetzt werden konnte. Auf dem Treppenabsatz <strong>im</strong> zweiten<br />
Stock traf er auf einen Hauptmann der Garde, den er erschoß. Dann<br />
stürmte er weiter nach oben, gefolgt von Alexejew und dem Bataillonskommandeur.<br />
Im vierten Stock stand ein Major mit einem<br />
Gewehr, der einen Feuerstoß abgab, aber zu hoch hielt. Der Fallschirmjägermajor<br />
rollte sich zur Seite und tötete ihn. Als nächstes<br />
fanden sie einen Oberst des KGB, der die Hände hob.<br />
»Wo ist Alexejew?«<br />
»Hier!« Der General hatte seine Pistole in der Hand.<br />
»Auf diesem Stockwerk lebt kein Gardist mehr«, erklärte der<br />
Tschekist. Vier hatte er gerade mit einer schallgedämpften Au<strong>tom</strong>atic,<br />
die er unterm Uniformrock versteckt hatte, ausgeschaltet.<br />
»Die Tür.« Alexejew gab Sorokin einen Wink. Der Major stieß<br />
sie auf und ging in ein Vorz<strong>im</strong>mer. Von dort aus führte die eichene<br />
Doppeltür zum Politbüro.<br />
Sorokin ging als erster hinein.<br />
Einundzwanzig meist ältere Männer standen an den Fenstern<br />
und sahen einem Infanteriegefecht zu, das gerade beendet worden<br />
war. Die Tamanische Garde war für diese Art von Sturmangriff<br />
nicht gerüstet und hatte nicht die geringste Chance, eine Kompanie<br />
erfahrener Schützen zu überwältigen.<br />
Als nächster betrat Alexejew den Raum, steckte seine Pistole ins<br />
Halfter.<br />
»Genossen, bitte gehen Sie zurück auf Ihre Plätze. Offenbar soll<br />
der Kreml besetzt werden. Glücklicherweise traf ich gerade hier zu<br />
meinem Termin ein, und diese Truppenkolonne kam vorbei. Bitte<br />
setzen Sie sich, Genossen!« befahl der General.<br />
»Was geht hier vor?« fragte der Verteidigungsminister.<br />
»Als ich vor vierunddreißig Jahren an die Militärakademie kam,<br />
schwor ich, den Staat und die Partei vor allen Feinden zu schützen«,<br />
erklärte Alexejew kalt. »Einschließlich jener, die mein Land zerstören<br />
wollen, weil ihnen nichts besseres einfällt. Genosse Sergetow?«<br />
Der Erdölminister wies auf zwei Männer. »Sie und Genosse Kosow<br />
bleiben hier. Der Rest wird mir in ein paar Minuten folgen.«<br />
719
»Alexejew, Sie haben gerade Ihr Todesurteil unterzeichnet«,<br />
sagte der Innenminister und griff nach einem Telefon. Major Sorokin<br />
hob das Gewehr und zerstörte den Apparat mit einer einzigen<br />
Kugel.<br />
»Bitte begehen Sie diesen Fehler nicht noch einmal. Wir können<br />
Sie ohne weiteres alle miteinander töten. Und das wäre viel bequemer<br />
als das, was wir <strong>im</strong> Sinn haben.« Alexejew wartete einen<br />
Augenblick lang ab. Ein Offizier kam in den Raum geeilt und<br />
nickte. »So, Genossen, wir gehen jetzt. Wenn auch nur einer von<br />
Ihnen versucht, mit irgend jemand zu reden, werden Sie alle erschossen.<br />
Zwei und zwei - los!« Der KGB-Oberst, der gerade seine<br />
zweite Bombe losgelassen hatte, führte die erste Gruppe hinaus.<br />
Nun traten Sergetow und Kosow auf den General zu.<br />
»Gut gemacht«, sagte der Direktor des KGB. »Im Lefortowo-<br />
Gefängnis ist alles bereit. Alle Männer vom Dienst gehören mir.«<br />
»Kleine Änderung des Plans«, meinte Alexejew. »Wir fahren<br />
nicht zum Lefortowo-Gefängnis, sondern zum alten Flughafen.<br />
Von dort aus bringt sie ein Hubschrauber zu einem Militärlager,<br />
das von einem Mann meines Vertrauens kommandiert wird.«<br />
»Aber es ist doch schon alles arrangiert!«<br />
»Kann ich mir vorstellen. Dies ist mein neuer Adjutant, Major<br />
Sorokin. Major Sergetow trifft in dem erwähnten Militärlager die<br />
letzten Vorkehrungen. Sagen Sie, Genosse Direktor, kommt Sorokin<br />
Ihnen irgendwie bekannt vor?«<br />
Kosow hatte das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu<br />
haben, konnte ihn aber nicht unterbringen.<br />
»Er war Hauptmann - inzwischen wegen Tapferkeit befördert <br />
in der sechsundsiebzigsten Garde-Luftlandedivision.«<br />
»Und?« Kosow ahnte Gefahr, aber nicht den Grund.<br />
»Major Sorokin hatte eine Tochter bei den Jungen Oktobristen.<br />
Und seine Einheit ist in Pskow stationiert«, erklärte Alexejew.<br />
»Für meine kleine Swetlana«, sagte Sorokin, »die ohne Gesicht<br />
starb.« Kosow sah nur noch ein Gewehr und einen weißen Blitz.<br />
Sergetow sprang aus dem Weg und starrte Alexejew entsetzt an.<br />
»Sie mögen recht haben, dem Tschekisten zu trauen, aber ich<br />
nehme von so einem keine Befehle entgegen. Ich lasse Ihnen eine<br />
Kompanie loyaler Truppen zurück. Nun muss ich die Armee in den<br />
Griff bekommen. Sehen Sie zu, dass Sie den Parteiapparat unter Ihre<br />
Kontrolle bringen.«<br />
720
»Wie sollen wir Ihnen jetzt noch trauen?« fragte der Landwirtschaftsminister.<br />
»Inzwischen sollten wir die Nachrichtenverbindungen kontrollieren.<br />
Alles verläuft nach unserem Plan. Wir geben bekannt, dass<br />
loyale Truppen einen Staatsstreich verhindert haben. Später wird<br />
einer von Ihnen <strong>im</strong> Fernsehen erscheinen. So, ich muss jetzt weiter.<br />
Viel Glück.«<br />
Geführt von KGB-Truppen, hielten die motorisierten Bataillone<br />
auf Rundfunk- und Fernsehsender und die Telefonvermittlung zu.<br />
Sie fuhren schnell, um die Stadt gegen eine unbekannte Zahl von<br />
Konterrevolutionären zu schützen. In Wirklichkeit aber hatten sie<br />
keine Ahnung, was sie eigentlich taten. Fest stand nur, dass sie ihre<br />
Befehle von einem Vier-Sterne-General erhalten hatten. Das genügte<br />
den Soldaten des 77. Mot-Schützenbataillons. Die Fernmeldetrupps<br />
hatten gute Arbeit geleistet. Als der Politoffizier der Division<br />
<strong>im</strong> Kreml eintraf, fand er vier Mitglieder des Politbüros vor, die<br />
am Telefon eifrig Befehle gaben. Nicht alles war zum besten, aber<br />
die Männer der Partei schienen die Lage <strong>im</strong> Griff zu haben. Wie er<br />
erfuhr, waren die anderen Mitglieder bei einem he<strong>im</strong>tückischen<br />
Überfall der Kremlgarde gefallen oder verwundet worden. Der<br />
Direktor des KGB hatte die Verschwörung aufgedeckt und rechtzeitig<br />
regierungstreue Truppen anfordern können, war aber <strong>im</strong><br />
heldenhaften Kampf gegen die Angreifer gefallen. Dies alles kam<br />
dem sampolit sehr seltsam vor, aber da seine Befehle logisch klangen,<br />
gab er dem Divisionskommandeur über Funk Anweisungen<br />
durch.<br />
Sergetow war überrascht, wie einfach alles ging. Nur knapp<br />
zweihundert Menschen wussten, was sich eigentlich zugetragen<br />
hatte. Gekämpft worden war nur innerhalb der Kremlmauern. Er<br />
hatte <strong>im</strong> ZK einige Freunde, die in diesem Notfall seinen Anweisungen<br />
folgten. Am Ende des Tages hielten drei Parte<strong>im</strong>änner die Zügel<br />
der Macht. Die anderen Mitglieder des Politbüros waren außerhalb<br />
der Stadt unter Arrest. In Abwesenheit von Anweisungen des Innenministers<br />
folgten die MWD-Einheiten denen des Politbüros; das<br />
KGB wankte führerlos. Niemand stellte Fragen, niemand organisierte<br />
Widerstand, und jede Stunde, die verstrich, gab Sergetow und<br />
seiner Clique mehr Zeit, ihre Herrschaft zu konsolidieren. Den<br />
alten, aber weithin respektierten Pjotr Bromkowski ließ Sergetow<br />
den Parteiapparat und kommissarisch das Verteidigungsministe<br />
721
ium übernehmen. Petja ernannte Alexejew zum Stellvertretenden<br />
Verteidigungsminister und Stabschef. Filip Moisejewitsch Krylow<br />
behielt das Landwirtschaftsministerium und wurde dazu Innenminister.<br />
Sergetow war der vorläufige Generalsekretär. Nun blieb<br />
noch eine überaus wichtige Aufgabe.<br />
722
Brüssel<br />
43<br />
Ein Waldspaziergang<br />
Nichts erzeugt größere Angst als das Unbekannte. Der SACEUR<br />
hatte vier Gehe<strong>im</strong>dienstmeldungen vor sich liegen, alle widersprüchlich.<br />
Nur in einem waren sich die Verfasser einig: Sie wussten<br />
nicht, was vor sich ging, aber es schien ungünstig zu sein.<br />
Wozu brauche ich dann Experten? fragte sich der SACEUR.<br />
Einem Informationsfetzen von einem Ferret-Satelliten war zu<br />
entnehmen gewesen, dass es in Moskau zu Kämpfen gekommen war<br />
und dass Truppen die Kommunikationszentren besetzten, aber<br />
Fernsehen und Rundfunk hatten sich zwölf Stunden lang an ihr<br />
normales Programm gehalten. Erst morgens um fünf war in einer<br />
Nachrichtensendung der versuchte Staatsstreich bekanntgegeben<br />
worden.<br />
Ein Putsch des Verteidigungsministers? Unangenehm, und die<br />
Tatsache, dass er niedergeschlagen worden war, stellte nur einen<br />
geringen Trost dar. Abgehört worden war nur eine kurze Rede von<br />
Pjotr Bromkowski, dem letzten Stalinisten: Ruhe bewahren und auf<br />
die Partei vertrauen.<br />
Was, zum Kuckuck, soll das heißen? fragte sich der SACEUR.<br />
»Ich brauche Informationen«, sagte er zu seinem Nachrichtendienstchef.<br />
»Was wissen wir über die russische Befehlsstruktur?«<br />
»Alexejew, der neue OB West, ist offenbar nicht auf seinem<br />
Posten. Günstig für uns, denn in zehn Stunden beginnt unser Angriff.«<br />
Das Telefon des SACEUR summte. »Keine Anrufe, hab ich gesagt.<br />
Na schön, raus damit, Franz... Vier Stunden? In Potsdam,<br />
aha. Noch keine Antwort. Ich melde mich bald wieder.« Er legte<br />
auf. »Wir bekamen gerade einen offenen Funkspruch: Der sowjetische<br />
Stabschef wünscht mich dringend in Potsdam zu sprechen.«<br />
»>Dringend
schrauber zum Treffpunkt zu eskortieren.« Der SACEUR lehnte<br />
sich zurück. »Meinen Sie vielleicht, die wollen mich abschießen,<br />
weil ich so gute Arbeit geleistet habe?» Der Oberbefehlshaber der<br />
Alliierten Streitkräfte in Europa gestattete sich ein ironisches Lächeln.<br />
«Sie massieren nordöstlich von Hannover Truppen», warnte der<br />
Nachrichtendienstchef.<br />
»Ich weiß.«<br />
»Fliegen Sie nicht, schicken Sie lieber einen Vertreter.«<br />
»Tja, warum hat er das eigentlich nicht vorgeschlagen?« sann der<br />
SACEUR. »Das wird doch normalerweise von Unterhändlern erledigt?«<br />
»Er hat's eilig«, sagte Joach<strong>im</strong>. »Sie haben nicht gesiegt, aber <strong>im</strong><br />
Grunde noch nichts verloren. Ihr Vormarsch ist aufgehalten worden,<br />
ihr Treibstoff ist knapp. Was, wenn in Moskau ein ganz neuer<br />
Machtblock am Ruder ist? Man knebelt die Medien, bis man seine<br />
Macht konsolidiert hat, und wird versuchen, eine Einstellung der<br />
Feindseligkeiten zu erreichen. Ein guter Zeitpunkt für eine Offensive«,<br />
schloß er.<br />
»Wenn der Gegner verzweifelt ist?« fragte der SACEUR. »Er hat<br />
noch <strong>im</strong>mer massenhaft Kernwaffen. Irgendwelche ungewöhnliche<br />
Aktivitäten bei den Sowjets?«<br />
»Abgesehen von neu eintreffenden Reservedivisionen keine.«<br />
Kann ich diesem verdammten Krieg ein Ende setzen? fragte sich<br />
der SACEUR. »Ich fliege hin«, sagte er, griff nach dem Telefon und<br />
informierte den Nato-Generalsekretär von seiner Entscheidung.<br />
Dicht flankiert von zwei sowjetischen Kampfhubschraubern<br />
konnte man leicht nervös werden. Der SACEUR widerstand der<br />
Versuchung, aus dem Fenster zu sehen, sondern konzentrierte sich<br />
auf die Gehe<strong>im</strong>dienstakten von fünf hohen sowjetischen Kommandeuren.<br />
Er wusste noch nicht, auf wen er treffen würde. Sein Adjutant<br />
saß ihm gegenüber und guckte zum Fenster hinaus.<br />
Potsdam, DDR<br />
Alexejew ging rastlos auf und ab und fühlte sich nervös, weil er<br />
nicht in Moskau war, wo die neuen Parteibosse Ordnung zu schaf<br />
724
fen versuchten. Und dieser Idiot hat mich gefragt, ob sie mir noch<br />
vertrauen können? dachte er. Dann sah er sich die Unterlagen über<br />
sein Nato-Pendant an. Der Vater, ein Offizier der Fallschirmjäger,<br />
war bei der Ardennenoffensive westlich von St. Vith gefallen. Militärakademie<br />
West Point, fünfzehnter seines Jahrgangs. Viermal in<br />
Vietnam, zuletzt als Kommandeur der 101. Fallschirmjägerdivision;<br />
bei den Nordvietnamesen hatte er als ungewöhnlich gefährlicher<br />
und einfallsreicher Taktiker gegolten - hat er auch bewiesen,<br />
grunzte Alexejew in sich hinein. Universitätsgrad über Internationale<br />
Beziehungen, angeblich sprachbegabt. Verheiratet, zwei<br />
Söhne, eine Tochter, vier Enkel. Tja, wenn ein Mann erst mal Enkel<br />
hat... Einzige Leidenschaft: Kartenspiel. Mäßiger Trinker. Sexuelle<br />
Perversionen: keine bekannt, stand in der Akte. Darüber musste<br />
Alexejew lächeln. Für solchen Unfug sind wir beide zu alt!<br />
Durchs Laub drang das Knattern von Rotoren. Alexejew stand<br />
auf einer kleinen Lichtung neben einem Kommandowagen. Die<br />
Besatzung hatte sich zusammen mit einem Zug Schützen <strong>im</strong> Wald<br />
versteckt. Es bestand <strong>im</strong>merhin die Möglichkeit, dass die Nato ihn<br />
angreifen und töten wollte - nein, dachte der General, so verrückt<br />
sind wir nicht, und die auch nicht.<br />
Ein neuer amerikanischer Blackhawk landete elegant <strong>im</strong> Gras;<br />
die beiden Mi-24 kreisten über ihm. Die Tür öffnete sich nicht<br />
sofort. Der Pilot stellte die Triebwerke ab, und der Rotor kam erst<br />
nach zwei Minuten zum Stillstand. Dann glitt die Tür auf, und der<br />
General stieg barhäuptig aus.<br />
Groß für einen Fallschirmjäger, dachte Alexejew.<br />
Der SACEUR hätte den 45er Colt mit dem Elfenbeinknauf mitbringen<br />
können, zog es aber vor, dem Russen unbewaffnet und nur <strong>im</strong><br />
Drillich entgegenzutreten. Vier schwarze Sterne zierten seinen Kragen,<br />
zwei Abzeichen wiesen ihn als Fallschirmspringer und Infanteriekämpfer<br />
aus, und rechts auf der Brust hatte er ein schlichtes<br />
Schild: ROBINSON. Ich brauche nicht zu protzen, Iwan, dachte er.<br />
Ich habe gewonnen.<br />
»Sagen Sie den Männern <strong>im</strong> Wald, sie sollen sich zurückziehen.«<br />
»Aber Genosse General!« Der Adjutant war noch neu und<br />
kannte Alexejew nicht.<br />
»Los! Wenn ich einen Dolmetscher brauche, winke ich.« Alexe<br />
725
jew schritt auf den Nato-Befehlshaber zu. Die Adjutanten näherten<br />
sich einander.<br />
Man salutierte, aber keiner wollte als erster die Hand ausstrekken.<br />
»Sie sind Alexejew«, sagte General Robinson. »Ich hatte jemand<br />
anderen erwartet.«<br />
»Marschall Bucharin ist in den Ruhestand versetzt worden. Ihr<br />
Russisch ist vorzüglich, General Robinson.«<br />
»Vielen Dank, General Alexejew. Vor einigen Jahren begann ich<br />
mich für Tschechows Stücke zu interessieren und stellte fest, dass<br />
man sie nur in der Originalsprache richtig versteht. Seitdem habe<br />
ich mich viel mit russischer Literatur beschäftigt.«<br />
Alexejew nickte. »Um Ihren Gegner besser zu verstehen.« Auf<br />
englisch fuhr er fort: »Sehr vernünftig. Gehen wir ein Stück?«<br />
«Wie viele Männer haben Sie <strong>im</strong> Wald?«<br />
»Eine Kompanie Mot-Schützen.« Alexejew verfiel in seine Muttersprache<br />
zurück. Robinsons Russisch war besser als sein Englisch.<br />
»Wie sollten wir wissen, was aus dem Hubschrauber<br />
kommt?«<br />
»St<strong>im</strong>mt«, räumte der SACEUR ein und fügte in Gedanken<br />
hinzu: Trotzdem stand er mitten auf der Lichtung. Das beweist<br />
seinen Mut. »Worüber sollen wir sprechen?«<br />
»Über die Einstellung der Feindseligkeiten vielleicht?«<br />
»Ich höre.«<br />
»Natürlich wissen Sie, dass ich mit diesem Wahnsinn nichts zu<br />
tun hatte.«<br />
Robinson wandte den Kopf. »Das geht uns Soldaten doch <strong>im</strong>mer<br />
so. Wir vergießen das Blut und bekommen die Schuld. Ihr Vater<br />
war Soldat, nicht wahr?«<br />
»Bei den Panzern. Er hatte mehr Glück als Ihrer.«<br />
»Tja, darauf läuft es oft hinaus - Glück, sonst nichts.«<br />
»Das sollten wir unseren politischen Führern besser nicht verraten.«<br />
Alexejew hätte beinahe gelächelt, merkte aber dann, dass er<br />
Robinson einen Einstieg gegeben hatte.<br />
»Wer sind Ihre politischen Führer? Wenn wir zu einer machbaren<br />
Übereinkunft kommen wollen, muss ich meiner Führung sagen,<br />
wer in Moskau verantwortlich ist.«<br />
»Der Generalsekretär der KP der Sowjetunion ist Michail Eduardowitsch<br />
Sergetow.«<br />
726
Wer? fragte sich Robinson. Den Namen hatte er noch nie gehört.<br />
»Was ist eigentlich passiert?»<br />
Alexejew sah Robinsons Verblüffung und gestattete sich diesmal<br />
ein Lächeln. »Sagen wir, es war Zeit für eine Wende.«<br />
»Was schlagen Sie vor?«<br />
»Ich bin Soldat, kein Diplomat«, sagte Alexejew. »Wir schlagen<br />
einen Waffenstillstand vor, gefolgt von einem schrittweisen Rückzug<br />
auf die Vorkriegspositionen innerhalb von zwei Wochen.«<br />
»In zwei Wochen schaffe ich das auch ohne Waffenstillstand«,<br />
erwiderte Robinson kalt.<br />
»Um einen hohen Preis - und mit gewaltigem Risiko«, gab der<br />
Russe zu bedenken.<br />
»Wir wissen, dass bei Ihnen Treibstoffknappheit herrscht. Ihre<br />
gesamte Volkswirtschaft könnte zusammenbrechen.«<br />
»Jawohl, General Robinson, und wenn auch unsere Armee zusammenbricht,<br />
bleibt uns zum Schutz des Staates nur eine Option.«<br />
»Ihr Land hat einen Angriffskrieg gegen das atlantische Bündnis<br />
begonnen. Meinen Sie vielleicht, wir lassen Sie so einfach zum<br />
Status quo ante zurückkehren?« fragte der SACEUR leise. »Und<br />
erzählen Sie mir bloß nichts von dem Bombenanschlag <strong>im</strong> Kreml <br />
Sie wissen genau, dass wir damit nichts zu tun hatten.«<br />
»Ich hatte nichts damit zu tun, sagte ich gerade. Ich befolgte nur<br />
Befehle, aber erwarteten Sie, dass das Politbüro tatenlos dem Ruin<br />
unserer Wirtschaft zusah? Welchen politischen Druck würden Sie<br />
auf uns ausgeübt haben, wenn Sie von der Ölknappheit erfahren<br />
hätten?«<br />
»Davon wissen wir erst seit ein paar Tagen.«<br />
Hat die maskirowka wirklich funktioniert? fragte sich Alexejew.<br />
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie Öl brauchen?«<br />
fragte Robinson.<br />
»Hätten Sie uns denn welches gegeben? Ich bin doch nicht naiv.«<br />
»Wir hätten Konzessionen verlangt und bekommen. Aber meinen<br />
Sie nicht, wir hätten versucht, einen Krieg zu verhindern?«<br />
Alexejew riß ein Blatt von einem Baum, starrte es kurz an, das<br />
vielfältige verzweigte Geäder. »Daran hat unser Politbüro wohl gar<br />
nicht gedacht.«<br />
»Sondern einen Aggressionskrieg begonnen. Wie viele Menschen<br />
mussten ihretwegen sterben?«<br />
»Die Männer, die diese Entscheidung fällten, sind unter Arrest<br />
727
und werden vor Gericht gestellt. Genosse Sergetow sprach sich<br />
gegen den Krieg aus und setzte so wie ich das Leben ein, um ihn zu<br />
einem gerechten Ende zu bringen.«<br />
»Für einen Vertreter einer neuen und noch sehr wackligen Regierung<br />
sprechen Sie mit großem Selbstvertrauen.«<br />
»Und Sie, General, klingen sehr selbstsicher für einen Mann, der<br />
noch vor zwei Wochen am Rand der Niederlage stand! Treiben Sie<br />
uns nicht zu weit. Gewinnen kann die Sowjetunion nicht mehr, aber<br />
beide Seiten können noch <strong>im</strong>mer verlieren. Hätten Ihre unsichtbaren<br />
Bomber nicht am zweiten Kriegstag unsere Brücken zerstört, wäre es<br />
uns gelungen, noch drei oder vier Ihrer Geleitzüge zu zerschlagen,<br />
wären Sie nun derjenige, der um einen Waffenstillstand bäte.«<br />
Eher nur einen oder zwei Geleitzüge, dachte Robinson. So knapp<br />
war es gewesen.<br />
»Ich biete Ihnen einen Waffenstillstand in gegenwärtigen Positionen<br />
an«, wiederholte Alexejew. »Beginnen könnte er schon um<br />
Mitternacht. Zwei Wochen später ziehen wir uns auf unsere Vorkriegsstellungen<br />
zurück, und dann hat das Töten ein Ende.«<br />
»Austausch der Gefangenen?«<br />
»Können wir später regeln. Im Augenblick halte ich Berlin für<br />
den naheliegenden Ort.« Berlin war wie erwartet weitgehend unberührt<br />
geblieben.<br />
»Und die deutschen Zivilisten hinter Ihren Linien?«<br />
Darüber musste Alexejew erst nachdenken. »Die haben nach dem<br />
Waffenstillstand freien Abzug - oder, besser noch, ich werde Lebensmittellieferungen<br />
für sie durchlassen, unter unserer Aufsicht.«<br />
»Ausschreitungen gegen deutsche Zivilisten?«<br />
»Werden von uns geahndet. Wer gegen die Felddienstvorschriften<br />
verstoßen hat, kommt vors Kriegsgericht.«<br />
»Und wie kann ich sicher sein, dass Sie die zwei Wochen nicht zur<br />
Vorbereitung einer neuen Offensive nutzen?«<br />
»Wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht die für morgen angesetzte<br />
Gegenoffensive starten?« konterte Alexejew.<br />
»Sie sollte schon in wenigen Stunden anlaufen.« Robinson wollte<br />
akzeptieren. »Wird Ihre politische Führung sich an die von Ihnen<br />
ausgehandelten Bedingungen halten?«<br />
»Ja. Ihre auch?«<br />
»Ich werde sie unterbreiten müssen, bin aber ermächtigt, einen<br />
Waffenstillstand zu schließen.«<br />
728
»Dann liegt die Entscheidung bei Ihnen, General Robinson.«<br />
Die Adjutanten der Generale standen unbehaglich am Waldrand<br />
beisammen. Auch die sowjetischen Infanteristen und die Hubschrauberbesatzung<br />
schauten zu. General Robinson streckte die<br />
Hand aus.<br />
»Thank Good«, sagte der russische Adjutant.<br />
»Da«, st<strong>im</strong>mte der Amerikaner zu.<br />
Alexejew zog eine Halbliterflasche Wodka aus der Hüfttasche. »Ich<br />
habe zwar seit Monaten keinen Tropfen mehr getrunken, aber ohne<br />
einen Wodka können wir Russen keine Übereinkunft schließen.«<br />
Robinson trank einen Schluck und gab die Flasche zurück.<br />
Alexejew folgte seinen Beispiel und warf die Flasche an einen Baum.<br />
Sie blieb heil. Beide Männer lachten erleichtert.<br />
»Wissen Sie, Alexejew, wenn wir keine Soldaten wären, sondern<br />
Diplomaten -«<br />
»Ja, aus diesem Grund bin ich einer. Männern, die den Krieg<br />
verstehen, fällt es leichter, ihn zu beenden.«<br />
»Da haben Sie recht.«<br />
»Sagen Sie, Robinson.« Alexejew machte eine Pause und entsann<br />
sich des Vornamens des SACEUR: Eugene, Vatername Stephen.<br />
»Sagen Sie, Jewgeni Stepanowitsch, wie knapp war es für Sie nach<br />
unserem Durchbruch bei Alfeld -«<br />
»Sehr knapp. Wie knapp, kann ich selbst jetzt noch nicht sagen.<br />
An einem Punkt hatten wir nur noch Versorgungsmaterial für fünf<br />
Tage, aber dann kamen zwei Geleitzüge fast intakt durch und<br />
hielten uns über Wasser.« Robinson blieb stehen. »Was werden Sie<br />
mit Ihrem Land anfangen?«<br />
»Das kann ich nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Auch Genosse<br />
Sergetow weiß das nicht. Aber die Partei muss sich vor dem Volk<br />
rechtfertigen. Irgend jemandem gegenüber muss die Führung verantwortlich<br />
sein, das haben wir gelernt.«<br />
»Ich muss fort. Viel Glück, Pawel Leonidowitsch. Bis auf ein<br />
andermal vielleicht -« Sie gaben sich noch einmal die Hände.<br />
Alexejew sah zu, wie der SACEUR seinen Adjutanten rief und<br />
den Hubschrauber bestieg. Die Turbinen liefen heulend an, der<br />
vierblättrige Hauptrotor begann, sich zu drehen, und die Maschine<br />
hob vom Gras ab. Das Blackhawk flog einen Kreis über dem Platz,<br />
729
um den begleitenden Hubschraubern Gelegenheit zum Formieren<br />
zu geben, und wandte sich dann nach Westen.<br />
Eines wirst du nie erfahren, Robinson, dachte Alexejew lächelnd.<br />
Als Kosow tot war, konnten wir seinen Code für die Freigabe der<br />
Kernsprengköpfe nicht finden. Ihr Einsatz hätte um mindestens<br />
vierundzwanzig Stunden hinausgeschoben werden müssen...<br />
Der General und sein Adjutant gingen zum Fahrzeug, wo Alexejew<br />
einen knappen Funkspruch nach Moskau absetzte.<br />
Sack, BRD<br />
Colonel Ellington half Major Eisly durch den Wald. Vierzehn<br />
Stunden hatten sie abwarten müssen, bis sie eine einzige Straße<br />
überqueren konnten. Er schätzte, dass sie fünfzehn Meilen vor den<br />
eigenen Linien abgestürzt waren. Eine Woche waren sie nun unterwegs,<br />
tranken aus Bächen und arbeiteten sich von Baum zu Baum<br />
vor.<br />
Nun erreichten sie ein Feld. Es lag dunkel und überraschend still<br />
da. Hatten sich die Russen zurückgezogen?<br />
»Versuchen wir's, Duke«, sagte Eisly, dessen Rücken sich so<br />
verschl<strong>im</strong>mert hatte, dass er ohne Hilfe nicht mehr laufen konnte.<br />
»Gut.« Sie marschierten los, so rasch es ging. Nach hundert<br />
Metern bewegten sich Schatten auf sie zu.<br />
»Scheiße!« flüsterte Eisly. »Tut mir leid, Duke.«<br />
»Mir auch«, st<strong>im</strong>mte der Colonel zu. Er dachte noch nicht einmal<br />
daran, seinen Revolver zu ziehen, denn er zählte mindestens<br />
acht Männer mit Gewehren, die sie rasch umringten.<br />
»Wer da?« fragte eine St<strong>im</strong>me auf deutsch.<br />
»Wir sind Amerikaner«, erwiderte Ellington. Gott sei Dank, das<br />
sind Deutsche, dachte er - doch dann erkannte er an der Form ihrer<br />
Helme, dass er sich geirrt hatte.<br />
Ein russischer Leutnant leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins<br />
Gesicht. Seltsam, den Revoler nahm er ihm nicht ab. Dann geschah<br />
etwas noch Merkwürdigeres. Der Leutnant umarmte und küßte<br />
beide Männer und wies dann nach Westen.<br />
»Hier entlang, noch zwei Kilometer.«<br />
»Bloß keine Diskussionen, Duke«, wisperte Eisly. Als sie losmarschierten,<br />
spürten sie die Blicke der Russen <strong>im</strong> Rücken. Eine Stunde<br />
730
später erreichten die Flieger die eigenen Linien und erfuhren von<br />
dem Waffenstillstand.<br />
USSIndependence<br />
Der Kampfverband lief nach Südwesten. Kurz vor der Stelle, von<br />
der aus sie in der Lage gewesen wären, die russischen Stützpunkte<br />
bei Murmansk anzugreifen, kam der Rückruf. Toland, der sich<br />
gerade mit der Stärke der russischen Jäger und SAM befaßt hatte,<br />
klappte die Akte zu und steckte sie zurück in den Gehe<strong>im</strong>schrank.<br />
Dann ging er nach unten, um Major Tschapajew mitzuteilen, dass er<br />
seine Familie in der Tat Wiedersehen würde.<br />
Nordatlantik<br />
Auch das Lazarettflugzeug C-9 Nightingale flog nach Südwesten,<br />
hielt auf den Luftstützpunkt Andrews bei Washington, D. C., zu. Es<br />
hatte verwundete Marinesoldaten, einen Lieutenant der Air Force<br />
und eine Zivilistin an Bord. Die Besatzung hatte sich gegen die<br />
Zivilistin gesperrt, bis ein Zwei-Sterne-General der Marines über<br />
Funk erklärt hatte, jeder, der die Dame von des Lieutenants Seite<br />
risse, bekäme es mit seiner Truppe zu tun. Edwards war nun länger<br />
wach. Ihm stand noch eine Operation bevor - die Achillessehne<br />
war durchtrennt -, aber das machte nichts. Noch viereinhalb Monate,<br />
dann wurde er Vater. Und anschließend konnten sie an ein<br />
Kind von ihm denken.<br />
Norfolk, Virginia<br />
O'Malley war mit dem Reporter schon an Land geflogen. Die<br />
Reuben James hatte den beschädigten Träger America nach Norfolk<br />
eskortiert. Von der Brückennock schaute er auf den so vertrauten<br />
Hafen. Innerlich beschäftigte ihn die Frage: Was hatte das<br />
Ganze zu bedeuten?<br />
Ein Schiff verloren, Freunde tot, Leben, die er auf dem Gewissen,<br />
Leichen, die er gesehen hatte...<br />
731
»Ruder mittschiffs«, befahl Morris. Ein Windstoß von Süden<br />
half der Reuben James an den Kai.<br />
Achtern warf ein Matrose den Männern an Land ein Anholtau<br />
zu.<br />
Die Bedeutung des Ganzen?<br />
Es ist vorbei, entschied Morris.<br />
732<br />
ENDE