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Suchen im Park - Inter Research

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Otto Kinne<br />

Top op Books<br />

Ringen um<br />

ein neues<br />

Weltverständnis<br />

Roman<br />

Zweite Auflage<br />

2nd edition<br />

– A Division of <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong><br />

<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>, , Oldendorf/Luhe


ÜBER DAS BUCH<br />

Im <strong>Park</strong> begegnen sich neun Menschen: ein Maler, ein Physiker,<br />

eine Germanistin, ein Ökologe, ein Pastor, ein Gärtner, ein Ministerialrat<br />

und zwei Spanner. Bei all ihrer Verschiedenartigkeit<br />

haben sie eines gemeinsam: sie suchen – nach Erkenntnis und<br />

Erfüllung, nach den Kräften, die unsere Welt gebären und reifen<br />

lassen, nach Gott, sich selbst und auch nach sexueller Befriedigung.<br />

Der Leser n<strong>im</strong>mt hautnah teil an emotionsgeladenen geistigen<br />

Auseinandersetzungen über Kunst, Wissenschaft, Philosophie<br />

und Religion. Er taucht tief ein in die Welt der Voyeure. Er wird<br />

Zeuge des Aufblühens einer großen Liebe. Und er erlebt die<br />

Tragödie eines großen Genies, das zum Ungeheuer wird, zwei<br />

Frauen ermordet, zwei Männern den Tod bringt und einem dritten<br />

lebenslange Verzweiflung.<br />

Der Autor will herausfordern, Augen öffnen, Wege weisen. So<br />

sprengt er den Rahmen täglicher Erfahrung und macht den Blick<br />

frei auf Außergewöhnliches, führt den Leser in neue Felder, bis<br />

hin zu einem neuen Gott und zu phantastischen Visionen.<br />

Essentielle Probleme der heutigen Menschheit beleuchtet er aus<br />

ungewohnten Perspektiven. So werden schließlich Grundrisse<br />

einer neuen Menschenwelt erkennbar: ein neues Weltverständnis,<br />

das dem Leben des Menschen einen neuen Sinn verleiht; ein<br />

realistischeres und aufrichtigeres Selbstverständnis, das befreit.<br />

Symbolik und verwobene Handlungsabläufe lassen eine komplexe<br />

Tiefenstruktur entstehen. Schritt für Schritt wird das innerste<br />

Wesen der handelnden Charaktere enthüllt, bis wir uns am Ende<br />

selbst begegnen. So will der Roman letztlich auch ein Spiegel sein.<br />

Werden sich die Menschen darin erkennen? Mit all ihren<br />

Fähigkeiten und Fürchterlichkeiten? Wichtiger noch: Werden sie<br />

Konsequenzen ziehen? Überlebenswichtige Notwendigkeiten<br />

und Verantwortlichkeiten akzeptieren – auch das, was schmerzt?<br />

Oder werden sie schon bald unwiederbringlich von der Bühne des<br />

Lebens verschwinden, in den Abgrund der Selbstvernichtung<br />

stürzen?


SUCHEN IM PARK<br />

Ringen um ein neues Weltverständnis<br />

Zweite Auflage, 2001<br />

2nd edition<br />

Elektronisch, korrigiert, um ein Gedicht (p. 395) bereichert<br />

Erste Auflage 1996 gedruckt<br />

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung, Übersetzung, Nachdruck<br />

oder elektronische Weiterverbreitung sind nicht gestattet ohne schriftliche Genehmigung<br />

des Verlags. Für den individuellen Gebrauch darf die elektronische Version des<br />

Buches (oder Teile davon) bis auf weiteres kostenlos heruntergeladen werden.<br />

This book is protected by copyright. Resale, translation, republication or redistribution<br />

are not permitted without written consent of the publisher. The electronic version of the<br />

book (or parts thereof) may be downloaded free of charge until further notice.<br />

ISBN: 3-9805097-0-2<br />

© 2001 Top Books in <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong><br />

21385 Oldendorf/Luhe, Germany<br />

www.int-res.com


Schwarzes und Weißes


Wer das Erkennbare sucht<br />

Wer sich dem Gefundenen öffnet<br />

Und wer bereit ist, daraus Lehren zu ziehen<br />

Dem ist dieses Buch gewidmet<br />

Quellennachweis: Titelseite, Illustrationen, Verse: Autor.


INHALT<br />

VERSE 1<br />

AUF EIN WORT 3<br />

IM FRÜHLING<br />

1 Jäger<br />

Jäger, die kucken 7<br />

Jäger, die töten 21<br />

Trampelpfade 33<br />

2 Königskinder<br />

Brückenbau 35<br />

Prägung 41<br />

Religiosität 53<br />

Kirche 60<br />

Ohrring 72<br />

Stein 74<br />

3 Freunde<br />

Explosion 75<br />

Quatsch 79<br />

Wunder 85<br />

Buschkrieg 89<br />

4 Wanderer<br />

Kunst und Wissenschaft 91<br />

Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 117<br />

Ethik und Moral 128<br />

Unfehlbarkeit 132<br />

Tricks 138<br />

Freier Wille 151<br />

Gut und Böse 165<br />

Eine Geschichte 169<br />

Schriftlich 173<br />

Aquarianer 176


5 Dreigestirne<br />

Begegnung 189<br />

Predigt 191<br />

Vorbereitungen 195<br />

Be<strong>im</strong> Pastor 198<br />

Intelligenz 201<br />

Lebensprozeß 206<br />

Ökosysteme 213<br />

Kartoffel 217<br />

Abendessen 219<br />

Nachtmusik 221<br />

IM SOMMER<br />

1 Einmaleins<br />

Einweisung 225<br />

Entspannung 232<br />

2 Ansichten<br />

Ausweg 238<br />

Paris 247<br />

Männchen 249<br />

Leben 252<br />

Angst 257<br />

Urgesetz 260<br />

Augenpaare 262<br />

Ich-Weltbild 265<br />

Ich 273<br />

Mensch 277<br />

Urahnen 282<br />

Unterbrechung 284<br />

Auferstehung 289<br />

Erkenntnisgewinnung 298<br />

3 Erfüllung<br />

Kirchturmglocke 310<br />

Brückenvollendung 315<br />

Tanzen 316


4 Gerechtigkeit<br />

Gleichnis 321<br />

Unschuldig 325<br />

Neun Mark 328<br />

5 Bekenntnisse<br />

Machttrieb 335<br />

Selbstbescheidung 343<br />

Testament 347<br />

6 Einsichten<br />

Fünf-Sterne-Kaffee 351<br />

Lebensfreude 360<br />

Streitgespräch 378<br />

Abschied 416<br />

IM HERBST<br />

1 Brüder<br />

Rollenwechsler 421<br />

Feine Dame 427<br />

Fernsehen 432<br />

Hüne 437<br />

Politiker 444<br />

Füße 448<br />

Ganz Tier 459<br />

Staatskarosse 467<br />

2 Götter<br />

Neuer Mensch 470<br />

Neue Religionen 474<br />

Neuer Gott 490<br />

Visionen 496<br />

Gestaltungsgeschehen 503<br />

Chaos 508<br />

Gedankentheater 510<br />

Ballons 517<br />

Perlen 522


Teufelswerk 524<br />

Etagen 526<br />

3 Wesen<br />

Grandioses Schauspiel 532<br />

Leere Hülle 538<br />

4 Engel und Teufel<br />

Wespen 542<br />

Peters Botschaft 548<br />

Anruf 552<br />

Mitternacht 555<br />

Karierte Jacke 561<br />

IM WINTER 565<br />

EIN TRAUM 570<br />

VERSE 573


VERSE<br />

HASSEN<br />

Schwarzes haßt Weißes:<br />

Wo eines gewinnt<br />

Das andere zerrinnt<br />

Kaltes haßt Heißes:<br />

Wo eines ist da<br />

Kommt’s andere nicht nah<br />

Immer aber weiß es:<br />

Schwarzes braucht Weißes<br />

Kaltes braucht Heißes<br />

Keins existiert allein<br />

Ohne das andre kann’s nicht sein<br />

WOLLEN<br />

Wie, Du willst Ewigkeit?<br />

Was ist das für Dich?<br />

Wie, Du willst Seligkeit?<br />

Was meinst Du damit?<br />

Bist Du nicht Teil?<br />

Teil der Zeit?<br />

Der Schöpfung Teil?<br />

Warum willst Du noch mehr?<br />

MEIN<br />

Du sagst mein Ich, Du sagst mein Gut<br />

Du sagst mein Herz, Du sagst mein Blut<br />

Doch nichts in dieser Welt ist Dein<br />

Alles ist ein Teil vom Sein<br />

Und Sein, das ist ein eigen Ding<br />

Ist steten Wandels ew’ger Ring<br />

1


2 VERSE<br />

WO?<br />

Engel und Teufel<br />

Geister und Götter –<br />

Wo wachsen und wo wohnen die?<br />

Wo wandeln und wo wirken sie?<br />

In den Hirnen von Menschen!<br />

Sonstwo?<br />

Nirgendwo!


AUF EIN WORT<br />

Vor Ihnen liegt mein Erstlingswerk als Schriftsteller. Ich bin<br />

ein alter Mann, so wird es wohl auch mein Letztlingswerk sein.<br />

In meinem langen Leben habe ich kaum jemals Zeit gefunden,<br />

einen Roman zu lesen. Fast <strong>im</strong>mer ging es um Fachliteratur. So<br />

drängt es mich zu einem Wort an Sie, den Leser, den elften Beteiligten.<br />

Außer Ihnen sind beteiligt neun Darsteller und mein Ich-<br />

Ich als Regisseur. Zusammen sind wir also, wie gesagt, elf.<br />

Die neun Darsteller repräsentieren Einsichten und Ansichten,<br />

die mir geworden sind aus Erlerntem und Erfahrenem. Und sie<br />

verkörpern Intuitionen und Visionen, die mir zugeschwebt sind<br />

aus Nebelschleiern des in ewigem Kreisen und Wirbeln gefangenen<br />

Welttheaters. Zögernd schlichen sie sich auf die Bühne<br />

meines Bewußtseins. Sich drehend und wendend, begannen sie<br />

tanzend einen geisterhaften Reigen. Selbstsicherer werdend,<br />

gestalteten sie ein Geschehen. Ich hockte in einer dunklen Ecke<br />

und sah und hörte ihnen zu – stumm, gebannt, fasziniert.<br />

Nach einer Weile entschloß ich mich, die Regie zu übernehmen.<br />

Ich entwarf einen Rollenplan und ein Drehbuch für die<br />

neun: Inge, Pastor und Peter; Festmacher, Maler und Schmied;<br />

Physiker, Gärtner und MinRat. Der Vorhang hob sich. Die Vorstellung<br />

begann. Und nun wurde aus dem Regisseur auch<br />

<strong>im</strong>mer wieder ein Protokollführer, ein Beschreiber und ein<br />

Deuter. Wie das Geschehen geschah, so schrieb ich es nieder,<br />

zunächst weitgehend außeracht lassend, wie sich die Teile zum<br />

Ganzen fügen mochten. Aber alles erwuchs aus einer Wurzel.<br />

Und so reifte alles in innerem Zusammenhang. Allmählich<br />

entstand Wesenhaftes, etwas Lebendiges, das sich wie ein<br />

Baum entfaltete und verästelte, und das Blüten trieb und<br />

Früchte.<br />

Es entwickelte sich Verflochtenes aus menschlichen Möglichkeiten,<br />

Fehlern und Grenzen. Es wuchs Verwobenes aus<br />

Gutem und Bösem, aus Verzweiflung und Hoffnung, aus Freude<br />

und Erfüllung, aus Fakten und Fiktionen. Und es ergab sich<br />

3


4 AUF EIN WORT<br />

eine Bedeutungsparallelität: Essentielle Aussagen erfuhren eine<br />

Versinnbildlichung in Geschichten und Lebensbekenntnissen.<br />

Nicht <strong>im</strong>mer ist alles gut gegangen. Vier der neun Darsteller<br />

entglitten meiner Regie. Da habe ich mit denen gerungen und<br />

sie vor Unheil gewarnt. Aber das hat nicht gefruchtet. So wende<br />

ich mich jetzt an Sie. Ich möchte, daß Sie wissen: es wäre<br />

einiges anders verlaufen, hätten die vier ihren Rollenplan<br />

einhalten können.<br />

Nehmen Sie die Inge. Ein wunderschönes Mädchen und ein<br />

tief religiöser Mensch. In meinem ganzen Leben ist mir noch<br />

niemals ein solch engelhaftes Wesen begegnet. Ich habe die Inge<br />

verehrt, sie ganz besonders in mein Herz geschlossen. Deshalb<br />

habe ich sie auch gewarnt. “Inge”, habe ich zu ihr gesagt, “geh<br />

nicht allein in den <strong>Park</strong>.” Wissen Sie, was sie mir geantwortet<br />

hat? Das gleiche wie ihrem Vater, dem Pastor: “Ich habe keine<br />

Angst. Der liebe Gott wird mich beschützen.” Mir gegenüber hat<br />

sie aber noch etwas hinzugefügt. Sie hat gesagt: “Und wenn<br />

Gott sich anders entscheiden sollte, so ist mir das auch recht. Er<br />

weiß, was er tut und warum. Seinen Willen akzeptiere ich ohne<br />

Wenn und Aber.” – Ja, ich bitte Sie, was hätte ich denn da tun<br />

sollen, tun können?<br />

Ein ganz persönliches Detail möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.<br />

Als das Entsetzliche geschah, kurz nach Mitternacht,<br />

da habe ich geweint.<br />

Und nehmen Sie den Schmied. Diesen aufrechten Kerl, diesen<br />

durch und durch rechtschaffenen Mann mit den tiefen Wunden,<br />

die ihm das Leben geschlagen hat. Sein schl<strong>im</strong>mes Schicksal<br />

macht ihn in besonderem Maße verletzlich. Daher habe ich zu<br />

ihm gesagt: “Geh mit dem Festmacher auf die Jagd. Der<br />

überlegt genau, was er tut, der kann Unheil verhindern helfen.”<br />

Aber, Sie werden es selber miterleben, in einem entscheidenden<br />

Augenblick war der Schmied allein. Und nun muß er sein<br />

ganzes Leben, bis zu seinem letzten Atemzug, darunter leiden.<br />

Und der Physiker? Ein mutiger Bekenner mit fundiertem<br />

Wissen in Physik und Biologie und ein großer Visionär. In


AUF EIN WORT 5<br />

vielem hat er recht, in manchem könnte er recht haben. “Herr<br />

Physiker”, habe ich gesagt, “bitte seien Sie vorsichtig <strong>im</strong> Umgang<br />

mit fremden Mächten.” Da hat er laut gelacht und den<br />

Kopf geschüttelt: “Ich weiß, was ich tue, was ich tun kann und<br />

was nicht.” Und dann hat er noch hinzugefügt: “Sollten meine<br />

Vorstellungen aber falsch sein, so ist mir das Wissen um meine<br />

Fehler wichtiger als meine Unversehrtheit.” Die Folgen seines<br />

Starrsinns sind fürchterlich.<br />

Was für Darsteller! Sie sehen, was ich meine.<br />

Ja, und dann ist da auch noch der Maler. Warum folgt er<br />

nicht dem Rollenplan und übt sich in Mäßigung? Sein Lebenshunger<br />

wird unstillbar, seine Sinnlichkeit unkontrollierbar,<br />

sein <strong>Suchen</strong> nach Selbstbestätigung und Wissen unbegrenzbar.<br />

Was würde die Gesellschaft tun, die ihn als begnadetes Genie<br />

anh<strong>im</strong>melt, wenn sie erführe, daß er des nachts als Voyeur <strong>im</strong><br />

Gebüsch lauert? Und was werden seine nächtlichen Kumpane<br />

mit ihm machen, wenn sie herausfinden, daß er sie so völlig<br />

hinters Licht geführt hat? Nicht genug damit. Seine Schuld will<br />

Rache statt Vergebung! Der Festmacher hat recht, wenn er sagt:<br />

“Du mußt dich mehr zusamm’n nehmn, Fiedler!” Kann der<br />

Maler sein gefährdetes Schicksalsschiff sicher steuern? Ohne<br />

Havarie? Und dürfen wir – Sie, der Leser, und ich, der Regisseur<br />

– ihn mit unserer Elle messen? Im Maler ringt Gegensätzliches:<br />

Weißes und Schwarzes, Gott und Teufel, Schöpferisches<br />

und Zerstörerisches, Hoffnung und Haltlosigkeit. Aber ist ein<br />

Genie nicht <strong>im</strong>mer ein Schauplatz starker, widerstreitender<br />

Kräfte? Ist es nicht <strong>im</strong>mer vieles in einem?<br />

Der Pastor, der Festmacher, der Gärtner, der MinRat? Sie<br />

haben sich an den Rollenplan gehalten. In bewundernswerter<br />

Weise vermag der Pastor zu helfen, und sogar große Gegensätze<br />

auszugleichen. In unerschütterlichem Glauben dient er seinem<br />

Herrn. Der ungeschlachte Festmacher beweist <strong>im</strong>mer wieder,<br />

daß er alles, was er tut, genau überlegt, und daß er auf seine Art<br />

sehr klug ist. Der Gärtner wird zum Vorbild: ihm gelingt es, aus<br />

großem Leid Kraft zu gewinnen. So kann er seinem Leben einen


6 AUF EIN WORT<br />

neuen Sinn geben und es anders gestalten. Der MinRat öffnet<br />

sich neuen Einsichten. So besiegt er alte Triebe.<br />

Ja, und der Peter? Auch mit ihm gab es nie ernsthafte<br />

Probleme. Er hat sich nie weit von meinem Ich-Ich entfernt. Wie<br />

sollte er auch? Von allen neun ist er noch am ehesten ein Stück<br />

von mir selbst.<br />

Worum es denn eigentlich geht? Es geht um etwas, das alle<br />

Menschen angeht. Es geht um Fesseln, Freiheiten und Verantwortlichkeiten.<br />

Es geht um Kunst und Wissenschaft, um<br />

Erkenntnisgewinnung und Philosophie. Um Einsichten, die<br />

traditionelle Weltbilder erschüttern, und um gewagte Visionen.<br />

Es geht um ein neues Weltbild und um einen neuen Menschen,<br />

um Leitlinien für neue Religionen und um einen neuen Gott.<br />

Ja, um so viel geht es hier. Soviel maßt er sich an, der alte<br />

Mann!


1 JÄGER<br />

Jäger, die kucken<br />

IM FRÜHLING<br />

“Dies is ‘n sauberes Revier.<br />

Und das soll’s auch bleibn!”<br />

“Hier rein!!”<br />

Eine Faust schießt hervor aus finsterm Nichts, packt den<br />

Maler, reißt ihn herum und zerrt den Taumelnden ins<br />

Gebüsch. Atem stockt. Der Mund klappt auf, will schreien.<br />

Aber er bleibt stumm. Der Maler erstarrt. Erst als die Faust<br />

ihn wieder freigibt, zuckt sein Holzschnittgesicht in<br />

hochschnellende Schultern. Ein Arm hebt sich in Abwehr.<br />

“Steh still, Mann!” Wieder diese zischende Flüsterst<strong>im</strong>me,<br />

die aus dem Finstern kommt.<br />

Der kleine bucklige Maler umklammert das kostbare Instrument.<br />

‘Jetzt!’, schießt es durch seine stürmenden Sinne,<br />

‘jetzt passiert es! … gleich ist mein Leben zuende!’ Ergeben<br />

erwartet er Entsetzliches.<br />

Aber es passiert nichts … Noch nicht …<br />

Wie angeschweißt, verharrt der Zwerg vornübergebeugt auf<br />

der Stelle, gefangen <strong>im</strong> Schreckreflex. Die leeren Augen sind<br />

auf seine weißen Schuhe gerichtet, die in der Finsternis matt<br />

sch<strong>im</strong>mern, und auf den nachtschwarzen Erdboden, der mit<br />

Blättern des letzten Herbstes bedeckt ist.<br />

Als noch <strong>im</strong>mer nichts geschieht, hebt der Maler den Kopf<br />

und wendet ihn zur Seite, nach dorthin, wo die St<strong>im</strong>me herkam.<br />

Seine wulstigen Lippen beben unter steifspitziger Nase.<br />

Lange schwarze Haare hängen wie Vorhänge vom Mittelscheitel<br />

und umrahmen pendelnd ein eindrucksvolles und zugleich<br />

abstoßendes Gesicht.


8 JÄGER<br />

Schwankend richtet der Zwerg sich etwas auf. In seinen vor<br />

Angst zuckenden, suchenden Augen rollt rundes Schwarz in<br />

ovalem Weiß. Er gewahrt eine dunkle Gestalt. Die Gestalt bewegt<br />

sich nicht. So tastet das Schwarz aufwärts. Immer weiter<br />

aufwärts. Die Gestalt neben ihm ist riesig. Im Widerschein<br />

des von der nahen Großstadt schwach erhellten Nachth<strong>im</strong>mels<br />

wird ein hohlwangiges Asketengesicht erkennbar. Darin<br />

dominiert eine große, weit vorspringende Nase. Dünne Lippen<br />

versiegeln einen herben, von scharfen Falten tangierten<br />

Mund. Und ganz oben, auf dem Kopf des Riesen, da thront eine<br />

schwarze Schiffermütze.<br />

Der Riese sieht ihn nicht an. Seine engstehenden Eulenaugen<br />

durchbohren die Nacht in eine andere Richtung.<br />

Wieder zerreißt harsches Flüstern stille Finsternis: “Beinah<br />

hätts du alles kaputt gemacht, du Arsch!” Geschmeidig, geräuschlos,<br />

geduckt wiegt der große Mann sich in den Hüften,<br />

dreht und wendet sich, reckt den Hals. Lautos gleitet er umher,<br />

weich und sacht wie eine Boa. Plötzlich ist er<br />

verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.<br />

Zitternd steht der Maler da, zieht den Kopf zurück in Schultern<br />

und Buckel, wie eine Schildkröte bei Gefahr. Das runde<br />

Schwarz rollt nach links – keine Spur vom Riesen – nach<br />

rechts: nichts. Wo ist der Riese geblieben? Gänsehaut kriecht<br />

über den Buckel.<br />

Es dauert eine Weile, bis der Zwerg begriffen hat: Der große<br />

Mann ist blitzschnell eingeknickt, hockt jetzt tief unten am<br />

Boden, verharrt dort regungslos in Kniebeuge.<br />

Aber jetzt! Jetzt ist die Schiffermütze wieder neben, über<br />

dem Zwerg. Der Riese bückt sich. Mit unerwarteter Vertraulichkeit<br />

raunt der herbe Mund unter der großen Nase, die<br />

dünnen Lippen fast am Malerohr: “Noch nix gehabt heut.” Der<br />

große Mann richtet sich auf, hebt die mächtige Faust, wippt<br />

mit abgespreiztem, richtungsweisendem Daumen zwe<strong>im</strong>al<br />

nach halbrechts: “Das da, das kann was werdn!” Er fingert am<br />

Hosenschlitz. Spreizt die Beine und – pinkelt. Die freie Hand


Jäger, die kucken 9<br />

gebietet: mach Platz!<br />

Schockiert wendet sich der Maler ab, reißt seinen Geigenkasten<br />

zur Seite und umschließt ihn mit den Armen. Blätter<br />

rascheln.<br />

“Leise, du Arsch!”, zischt der Riese über die Schulter.<br />

Schließlich konzentriert er sich auf eine Blähung. Gekonnt<br />

kontrolliert n<strong>im</strong>mt deren Tonfolge teil am Konzert nächtlicher<br />

Geräusche: dem leisen Knarren und Ächzen der von einer<br />

Brise bewegten Baumkronen, dem lockenden Rufen eines<br />

Nachtvogels und der vom nahen Restaurant, dem Waldschloß,<br />

herüberwehenden Tanzmusik. Der Oberkörper winkelt vor,<br />

eine angedeutete Kniebeuge, ein paar Schlenker – und nun ist<br />

die Schiffermütze wieder dicht bei, über dem Maler. Die<br />

Finger noch mit dem Hosenschlitz beschäftigt, durchbohren<br />

scharfe Augen erneut die Nacht.<br />

Der Rand der dunklen Wolke, die eben noch dem Mondlicht<br />

direkten Zugang zum <strong>Park</strong> verwehrt hatte, segelt weiter. Nun<br />

verhüllt den Vollmond nur noch ein weißer Wolkenschleier. Es<br />

wird heller <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ohne die Blickrichtung zu ändern, zieht<br />

der Riese ein kleines Fernglas aus der Jackentasche hervor.<br />

Rasch wandert es vor die Augen. Zeigefinger pressen gegen<br />

Brauen, verschweißen Glas und Stirn. Mittelfinger und Daumen<br />

entwinden der Nacht das Objekt: eine Frau und ein<br />

Mann. Sie sitzen auf einer Bank.<br />

Hinter der Stirn empören sich Gedanken: ‘Sitzt da nebn<br />

seiner Puppe und quatscht und quatscht und quatscht!’<br />

Der Riese läßt das Glas sinken. Unterdrückt Rülpsen. Spuckt.<br />

Verächtlich formt der fast lippenlose Mund ein O. Daumen und<br />

Zeigefinger wischen von oben nach unten über die Mundwinkel.<br />

Dann zerrt die mächtige Rechte die Schiffermütze in<br />

die Stirn.<br />

Endlich verstummt das Gespräch. Wieder knickt der Riese in<br />

Kniebeuge. Rollt nach vorn ab, liegt jetzt auf dem Bauch. Robbt<br />

und schlängelt lautlos durch Büsche. Noch etwas weiter. So,<br />

nun ist die Sicht ganz frei. Jetzt kann er die Bank voll über-


10 JÄGER<br />

sehen. Sie steht auf einem Hügel unter einer großen uralten Eiche.<br />

Das Fernglas fokussiert die junge Frau. Halb sitzend, halb<br />

liegend, auf den linken Arm gestützt, hat sie die Beine<br />

angezogen. Der Wolkenschleier zerreißt. Mondlicht fließt<br />

unbehindert in den <strong>Park</strong>, tastet durch windbewegtes Laub.<br />

Wie eine Geisterlaterne, wankend getragen von unsichtbarer<br />

Gestalt, beleuchtet es die Szene auf der Bank, entwindet dem<br />

Dunkel Einzelheiten: ein feingeschnittenes, schönes Gesicht;<br />

lange, zum Zopf gebündelte, blonde Haare; einen hellen Pullover,<br />

der eine aufreizend eng taillierte Figur umspannt; Brüste,<br />

die den Leib des Riesen zusammenfahren lassen; schneeweiße<br />

nackte Schenkel, entblößt von hochgerutschtem Rock;<br />

und lange, endlos lange, wohlgeformte Beine. Die Augen<br />

hinter dem Glas saugen sich fest an diesem erotischen Bild.<br />

Erneut redet der Mann auf der Bank auf die junge Frau ein.<br />

Das Fernglas schwenkt zu ihm hinüber. Feuerschein flackert.<br />

Der Mann pafft den Tabak in seiner Pfeife in Glut. Für kurze<br />

Augenblicke erhellt das Auf und Ab der Feuerzeugflamme<br />

ernste, von der Klarheit ebenmäßiger Harmonie geprägte Züge,<br />

aufblitzende Brillengläser mit lebhaften Augen dahinter<br />

und einen kurz geschnittenen Backenbart.<br />

Wieder wandern die Eulenaugen zu der jungen Frau …<br />

Der Maler schluckt. Seine Zungenspitze befeuchtet rötliche,<br />

weiche Wulstlippen, die so gar nicht in das harte Gesicht<br />

passen. Es ist ihm, als erwache er aus einem entsetzlichen<br />

Traum. Sein Atem weht unregelmäßig, erst sacht und flach,<br />

dann hüpfend und tief. Vorsichtig bewegt er die schreckerstarrten<br />

Glieder, neigt und dreht den Kopf. Nun klemmt er<br />

seinen Geigenkasten zwischen die Schenkel. Wie tot hängen<br />

die Arme von den <strong>im</strong>mer noch gehobenen Schultern. Nur<br />

langsam löst sich die Verkrampfung. Jetzt umfängt er sein<br />

wertvolles Instrument mit beiden Armen wie ein Kind, das<br />

seines Schutzes bedarf. So verharrt er eine Weile. Dann stellt<br />

er die Beine bequemer. ‘Was will der Riese von mir? Ich kenne<br />

ihn doch gar nicht, habe ihn noch nie gesehen!’


Jäger, die kucken 11<br />

Inzwischen ist der Fremde noch weiter auf die Bank zugerobbt.<br />

Er hat sich ein gutes Stück entfernt. Der Maler könnte<br />

fliehen. Aber er bleibt stehen.<br />

Der Riese richtet sich auf, sieht sich um und winkt. Ja, er<br />

winkt ihn zu sich heran! Angst bannt den Zwerg an seinen<br />

Platz. Aber dann, ganz plötzlich, sind da auch Neugier und<br />

Erlebnishunger. Tief <strong>im</strong> Leib zuckt es, zündelt empor. Sinnenlust<br />

flackert auf. Wie glühende Lava wälzt sich Triebhaftes<br />

durch den Körper. Zitternd umklammert der Maler den<br />

Geigenkasten, macht einen ersten Schritt. Rrrumms! Die<br />

schweißnasse Stirn rammt gegen einen Ast. Das schmerzt.<br />

Aber es bricht auch die innere Blockade. Ein Sinnessturm tobt<br />

los. Der Maler duckt sich. Er macht einen zweiten, einen<br />

dritten Schritt. Drängelt sich durch dicht stehende Büsche.<br />

Mit Schultern und Ellenbogen drückt er Zweige beiseite.<br />

Irgendetwas da vor ihm in der Dunkelheit zieht ihn mächtig<br />

an, greift nach ihm, zerrt ihn zu sich hin. Vorwärts!<br />

Des Malers Verhalten hängt am Augenblick. Dem Verstand<br />

Fremdes best<strong>im</strong>mt oft seine Reaktionen. Sinnenlust reitet<br />

ihn, Neugier gängelt ihn, Kreativität beflügelt ihn. Gnadenlos<br />

peitschen diese Kräfte auf ihn ein. Und jedesmal, wenn ihn<br />

die Peitsche trifft, surrt und dreht sich seine Seele wie ein<br />

Kreisel. Jeder Hieb zwingt ihn in eine andere Richtung. Wenn<br />

die Peitsche ruht, wenn der Drall versiegt, gerät er ins Taumeln.<br />

Dann regiert ihn die Angst. Noch weiß er es nicht:<br />

Angst, oftmals kostümierte, ist seine int<strong>im</strong>ste und anhänglichste<br />

Weggefährtin.<br />

Vorwärts!! Mit aufeinandergepreßten Wulstlippen, zusammengezerrten<br />

Brauen und geblähten Nüstern nähert sich der<br />

Zwerg dem Riesen. Jetzt ist er nur noch Auge, Ohr und Trieb,<br />

nur noch wildes, jagendes Tier. Das Herz hämmert gegen die<br />

Rippen. Vorwärts!! Neben dem Riesen angelangt, sieht nun<br />

auch er das Paar auf der Bank. Mondlicht entreißt dem Dunkel<br />

zwei sich umarmende Gestalten. Beide bewegen sich langsam.<br />

Wie von Sinnen starrt der Bucklige auf das blonde Mäd-


12 JÄGER<br />

chen. Und dann bersten in ihm die Schleusen. Gefühle stürzen<br />

ins Freie wie aufgestaute Wassermassen. ‘Das ist mein<br />

Engel!’, schreit es aus jeder Zelle seines Körpers. ‘Mein<br />

Engel!!!’ Der Maler verschlingt das Gesicht des Mädchens,<br />

ihren Körper, mit all seinen irrwitzig hüpfenden Sinnen. Mit<br />

Macht drängt es ihn hin zu der jungen Frau. Er tritt auf einen<br />

trockenen Zweig. Lautes Knacken!!<br />

Der Riese rammt ihm den Ellenbogen gegen die Schulter,<br />

packt den Taumelnden, zerrt ihn blätterraschelnd zurück. Immer<br />

weiter zurück. Weg von der Bank. Gebietet ihm schließlich,<br />

neben einer großen Buche auf ihn zu warten.<br />

Dann geht der große Mann, sich drehend und windend, erneut<br />

auf die Pirsch. Schlängelt durch Büsche, nähert sich<br />

abermals der Bank auf dem Hügel.<br />

Aber schon bald kommt er zurück. Noch <strong>im</strong>mer mit dem<br />

Blick zur Bank, macht er seiner Enttäuschung Luft: “Jetz leck<br />

mich doch am Arsch, Mann. Die gehn weg! Gehn einfach weg!!”<br />

Er rülpst und spuckt. Dann furzt er, diesmal energisch und<br />

weithin vernehmbar, voller Verachtung. Ein eindrucksvoller<br />

Protest. Seine Frau hat mal wieder zu viele Zwiebeln in die<br />

Suppe getan. Da macht der Magen nicht mit. Da will die Luft<br />

raus. Nach oben und nach unten. “Scheiße! Gestern nix<br />

gehabt. Heut nix gehabt. Gestern fünf Stundn auf Tour. Heut<br />

schon fast vier.” Der Riese starrt dem in der Ferne entschwindenden<br />

Paar nach. “Ne Leistung, wenn man um sechs ausse<br />

Federn muß!” Zornig zerrt er die Mütze in die Stirn. “Wir<br />

habn ‘n schweres Los, Fiedler! Ehrlich. Kein Wunder, daß<br />

man abn<strong>im</strong>mt. Meine Alte sagt: ‘Du wirst <strong>im</strong>mer weniger.<br />

Frißt wie’n Scheunendrescher. Aber wirst <strong>im</strong>mer weniger. Wo<br />

läßt du das bloß?’ Mann, die hat ja keine Ahnung, was hier los<br />

is. Wie schwer das alles is, bis man endlich mal wieder was<br />

gehabt hat und nach Hause kann!”<br />

Im Maler wallen Abscheu auf und Verachtung. Soviel Rohheit<br />

widert ihn an. ‘Was für ein Barbar! Ich muß hier weg!’ Mit<br />

geducktem Kopf forscht er aus den Augenwinkeln nach einem


Jäger, die kucken 13<br />

Fluchtweg. Aber wie, in Gottes Namen, kann er diesem Riesen<br />

davonlaufen? Ein Fluchtversuch würde seine Lage nur verschl<strong>im</strong>mern.<br />

Er muß den Abscheu unterdrücken.<br />

Und dann kriecht, wie eine böse Schlange, aus den Tiefen<br />

seines Leibes brennende Neugier hervor und wilde Erlebnissucht.<br />

Der Zufall hat ihn in eine fremde Welt geführt. Jetzt<br />

lockt es ihn, sich darin umzusehen. Diese Welt hat seine<br />

verdorrten Gefühle neu belebt. Und sie hat ihm den Engel gezeigt!<br />

Plötzlich flammt Hoffnung auf – Hoffnung, daß er hier<br />

den Schlüssel finden kann zur Wiedergewinnung seiner Kreativität.<br />

Riese voran, tasten die beiden den schmalen, dunklen Pfad<br />

entlang, auf dem der Maler gekommen war. Dann gehen sie<br />

hügelabwärts. “Das Gelaber von der Altn! Das geht ein’m aufn<br />

Keks. Das …” Der Riese verstummt, bleibt stehen. Über Büsche<br />

hinweg hat er etwas gesehen, das seine Aufmerksamkeit<br />

fesselt.<br />

Ohne den Blick vom Gegenstand seines <strong>Inter</strong>esses<br />

abzuwenden, n<strong>im</strong>mt er, leiser jetzt, das Gespräch wieder auf.<br />

Er ahmt eine hohe, schrille Frauenst<strong>im</strong>me nach: “Wo willst du<br />

schon wieder hin? Du warst doch gestern ers weg!” Die<br />

Augäpfel rollen nach oben rechts. Denn sag ich: “Heut kommt<br />

‘n dicker Pott. Be<strong>im</strong> dickn Pott, da muß ich hin!” In Richtung<br />

Fiedler fügt er hinzu: “Be<strong>im</strong> dickn Pott müssn <strong>im</strong>mer zwei<br />

hin. Einer für Vorderleine und Vorspring und einer für<br />

Achterleine und Achterspring.” Er rülpst. “Viele dicke Pötte<br />

machen fest <strong>im</strong> Hafn. Die komm’n aus Amerika, Rußland,<br />

Japan, China – von überall. Tag und Nacht.” Er grinst. “ ‘N<br />

Festmacher hat <strong>im</strong>mer ‘ne gute Ausrede.”<br />

Sie gehen wieder weiter. Nach einer Weile fragt der Festmacher:<br />

“Wie komms du mit deiner Altn klar?” Dem Maler ist<br />

nicht wohl in seiner Haut. Was, um H<strong>im</strong>mels willen, soll er<br />

sagen? Sie verlassen das dunkle Gebüsch. Stehen jetzt auf<br />

einem von schönen alten Laternen erleuchteten Kiesweg. Als<br />

der Maler nicht antwortet, wendet sich ihm der Festmacher


14 JÄGER<br />

zu. Sieht ihm ins Gesicht. Zum erstenmal an diesem Abend.<br />

In den klaren harten Augen blitzt es, funkelt Wut: “Du bis<br />

das ja gar nich! Du bis ja gar nich der Fiedler aus’m Waldschloß!”<br />

Mächtige Fäuste schütteln den Zwerg, daß die langen<br />

Haare flattern, daß der Geigenkasten gegen die Rippen rumpelt,<br />

daß es wie Messerstiche durch den Buckel fährt. “Wer bis<br />

du??”<br />

Panische Angst. Muskeln verkrampfen. Atem stockt.<br />

“Was suchst du hier?”<br />

Sie sind allein auf dem Kiesweg. Aber die Einsamkeit und<br />

den Festmacher fürchtet der Maler jetzt nicht einmal so sehr<br />

wie die Möglichkeit, daß Passanten die Szene beobachten könnten,<br />

ihn sehen, ihn erkennen. Mit hochgezogenen Schultern<br />

und ängstlich lauernden Augen sieht er sich um. Geduckt<br />

schielt er hoch zum Riesen. Hastig, beschwörend stößt er<br />

hervor: “Reg dich bitte nicht auf. Ich wollte nur mal sehen.”<br />

Diese ersten Worte, die der Maler <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong><br />

spricht, klingen wie Krächzen.<br />

“Wasss!?”<br />

“… Was hier los ist.”<br />

“Nur mal sehn, was hier los is, was? Neue komm’n hier nich<br />

rein. Das is unser Revier!” Der Festmacher mißt den Eindringling<br />

mit bohrendem Blick. “Is das klar, Mister?”<br />

“Ja”, gurgelt der Maler. Er zittert.<br />

“Kommst einfach mal so hierher, was? Willst nur mal sehn,<br />

was hier los is, was? Und denkst, das geht so einfach. Du hast<br />

doch ‘n Wurm <strong>im</strong> Keks! Nich mit mir, Mister, nich mit uns!<br />

Wenn der Fiedler aus’m Waldschloß dich erwischt, der haut dir<br />

sein’n Fiedelkastn auf die Rübe, daß dir die Augn auf’e Mandeln<br />

klatschn. Und der Schmied! Wir alle drei, wir dreschn<br />

dich so klein, da paßt du mit deiner gottsverdammtn Fiedel zusamm’n<br />

in dein’n Geigenkastn.”<br />

“Ich”, versucht der Maler abermals, den Festmacher zu<br />

besänftigen, “ich will niemandem ein Leid zufügen.”<br />

“Niemandem ein Leid zufügen”, echot der Festmacher voller


Jäger, die kucken 15<br />

Hohn. “Wo komms du denn her? Hat dich deine Mutti heut<br />

mal rausgelass’n? Mann, Mann, Mann!” Er zieht die Mundwinkel<br />

scharf nach unten und schüttelt fassungslos den Kopf.<br />

“Wenn ich sowas bloß hör!”<br />

“Ich meine”, stammelt der Maler verstört, “ich komm nicht<br />

wieder, wenn du das nicht willst. Nie!”<br />

“Das hört sich schon besser an.”<br />

Mit beiden Händen gibt der Riese dem Zwerg einen Schubs.<br />

“Los, leg ab! Schieß in’ Wind! Und kreuz hier nie wieder auf!”<br />

Der Maler taumelt und stolpert rückwärts. Schluckt. Holt<br />

Luft, mit hüpfendem Zwerchfell. Schwankend macht er kehrt.<br />

Er schüttelt sich und zittert zugleich. ‘Was muß ich hier an<br />

Demütigungen ertragen!’ schreit es in ihm. ‘Wie weit ist es<br />

mit mir gekommen!’ Ekel würgt die Kehle. Empörung pulst<br />

auf – Empörung über sich und über den Barbaren.<br />

Geschlagen schleicht der Zwerg davon. Um möglichst rasch<br />

aus dem Blickfeld des Riesen zu entkommen, beugt er den<br />

Kopf, läßt die Schultern hängen, macht sich so klein wie möglich.<br />

Wie ein geprügelter Hund verläßt ein großer Geist eine unwürdige<br />

Szene.<br />

Der Festmacher sieht ihm nach. Spuckt. Dann formt der<br />

fast lippenlose Mund ein O. Bedächtig wischen Daumen und<br />

Zeigefinger über die Mundwinkel. Schließlich zerrt die Faust<br />

die Mütze in die Stirn.<br />

‘Der hat sich überhaupt nich gewehrt’, wundert er sich.<br />

Der Festmacher sieht dem abgeschmetterten Konkurrenten<br />

hinterdrein, bis der hinter den Büschen der Wegbiegung entschwindet.<br />

Er schürzt den Mund. Rülpst. “So’n irrer Rudi”,<br />

sagt er. Und er denkt: ‘aber verdammt schnell hat der kapiert,<br />

wo’s langgeht hier. Der kommt nich wieder!’ Er macht ein paar<br />

Schritte. “So’n Arsch”, sagt er nun laut, “kommt einfach mal<br />

so hierher. Und denkt, das geht so einfach!” Noch <strong>im</strong>mer blickt


16 JÄGER<br />

er in die Richtung, in der der Maler abgezogen ist. Aber wie<br />

ist der abgezogen! Gebückt, total zerknirscht.<br />

Der Festmacher zuckt mit den Schultern. Dann sagt er:<br />

“Armer Sack!” Wieder schüttelt er den Kopf. Greift nach dem<br />

Schirm der Mütze. Allmählich wandelt sich Wut in Mitgefühl.<br />

‘Ganz schüchtern der Kleine. Ganz bescheidn. Nich so’n Angeber<br />

wie der Fiedler aus’m Waldschloß.’ Er nickt. ‘Paßt besser<br />

zu uns. Besser als dieser eingebildete Affe da.’ Aus den Augenwinkeln<br />

schielt er in die Richtung des <strong>Park</strong>restaurants und<br />

deutet nach dort mit dem Kopf. ‘Dieser krumme Paganini da!’<br />

Im Grunde seines Herzens ist der Festmacher gutmütig.<br />

Und er weiß: es ist nicht einfach für einen Neuen, ein Revier<br />

zu finden. Ganz und gar nicht einfach ist das.<br />

Plötzlich tut ihm der kleine Kerl leid. Er hebt die Brauen<br />

ganz hoch, spitzt die dünnen Lippen, wiegt den Kopf. Dann<br />

beginnt er, dem anderen nachzugehen. Zögernd zuerst und<br />

langsam, dann <strong>im</strong>mer entschlossener, <strong>im</strong>mer schneller.<br />

Als der Maler die Schritte hinter sich hört, das <strong>im</strong>mer<br />

schneller, <strong>im</strong>mer energischer werdende Knirschen <strong>im</strong> Kies<br />

des Weges, da schütteln ihn, zum dritten Mal in dieser Nacht,<br />

Angst und Schrecken. Wieder kriecht Gänsehaut über den<br />

Buckel.<br />

Es ist schwer für den sensiblen Maler, die in ihm wiedererwachten<br />

machtvollen Energien zu bändigen. Die Kontrolle<br />

der Kräfte, die sein Fühlen und Wirken hervorbringen, war<br />

schon <strong>im</strong>mer ein Problem für ihn. Schon ein Gedankensplitter,<br />

ein Gefühlsblitz, ein Zucken in der Tektonik seiner<br />

komplizierten Individualität können jede mühsam gefundene<br />

Balance augenblicklich zusammenbrechen lassen und einen<br />

Szenenwechsel herbeischleudern in der zerklüfteten, <strong>im</strong>mer<br />

unter Dampf stehenden Eruptionslandschaft seiner Seele.<br />

Wieder packt die Faust den Zwerg, dreht ihn herum. Aber<br />

die Augen neben der großen Nase strahlen jetzt Gönnerlaune<br />

aus. “He, Mister, nich so schnell!” Der Festmacher sagt das<br />

so sanft, wie ihm das möglich ist. “Ich hab mir das überlegt.


Jäger, die kucken 17<br />

Auch ‘n Neuer muß ja wo bleibn.” Er rückt die Mütze zurecht.<br />

“Der Fiedler aus’m Waldschloß, der kann nur auf Tour, wenn<br />

Vertretung da is. Der is schon lange nich gekomm’n.” Er<br />

räuspert sich. “Ich glaub, der fiedelt jetz woanders.” Ärgerlich<br />

schüttelt er den Kopf: “Der denkt, er is ‘n Großer. Ehrlich, der<br />

is eingebildet. Nich so bescheidn wie du.” Wieder schüttelt er<br />

den Kopf. “Der denkt, er is Paganini!” Und nun kann der Festmacher<br />

auch schon wieder scherzen: “Dabei fiedelt der wie ‘ne<br />

Schildkröte mit ‘n kaputtn Arm!” Er rülpst. “Ich sag dir, das<br />

is’n lahmer Hund. Zu wenig Musik <strong>im</strong> Blut. Kein’n Pfeffer <strong>im</strong><br />

Arsch. Aber eingebildet!”<br />

Der Festmacher sieht sich jetzt den neuen Fiedler erst<br />

einmal in Ruhe an. “So’n Kleiner is das, der Fiedler aus’m<br />

Waldschloß. Wie du. Und lange schwarze Haare hat der. Wie<br />

du.” Er grinst. “Und genau so ‘ne komische Figur.” Schließlich<br />

sagt er: “Ich komm so fünf-, sechsmal die Woche. Wie oft<br />

kommst du?”<br />

Der Maler zögert. Zögert lange.<br />

“Na? Wie oft?”<br />

“… Einmal die Woche … mittwochs.”<br />

“Das geht in Ordnung.” Der Festmacher zieht die Brauen<br />

hoch, spitzt den Mund, wiegt den Kopf. Nickt. “Ja, das geht<br />

in Ordnung. Der Schmied, der kommt so vier-, fünfmal die<br />

Woche. Das kann das Revier verputzn. Der <strong>Park</strong> is groß.”<br />

Langsam sagt er und nickt dabei mehrmals: “Der Schmied,<br />

das is ‘n Guter.” Ein Lächeln macht die herben Züge<br />

überraschend weich und läßt Wärme aufleuchten in den<br />

harten Augen. “Der hat viel Schl<strong>im</strong>mes erlebt. Auf den muß<br />

ich aufpassn. – Alles klar?” Der Festmacher wendet sich<br />

seinem neuen Kumpel zu, sieht ihm in die Augen, mit<br />

einem Ausdruck voll verpflichtendem Ernst und einem<br />

sonderbar stechenden Blick.<br />

“Ja”, sagt der Maler.<br />

Mit der strengen Würde aufrechter Einfachheit läßt der<br />

Riese seine mächtige, halbgeöffnete Faust schwer auf die


18 JÄGER<br />

schmale, zusammenzuckende Schulter des buckligen Zwerges<br />

fallen. Er durchbohrt ihn mit brennendem Blick. “Aber kein’n<br />

Scheiß! Handtaschn klaun, wenn die da bumsn, das is nich<br />

drin. Und auch sonst keine Kinken! Dies is ‘n sauberes Revier.<br />

Und das soll’s auch bleibn! Verbrecher will ich hier nich habn.<br />

Da bin ich glashart! Is das klar?”<br />

“Ja.”<br />

“Da versteh ich überhaupt kein’n Spaß!” Der Festmacher<br />

mißt den neuen Fiedler mit blitzenden Augen, voll dunkler<br />

Durchdringungskraft. “Und denn will ich hier kein’n Neu’n,<br />

der von Tutn und Blasn keine Ahnung hat. Wenn du Mittwoch<br />

kommst, denn zeig ich dir ersmal mein Revier.” Er nießt.<br />

“Denn erklär ich dir ersmal, was hier anliegt. Und wie man<br />

das macht.” Wieder nießt er. “Da gibts ‘ne Menge zu lern’n!”<br />

Mit schlotternden Schle<strong>im</strong>häuten zieht er geräuschvoll Rotz<br />

und Speichel hoch und spuckt splatschend knapp am Maler<br />

vorbei. “Also, bis Mittwoch.” Mit dem Zeigefinger tippt er an<br />

den Mützenschirm und wendet sich zum Gehen.<br />

Aber dann dreht er sich doch noch einmal um: “Und laß<br />

deine gottsverdammte Fiedel in dein’m Klub!”<br />

“Ja”, sagt der Maler, “… Bis Mittwoch.”<br />

Tief bewegt strebt der kleine Bucklige seiner großen weißen<br />

Villa entgegen. Das Bild des Engels! Wieder ist es ihm erschienen.<br />

Dieses verdammte Bild! Es hat seine Kreativität<br />

zerstört, ihn ganz plötzlich stürzen lassen in einen Abgrund<br />

innerer Erstarrung. Aber heute nacht haben ihn der dunkle<br />

<strong>Park</strong> und ein lebendes Ebenbild des Engels wieder in die Welt<br />

der Gefühle zurückgeschleudert. Der Maler hat den Schlüssel<br />

gefunden zum Tor der dunklen Höhle, in die seine Schaffenskraft<br />

so plötzlich entschwunden war. Der Sinnestaumel in<br />

dieser fremden Welt, die Möglichkeit geschlechtlicher Befriedigung<br />

auf eine neue Art, das wird ihm helfen, die größte Krise<br />

in seinem Leben zu überwinden, das wird ihn zurückführen<br />

in pulsierendes Schaffen. Das Wiedererwachen seiner kalt


Jäger, die kucken 19<br />

und leer gewordenen Gefühlswelt ist ein überwältigendes Erlebnis.<br />

Er kann das noch gar nicht fassen … und er kann es<br />

kaum erwarten, die Kräfte, die diesen Sinnestaumel ausgelöst<br />

haben, erneut zu beschwören.<br />

Der untersetzte kleine Maler ist ein großer, weltweit gefeierter<br />

Künstler. Noch vor kurzem hatten seine Bilder in Paris<br />

eine Sensation ausgelöst. Man feierte ihn als ein Geschenk<br />

des H<strong>im</strong>mels, als ein Jahrhundertgenie. Doch dann,<br />

unbemerkt von seiner Umwelt, erlosch der Vulkan seiner<br />

Kreativität. Stumpfheit überfiel ihn und Leere.<br />

Er war gescheitert. Ganz plötzlich. Die unmittelbare Ursache<br />

des Scheiterns war das Bild eines Engels. Nicht ein Bild<br />

<strong>im</strong> gegenständlichen Sinne, sondern ein Bild, das aufgestiegen<br />

war aus den Tiefen seines Leibes. In all seiner<br />

unschuldigen, unwiderstehlichen Schönheit und in all seiner<br />

erschreckenden, rätselhaft drohenden Unhe<strong>im</strong>lichkeit hatte<br />

sich das Bild auf die Bühne seines Bewußtseins gedrängt.<br />

Und es wollte nicht wieder weichen, nicht aus seinem Bewußtsein,<br />

nicht aus seinem Herzen, nicht aus seiner Seele. Ja,<br />

es wollte nicht einmal verblassen. Das Bild begann, ihn zu<br />

beherrschen. Es trieb ihn vor sich her, wie der Wind einen<br />

Ballon treibt, willenlos in jede Richtung, sanft mitunter und<br />

mit orkanhafter Gewalt ein andermal. Unter Qualen begriff<br />

er: ‘Ich muß ihn malen, diesen schönen, unhe<strong>im</strong>lichen Engel.<br />

Nur so kann ich ihn mir gefügig machen, nur so aus dem<br />

Beherrschten zum Beherrscher werden. Ich muß ihn in die<br />

Strukturen meiner Maltechnik zwingen!’ Durch sein Schaffen<br />

hindurchleuchtend, soll der Engel dann, gebändigt und neu<br />

geformt, als sein Meisterwerk die Welt bewegen: ein machtvoller<br />

Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Er muß<br />

diesen Engel zu einem Teil seines Könnens machen!<br />

Doch jedesmal, wenn er sich in der richtigen St<strong>im</strong>mung<br />

wähnte, wenn er sich eingeschlossen hatte in seinem großen<br />

Atelier, wenn alles in ihm danach schrie, das Meisterwerk in<br />

Angriff zu nehmen, verblaßte das Bild, und sein Genius ver-


20 JÄGER<br />

ließ ihn. Er wußte einfach nicht, wie er beginnen sollte, wie er<br />

das Bild, das so sehr in ihm brannte, auf die Leinwand zaubern<br />

könnte.<br />

Und so überfielen ihn Zweifel: an seinen künstlerischen<br />

Möglichkeiten, seinem schöpferischen Elan, seinem Genie.<br />

Während die Welt ihm zu Füßen lag, ihn vergötterte als strahlende<br />

Lichtfigur am Kunsth<strong>im</strong>mel, war es in ihm dunkel geworden.<br />

Er versank in der Leere seines Unvermögens. Schlafstörungen<br />

setzten ein und Kreislaufbeschwerden. Frustrationen<br />

folgten und Depressionen. Er war ausgebrannt.<br />

Abgrundtief verzweifelt beschloß er, seinem Leben ein Ende<br />

zu bereiten. Doch auch hier versagten seine Kräfte. Er<br />

vermochte es nicht.<br />

In seiner großen Not widmete sich der Maler tagelang ganz<br />

seiner Violine, ein kostbares Instrument, das er vor zwei<br />

Jahren in einem Vorort von Rom hatte erwerben können. So<br />

rettete ihn die Musik vor dem Tod, vor dem Ertrinken <strong>im</strong><br />

kalten Wasser seiner Hoffnungslosigkeit.<br />

Auch heute abend hatte der Maler musiziert, Mozart und<br />

Schubert. Er gehört einem Streichquartett an, das sich an<br />

jedem Mittwochabend in der Nähe des <strong>Park</strong>s der Kammermusik<br />

erfreut. Kurz nachdem er vor drei Monaten in diese<br />

Stadt gezogen war, hatte er eine Einladung erhalten, in einem<br />

neuen Quartett mitzuwirken. Die anderen drei sind Berufsmusiker<br />

– Mitglieder des Städtischen Orchesters. Er ist der<br />

einzige Laie. So hatten ihn die drei gebeten, vorzuspielen.<br />

Wenige Takte genügten. Die drei waren begeistert. Und schon<br />

war er der Erste Geiger.<br />

Bisher war er <strong>im</strong>mer mit seinem Wagen zum Musikabend<br />

gefahren. Heute hatte er sich entschlossen, zu Fuß zu gehen –<br />

in der Hoffnung, daß ihn ein Spaziergang ablenken möge von<br />

seinen Sorgen und Problemen. Bis zu seiner großen weißen<br />

Villa ist es nur eine knappe halbe Stunde zu Fuß.<br />

Sein He<strong>im</strong>weg führt am <strong>Park</strong> vorbei. In diesem Umstand,<br />

diesem Zufall, lauert sein Schicksal.


Wie ein Planet einen stürzenden Kometen, so hatte der dunkle<br />

<strong>Park</strong> den Maler angezogen, mit unerbittlicher Gewalt. In<br />

dem Maße, in dem er sich den finsteren Büschen und Bäumen<br />

näherte, verstärkte sich die Anziehungskraft. Unaufhaltsam<br />

erfaßte sie jedes Gewebe seines Körpers. Er spürte, daß ihn<br />

etwas unwiderstehlich in seinen Bann zwang. Ein<br />

merkwürdiges Ziehen und Zittern durchzog die Eingeweide.<br />

Die Ausstrahlung des nächtlichen <strong>Park</strong>s drängelte Niedergeschlagenheit<br />

beiseite und zwang den Maler, ganz gegen<br />

seinen Willen, <strong>im</strong>mer weiter in das finstere Gewirr von Blättern<br />

und Ästen, <strong>im</strong>mer weiter in gehe<strong>im</strong>nisvolles Dunkel. Bebende<br />

Sinne verwoben den Nachhall des Musikerlebnisses<br />

mit den merkwürdigen Geräuschen des finsteren <strong>Park</strong>s, mit<br />

fremden Gerüchen und Bildern. Eine neue, eine faszinierende<br />

Erlebnisqualität! Dieses wispernde Flüstern der Blätter.<br />

Diese verwehenden Lautfetzen. Diese umhergeisternden Silhouetten<br />

und huschenden Schatten. Und über all dem dieses<br />

schwere, betörende Parfüm blühender Nachtgewächse!<br />

Ein Sinnesorkan wirbelte sein Innerstes durcheinander,<br />

jagte Kribbelschauer bis in Teerschwarz-Verborgenstes. Aus<br />

der Tiefe dunkler Höhlen krochen an<strong>im</strong>alische Gelüste hervor.<br />

Laue Abendluft umschmeichelte die Haut wie Seide. Angestachelte<br />

Neugier, pulsierende Erwartung – und auch <strong>im</strong>mer<br />

wieder Angst, bis tief in seine Eingeweide.<br />

Jäger, die töten<br />

Jäger, die töten 21<br />

Der H<strong>im</strong>mel erwacht. Wird grau, dann silbern. Verbannt<br />

Finsternis. Gebiert rotgoldenes Licht und gießt es über den<br />

<strong>Park</strong>. Ein neuer Tag beginnt.<br />

Eine andere Welt! Andere Gerüche, andere Geräusche, andere<br />

Menschen. Selbst die Bänke sehen anders aus. Sonnenstrahlen<br />

durchfluten Büsche und Bäume, überfluten Wiese<br />

und Wege, verwöhnen alles überschwenglich mit Licht, spen-


22 JÄGER<br />

den Wärme und Wohlbehagen. Blumen, Büsche und Bäume<br />

saugen und pumpen Säfte. Blätter und Knospen bauen und<br />

formen neues Leben. Fröhlich prahlen Frühlingsblumen mit<br />

ihren bunten Farben.<br />

Die nächtlichen Darsteller, die Ursachen und Umstände ihres<br />

Treibens, wo sind sie? Es ist, als habe ein Bühnenmeister<br />

die Kulissen der Nacht, alle Gegenstände und Emotionen –<br />

den ganzen gesammelten Spuk – in den Bühnenh<strong>im</strong>mel hochgezogen.<br />

Der <strong>Park</strong> ist groß. So groß, daß die Hast und Hetze der nahen<br />

Großstadt mit ihrem Summen, Brummen, Krachen und<br />

Quietschen, ihrem Qualm, Staub und Gestank nur seine<br />

Peripherie zu erreichen vermag, nicht aber sein Kernareal –<br />

und schon gar nicht die Wildnis und den See. Im <strong>Park</strong> kann<br />

man der Natur ganz nah sein, die Schöpfung tief in sich<br />

hineinwirken lassen und mit offenen Sinnen ihrer Eigenarten<br />

gewahr werden. Hier kann man ungestört nachdenken über<br />

sich und die Welt. Wie nirgendwo sonst kann man sich <strong>im</strong><br />

<strong>Park</strong> seinen Träumen und Vorstellungen hingeben und nach<br />

dem Wesen und Sinn allen Seins suchen.<br />

Dort, hinter den großen Kiefern, wo der Fluß in den See<br />

einmündet, pulsiert buntes Leben. Forellen, Flußbarsche,<br />

Äschen und Aale lauern auf Beute. Zwischen Schilfstengeln<br />

steht, unbeweglich wie ein Denkmal, ein hungriger Hecht in<br />

seinem Jagdrevier. Vögel picken nach Nahrung, Frösche und<br />

Unken machen Jagd auf Insekten und Würmer, und werden<br />

gejagt von Reihern und Ratten. Ungezählte Wirbellose<br />

fressen, flüchten, flattern, wühlen, schlängeln und kriechen.<br />

Im freien Wasser, auf dem Boden und an Pflanzen krabbeln,<br />

hüpfen, treiben, bohren und haften Milliarden kleiner und<br />

kleinster Lebewesen.<br />

In diesem unentrinnbaren Netz von Jägern und Gejagten<br />

darf natürlich auch der Mensch nicht fehlen. Im Schatten<br />

großer Erlen, auf einem Klappstuhl nah dem Ufer, hockt ein


Jäger, die töten 23<br />

Mann. Bis zur Brust steckt er in einer dunkelgrünen Anglerhose,<br />

die in kräftigen Stiefeln endet. Breite Hosenträger überkreuzen<br />

einen braunen Pullover, und eine große Sonnenbrille<br />

schützt die Augen vor der Mittagssonne. Vor den Füßen steht<br />

ein geöffneter Metallkoffer mit allem, was man so zum Angeln<br />

braucht – Würmer, künstliche Fliegen, Blinker, Haken,<br />

Schnüre … Links neben dem Klappstuhl steht eine Thermosflasche<br />

mit heißem Kaffee, und unter ausgebreiteter Regenjacke<br />

wartet ein Picknickkorb darauf, daß dem Angler der<br />

Magen knurrt.<br />

Unruhige hellgraue Augen huschen hin und her unter dem<br />

weit über die Stirn hinausragenden Schirm einer grünen<br />

Sportmütze. Unablässig wandern sie von einem rot-weißen<br />

Schw<strong>im</strong>mer zum nächsten. Unter jedem Schw<strong>im</strong>mer treibt<br />

und tanzt in verschiedenen Tiefen des einmündenden Flußwassers<br />

eine Köstlichkeit: auf Haken aufgespießte, sich windende<br />

Regenwürmer und Kugeln aus Fruchtfleisch und Mehl.<br />

Die Jäger <strong>im</strong> Wasser und der Jäger über dem Wasser suchen<br />

Beute – die <strong>im</strong> Wasser aus Hunger, der über dem Wasser zum<br />

Zeitvertreib.<br />

“Schon was gefangen?” fragt der vorbeikommende Physiker<br />

den Ministerialrat.<br />

“Nein. Nichts los.”<br />

Die beiden hatten sich bei einem Konzert der Feuerwehrkapelle<br />

auf dem Spielplatz, in der Nähe vom Waldschloß, kennengelernt,<br />

und sie hatten sich sogleich in ein Gespräch<br />

vertieft über etwas, das sie beide interessiert: den <strong>Park</strong>.<br />

“Es ist nichts los”, sagt der MinRat, “hier nicht und auch da<br />

oben nicht, <strong>im</strong> nördlichen Teil meines Reviers. Weiß der Teufel,<br />

die Fische haben keinen Schwung mehr, keine Lust mehr<br />

zum Beißen.” Resignierend n<strong>im</strong>mt er die Sportmütze vom<br />

Kopf und fährt sich mit der anderen Hand langsam über die<br />

Stirn und den angrenzenden nackten Teil des Kopfes, als<br />

wolle er dort längst entschwundene Locken richten. Durch die<br />

dünne Haut der Schläfen sch<strong>im</strong>mern bläuliche Adern, und <strong>im</strong>


24 JÄGER<br />

langen Hals hüpft ein kantig vorspringender Adamsapfel.<br />

“Vielleicht haben die Fische dazugelernt”, lächelt der Physiker.<br />

“Wie meinen?”<br />

Mit dem Zeigefinger drückt der Physiker von unten gegen<br />

den Nasenbügel seiner Brille und schiebt das einfache Metallgestell,<br />

dessen Vorderteil kleine ovale Gläser umfaßt,<br />

exakt an seinen Platz. Schlank ist er, eher hager, mittelgroß<br />

und einfach gekleidet. Äußerliches gilt ihm wenig. Auch sonst<br />

treibt er keinen großen Aufwand, was seine Person betrifft.<br />

Seine gewölbte Stirn akzentuiert einen völlig kahlen, eindrucksvoll<br />

geformten Schädel. “Wer läßt sich schon gern umbringen?<br />

Fische haben ein gutes Gedächtnis.”<br />

“Ich bringe die Fische nicht um. Sobald ich einen Fisch geangelt<br />

habe, betrachte ich ihn, entferne den Haken, und werfe<br />

ihn zurück ins Wasser.”<br />

“Das werden sich die Fische merken, und sie werden sich<br />

hüten, an dieser Stelle des Sees einen ähnlichen Köder noch<br />

einmal anzurühren.”<br />

“Das glaube ich nicht. Außerdem behandle ich die Fische<br />

ganz vorsichtig, ganz fachmännisch.”<br />

“Wenn ich ein Fisch wäre”, schüttelt der Physiker verständnislos<br />

den Kopf, “würde ich auf eine derartige fachmännische<br />

Behandlung gern verzichten.” Es ist ihm unbegreiflich, daß<br />

jemand mit Substanz <strong>im</strong> Hirn sich so wenig vorzustellen vermag,<br />

was er den Fischen antut. “Ihre Haken sind doch nicht<br />

ohne Grund so konstruiert, daß sie sich fest in den Kiefern, <strong>im</strong><br />

Schlund oder <strong>im</strong> Fleisch der Fische verankern. Ohne Verletzungen<br />

kann das doch nicht abgehen. Auch das Drillen, das<br />

Herausziehen aus dem Wasser am Haken und das Zappeln an<br />

Land – all das verursacht doch Schock, Beschädigung der<br />

schützenden Schle<strong>im</strong>hülle, Prellungen, Wunden. Daran wird<br />

so mancher Fisch qualvoll zugrundegehen, zumal wenn er<br />

wirklich mehrfach geangelt wird.”<br />

“Haben Sie schon mal geangelt?”


Jäger, die töten 25<br />

“Nein.”<br />

“Sind Sie schon mal auf Entenjagd gegangen?”<br />

“Nein.”<br />

“Dann wissen Sie auch nicht, wovon Sie reden. Und Sie<br />

können nicht nachempfinden, was das für unsereins bedeutet.<br />

Ich würde Ihnen gern mal mein Revier zeigen, Ihnen gern mal<br />

erklären, wie man das macht. Da gibt’s eine Menge zu lernen!”<br />

“Enten töten Sie auch?”<br />

Der MinRat überhört den bohrenden Unterton, ja den Inhalt<br />

der Frage. “Erst wenn man das selbst erlebt hat, kann<br />

man sich ein Urteil bilden.” Im Grunde ist er froh, daß er sich<br />

unterhalten kann. Das lenkt ab vom Frust der Erfolglosigkeit.<br />

“Angeln und Jagen, das ist eine Mischung aus Sport und<br />

Freude am Erfolg. Und das ist auch <strong>im</strong>mer wieder Angst, daß<br />

<strong>im</strong> letzten Augenblick noch etwas danebengehen könnte.<br />

Fische und Enten sind nicht dumm. Die muß man mit Phantasie<br />

und Einfühlungsvermögen überlisten.”<br />

“Ich …”, der Physiker hat sich verschluckt. Er hustet.<br />

“Wie meinen?”<br />

“Ich halte nichts vom Angeln und Jagen als Zeitvertreib.”<br />

“Jagen ist ein Erlebnis!” Die hellgrauen Augen leuchten auf.<br />

Versonnen blickt der MinRat vor sich hin. “Im letzten Jahr”,<br />

erinnert er sich und befeuchtet mit breiter Zunge schmale<br />

Lippen, “war ich zur Jagd eingeladen bei einem Gutsbesitzer,<br />

einem Alten Herrn unserer studentischen Verbindung. Großartig<br />

war das! Schon be<strong>im</strong> Eröffnungsbankett <strong>im</strong> großen Saal<br />

des Gutshauses tanzte mir mein Jägerherz. Die hohen Wände<br />

waren über und über mit Hirschgeweihen und Wildschweinköpfen<br />

behängt: Jagdtrophäen von Generationen! An der<br />

Stirnseite des Saals prangten Geweihe von Sechzehnendern<br />

mit vollem, ausgestopftem Kopf daran und langem, kräftigem<br />

Hals.”<br />

Langsam schüttelt der Physiker den Kopf.<br />

“Wie aus dem Wald ragten diese herrlichen Tiere aus den sie<br />

tragenden mächtigen Eichenstammscheiben. Und sie blickten


26 JÄGER<br />

mit großen schwarzen Augen stumm und staunend in den Saal.”<br />

‘Knochensammler’, denkt der Physiker, ‘Trophäensüchtige.’<br />

“Plötzlich erklangen vom Hof her die Jagdhörner. Ihr vibrierender<br />

Klang fuhr mir durch Mark und Bein!” In den hellen<br />

Augen flammt die Leuchtkraft des Erlebten, funkeln Faszination<br />

und lebendiger Nachhall der damaligen Ergriffenheit.<br />

Der MinRat wendet den Kopf. Im Gesicht des anderen sucht<br />

er nach der Wirkung seiner Worte.<br />

Aber der Physiker zuckt nur mit den Schultern. Und er<br />

denkt: ‘Was für ein Theater um erbarmungslos erschossene,<br />

hilflose Tiere!’<br />

Da fährt der MinRat fort: “Dann erhoben wir uns, die<br />

ganze bunte Jagdgesellschaft, und führten die mit köstlichem<br />

Wein gefüllten Silberhumpen an die Lippen zum Begrüßungstrunk.”<br />

Wieder wendet er sich dem anderen zu. Der<br />

aber blickt unbeeindruckt geradeaus. “Am nächsten Morgen<br />

trafen wir uns in aller Herrgottsfrühe am Waldrand. Von<br />

dort ging’s, der aufgehenden Sonne entgegen, durch langsam<br />

sich auflösende Frühnebel auf die Jagd. Superb, sage ich<br />

Ihnen, absolut superb!” Der MinRat blickt vor sich hin.<br />

Dann sagt er langsam und best<strong>im</strong>mt: “Ich jage gern. Das<br />

bringt Abwechslung in mein Leben, Spannung, Aufregung,<br />

Angst, …”<br />

“Wovor haben Sie denn da Angst?”<br />

“Ich sagte es schon, man hat <strong>im</strong>mer auch Angst, daß etwas<br />

schiefgehen könnte. Daß einem <strong>im</strong> letzten Augenblick das<br />

Wild davonläuft, der Fisch vom Haken rutscht. Daß die Enten<br />

nach mühseligem Anpirschen plötzlich auffliegen, zu<br />

weit entfernt, um mit einiger Sicherheit treffen zu können.<br />

Bitte versuchen Sie mal, sich das vorzustellen. Ich frühstücke<br />

um fünf Uhr morgens, ziehe mir die Jagdkleidung<br />

an, nehme mein Gewehr und die Munition aus dem Schrank,<br />

fahre an den See, pirsche durch Büsche, Binsen und aufsteigende<br />

Morgennebel, <strong>im</strong>mer weiter, tief in den Schilfgürtel<br />

hinein. Und dann – ganz plötzlich – höre ich die En-


Jäger, die töten 27<br />

ten! Sehe auch mal was von ihnen. Für kurze Augenblicke<br />

nur. Und dann geht’s wieder weiter. Dichter ran. Immer mit<br />

der allergrößten Vorsicht, damit ich ja kein Geräusch<br />

verursache. Dann stehe ich da. Warte. Und dann geht’s<br />

wieder weiter. Noch näher ran an die Jagdbeute. Durch<br />

flaches Wasser, durch hohes Schilf, über bucklige<br />

Binsenwiesen. Und dann, endlich, bin ich in Schußposition.<br />

Versteckt <strong>im</strong> mannshohen Schilf. Mit entsichertem Gewehr.<br />

Da zuckt mir mein Abzugfinger! Und dann, auf einmal,<br />

fliegen die weg! Fliegen einfach weg!!”<br />

Der MinRat sieht den Physiker an, erwartet, erhofft Verständnis.<br />

Als der Physiker wiederum nichts sagt, fährt er fort:<br />

“Und die Krone ist, daß diese Viecher schön niedrig über dem<br />

Schilf fliegen und in wildem Hin und Her. Da ist man dann<br />

völlig hilflos. Und wenn man dann so richtig in St<strong>im</strong>mung ist,<br />

kann man auch nicht gleich wieder aufhören. Selbst dann<br />

nicht, wenn man das eigentlich möchte. Ich habe schon erlebt,<br />

daß ich unbedingt nach Hause wollte, weil da die<br />

Übertragung eines wichtigen Fußballspiels <strong>im</strong> Fernsehen<br />

angekündigt war. Aber ich hatte noch nicht schießen können,<br />

und so war es mir einfach nicht möglich, mich loszureißen<br />

vom See. Manchmal war ich schon auf dem Weg nach Hause,<br />

und dann hörte ich plötzlich wieder Enten quaken. Da mußte<br />

ich dann einfach nochmal zurück.”<br />

“Der uralte Jagdtrieb”, murmelt der Physiker, und er denkt:<br />

‘noch <strong>im</strong>mer spukt er zwangvoll in den Köpfen und Eingeweiden<br />

selbst kluger, moderner Menschen.’<br />

“Wie meinen?”<br />

Der Physiker schiebt die Brille hoch. Dann sagt er, ohne auf<br />

die Frage zu antworten: “Wenn Sie die Fische, die Sie angeln,<br />

anschließend wieder ins Wasser werfen, warum angeln Sie<br />

dann überhaupt?”<br />

Der MinRat ist erschüttert über soviel Unverstand. “So<br />

kann nur einer fragen, der noch nie geangelt hat!”<br />

“Was sagen Sie zu meiner Frage?”


28 JÄGER<br />

“Weil mir das Spaß macht!” Er dreht sich dem anderen zu.<br />

“Weil mir das Freude bereitet!”<br />

“Und die Enten, die Sie geschossen haben, die können Sie<br />

doch nicht einfach wieder in die Luft werfen und rufen, ‘nun<br />

fliegt mal schön weiter!’ Tot ist tot. Macht Ihnen denn das Töten<br />

Spaß?”<br />

“Ich bitte Sie! Wir müssen Bestände regulieren, nach den<br />

Regeln der Sportfischerei, des Jagdrechts, des Jagdbrauchs.<br />

Wir müssen das Gleichgewicht in der Natur erhalten. Es gibt<br />

zu viele Enten, zu viel Wild.”<br />

“Warum wird dann geduldet, daß Enten so viel gefüttert<br />

werden? Warum füttern Jäger das Wild in strengen Wintern?<br />

Warum setzen Angler Fische ein in Flüsse, Seen und Teiche?”<br />

Der Physiker schüttelt verärgert den Kopf. “Doch nur, um sie<br />

später wieder ‘rauzusangeln. All dieser ‘Sport’, all dies Sich-<br />

Vergnügen geschieht letztlich <strong>im</strong>mer auf Kosten der Natur.<br />

Eine gesunde Natur kann die Bestände besser regulieren als<br />

der tüchtigste Jäger.”<br />

“Bitte denken Sie mal an den Revierbesitzer. Ihm gehören<br />

die Enten, das Wild. Er kann …”<br />

“Kein Tier gehört einem Menschen.”<br />

“Wem sonst?”<br />

“Ein Tier gehört sich selbst.”<br />

“Sie verkennen völlig…”<br />

“Ich verkenne nicht die positiven Seiten der Jägerei und<br />

nicht, daß die Regulierung von Tierbeständen eine wichtige<br />

Aufgabe sein kann. Aber es gibt auch andere Regulierungsmethoden<br />

als Schießen und Angeln.”<br />

“Töten ist am einfachsten.”<br />

“Töten nur als Hegepflicht oder zur Nahrungsgewinnung.<br />

Nicht als Spaß, nicht als Sport! Wer jagt, bedroht Leben, und<br />

wer Leben bedroht, trägt Verantwortung. Der sollte einen<br />

guten Grund haben für sein Tun – einen besseren, als sich zu<br />

vergnügen.”<br />

Der MinRat will etwas entgegnen, aber ihm fehlen die Wor-


Jäger, die töten 29<br />

te. Er schluckt. Stumm hüpft der Adamsapfel.<br />

“Ich meine schon, daß Sie ehrlicher sein sollten, gegenüber<br />

anderen und sich selbst, daß Sie zugeben sollten, daß Sie zum<br />

Zeitvertreib Angeln und Jagen – und aus Spaß am Töten.”<br />

“Töten ist nicht das Wichtigste bei der Jagd.”<br />

“Nun, dann mache ich Ihnen einen Vorschlag.”<br />

“Ich höre.”<br />

“Montieren Sie ein Zielfernrohr auf Ihr Gewehr.”<br />

“Habe ich bereits.”<br />

“Gut. Dann lassen Sie das Zielfernrohr mit einer Kamera<br />

verbinden und diese mit dem Abzug Ihres Gewehrs. So können<br />

Sie sämtliche Einzelheiten Ihrer Jagderlebnisse genießen<br />

und auch schießen. Allerdings nur mit der Kamera, und daher<br />

nicht töten. Sie können genau überprüfen, ob und wie Sie die<br />

Ente getroffen haben. Das zeigt Ihnen das Fadenkreuz auf<br />

dem Foto exakt an. Sie können das Foto aufbewahren und<br />

sich und anderen <strong>im</strong>mer wieder nachweisen, was für ein guter<br />

Jäger und Schütze Sie sind. Der einzige Unterschied bei all<br />

dem ist: die Ente bleibt am Leben. Sie töten nicht.”<br />

Der MinRat wendet sich hin und her auf dem Klappstuhl.<br />

Das Gespräch hat unangenehme Formen angenommen. Der<br />

kantig vorstehende Adamsapfel hüpft wie eine abgemagerte<br />

Erdkröte, unvermittelt und ruckartig. So hatte er sich die<br />

Unterhaltung mit dem Physiker nicht vorgestellt. Natürlich<br />

wäre die Sache mit der Kamera keine akzeptable Lösung.<br />

“Bitte erlauben Sie mir”, sagt er schließlich, “auf etwas hinzuweisen:<br />

Sie verkennen völlig, daß bei der Jagd auch eine<br />

gewisse Fairneß mit <strong>im</strong> Spiel ist.”<br />

“Fairneß?”<br />

“Die Enten haben gewissermaßen eine fifty-fifty Chance.”<br />

“Das versteh ich nicht.”<br />

“Ja, sogar mehr als fifty-fifty. Sie sollten einmal selbst miterleben,<br />

wie oft die mir entkommen.”<br />

“Eine fifty-fifty Chance würde doch bedeuten, daß auch die<br />

Enten gern auf Jagd gehen, und zwar auf Menschenjagd, und


30 JÄGER<br />

daß auch sie ein Gewehr hätten und damit in vergleichbarer<br />

Weise umgehen könnten wie Sie. Sozusagen ein Duell Mensch<br />

gegen Ente, mit gleichen Waffen. Da gäbe es eine fifty-fifty<br />

Chance.”<br />

Jetzt lacht der MinRat: “Sie haben eine Phantasie!”<br />

“Macht Ihnen das denn wirklich überhaupt nichts aus, so<br />

einfach eine Ente abzuknallen, ein Leben auszulöschen?”<br />

“Daran denkt man nicht be<strong>im</strong> Jagen. Sie verstehen einfach<br />

nicht”, lächelt der MinRat nachsichtig, “was Jagen für den<br />

Menschen bedeutet.”<br />

“Oh doch, das verstehe ich sehr gut. Der Mensch jagt seit<br />

uralten Zeiten. Über Millionen von Jahren hat da ein mächtiger<br />

Trieb tiefe Spuren gegraben. Auch heute noch drängelt<br />

dieser Trieb bei vielen Menschen – und in vielen Formen –<br />

<strong>im</strong>mer wieder an die Oberfläche.”<br />

“Was ist dagegen einzuwenden?”<br />

“Nichts – solange die Folgen des Triebes <strong>im</strong> Einklang stehen<br />

mit unserem heutigen Leben. Früher war Jagen Nahrungserwerb.<br />

Und früher verursachte es nicht wesentlich mehr und<br />

nicht wesentlich andere Veränderungen in der Natur als das<br />

Jagen anderer Raubtiere.”<br />

“Und heute?”<br />

“Heute hat der Mensch neue Grundlagen geschaffen für<br />

seine Ernährung. Heute schädigt und schändet er die Natur<br />

auf so vielfältige und so grausame Weise, und er tötet in<br />

einem so unvorstellbaren Ausmaß, daß jedes zusätzliche Töten<br />

unterbleiben sollte, zumal, wenn es nur dem Vergnügen<br />

dient.”<br />

Der MinRat wischt sich über die feucht gewordene Stirn.<br />

“Mit geradezu stupendem Unverstand”, fährt der Physiker<br />

fort, “halten sich manche Menschen sogar noch zusätzliche<br />

Jäger und lassen sie auf die bereits unter den Vernichtungsschlägen<br />

der Menschheit taumelnde Natur los.”<br />

“Was für Jäger meinen Sie?”<br />

“Millionen Katzen, Millionen Hunde. Bedenkenlos lassen


Jäger, die töten 31<br />

einige Menschen sie jagen und töten. Zum Spaß, ist man<br />

versucht zu sagen, denn – wie die meisten Angler und Jäger –<br />

töten die meisten Katzen und Hunde ja nicht aus Hunger.”<br />

“Ich bitte Sie, so schl<strong>im</strong>m kann das doch nicht sein.”<br />

“Katzen verletzen, verstümmeln und töten jedes Jahr allein<br />

in unserem Lande Millionen und Abermillionen von Kleinsäugern,<br />

Vögeln, Fröschen, Unken, Kröten, Molchen … Alles,<br />

was sich bewegt und nicht zu groß ist, wird triebhaft verfolgt<br />

und, wenn es nicht rechtzeitig fliehen kann, grausam zu Tode<br />

gequält. Ein gewaltiges, stummes Leiden und Sterben! So<br />

manche der verfolgten Tiere sind vom Aussterben bedroht.<br />

Viele haben sich <strong>im</strong> Kampf ums Überleben in vom Menschen<br />

schwer erreichbare Biotope zurückgezogen. Aber oftmals<br />

folgen ihnen die Katzen selbst dahin. Katzen haben einen<br />

starken Jagdtrieb, sie müssen jagen. Aber die weitaus meisten<br />

Katzen spielen heute nicht mehr die ihnen ursprünglich von<br />

der Natur zugewiesene Rolle. Der Mensch hat ihren Rollenplan<br />

verfälscht. Er trägt die Verantwortung für ihr Zeitvertreib-Töten.”<br />

“Viele Menschen sehen in Katzen liebe Gefährten. Sie wären<br />

unglücklich, wenn sie auf Katzen verzichten müßten.”<br />

“Es geht nicht ums Verzichten. Es geht um Verantwortung.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Es geht darum, sich nicht nur der Katzen zu erfreuen,<br />

sondern auch die Konsquenzen der Katzenhaltung zu tragen.<br />

Dazu gehört Schadensvermeidung.”<br />

“Sie meinen allen Ernstes, daß ich nicht mehr jagen sollte?”<br />

“Ich meine, Sie sollten so jagen, daß dabei kein Tier gequält<br />

oder getötet wird.”<br />

“Wie stellen Sie sich das vor?”<br />

“Ich sagte es schon, jagen mit den Augen, mit der Kamera.”<br />

“Da spielen die Jäger nicht mit und nicht die Angler!”<br />

“Warum nicht? Denken Sie mal an die Safaris in Afrika. Was<br />

ist da früher geschossen und gemordet worden. Heute gibt es<br />

Fotosafaries. Das habe ich selber schon dre<strong>im</strong>al mitgemacht.


32 JÄGER<br />

Ein herrliches Erlebnis! Und ganz ohne den Tieren Schaden<br />

zuzufügen, ohne sie zu verletzen, ohne sie zu töten. Eine solche<br />

Safari mit den Augen, mit der Kamera, zählt zu den<br />

schönsten Dingen, die wir Menschen heute noch erleben<br />

können. Auch bei dem grausamen Geschäft des Walfangs hat<br />

sich eine Wende angebahnt. Vor allem in Amerika begegnet<br />

man diesen wundervollen Tieren heute mit Respekt und Zuneigung.<br />

Dort gibt es Safaris zum Beobachten und Photographieren<br />

von Walen. Wenn da einer eine Harpune mitbringen<br />

würde oder ein Gewehr, auf so eine Augenjagd, der könnte<br />

was erleben!”<br />

“Das st<strong>im</strong>mt doch so alles nicht. Japaner und Norweger<br />

jagen auch heute noch Wale. Und mein Vetter jagt seit Jahren<br />

Großwild in Tansania – vor allem Leckerbissen wie Löwen<br />

und Leoparden. Als aktiver und sehr erfolgreicher Geschäftsmann<br />

braucht der das zur Abwechslung und Entspannung.”<br />

“Entspannung?”<br />

“Sein neuester Leopard hängt an der Wand neben seinem<br />

Kamin. Ein großes, wunderschönes Tier! Das zeigt er jedem,<br />

der in sein Haus kommt. Und dann erzählt er von seinen<br />

Jagderlebnissen. Spannend, sage ich Ihnen. Aufregend! So<br />

manch ein Jäger ist ein schlechter Schütze, hat er mir erzählt.<br />

Der trifft die Beute in den Bauch. Das ist gefährlich. Ein angeschossenes<br />

Tier ist unberechenbar. Nächstes Jahr will er<br />

mich mitnehmen.”<br />

“Soviel Lust am Töten ist für mich unfaßbar.”<br />

“Das sehen Sie völlig falsch. Auch heute noch fühlen Großwildjäger<br />

wie Hemingway. Lesen Sie mal dessen große Afrika-<br />

Romane!”<br />

“Ich habe das nie verstehen können.”<br />

“Was?”<br />

“Wie ein großer Schriftsteller so fühlen kann. Wie sich feinsinnige<br />

Kreativität mit grobschlächtiger Lust am Lebenauslöschen<br />

verbinden kann – mit Lust am Stierkampf, Hochseeangeln,<br />

Großwildjagen.”


Trampelpfade<br />

Trampelpfade 33<br />

Im Hüter des <strong>Park</strong>s, dem Gärtner, gärt Ärger. Es geht um<br />

Trampelpfade. Schon mehrfach hatte er seine Mitarbeiter angewiesen,<br />

den Pfad zu bepflanzen, der durch dichtes Gebüsch<br />

von hinten her zu der Bank führt, die auf dem Hügel steht,<br />

der Bank unter der großen uralten Eiche. Nie ist etwas<br />

daraus geworden.<br />

Gestern hatte er <strong>im</strong> Eingangsbereich des Pfades kriechende<br />

Rosen mit kräftigen Dornen gepflanzt. Heute morgen wollte<br />

er sich vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Alle Rosen sind<br />

verschwunden. Spurlos!<br />

“Dieser Kerl!”, ruft der Gärtner. Er forscht nach Verdächtigem.<br />

Und da bemerkt er, daß alle Zweige, die es gewagt<br />

hatten, von den Seiten her in den Pfad hineinzuwachsen,<br />

sorgfältig abgeschnitten und alle abgeschnittenen Teile<br />

ebenso sorgfältig entfernt worden sind. Das ist zuviel! ‘Es geht<br />

nicht anders’, denkt der Gärtner, ‘ich muß ihm einen<br />

Denkzettel verpassen.’<br />

Er läuft den schmalen Kiesweg hinunter. Als er den Bach<br />

überquert, dröhnt die Holzbrücke. Er startet das Gärtnereifahrzeug,<br />

wendet und fährt zurück zur Werkstatt. Dort kramt<br />

er in alten Kisten. Schließlich liegen drei Marderfallen auf<br />

dem Boden. So eine Falle kann einem Bein Wunden<br />

beibringen, die Wochen benötigen, um zu verheilen. Vor<br />

einigen Jahren hatte er diese Fallen einsetzen müssen, als die<br />

Marder überhandnahmen und großen Schaden anrichteten<br />

unter Vögeln und Eichhörnchen.<br />

Er wählt die kleinste Falle aus.<br />

Der Gärtner will warten, bis Kinder und Tagesbesucher mit<br />

Sicherheit den <strong>Park</strong> verlassen haben. Heute abend steht ein<br />

Theaterbesuch auf seinem Programm. Danach wird er tun,<br />

was er nun tun muß.<br />

Er sieht nach seinen Aquarien. Die neuen Fische haben<br />

gelaicht! Jetzt schmunzelt er. Und das geht bei ihm nicht


34 JÄGER<br />

ohne eindrucksvolle Verwerfungen in der von tiefen Falten<br />

und Furchen durchzogenen Landschaft seines Gesichtes.<br />

Hier hat ein ereignisreiches Leben mit einzigartigen Höhen<br />

und Tiefen unauslöschbare Spuren hinterlassen. Die<br />

zerklüftete Gesichtslandschaft hat die Sonne gebräunt, haben<br />

Wind und Wetter gegerbt: ein Gesicht, das man nicht<br />

vergißt. Und was könnte besser dazu passen als die langen,<br />

rotblonden, gewellten Haare und der kräftige Kinnbart?<br />

Vom Theater zurückgekehrt, wickelt der Gärtner die Falle<br />

in Ballentücher, klemmt sie auf den Gepäckträger seines<br />

Fahrrads und holt die große Lampe hervor, die man sich umhängen<br />

kann. Dann radelt er zur Bank auf dem Hügel. An der<br />

Brücke angelangt, lehnt er das Rad ans Geländer, n<strong>im</strong>mt die<br />

Falle vom Gepäckträger und geht damit den schmalen Kiesweg<br />

hinauf. Er wickelt die Falle aus und stellt sie auf den<br />

Boden. Mit dem Fuß drückt er den Spannhebel nach unten,<br />

ergreift mit beiden Händen die Fallenbacken und preßt sie<br />

auseinander bis sie einrasten. Dann sichert er die gespannte<br />

Falle, indem er mit der Fußspitze die beiden Sicherungen,<br />

eine nach der anderen, herumschwenkt. So, diese kitzlige<br />

Phase wäre überstanden. Vorsichtig plaziert er die Falle <strong>im</strong><br />

vorderen Teil des Pfades, dort, wo die Rosen waren.<br />

Sein Gewissen plagt ihn. Aber der Ärger ist stärker: ‘Ich<br />

muß es tun.’ Er n<strong>im</strong>mt einen Zweig vom Boden und dreht<br />

damit die Sicherungen herum. Nun ist die Falle scharf!<br />

Rasch geht er zurück zur Bank, läuft den Kiesweg hinunter<br />

zum Fahrrad und radelt nach Hause.<br />

Er ist todmüde.<br />

Aber aus dem Schlafen wird nichts in dieser Nacht. ‘Ich<br />

hätte das nicht tun sollen!’, denkt der Gärtner, ‘das ist doch<br />

gefährlicher Unfug.’ Er steht auf. Geht ziellos umher. Und<br />

nun entdeckt er auch noch, daß ein für ihn sehr kostbares<br />

Erbstück verloren gegangen ist. Lange sucht er herum. Vergebens.


2 KÖNIGSKINDER<br />

Brückenbau<br />

Brückenbau 35<br />

“Es war kein Mensch.<br />

Es war ein Tier”<br />

Wie das Läuten einer Silberglocke, so schwingt Lachen<br />

durch den abendlichen <strong>Park</strong>. Das offene, befreiende Lachen<br />

einer jungen Frau. Peter hat Inge ein lustiges Kompl<strong>im</strong>ent<br />

gemacht, über das sie sich so recht von Herzen freuen kann.<br />

Die beiden sitzen auf einer von Büschen umstandenen Bank.<br />

Die steht auf einem Hügel, unter einer großen uralten Eiche.<br />

Inges Augen strahlen. “Ach, du!”, ruft sie und versetzt Peter<br />

einen Schubs mit der Schulter. Ein kecker Kopfwurf, und ihr<br />

blonder Zopf fliegt von der Schulter in den Nacken. Vor sich<br />

hin lächelnd entn<strong>im</strong>mt sie ihrer Tragetasche ein geblümtes<br />

Taschentuch und betupft damit die Augen.<br />

Dann aber bedrückt sie wieder Unsicherheit. Peters Art, die<br />

Welt zu sehen, ist neu für sie, fremd und beunruhigend. Die<br />

beiden kommen aus sehr verschiedenen Traditionen.<br />

Inge ist in einer Welt aufgewachsen, in der seit Generationen<br />

das Christentum <strong>im</strong> Mittelpunkt steht. Ihre Welt, das ist die<br />

Welt ihres Vaters, des Pastors – eine Welt, die <strong>im</strong> Glauben ruht,<br />

die voller Harmonie ist und warmer Geborgenheit. Im Wirkungsfeld<br />

ihres Vaters und unter seinem Einfluß ist sie zu<br />

einer tiefgläubigen Christin geworden. Wie ein Wall hat das<br />

bedingungslose Vertrauen in ihren Gott sie abgeschirmt und<br />

beschützt vor kritischen Existenzfragen. Jetzt trifft sie die<br />

Kälte unvorbereitet, die ihr aus den Gesprächen mit Peter<br />

entgegenweht.<br />

Vor drei Wochen ist sie Peter zum ersten Mal begegnet,<br />

während einer Sportveranstaltung der Universität. Aus dieser<br />

Begegnung ist eine Freundschaft geworden, und die ist aufgeblüht<br />

zu einer ihr ans Herz gehenden Beziehung, der ersten


36 KÖNIGSKINDER<br />

Beziehung zu einem jungen Mann in ihrem Leben.<br />

Mit Bestürzung erlebt Inge, daß ihr Freund vieles völlig<br />

anders sieht als sie. Peter verunsichert sie. Er stellt fast alles<br />

in Frage, was ihre Welt ausmacht – und das mit oft schwer zu<br />

widerlegenden Argumenten.<br />

Peter ist in einer Großstadt aufgewachsen, als Sohn eines<br />

Schrankenwärters. Leben, das war für ihn von Anfang an<br />

Kampf und oft auch Hunger. Es gab Prügeleien mit Altersgenossen<br />

und rücksichtslos ausgetragene Revierkämpfe mit<br />

Jugendgruppen aus der Umgebung. An so manchem Monatsende<br />

wußte seine Mutter nicht, wie sie ihn satt kriegen sollte.<br />

Vater und Mutter sind früh gestorben, nahezu gleichzeitig.<br />

Mit Zähigkeit und Fleiß hat er sich ein eigenes Leben<br />

aufgebaut. Er ist ein kritischer Realist geworden und ein<br />

kompromißloser Sucher nach der Wahrheit. Unter harter<br />

Schale verbirgt sich aber ein weicher Kern. Mitunter fühlt er<br />

sich sehr einsam in seinem vom Drang nach Erkenntnis beherrschten<br />

Dasein. Und dann kann er, ohne jeden ersichtlichen<br />

Grund, ganz plötzlich in tiefer Wehmut versinken. Als<br />

Wissenschaftler arbeitet Peter mit Eifer und wachsendem Erfolg<br />

<strong>im</strong> Botanischen Institut. Wie ein leuchtender Sonnenstrahl<br />

ist Inge in seine graue Welt gekommen.<br />

Zum erstenmal in ihrem Leben hat Inge und Peter ein<br />

wundersamer Zauber erfaßt. Mit staunenden Sinnen erahnen<br />

die beiden die zaghaft in ihnen aufblühende große Liebe.<br />

Große Liebe baut auf Einander-Kennen. Große Liebe braucht<br />

Vertrauen und Verständnis. So suchen sie einen Weg zueinander.<br />

Peter hebt den Kopf. Sein Blick wandert in den die Nacht<br />

erwartenden <strong>Park</strong>. Langsam gleitet er über die weite Wiese,<br />

die sich vor ihnen ausbreitet und deren Gräser jetzt das noch<br />

matte, fahle Licht des Vollmondes streichelt und verfremdet.<br />

Am fernen Ende der Wiese erkennt er die alte riesige Rotbuche.<br />

Während er gestern abend mit Inge auf dieser Bank ge-


Brückenbau 37<br />

sessen hatte, war ihm die Rotbuche ein Ruhepunkt gewesen<br />

für seine suchenden Gedanken.<br />

Peter legt den Arm um seine Freundin, versucht, sie an sich<br />

zu ziehen. Aber Inge entwindet sich ihm mit langsamen,<br />

kaum wahrnehmbaren Bewegungen. Sie muß erst diese Erörterung<br />

weiterführen. Das ist sehr wichtig für sie. Die Art, in<br />

der Peter von Religion spricht, und von Gott, ist fremd für sie,<br />

ja verletzend.<br />

Zögernd n<strong>im</strong>mt sie das Gespräch wieder auf: “Was du da<br />

vorhin gesagt hast, … das überzeugt mich nicht. So einfach<br />

können wir uns das meiner Ansicht nach nicht machen.”<br />

Behutsam rückt sie etwas ab von Peter. Streicht mit beiden<br />

Händen ihre Haare glatt und zieht die schwarze Samtbandschleife<br />

fest, die ihre langen blonden Strähnen zum Zopf<br />

bändigt. “Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne Religion.<br />

Sie bietet den Menschen Zuversicht, Halt und Kraft.”<br />

Inge überlegt einen Augenblick. Dann sagt sie: “Und für mich<br />

ist das Christentum, eine uns durch Jesus Christus zuteil<br />

gewordene göttliche Offenbarung, die höchste Form der Religion.”<br />

“Wie meinst du das, die höchste Form der Religion? Und wie<br />

willst du das begründen?” Peter stopft sich eine Pfeife.<br />

“Ich hatte heute ein langes Gespräch mit meinem Vater. Er<br />

hat sich eingehend mit der Verbreitung der Religionen befaßt.<br />

Weil mich das alles sehr interessiert, hat er mir Einzelheiten<br />

erläutert. Dabei hat er mir auch Zahlen genannt. Es gibt<br />

sechs Religionen auf der Welt …”<br />

“Viel mehr.”<br />

“Nun gut, sechs große.”<br />

“Du meinst zur Zeit.”<br />

“Ja. Vor kurzem hat man deren Mitgliederzahlen geschätzt.”<br />

Inge fixiert einen großen hellen Stern. “Mal seh’n, ob ich das<br />

jetzt richtig zusammen bekomme.” Gewissenhaft zählt sie auf,<br />

unter Zuhilfenahme ihrer wunderschönen schlanken Finger:<br />

“33 Prozent sind Christen, 15 Prozent Mohammedaner, 13


38 KÖNIGSKINDER<br />

Prozent Hindus, 11 Prozent Konfuzianer … Hmm. Wie geht’s<br />

weiter? Ach ja, 7 Prozent sind Buddhisten, 4 Prozent machen<br />

Stammesreligionen aus und An<strong>im</strong>isten. Rund 17 Prozent gehören<br />

kleineren Religionsgmeinschaften an oder haben keine<br />

Religion.”<br />

“Bravo, macht genau 100 Prozent.”<br />

“Ach, du!” Inge knufft ihren Freund mit dem Ellenbogen.<br />

“Mir ist es wirklich ernst! Eineinhalb Milliarden Menschen<br />

sind getaufte Christen. Darum verkörpert für mich das Christentum<br />

die höchste Form der Religion.”<br />

Peter schüttelt den Kopf. “Das Christentum macht<br />

verhängnisvolle Fehler.”<br />

“Fehler? Was für Fehler?”<br />

“Die Mißdeutung der Rolle, die die Natur dem Menschen zuweist.<br />

Die Förderung von Verhaltensweisen, die dem Drehbuch<br />

der Schöpfung zuwiderlaufen. Die Blockade einer Lösung<br />

so entstehender Probleme durch doktrinäres Festklammern am<br />

einmal eingeschlagenen Weg.”<br />

“Peter!”<br />

“Im Verlaufe der Zeit haben Kirchenobere auf dem Boden<br />

der Lehren Christi ein egoistisch-patriarchalisches Machtgefüge<br />

errichtet, diplomatisch diskret nach außen, aber anmassend<br />

aggressiv <strong>im</strong> Kern. Die Strategie ihrer Machtgier<br />

basiert auf fehlgeleiteten Ängsten der Gläubigen, perfektionierter<br />

Menschenbeherrschung und einem autoritären Führungsstil,<br />

der sich jeder demokratischen Kontrolle hartnäckig<br />

widersetzt. Kirchenobere haben das Vermächtnis Christi entweiht.<br />

Sie haben aus den Wegweisern Christi eine Dokumentation<br />

menschlicher Irrwege gemacht.”<br />

“Peter! Du tust mir sehr weh, wenn du so sprichst.”<br />

“Inge!” Er legt seine Hand auf ihren Arm. “Ich will dir nicht<br />

weh tun. Bitte, laß uns von etwas anderem reden. Sieh nur,<br />

der große Stern dort. Sieh nur, wie schön der Nachth<strong>im</strong>mel<br />

ist! Komm, laß uns …” Er versucht abermals, sie in den Arm<br />

zu nehmen.


Brückenbau 39<br />

“Nein, Peter! Nein! Bitte!! … Ich kann nicht. Jetzt nicht. Du<br />

und ich, wir haben sehr verschiedene Lebenserfahrungen. Wir<br />

haben sehr große Schwierigkeiten damit,<br />

zueinanderzufinden. Wir stehen an ganz verschiedenen<br />

Ufern. Wir sind Königskinder.”<br />

“Ja”, sagt Peter. “Ja, das ist wahr.”<br />

“Wir müssen gemeinsam versuchen, eine Brücke zu bauen<br />

… eine Brücke, die uns beide trägt, die es uns ermöglicht, über<br />

tiefes Wasser zueinanderzugelangen. Dabei mußt auch du<br />

helfen. So helfen, daß nichts zerschlagen wird, daß eine Konstruktion<br />

entsteht, die uns beide zu tragen vermag – mit all<br />

unseren Verschiedenheiten.”<br />

“Aber wie können wir das tun, ohne unsere Verschiedenheiten<br />

zu kennen?”<br />

Inge nickt. “Ich will mich sehr bemühen, dir zuzuhören. Bitte<br />

sag mir offen, was du denkst, was du fühlst, wie du die Welt<br />

siehst.”<br />

Langsam zieht Peter seine Arme zurück. Dann greift er in<br />

die Jackentasche, holt sein Feuerzeug hervor und entzündet<br />

paffend den Tabak in seiner Pfeife. “Also, was ist eine Religion?<br />

Sie ist der Glaube an eine transzendente Macht, die das<br />

Weltgeschehen lenkt, an die Existenz übersinnlicher Kräfte,<br />

die in besonderem Maße auf den Menschen ausgerichtet sind.”<br />

Peter saugt an seiner Pfeife. Aus zugespitzten, von kurzgeschnittenem<br />

Backenbart eingerahmten Lippen entläßt er<br />

blau-graue Rauchwolken. “Eine Religion verleiht der menschlichen<br />

Existenz einen Sinn, eine Berechtigung, und sie<br />

vermittelt dem Gläubigen einen Seinsgrund. Auf dieser Basis<br />

entwickelt der religiöse Mensch Verhaltensregeln, Tabus und<br />

Rituale. Er betet und opfert. Er formuliert Antworten auf die<br />

großen Fragen der Menschheit. Er belehrt sich und andere<br />

über Pflichten, Geheiligtes und Verbotenes.” Peter pafft. “All<br />

dies, einmal verkündet, darf dann nicht mehr in Frage gestellt<br />

werden. Ja, man darf nicht einmal mehr kritisch darüber diskutieren.”<br />

Er schmunzelt. “Zuallererst müssen wir versuchen,


40 KÖNIGSKINDER<br />

uns von derartigen Tabus zu befreien. Wenigstens für die<br />

Dauer dieses Gespräches.” Er sucht Inges Augen. Die hat den<br />

Blick auf ihre <strong>im</strong> Schoß gefalteten Hände gerichtet. Nachdenklich<br />

nickt sie.<br />

Wieder läßt Peter Rauch entweichen, ganz bedächtig, gen<br />

H<strong>im</strong>mel. Dann spricht er weiter. “Wo liegen die Antriebskräfte?<br />

Sie liegen in uralten, unerfüllbaren Sehnsüchten und<br />

Hoffnungen der Menschen. Der Sehnsucht, über den Zaun sehen<br />

zu können, und der Hoffnung, jenseits des Zaunes Trost,<br />

Sinn, Hilfe und Erlösung zu finden. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte<br />

hat es Hunderttausende verschiedener Religionen<br />

gegeben. Innerhalb des Christentums gibt es Hunderte<br />

von Sekten. Nicht selten bekämpfen sie einander. Weltweit<br />

werden in jeder Woche neue Religionen geboren und alte begraben.<br />

Überall kommt nur das heraus, was Menschen denken<br />

und empfinden, wünschen und wollen. Jede Gruppe legt<br />

sich ihren Messias zurecht und ihre Vorstellungen über die<br />

Entstehung der Welt und des Menschen. Religionen sind vergänglich.<br />

Die erste ist mit dem Menschen entstanden, die letzte<br />

wird mit ihm vergehen. Solange sie leben, sind Religionen<br />

ein Teil des Menschen, und <strong>im</strong>mer sind sie das, was er aus<br />

ihnen macht.”<br />

Peter schweigt und streichelt Inges <strong>im</strong>mer noch gefalteten<br />

Hände. Dann sagt er: “Du hast vom Christentum gesprochen.<br />

Die Repräsentanten dieser Religion beanspruchen <strong>im</strong> Namen<br />

Jesu die Absolutheit ihrer Lehren. Das ist eine Anmaßung.<br />

Jesus kann uns auch heute noch, nach fast zweitausend Jahren,<br />

in so manchem Vorbild sein, vor allem in seiner Bescheidenheit<br />

und Rechtschaffenheit, aber auch in seiner Lebensweisheit<br />

und Lebensfreude. Was ist aus seinen Lehren<br />

geworden? Das heutige Christentum hat mit diesem Mann<br />

nur noch den Namen gemeinsam. Viele Menschen, die sich<br />

Christen nennen, haben die Lehren Jesu – die andere erst<br />

lange nach seinem Tod niedergeschrieben und ausgeschmückt<br />

haben – längst verraten. Das von den Nachfolgern formulierte


christliche Glaubensgut steht <strong>im</strong> Widerspruch zu fast allem,<br />

was die Menschheit an neueren Einsichten in Naturgeschehen<br />

erarbeitet hat. Unser heutiges Weltbild läßt sich eher mit dem<br />

alten Ideengut fernöstlicher Religionen verbinden als mit den<br />

oft sehr merkwürdigen Vorstellungen des wesentlich jüngeren<br />

Christentums. Du hast gesagt, eineinhalb Milliarden Menschen<br />

seien Christen. Sind sie es wirklich? Sie schreiben auf<br />

Fragebögen ‘katholisch’, ‘protestantisch’, ‘evangelisch’. Meist<br />

schreiben sie das, ohne darüber nachzudenken.”<br />

Prägung<br />

Prägung 41<br />

Peter n<strong>im</strong>mt einen tiefen Zug aus der Pfeife. “Viele Menschen<br />

bezeichnen sich als Christen, weil sie entsprechend<br />

geprägt worden sind, lange bevor sie das Rüstzeug hatten, selber<br />

darüber nachzudenken. Die meisten haben sich niemals<br />

selbst entscheiden können. Sie sind Gefangene einer Welt, die<br />

ihnen Geistliche, Eltern und Lehrer übergestülpt haben.”<br />

“Niemand läßt sich so leicht eine Welt überstülpen.”<br />

“So manche religiöse Kaderschmiede hat ein treffsicheres,<br />

wirkungsstarkes System von Prägungsmechanismen entwikkelt.<br />

Eine ausgefeilte Mischung aus Indoktrination, ritualisierten<br />

Verhaltensnormen, Schurigelei, Strafe und Lob: Meisterwerke<br />

der Prägungspädagogik. Kaum einer der dort Erzogenen,<br />

der nicht ein lebenslanges Stigma davonträgt. Kaum<br />

einer, der be<strong>im</strong> Versuch, auszubrechen, ohne Beschädigung<br />

davonkommt. Stark Geprägte werden das ihnen Eingetrichterte<br />

nur schwer wieder los. Sie leben in einem geistigen<br />

Gefängnis. Viele leiden unter Konflikten. Nur wenigen gelingt<br />

es, sich zu befreien. Ich halte das von egoistischen <strong>Inter</strong>essen<br />

ausgehende Prägen junger, hilfloser Menschen, sei es in Religion<br />

oder Politik, für unmoralisch.”<br />

“Was verstehst du unter Prägung?”


42 KÖNIGSKINDER<br />

“Wenn eine Gans die Eihülle bricht und erstmals das Licht<br />

der Welt erblickt, lernt sie ihre Eltern kennen. In diesem Augenblick<br />

erfolgt eine Prägung: Unauslöschbar prägt sich die<br />

frisch geschlüpfte Gans das Bild der Eltern ein und watschelt<br />

von nun an diesen nach.”<br />

“Wer prägt? Das Junge oder das Alte?”<br />

“Die Prägung geht vom Alten aus, aber sie vollzieht sich <strong>im</strong><br />

Jungen.”<br />

“Und wenn man die Eltern vor dem Schlüpfen entfernt?”<br />

“Dann prägen sich die jungen Gänse das Bild des Wesens<br />

ein, das ihnen zuerst begegnet.”<br />

“Und wenn das ein Mensch ist?”<br />

“Dann folgen sie von nun an diesem Menschen. Sie merken<br />

sich sein persönliches Aussehen und versuchen, ihm<br />

überallhin zu folgen. Von dieser Prägung lassen sie sich nicht<br />

abbringen, auch dann nicht, wenn ihnen jetzt ihre eigenen<br />

Eltern vorgestellt werden. Ähnlich verhalten sich einige andere<br />

Tiere.”<br />

“Welche?”<br />

“In seiner Vorlesung bringt Professor Frische <strong>im</strong>mer das<br />

Beispiel von dem jungen Purpurreiher. Der war unmittelbar<br />

nach dem Schlüpfen von einem Zoologen aus dem Nest<br />

genommen worden und auf dessen Person geprägt. Der Reiher<br />

verteidigte später den Zoologen gegen jeden vermeintlichen<br />

Feind. Als er herangewachsen war, machte er seinem Pfleger<br />

einen Heiratsantrag – nach Reiherart – und baute mit<br />

ihm zusammen ein Nest. Der Zoologe kannte die Nestbaugewohnheiten<br />

der Purpurreiher und half, so gut es ging.<br />

Immer wieder verlangte der Reiher von ihm das Zureichen<br />

von Ästen, die er dann mit Eifer und Geschick zum Horst<br />

verflocht. Als der Nestbau vollendet war, forderte der Reiher<br />

den Zoologen auf, sich mit ihm zu paaren. An dieser Stelle der<br />

Vorlesung fügte Frische lakonisch hinzu: Womit das Verhältnis<br />

der beiden Partner die Grenze des Möglichen erreicht<br />

hatte.”


Prägung 43<br />

“Armes Tierchen!”<br />

“Prägung hat eine wichtige biologische Funktion.”<br />

“Auch be<strong>im</strong> Menschen?”<br />

“Alle Menschen sind Kinder ihrer Epoche. Das fördert den<br />

Zusammenhalt, aber es kann auch die Entfaltung des Einzelnen<br />

behindern.”<br />

“Behindern? Wie?”<br />

“Individuen werden in die Vorstellungswelt einer vorurteilsverhafteten<br />

Gesellschaft gedrängt. Sie können zu Gefangenen<br />

des Zeitgeistes werden.”<br />

“Gefangene? Davon kann man sich doch befreien.”<br />

“Der Weg aus dem Labyrinth geprägter Abhängigkeiten, das<br />

Sich-Befreien aus einem psychischen Gefängnis, ist zu allen<br />

Zeiten schwer gewesen.”<br />

“Gibt es auch be<strong>im</strong> Menschen – wie bei dem Reiher – durch<br />

best<strong>im</strong>mte Personen verursachte Prägungen?”<br />

Peter nickt.<br />

“Durch wen?”<br />

“Vor allem durch Lehrer und Priester.”<br />

Inge fühlt plötzlich, daß hier etwas angesprochen wird, das<br />

sie betrifft. Sie wird unsicher. Vergebens sucht sie nach Gegenargumenten.<br />

Ihre Unsicherheit raubt ihr für einen Moment<br />

klares Denken. “Priester? Verzerrst du das nicht?”<br />

“Wer einem Kind das Bild des qualvoll am Kreuz sterbenden<br />

Christus <strong>im</strong>merfort vor Augen führt, wer ihm die Schmerzen<br />

des Gekreuzigten tief ins Herz pflanzt, wer ihm wieder und<br />

wieder die merkwürdig-mittelalterlichen Zeremonien und Beschwörungsformeln<br />

des Gottesdienstes zumutet, der fesselt<br />

die kindliche Seele.”<br />

“Das Kreuz ist das Herz des Evangeliums!”<br />

“Das Wort vom Kreuz ist der Kern der Botschaft des Paulus,<br />

eines Mannes von unnatürlicher, ja abartiger Sittlichkeit.<br />

Eines Mannes von despotisch-autoritär prägender Agressivität.”<br />

“Paulus war ein Mann von überragender geistiger Brillianz.


44 KÖNIGSKINDER<br />

Und er war ein begnadeter Redner!”<br />

“Ja. Und so hat er die Voraussetzungen dafür geschaffen,<br />

daß aus einer kleinen, zunächst wenig beachteten jüdischen<br />

Konfession die Weltreligion der Christen entstehen konnte –<br />

eine Weltreligion, an deren zum Teil recht merkwürdigen Botschaften<br />

wir noch heute leiden.”<br />

“ ‘Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren<br />

werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.’<br />

So steht’s in der Bibel.”<br />

“Das Kreuz war vor Jesus und vor der Bibel. Für mich ist<br />

das Kreuz ein Stück gewachsener Humanität. Für mich repräsentiert<br />

es nicht nur christliche Glaubenselemente<br />

sondern abendländische Tradition, Kultur und Freiheit. So<br />

wird es auch für mich zu einem Symbol, mit dem ich mich<br />

identifizieren kann, mit und unter dem ich leben kann.”<br />

“Ja”, sagt Inge, “so könnte auch ich das sehen. Hier finde ich<br />

ein Stück Weg, auf dem wir uns näher kommen können.”<br />

Nach einer Weile fügt sie hinzu: “Warum lehnst du dich so<br />

sehr auf gegen das, was Christus uns lehrt?”<br />

“Ich lehne mich auf gegen das, was die Ausdeuter und Nachfolger<br />

aus seinen Lehren gemacht haben. Gegen die Art, in<br />

der sie ihre eigenen <strong>Inter</strong>essen und Ziele in den Vordergrund<br />

gerückt haben. Und gegen die Rücksichtslosigkeit ihrer Methoden<br />

des Missionierens und Unterdrückens.”<br />

“Die ersten Europäer, die den Indianern begegneten, haben<br />

in ihnen wilde Tiere gesehen und sie entsprechend behandelt.<br />

Aber der Papst hat sie schon sehr früh zu Menschen erklärt.”<br />

“Ja, und wie lautete seine Begründung? ‘Da sie fähig sind,<br />

den christlichen Glauben anzunehmen!’” Peter schüttelt den<br />

Kopf. Dann sagt er: “Wer <strong>im</strong>merfort die Sünde beschwört, wer<br />

ständig mit Schuld und Strafe droht, wer dem Menschen <strong>im</strong>mer<br />

wieder die Angst vor den Fürchterlichkeiten des Fegefeuers<br />

ins Hirn hämmert, der prägt in verderblichem Ausmaß.<br />

Der baut …”<br />

“Selig ist der Mensch, den Gott strafet; darum weigere dich


Prägung 45<br />

der Züchtigung des Allmächtigen nicht.”<br />

“… der baut dem Menschen eine Hölle schon auf Erden.”<br />

Peter blickt hinüber zur Rotbuche. Nachdenklich sagt er:<br />

“Ich möchte dir etwas aus meiner Kindheit erzählen. Ich hatte<br />

einen Freund. Er war <strong>im</strong>mer sehr korrekt angezogen, <strong>im</strong>mer<br />

wie aus dem Ei gepellt. Er hat nie an unseren Kinderkriegen<br />

teilgenommen. Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Er war<br />

ohne Fehl und Tadel. Für mich war er ein kleiner Gott.<br />

Eines Tages wurden wir auf freiem Feld von einem Gewitter<br />

überrascht. Wir fanden Schutz in einem alten Schweinestall.<br />

Dort hockten wir eng beisammen. Nach einem gewaltigen<br />

Blitz und einem kurz darauf folgenden fürchterlichen Donnerschlag<br />

fing er plötzlich an zu weinen. Und dann brach es<br />

aus ihm heraus: ‘Meine Eltern haben einen Pakt mit Gott’,<br />

schluchzte er. ‘Gott sieht alles. Gott hört alles. Tag und Nacht.<br />

Und er erzählt Mama und Papa alles.’ Wieder schluchzte er.<br />

‘Gott kann sogar meine Gedanken lesen. Nirgends kann ich<br />

mich verstecken. Nichts kann ich vor denen verbergen.’ Er<br />

weinte. ‘Jeden morgen muß ich nach dem Frühstücksgebet<br />

laut fragen: Habe ich meinen Eltern Böses gewünscht? Habe<br />

ich sie belogen? Bin ich zornig gewesen? Habe ich mich <strong>im</strong><br />

Haus und in der Schule unartig betragen? – Und dann sagt<br />

meine Mutter <strong>im</strong>mer: Gott bringt den guten Kindern Segen<br />

und Seligkeit. Bösen Kindern aber bringt er ewige Verdammnis.<br />

– Ich habe Angst’, sagte er und zitterte. ‘Mein ganzes Leben<br />

ist Angst. Angst vor den Eltern. Angst vor Gott. Es gibt<br />

kein Entrinnen.’<br />

Am nächsten Tag war er tot. Es hieß, er sei aus einem<br />

Fenster <strong>im</strong> zehnten Stock gestürzt. Ich bin sicher: er ist gesprungen.”<br />

“Das ist ja eine furchtbare Geschichte!”<br />

“Das ist die Geschichte einer furchtbaren Prägung. Gott als<br />

h<strong>im</strong>mlischer Voyeur. Gott als Belauscher und Zukucker!”<br />

Inge ist erschüttert. Stumm irrt ihr Blick herum <strong>im</strong> dunklen<br />

<strong>Park</strong>. Nach langem Schweigen sagt sie leise: “Wer seine Sünde


46 KÖNIGSKINDER<br />

leugnet, dem wird’s nicht gelingen; wer sie aber bekennt und<br />

läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.”<br />

“Barmherzigkeit nur für Bekenner?”<br />

“Gott kann streng sein. Seine Gedanken sind nicht unsere<br />

Gedanken, und unsere Wege sind nicht seine Wege.”<br />

“Wo bleibt das Lachen? Wo die Freude? Wo der Genuß des<br />

Lebens, der Natur, des Geschlechtlichen? Werden die von den<br />

Kirchenoberen Erzogenen und Geprägten nicht betrogen? Um<br />

die fröhlichen, die guten Seiten des Lebens? Um Seiten, die<br />

sie angesichts der zahlreichen Probleme menschlicher<br />

Existenz heute mehr brauchen als je zuvor?”<br />

“So darfst du nicht fragen! Du weißt zu wenig über unseren<br />

Glauben. Christen werden in reichem Maße beschenkt.”<br />

Nach einigem Überlegen fragt Inge: “Ist Prägung nicht auch<br />

Lernen?”<br />

“Im Grunde ja.” Peter klopft seine Pfeife aus, steckt sie in<br />

einen Lederbeutel und diesen in seine Jackentasche. “Prägung<br />

ist eine intensive, langdauernde Variante des Lernens.<br />

Sie ist besonders mächtig in jungen Individuen. Be<strong>im</strong> Prägen<br />

rollt der Ball des Lerninhalts rasch bergab und bleibt in einer<br />

Mulde liegen. Be<strong>im</strong> Lernen muß der Ball mühsam bergauf<br />

gerollt werden. Sobald das Mühen nachläßt, droht der Ball<br />

zurückzurollen, das Erlernte in Vergessenheit zu versinken.”<br />

“Du wirst doch zugeben, Peter, daß junge Menschen lernen<br />

müssen: Schreiben, Lesen, Rechnen, Sprachen, korrektes Verhalten.<br />

Warum …”<br />

“Und lernen, wie die Natur funktioniert! Das weithin fehlende<br />

Verständnis für ökologische Prozesse dokumentiert ein<br />

kolossales Versagen unseres Bildungssystems!”<br />

“… Warum sollte dabei die Religion ausgenommen werden?<br />

Junge Menschen brauchen Vorbilder und Führung. Sie haben<br />

ein Recht darauf, von den Erfahrungen der Älteren zu profitieren.<br />

Sie brauchen Informationen und Anleitungen. Sie können<br />

sich nicht aus eigener Kraft für eine Religion entscheiden.<br />

Ihnen fehlt noch das Rüstzeug für eine kritische Ausein-


Prägung 47<br />

andersetzung mit verschiedenen Religionsvorstellungen.<br />

Müssen wir ihnen nicht helfen? Müssen wir ihnen nicht den<br />

Weg zeigen? Dürfen wir sie <strong>im</strong> Stich lassen auf einem Gebiet,<br />

auf dem selbst Ältere <strong>im</strong>mer wieder Schwierigkeiten haben,<br />

oftmals straucheln?”<br />

“Belehrung junger Menschen, Erziehung und Beratung, ja.<br />

Das ist ein vornehmes Anliegen der Älteren. Aber dieses Anliegen<br />

muß mit Verantwortung und Zurückhaltung ausgeübt<br />

werden. Es darf nicht zur Durchsetzung eigener <strong>Inter</strong>essen<br />

mißbraucht werden. Stets muß ein Tor offengehalten werden,<br />

durch das die jungen Menschen später einmal hinausgehen<br />

können, wenn sie das nach reiflicher Überlegung wünschen.<br />

Kinder sind <strong>im</strong> besonderen Maße bereit, Älteren zu vertrauen,<br />

ihnen Glauben zu schenken, sie zu kopieren. Mit Hilfe<br />

ihrer blühenden Phantasie rollen die Bälle Aberglauben,<br />

Glauben und Märchen mühelos zu Tal, auf weit offenen Bahnen.<br />

Ein psychologisch geschickter Politiker – oder ein Pastor<br />

– kann seine Lehren wie Samen tief in junge Seelen senken.<br />

Die …”<br />

“Ein Pastor hilft, daß die Seele sich recht entwickle. Er ist<br />

ihr Hüter, ihr Hirte. Er …”<br />

“… die Saat geht auf. Wie Gänse und Purpurreiher sind<br />

stark geprägte Menschen Gefangene ihres Betreuers. Sie<br />

verharren <strong>im</strong> Bannkreis der ihnen eingeredeten oder<br />

aufgezwungenen Vorstellungen. Sie können sich nicht mehr<br />

an der Wahrheitssuche beteiligen. Sie können nicht mehr ans<br />

andere Ufer.”<br />

“Das kann man doch ändern.”<br />

“Prägung kann sehr stark sein. Manchmal so stark, daß sie<br />

nur schwer veränderbar ist, daß sie zu Erstarrungen führt.<br />

Wer sich nicht mehr biegen kann, der bricht.”<br />

“Wie kann Prägung einen Menschen so erstarren lassen?”<br />

“Sehr starke Prägungserlebnisse können dauerhaft die<br />

Stoffwechselvorgänge in den Nervenzellen verändern und so<br />

Denkstrukturen umprogrammieren.”


48 KÖNIGSKINDER<br />

“Lernen setzt Gedächtnis voraus.”<br />

“Ja.”<br />

“Gedächtnis ist ans Gehirn gebunden. Wie also kommt<br />

da …”<br />

“Gedächtnis ist nicht nur ans Gehirn gebunden.”<br />

“Nanu! Was verstehst du unter Gedächtnis?”<br />

“Gedächtnis ist die Spur eines Geschehens – eine Spur, die<br />

gespeichert und wieder abgerufen werden kann. Unser Körper<br />

hat ein Gedächtnis, ein Bakterium, ein Virus.”<br />

“Eine sehr weite Begriffsauslegung!”<br />

“Gedächtnis und Vergessen – also das Verwehen der Spuren –<br />

sind allem Leben eigen.”<br />

“Aber man muß doch unterscheiden zwischen verschiedenen<br />

Gedächtnisleistungen.”<br />

“Ja. Es gibt ein ererbtes Gedächtnis und ein angelerntes.<br />

Ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis. Es gibt ein Gedächtnis<br />

für Gesehenes, Gehörtes, Geschmecktes, Gerochenes,<br />

Gefühltes. Unser Abwehrsystem hat ein Gedächtnis, unser<br />

Magen. Nahezu jede Zelle unseres Körpers kann Informationen<br />

speichern, abrufen und verlieren.”<br />

“Ich meine jetzt mehr das Gedächtnis für Wissen und religiöse<br />

Erfahrungen.”<br />

“Wissen wird dem ‘Schalenbereich’ zugeordnet. Religiöse Erfahrungen<br />

sprechen tiefe Bereiche an – Bereiche, in denen<br />

Prägungen Triumphe feiern. Schwer kontrollierbar kann das<br />

in den Tiefen Gespeicherte das Wollen und Wirken der Menschen<br />

beeinflussen. Es kann eine gehe<strong>im</strong>nisvolle Macht auf<br />

sie ausüben.”<br />

Und nun lassen Peters bittere Kindheit und seine daraus gespeiste<br />

harte Kritikfähigkeit ihn wieder einmal etwas sagen,<br />

das er so nicht hatte sagen wollen: “Kirchenbauten können als<br />

Prägungsinstrumente wirken. Mit ihrer Großartigkeit verkleinern<br />

sie den Menschen und setzen ihn einer besonderen<br />

Umwelt aus: verbrämtem Dämmerlicht, dumpfhallend-verfremdeten<br />

Tönen und seelenlosem Glänzen von Gold und


Prägung 49<br />

Reichtum. Knien, beten, beichten, büßen: <strong>im</strong>mer die gleichen<br />

Sprüche, die gleiche Musik, die gleichen Gesänge, die gleichen<br />

Beschwörungsformeln. Geprägt, gefangen, gefesselt. Erstarrt<br />

in mittelalterlichem Geist.”<br />

Peter erschrickt über seine Worte. Er streichelt Inges Hände.<br />

Noch <strong>im</strong>mer ruhen sie gefaltet in ihrem Schoß. Sie sind<br />

ganz kalt geworden.<br />

Das Gespräch hat wieder eine Wende genommen, die ganz<br />

und gar nicht geeignet ist, den Brückenbau voranzutreiben.<br />

Während Peters letzter Sätze war Inge <strong>im</strong> Begriff, laut aufzubegehren<br />

und ‘Peter!’ zu rufen – wie vorhin. Aber sie fühlt sich<br />

gebunden an ihr Versprechen. Mit großer Anstrengung hält<br />

sie ihre Empörung zurück.<br />

“In meiner Welt”, sagt sie schließlich, “gibt es auch anderes.”<br />

“Was?”<br />

“Glauben und Vertrauen. Ich glaube an Gott den Allmächtigen<br />

und ich vertraue ihm – grenzenlos.” Schweigend<br />

schweift Inges Blick über die dunkle Wiese. “ ‘Gott vergilt dem<br />

Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach<br />

seinem Tun.’ So steht es in der Bibel. Und da steht auch: ‘Gott<br />

tut niemals unrecht, und der Allmächtige beugt das Recht<br />

nicht.’”<br />

Nach einer Weile sagt Inge: “Früher mußte ich öfter mal für<br />

Vater Bücher vom Boden holen, die er für Nachforschungen<br />

über die Frühgeschichte des Christentums benötigte. Der<br />

Boden in unserem alten Haus war mir unhe<strong>im</strong>lich. Da gibt es<br />

kein elektrisches Licht. Da mußte ich mit einer Kerze herumsuchen.<br />

Die Dielen knarrten, das Gebälk ächzte. Manchmal<br />

pfiff der Wind. Da habe ich gezittert vor Angst. Als ich das<br />

nicht mehr aushalten konnte, habe ich gesungen. Etwas von<br />

Gott, und daß ich ihm blind vertraue. Plötzlich war alle Angst<br />

wie weggeblasen. Seitdem habe ich keine Angst mehr, auf den<br />

Boden zu gehen.” Ihr Blick sucht und findet Peters Augen.<br />

“Seitdem weiß ich, wie stark die Kraft des Glaubens ist, und<br />

was es bedeutet, Gott grenzenlos zu vertrauen.”


50 KÖNIGSKINDER<br />

Stumm blicken die beiden in die Nacht. Erst nach einer langen<br />

Pause n<strong>im</strong>mt Inge den Faden des Gesprächs wieder auf:<br />

“Kinder bedürfen der Unterweisung. Möglichst frühzeitig sollte<br />

ihnen das Gedankengut des christlichen Glaubens<br />

nahegebracht werden.”<br />

“Kinder sollten über alle Weltreligionen informiert werden.<br />

Eine sachliche, kritische Unterrichtung in der vergleichenden<br />

Religionskunde, das wäre eine vernünftige Lösung. So kann<br />

später jeder selber wählen.”<br />

“Und wie steht es mit der Politik?”<br />

“Auch da keine Prägung! Auch da sollte verglichen, sachlich<br />

argumentiert und mit Tatsachen überzeugt werden.”<br />

“Die Demokratie ist abhängig von ihren Wählern. Die Bedeutung<br />

einer Partei wird von der Zahl der Wählerst<strong>im</strong>men best<strong>im</strong>mt.<br />

Ist es dabei nicht gleichgültig, ob der Wähler geprägt<br />

oder ungeprägt dieser oder jener Partei seine St<strong>im</strong>me gibt?”<br />

“Was ist für dich Demokratie?”<br />

“Herrschaft des Volkes.”<br />

“Eine Herrschaft des Volkes hat es in der Geschichte der<br />

Menschheit nur selten gegeben. Und wo es sie gab, da errichtete<br />

das Volk meist eine Diktatur, eine Herrschaft der Willkür<br />

und des Schreckens. Volksherrschaft, Volksbegehren, Bürgerwille<br />

– da kommt das Sachliche oft zu kurz.”<br />

“Demokratie fußt auf einer in freier Wahl best<strong>im</strong>mten, dem<br />

Wähler gegenüber verantwortlichen Regierung.”<br />

Peter nickt. “Eine Regierung sollte sich an Sachfragen<br />

orientieren. Sie sollte Augenblickswünschen und <strong>Inter</strong>essenegoismen<br />

mit kritischer Distanz begegnen. Wenn das die<br />

Sachlage erfordert, müssen Politiker den Mut aufbringen,<br />

unpopulär zu handeln und gegen die <strong>Inter</strong>essen einer Gruppe<br />

zu entscheiden. Sie sind dem ganzen Volk verantwortlich.”<br />

“Was also ist mit Prägung in einer Demokratie?”<br />

“Prägung zementiert Meinung. Versteckt Probleme hinter<br />

Schablonen. Reduziert eigenes Denken und lanciert ungeprüfte<br />

Überzeugungen. Geprägte Wähler verfälschen die Idee der


Prägung 51<br />

Demokratie. Sie werden leicht zu Marionetten totalitärer Verführer.”<br />

“Demokratisch gewählte Politiker …”<br />

“Auch die Demokratie hat ihre Schwächen. Aber nur sie<br />

gewährt Möglichkeiten zur Kontrolle des Machtgebrauchs.<br />

Wo die Möglichkeiten nicht genutzt werden, können auch demokratisch<br />

gewählte Politiker das Phänomen der Prägung<br />

mißbrauchen. Die Geschichte beweist es: Ohne Kontrollen<br />

haben Machtsüchtige – Politiker wie Kleriker – indoktriniert,<br />

manipuliert, emotional versklavt, Morde angestiftet und Kriege<br />

entfesselt.”<br />

Inge wiegt den Kopf. Dann nickt sie.<br />

“Machtbesessenheit ist eine verhängnisvolle Eigenschaft, eine<br />

Gefahr für den Fortbestand zivilisierten menschlichen Lebens!<br />

Ich verabscheue die egozentrischen Ungeheuer mit der<br />

Herrschsucht bösartiger Affen. Ich verdamme den psychischen<br />

Terror religiöser Eiferer und Bekehrungsideologen. Ich<br />

hasse das Liebäugeln aggressiver Militärs mit dem gewaltigen<br />

Vernichtungspotential moderner Technik.”<br />

Auf ihren linken Arm gestützt, hatte Inge es sich mit angezogenen<br />

Beinen bequem gemacht auf der Bank. Plötzlich weht<br />

eine merkwürdige Kühle aus dem Dunkel der nahen Büsche<br />

zu ihr herüber, dringt durch die Haut ins Herz. Es fröstelt sie.<br />

Es ist ihr, als habe sich ein Tor geöffnet zu einer kalten,<br />

großen, dunklen Höhle. Schaudernd richtet sie sich auf.<br />

Peter zieht seine Jacke aus und legt sie ihr um die Schultern.<br />

Nach einer Weile sagt er: “Demokratie kann nur funktionieren,<br />

wenn die Mehrzahl der Wähler über die zur Abst<strong>im</strong>mung<br />

anstehenden Probleme ausreichend informiert ist, und<br />

wenn genügend Menschen in der Lage sind, sich ein eigenes<br />

Urteil zu bilden. Sonst verkommen demokratische Rechte und<br />

Pflichten zum Spielball von <strong>Inter</strong>essengruppen, die durch ausgefeilte<br />

Beeinflussungsmethoden, Propaganda und Prägung<br />

die Wähler in ihre Richtung drängen.” Er holt sein Feuerzeug<br />

hervor, läßt dessen Flamme aufleuchten und pafft den Tabak


52 KÖNIGSKINDER<br />

in seiner neugestopften Pfeife in Glut. “Ansonsten hast du<br />

natürlich recht: wo frei gewählt wird, da hängt die politische<br />

Macht von der Anzahl der Wählerst<strong>im</strong>men ab.” Er streichelt<br />

Inges Arm und schmunzelt plötzlich: “Aber es gibt einen<br />

wichtigen Unterschied zwischen Religion und Demokratie.”<br />

“Welchen?”<br />

“In der Demokratie gibt es Erfolgskontrolle, in der Religion<br />

nicht. Was passiert, wenn die von mir gewählte Partei<br />

versagt? Ich wähle eine andere Partei. Ähnlich werden sich andere<br />

Wähler verhalten und so eine Veränderung der Machtverhältnisse<br />

herbeiführen. Was aber passiert, wenn die Religion<br />

versagt?” Wieder schmunzelt er. “Stell dir vor, ich bin tot, will<br />

in den H<strong>im</strong>mel und muß feststellen, daß es keinen gibt!”<br />

“Du!” Inge knufft ihren Freund in die Seite. “Außerdem<br />

kommst du sowieso nicht in den H<strong>im</strong>mel.” Sie lacht. “Du Ketzer!”<br />

“Das wäre schade. Nicht, daß ich auf den H<strong>im</strong>mel scharf bin.<br />

Mir wär die Hölle auch recht. Aber ich möchte bei dir sein.<br />

Und dich kann ich nur <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel wiedersehen. Du bist ja<br />

schon ein Engel hier auf Erden.”<br />

“Findest du?”<br />

“Ja … Ich bewundere alles an dir … die Reinheit deiner<br />

Seele, das Engelhafte deiner Schönheit, deine Art zu sprechen,<br />

dich zu bewegen, deine Figur … einfach alles.”<br />

Inge lächelt.<br />

Da legt Peter seinen Arm um ihre Schulter und zieht sie<br />

sanft zu sich heran.<br />

Sie läßt es geschehen.<br />

Peters Finger streicheln ihren Scheitel, ihre Wange, ihren<br />

Nacken. Behutsam, innig. Erneut erfaßt ihn tiefe Zuneigung<br />

zu diesem schönen, empfindsamen Mädchen.<br />

Zärtlichkeit blüht auf. Langsam, ganz langsam neigt Inge<br />

den Kopf, lehnt ihn an Peters Schulter. Ihr Herz öffnet sich.<br />

Scheu noch sch<strong>im</strong>mert und scheint etwas so noch niemals<br />

Gefühltes in ihrem Innersten. Und dann, ganz unerwartet, ist<br />

da ein zartes Drängen, ein allererstes Erahnen von Verlangen,


ein zögernd heraufdämmerndes Zittern von Leidenschaft.<br />

Ängstlich gewahrt sie die Andeutung einer Bereitschaft zur<br />

Hingabe. Sie fühlt, sie weiß es: Sie liebt Peter, liebt ihn mit<br />

ihrer ganzen unberührten Mädchenseele. Eine Liebe noch, die<br />

nicht frei ist von Unsicherheit und Angst vor dem Anderssein<br />

des Geliebten, eine Liebe aber auch, die um die Ehrlichkeit<br />

und Ernsthaftigkeit des Freundes weiß. Eine tiefe Liebe, die<br />

Eros verklärt und veredelt, zu der aber auch Verlangen gehört<br />

und Erfüllung. Zu dieser Liebe findet sie Zust<strong>im</strong>mung in ihrer<br />

Religion, ja, überall in Gottes Natur.<br />

<strong>Suchen</strong>de Hände berühren sich, finden den Körper des anderen.<br />

Zärtlich tastende Lippen vereinigen sich zaghaft zum<br />

ersten Kuß. Der <strong>Park</strong> versinkt in einem Blütenmeer. Schwereloses<br />

Schweben in einem weiten, wogenden Ozean von Seligkeit.<br />

Zum erstenmal sind Inge und Peter ganz und gar<br />

glücklich.<br />

Wie elektrisiert schrecken beide hoch. Im nahen Gebüsch<br />

hat es laut geknackt – als habe dort jemand auf einen<br />

trockenen Ast getreten. Dann rascheln Blätter.<br />

“Da ist jemand!” ruft Inge.<br />

“Ein Tier”, versucht Peter sie zu beruhigen.<br />

“Nein, nein, ein Mensch!”<br />

Peter steht auf. Geht zu den Büschen, aus denen die Geräusche<br />

kamen. Er sucht herum <strong>im</strong> Dunkel. Biegt einen Zweig<br />

zur Seite, einen zweiten. Es ist nichts zu sehen.<br />

“Es war kein Mensch. Es war ein Tier.”<br />

Religiosität<br />

Religiosität 53<br />

Inge n<strong>im</strong>mt ihre Tragetasche von der Bank. Peter sammelt<br />

Pfeife und Tabakbeutel ein. Sacht aneinandergelehnt schreiten<br />

die beiden den schmalen Kiesweg hinunter zur Brücke<br />

und überqueren den Bach.


54 KÖNIGSKINDER<br />

“Gehen wir noch ein bißchen?”<br />

“Ja”, sagt Inge und hakt sich bei ihrem Freund ein. Langsam<br />

schlendern sie den Hauptweg entlang.<br />

Nach einer Weile sagt Inge: “Ich habe mir schon oft Gedanken<br />

darüber gemacht, …”<br />

“Worüber?”<br />

“Wie Religiosität wohl in die Welt gekommen sein mag.” Sie<br />

ordnet ihre Bluse. “Im ganzen Tierreich gibt es keine Vorläufer<br />

religiöser Verhaltensweisen. Kein Tier betet.”<br />

“Nanu! Und die Gottesanbeterin?”<br />

“Bitte! Mich bewegt das alles sehr.”<br />

“Ich würde gern mal mit dir <strong>im</strong> <strong>Park</strong> sein, ohne zu<br />

diskutieren. Dich streicheln, dich liebhaben.”<br />

“Aber … das können wir doch später noch tun, wenn unsere<br />

Gedanken sich besser kennen. Wenn nichts Dunkles mehr<br />

zwischen uns steht.” Sie setzen sich auf eine Bank am Hauptweg.<br />

“Sieh mal, da liegt doch sehr Bedeutsames drin: von den<br />

Millionen verschiedener Lebensformen, die unsere Erde bevölkern,<br />

hat nur eine, nur der Mensch, die heilige Bereitschaft<br />

zur Hingabe an eine höhere Macht, zur bedingungslosen<br />

Gläubigkeit. Mit der Wissenschaft ist das anders. Im Grunde<br />

ist Wissenschaft doch eigentlich nichts anderes als<br />

kompliziert organisiertes Neugierverhalten.”<br />

“Das hast du gut gesagt.”<br />

“Ach, du.”<br />

“Nein, Inge, wirklich, du machst Fortschritte.”<br />

“So so, ich mache Fortschritte. Wie schön! Und wie steht’s<br />

mit dir? Machst du auch Fortschritte? Oder hast du schon den<br />

Stein der Weisen gefunden? Wartest du nur, bis das kleine<br />

Mädchen die Kraft gefunden hat, den Bannkreis der Prägung<br />

zu durchbrechen und dir auf deinem Höhenflug zu folgen?<br />

Nein, Peter, ich sehe das anders. Jeder von uns muß an der<br />

Brücke bauen. Keiner kann am Ufer stehen bleiben und rufen:<br />

Komm hierher, ein bißchen mehr links, etwas mehr<br />

rechts, so ist’s richtig! Du machst Fortschritte.”


Religiosität 55<br />

“Bitte verzeih mir!” Tastend berührt er ihre Hand. “Ich durfte<br />

das so nicht sagen.” Peter ärgert sich über seine Worte.<br />

Immer wieder verletzt er seine Gesprächspartner! “Es tut mir<br />

leid. Ich … ich bin oft zu ungeduldig, zu taktlos, … zu<br />

kompromißlos. Ich will mir große Mühe geben be<strong>im</strong> Bau einer<br />

Brücke, die uns beide tragen kann.”<br />

Er schweigt eine Weile. Dann sagt er: “Mein Problem ist,<br />

daß mich nur eine Brücke trägt, die fest gefügt ist aus<br />

nachprüfbaren Fakten.”<br />

“Glaubst du denn an gar nichts, Peter? Kannst du nicht erkennen,<br />

daß Milliarden religiöser Erfahrungen eine gemeinsame<br />

Qualität zugrundeliegt? Ein Milliarden von Menschen<br />

gemeinsames Erleben, Hoffen, Glauben, Vertrauen? Kannst<br />

du nicht begreifen, daß allein schon dadurch eine neue Qualität<br />

von Wahrheit entsteht?”<br />

Peter senkt den Kopf.<br />

“Ich habe große Achtung vor der Wissenschaft, vor ihrer Art,<br />

die Dinge auf eine ganz best<strong>im</strong>mte Weise zu untersuchen, sie<br />

miteinander in Beziehung zu setzen. Ich habe Achtung vor<br />

dem unbestechlichen Exper<strong>im</strong>ent. Ich stehe bewundernd vor<br />

den Gehe<strong>im</strong>nissen, die der Natur auf diese Weise bereits<br />

entlockt worden sind. Ich habe Respekt vor den Männern und<br />

Frauen, die sich den strengen Regeln unterwerfen, nach denen<br />

sie ihre Erkenntnisse gewinnen. Vor ihrer Fähigkeit, liebgewordene<br />

Vorstellungen fallen zu lassen, wenn neue Erkenntnisse<br />

das erforderlich machen. Aber ich glaube nicht,<br />

daß das alles ist, Peter! Ich glaube nicht, daß der Mensch nur<br />

auf diesem Weg zu sich, zu seiner Welt, zu Gott finden kann.<br />

Die Wissenschaft ist ein Weg. Es gibt andere Wege.”<br />

“Welche?”<br />

“Kunst, Philosophie, Religion.”<br />

“Das ist wahr. Aber ist es denn nicht auch wahr, daß Kunst,<br />

Philosophie und Religion letztlich auf unserem jeweiligen<br />

Weltbild fußen? Und ist es nicht so, daß dieses Weltbild zum<br />

großen Teil aus wissenschaftlichen Erkenntnissen erwächst,


56 KÖNIGSKINDER<br />

und daß es sich unter dem Einfluß der Wissenschaft wandelt?<br />

Beginnt Religiosität nicht da, wo nachprüfbare Erkenntnisse<br />

enden? Ist es nicht so, daß sich die Grenze zwischen gesichertem<br />

Wissen und Glauben ständig weiter nach außen<br />

verschiebt, und daß der Verlauf dieser Grenze von der Wissenschaft<br />

best<strong>im</strong>mt wird? War nicht früher einmal das Feuer ein<br />

Gott? Der Wind? Die Sonne? Hat nicht auch der Christengott<br />

zwischen oder auf den Wolken gewohnt? War die Erde nicht<br />

eine Ebene? Und waren die Sterne nicht Laternen, die Gott<br />

zum Pläsier der Menschen aufgehängt hatte?”<br />

Inge blickt zum H<strong>im</strong>mel. Stumme Tränen lassen den großen<br />

Stern zum riesigen, gleißenden Kreuz werden. Sie faltet ihre<br />

Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet. Ganz fest preßt sie<br />

die Hände zusammen, so fest, daß das Blut aus den Fingern zu<br />

entweichen beginnt. Sie sucht ihren Gott. ‘Warum hilfst Du<br />

uns nicht? Warum bleibst Du stumm? Siehst Du uns nicht?<br />

Hörst Du uns nicht? Warum gibst Du Peter nicht Augen, Dich<br />

zu sehen, nicht Ohren, Dich zu hören? Bitte, bitte hilf uns!!’<br />

Nur langsam, ganz langsam, verliert sich das große gleißende<br />

Kreuz am H<strong>im</strong>mel, versiegen die Tränen. Mit großer<br />

Kraftanstrengung gewinnt Inge ihre Fassung zurück, streicht<br />

über die Haare und dann über das Gesicht. Endlich bringt sie<br />

es fertig, wieder zu sprechen, kaum hörbar: “Und die Entstehung<br />

der Religiosität? Wie siehst du das?”<br />

“Ich sagte es schon, Religiosität ist mit dem Menschen entstanden.<br />

Tiere leben in einer enger begrenzten Welt.” Peter<br />

n<strong>im</strong>mt noch einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife, dann klopft<br />

er sie aus an der Sitzfläche der Bank. “Über Milliarden von<br />

Jahren entwickelte sich das Leben in naturgewollter Harmonie.<br />

Dann aber entwuchs den Ordnungsprinzipien des Lebendigen<br />

ein Geschöpf, das zu abstrahieren lernte, zu sprechen, zu<br />

analysieren und gezielt Wissen zu erarbeiten. Ein Geschöpf,<br />

das seinen Mitkreaturen gegenüber <strong>im</strong>mer stärker überlegen<br />

wurde, schließlich so stark, daß es die Harmonie des Miteinanders<br />

störte.”


Religiosität 57<br />

“Kann der Mensch die Harmonie nicht wiederherstellen?”<br />

“Nein. Er kann nur versuchen, die Entwicklung einer neuen,<br />

naturverträglichen Harmonie zu fördern. Im Naturgeschehen<br />

gibt es kein zurück.”<br />

Peter n<strong>im</strong>mt seinen Gedankenfaden wieder auf. “Wie aber<br />

sollte ein Geschöpf, das sprechen, denken, forschen und nach<br />

dem Sinn seines Lebens fragen kann, die Spannungsfelder<br />

ertragen zwischen brennender Neugier und tiefer Unwissenheit;<br />

zwischen Sehnsucht nach Ordnung und dem Unvermögen,<br />

den Sinn irdischer Ordnung zu begreifen; zwischen<br />

Hoffnung auf Geborgenheit und dem Wissen um den unentrinnbaren<br />

eigenen Tod? Wie sollte ein Geschöpf, das aufgrund<br />

seines Wesens für jede erkannte Wirkung eine Ursache suchen<br />

muß, überleben können in einer Welt voller Wirkungen<br />

aber mit meist unbekannten Ursachen? Das Geschöpf konnte<br />

es nicht. Es vermochte diese Spannungsfelder nicht zu ertragen.<br />

So produzierte das große Hirn Vorstellungen, die geeignet<br />

waren, die Spannungen abzubauen, die unerträglichen<br />

Wissenslücken zu füllen oder zu überbrücken. Das große Hirn<br />

beantwortete seine eigenen Fragen und besänftigte seine eigenen<br />

Ängste: Es schuf sich seine eigene Harmonie. Eine Ideenharmonie.<br />

Es wurde behauptet, daß die Wirkungen, für deren<br />

Ursachen es keine Erklärung gab, auf göttliche Wesen zurückgehen,<br />

deren Gunst man durch Gebete, Opfer und gutes Verhalten<br />

erdienen müsse. Je nach Kultur, Erfahrung und Geschichte<br />

wurden unterschiedliche religiöse Vorstellungen geboren.<br />

Sie bescherten den Menschen eine falsche Erklärung<br />

für ihre Existenz, aber sie bescherten den Religionsoberen<br />

einen richtigen Beruf.”<br />

“Aber …”<br />

“Religiosität ist in der Innenwelt der Menschen entstanden.<br />

Dort ist sie zu Hause.”<br />

“Aber es hat Entwicklungen gegeben.”<br />

“Die meisten religiösen Vorstellungen sind Dogmen. Daher<br />

können sie einer sich verändernden Welt langfristig nicht


58 KÖNIGSKINDER<br />

gerecht werden.”<br />

“Du versuchst zu sehr, alles aus deiner Sicht zu deuten. Es<br />

gibt Außergewöhnliches, das sich nicht von der Warte her verstehen<br />

läßt, von der aus du die Welt siehst. Es gibt Wunder.”<br />

“Wunder? Nichts als Ereignisse jenseits menschlicher Erfahrung.”<br />

“Für Wunder muß man empfänglich sein. Wunder kann nur<br />

erleben, wer tief aus seiner Seele heraus empfinden und staunen<br />

kann. Viele Menschen erleben Wunder, oftmals recht<br />

ähnliche.”<br />

“Viele Menschen haben ähnliche Ängste und Sehnsüchte.<br />

Viele haben ähnliche Wünsche und Hoffnungen. Daraus erwächst<br />

die Verwandschaft spiritueller und religiöser Vorstellungen.<br />

Und daraus erwächst auch die allen Menschen gemeinsame,<br />

nahezu unstillbare Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen,<br />

nach übermächtigen Gestalten, nach Geistern,<br />

Göttern, Teufeln. Die Menschen wünschen sich Wunder. Aber<br />

es gibt keine Wunder. So erfinden sie welche.”<br />

“Geister und Götter sind etwas Verschiedenes.”<br />

“In der Frühgeschichte waren Geister und Götter so<br />

ziemlich dasselbe. Da gab es furchtbare Geister und böse<br />

Götter. Einen Gottvater, zu dem man spricht und betet, dem<br />

man Güte nachsagt und Barmherzigkeit, den gibt es erst seit<br />

weniger als zweitausend Jahren.”<br />

“Wenn Religion das Einzige ist, das den Menschen vom Tier<br />

unterscheidet – wird dann der Mensch ohne Religion nicht<br />

wieder zum Tier?”<br />

“Religion ist nicht das Einzige, das den Menschen vom Tier<br />

unterscheidet.”<br />

“Aber das hast du doch selbst gesagt.”<br />

“Nein. Ich habe gesagt: Tiere haben keine Religion. Vor allem<br />

darin unterscheiden sie sich vom Menschen.”<br />

“Ist das nicht Haarspalterei?”<br />

“Nein, Inge. Es gibt Menschen, die nicht religiös sind. Sie<br />

bestreiten die Existenz jeden Gottes, jeder göttlichen Welt-


Religiosität 59<br />

ordnung. Sie behaupten, daß die Freiheit und die Würde des<br />

Menschen mit der Anerkennung der Existenz eines Gottes<br />

unvereinbar sind. Manche von ihnen halten Religiosität gar<br />

für eine schädliche, die Existenz des Menschen, ja die Weltordnung<br />

bedrohende Verirrung und treten ihr mit Entschiedenheit<br />

entgegen.”<br />

“Und wie siehst du das?”<br />

“Ich bin der Ansicht, daß der Mensch endlich aufwachen<br />

muß, endlich erkennen muß, daß er für all das, was er hier auf<br />

Erden anrichtet, selbst verantwortlich ist. Das Motiv für den<br />

Kampf gegen Böses sollte nicht länger die Furcht sein vor<br />

einem rächenden Gott oder die Hoffnung, bei gutem Verhalten<br />

in den H<strong>im</strong>mel zukommen, sondern die Einsicht, daß wir nur<br />

überleben können, wenn wir uns entsprechend verhalten. Wir<br />

müssen endlich begreifen, daß da nichts ist, das uns vergibt.<br />

Daß es niemanden gibt, der uns beschützt.”<br />

“Gott hat mich mein ganzes Leben hindurch beschützt. Ich<br />

habe gelernt, mich ihm anzuvertrauen, mich ganz in seine<br />

Hände zu legen.”<br />

“Weh dem, der sich auf einen Schutz verläßt, den es nicht<br />

gibt!”<br />

“ ‘Der Herr wacht über uns, <strong>im</strong>merfort. Des Herrn Wort ist<br />

mächtig und wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiß.’<br />

Eine Abwendung von Gott wäre unser aller Untergang.<br />

Denn bei Gott ist die Quelle allen Lebens. Erst in seinem Licht<br />

sehen wir das Licht. Daß sich heute so mancher von Gott lossagt,<br />

das liegt daran, daß zu viele Menschen alles mit Logik<br />

und wissenschaftlichen Methoden durchleuchten wollen.”<br />

“Schon das Alte Testament berichtet von Gottlosen, von<br />

Atheisten: Sokrates, Xenophanes, Euphemeros und Epikur.<br />

Gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit wandte Epikur ein:<br />

‘Nicht wer die Götter des Volkes beseitigt ist gottlos, sondern<br />

wer die Vorstellungen der Menge den Göttern zuschreibt.’<br />

Später sah Nietzsche <strong>im</strong> Atheismus das Bekenntnis des vom<br />

theologischen Gottesglauben emanzipierten Menschen. Und


60 KÖNIGSKINDER<br />

in neuerer Zeit haben Existenzphilosophen wie Sartre einen<br />

Humanismus verkündet, in dem der Mensch erst zu sich<br />

selber frei wird durch den Tod Gottes.”<br />

Peter fühlt Inges Erregung. Wieder ist er zu weit gegangen!<br />

“Bitte, Peter, laß uns zurückgehen zu unserer Bank.”<br />

“Ja … Natürlich … Gern.”<br />

Sie stehen auf. Peter legt seinen Arm um Inges Taille. Und<br />

so gehen sie nachdenklich ihrer Bank auf dem Hügel entgegen.<br />

Während des ganzen Weges spricht keiner ein Wort. An<br />

der Bank angekommen, versucht Peter abermals, Inges Aufmerksamkeit<br />

auf die unmittelbare Gegenwart zu lenken. Aber<br />

es gelingt ihm nicht, das Thema zu wechseln. Zwar widersetzt<br />

sie sich nicht seiner Umarmung, und sie duldet auch einen<br />

flüchtigen Kuß, ihre Gedanken aber sind woanders.<br />

Kirche<br />

Kaum haben sie wieder auf ihrer Bank Platz genommen, da<br />

fragt Inge: “Und was hältst du von der Kirche?”<br />

“Welche Kirche?”<br />

“Die christliche Kirche. Warum fragst du?”<br />

“Es gibt viele Kirchen. Für eine Diskussion ist es wichtig,<br />

genau zu wissen, worüber man spricht. Oft werden Unterschiede<br />

verwischt.”<br />

“Was für Unterschiede?”<br />

“Zum Beispiel zwischen dem Begriff ‘Kirche’ und dem, was<br />

ein Christ unter ‘Kirche’ versteht. Zwischen Religion und<br />

christlicher Religion. Zwischen Gott und Christengott. Wenn<br />

ihnen der Atem ausgeht, flüchten viele Christen ins Allgemeine.”<br />

“Für mich ist der Begriff ‘christliche Kirche’ eindeutig definiert.”<br />

“Es gibt viele christliche Kirchen. Nichts ist da eindeutig<br />

definiert. Große Unterschiede gibt es da, ja harte Gegensätze.”


Kirche 61<br />

“Ich meine die Kirche, der ich angehöre. Warum wendest du<br />

dich gegen sie?”<br />

“Ich wende mich gegen das, was einige der Oberen deiner<br />

Kirche aus dem gemacht haben, was Jesus offenbar gewollt<br />

hat.”<br />

“Was kritisierst du da?”<br />

“Vieles! Zunächst einmal stelle ich fest: Nach dem Verständnis<br />

der Christenoberen ist ihre Kirche eine Gemeinschaft<br />

von Menschen, die sich unter Jesus Christus zum überlieferten<br />

Glauben bekennt. Jesus aber wollte keine Kirche.”<br />

“Das st<strong>im</strong>mt nicht.”<br />

“Das ergibt sich aus Nachforschungen.”<br />

Inge schüttelt den Kopf. Sie ist irritiert.<br />

“Jesus hat das Kommen des Gottesreiches prophezeit. Er<br />

hat sich geirrt. Gekommen ist die Kirche.”<br />

“Aber sieh mal, …”<br />

“Nach der Bibel hat Jesus gesagt: ‘Mein Reich ist nicht von<br />

dieser Welt.’ Das mißfiel vielen Kirchenoberen. Wie hätten sie<br />

da ihr eigenes Reich aufbauen können? So haben sie diese<br />

Botschaft, wie so manche andere, nach ihren eigenen <strong>Inter</strong>essen<br />

ausgelegt.”<br />

“Die Kirche dient dem Heiland.”<br />

“Die christliche Kirche dient vor allem sich selbst. Sie hat<br />

sich organisiert wie eine Behörde, aber eine ganz und gar<br />

unmoderne. In unglaublicher Arroganz erhebt sie …”<br />

“Arroganz? Ich sehe nur Demut.”<br />

“In unglaublichem Hochmut, gepaart mit kindlicher Naivität,<br />

erhebt sie den Anspruch, Gott von amtswegen auf Erden<br />

zu vertreten.”<br />

“Du …”<br />

“Die Geschichte beweist, daß die Kirchenoberen die Lehren<br />

Christi mißbraucht haben – zur Beherrschung von Menschen<br />

und zur Ausbreitung ihrer Macht.”<br />

“Die Geschichte widerlegt dich!”<br />

“Die Geschichte ist voll vom Blut, das Christenobere ver-


62 KÖNIGSKINDER<br />

gossen haben. Denk mal an die Religionskriege. Angeblich<br />

wurden sie <strong>im</strong> Namen Christi geführt, tatsächlich aber <strong>im</strong><br />

machtpolitischen <strong>Inter</strong>esse der Kirche. Diese Kriege verhöhnen<br />

die von Jesus gepredigte Toleranz und Nächstenliebe.<br />

Und die Inquisition? Wie haben die Kirchenoberen in blindem<br />

Eifer die Gebote ihres Herrn pervertiert! Noch bis in die<br />

Neuzeit hinein hat die christliche Kirche Andersdenkende<br />

gnadenlos verfolgt. Zuerst kamen ihre Bücher auf die Scheiterhaufen,<br />

dann die Andersdenkenden. Es ist unglaublich,<br />

mit was für Foltermethoden die Inquisitoren Geständnisse<br />

erpreßt, was für Qualen sie Menschen zugefügt haben, nur<br />

weil die ihren Glauben nicht teilen konnten oder weil die<br />

ihnen suspekt waren. Friedrich von Spee schrieb damals, der<br />

einzige Grund, daß nicht alle Menschen Hexen oder Zauberer<br />

sind, sei der, daß sie nicht alle gefoltert wurden. Ein Inquisitor<br />

soll behauptet haben, wenn er seiner habhaft werden<br />

könnte, würde er selbst den Papst zu dem Geständnis<br />

bringen, ein Zauberer zu sein.”<br />

“Das sind …”<br />

“Oft stand der Angeklagte allein vor seinem Richter, ein<br />

Anwalt wurde nicht zugelassen, entlastende Aussagen galten<br />

nichts. Sogar Reue bedeutete einigen Kirchenoberen wenig.<br />

Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts entschied Papst<br />

Innozenz VIII, daß Hexen, die Reue gezeigt hatten, dennoch<br />

verbrannt werden sollten. In Portugal und Spanien waren<br />

Verbrennungen lebender Hexen und Zauberer bis zum Ende<br />

des 18. Jahrhunderts ein feierliches Ritual. Selbst 1814 noch<br />

hat die Inquisition in Spanien Häretiker verfolgt. Mit Folter<br />

und Feuer gegen Andersdenkende! Was für eine Kirche!”<br />

“Das sind sehr schl<strong>im</strong>me Fehler!” Inge ist ganz blaß<br />

geworden. “Der reformierte Christ lehnt so etwas aus tiefstem<br />

Herzen ab. Das ist nicht das wahre Christentum!”<br />

“Auch Martin Luther war dafür, Hexen zu verbrennen.”<br />

Wieder schüttelt Inge den Kopf. “Du darfst die christliche<br />

Lehre nicht daran messen. Die eigentliche Idee des Christen-


Kirche 63<br />

tums ist etwas anderes. Sie wird durch dieses Fehlverhalten<br />

nicht berührt.”<br />

“Dieses Fehlverhalten, wie du das nennst, entwickelte sich<br />

aus christlichem Glaubensinhalt und Machtanspruch.”<br />

“Aber die Kirche hat auch unendlich viel Gutes getan! Sie<br />

hat …”<br />

“Weder die karitativen Dienste der christlichen Kirche, noch<br />

deren Leistungen auf den Gebieten der Musik, Malerei und<br />

Architektur können diese Verbrechen am Menschen aufwiegen.”<br />

“Die größte Kunst, die die Menschheit je hervorgebracht<br />

hat, ist die religiöse Kunst!”<br />

“Die einzige angemessene Reaktion der christlichen Kirche<br />

auf ihre vielen Sünden wäre ein Schuldbekenntnis und Reue<br />

vor Gott und den Menschen. Dinge also, die sie von ihren sündig<br />

gewordenen Gläubigen verlangt. Davon aber habe ich noch<br />

nie etwas gehört.”<br />

“Du darft nicht so in Bausch und Bogen urteilen. Du mußt<br />

differenzieren. Die Kirche hat nicht nur zur Verbreitung und<br />

Achtung ihrer Lehren aufgerufen, sondern auch zur Liebe. Sie<br />

hat …”<br />

“Man kann nicht die Forderung der christlichen Kirche nach<br />

absoluter Autorität anerkennen und gleichzeitig essentielle<br />

Inhalte dieser Autorität beiseite lassen. Da hilft auch kein<br />

Differenzieren.”<br />

“Absolute Autorität?”<br />

“Nicht nur absolute Autorität, auch absolute Verbohrtheit.”<br />

“Die Kirche übt Nachsicht. Sie fördert Menschen.”<br />

“Einige christliche Sekten und Gehe<strong>im</strong>bünde vereinnahmen<br />

und versklaven Menschen.”<br />

“Welche?”<br />

“Zum Beispiel das römisch-katholische ‘Opus Dei’, das ‘Werk<br />

Gottes’. Opus-Führer verdammen alles, was nicht in ihre ideologischen<br />

Schablonen paßt. Sie haben ihre versteckten Methoden<br />

der Unterdrückung und Beherrschung von Menschen


64 KÖNIGSKINDER<br />

perfektioniert. Erfolgreich verhindern sie die Entwicklung<br />

einer eigenen Urteilsfähigkeit, einer eigenen Verantwortlichkeit.<br />

Schon so mancher hat seine Selbstachtung an den Pforten<br />

dieses Syndikats abgeben müssen. Opus Dei fördert Entmündigung.<br />

So bereitet es – sicherlich ungewollt – den Weg für<br />

Diktaturen.”<br />

“Das ‘Werk Gottes’ fördert das Gute. Es bekämpft Frivolität<br />

und Brutalität.”<br />

“Es ist selber frivol und brutal. Nach bitterem Kampf ist ein<br />

Freund von mir dem Opus entkommen. Er hat gesagt: ‘Sie<br />

haben mir mein Lachen genommen, meine Selbstachtung und<br />

meine Würde. Sie haben meine Seele vergiftet, meine Gesundheit,<br />

ja mein Leben. Warum tun sie das? Wozu brauchen sie<br />

soviel Macht über Menschen?’ Peter schweigt eine Weile.<br />

Dann sagt er: “Die christliche Kirche hat über Jahrhunderte<br />

mehr Kraft für Menschenbeherrschung und Abwehr von ‘Irrlehren’<br />

verbraucht als für die Verkündung der Botschaften<br />

Jesu.” Peter beschäftigt sich mit seiner Pfeife. Er n<strong>im</strong>mt nicht<br />

wahr, wie sehr er Inge verletzt.<br />

Mit bebender St<strong>im</strong>me fragt sie: “Hast du schon einmal einen<br />

Pastor kennengelernt? Hast du schon einmal erlebt, mit welcher<br />

Selbstlosigkeit, mit wieviel Hingabe und mit wieviel<br />

Demut ein Pastor seiner Gemeinde dient? Vielen Menschen<br />

ermöglicht er, zu Gott zu finden – und zu sich selbst. Vielen<br />

hilft er, dem eigenen Tod mit größerer Stärke entgegenzusehen<br />

und den Tod geliebter Menschen leichter zu ertragen.”<br />

“Ja”, sagt Peter leise, “es gibt Menschen, bei denen der Tod<br />

eines geliebten Nächsten eine so mächtige Trauer auslöst, daß<br />

sie ohne Hilfe daran sterben.” Und er denkt: ‘So ein Mensch<br />

war mein Vater.’<br />

“Um wieviel ärmer wären wir”, fährt Inge fort, “um wieviel<br />

schl<strong>im</strong>mer sähe es aus in unserer Welt, wenn es den Pastor<br />

nicht gäbe! Nein Peter”, Inge schüttelt den Kopf, so heftig, daß<br />

ihr blonder Zopf von einer Schulter auf die andere fliegt,<br />

“deine Darstellung ist nicht objektiv. Sie ist verzerrt. Sie be-


Kirche 65<br />

leuchtet nur eine Seite – nur die Seite, die du sehen möchtest,<br />

die dir Argumente liefert.”<br />

“Sicherlich gibt es viele Pastoren, die in vorbildlicher Weise<br />

ihre Gemeinden betreuen, die die Lehren des Religionsstifters<br />

in seinem Sinne verkünden, und die mit großem Ernst bestrebt<br />

sind, auch selbst danach zu leben.”<br />

“Ist denn der Pastor nicht ein Grundelement der Kirche?<br />

Findet nicht in seinem Wirkungskreis die eigentliche Religionsausübung<br />

statt? Die Gläubigen gehen doch zum Gottesdienst<br />

in die Kirche. Und den Gottesdienst versieht der Pastor.”<br />

“Ja, Inge. Aber bei dem Begriff ‘Kirche’ müssen wir doch<br />

unterscheiden zwischen der Kirche als einem Bauwerk, einem<br />

Ort für den Gottesdienst auf der einen Seite und der Kirche<br />

als Institution auf der anderen. Ich spreche von der Kirche als<br />

Institution. Es st<strong>im</strong>mt, daß der Pastor in dieser Institution<br />

das unmittelbare Bindeglied zur Gemeinde ist. Es st<strong>im</strong>mt<br />

aber auch, daß er auf der untersten Ebene der Kirchenhierarchie<br />

steht und daß die <strong>Inter</strong>essen der Kirche, von denen ich<br />

gesprochen habe, auf höheren Ebenen der klerikalen Rangordnung<br />

festgelegt und vertreten werden.”<br />

“Die Kirche …”<br />

“Die Kirche ist alt geworden. Sie hat nicht mehr die Kraft,<br />

sich zu erneuern. Sie wird sterben. Aber Jesus und die Essenz<br />

seiner Botschaften, sie werden leben.”<br />

“Die Kirche fördert den Menschen. Sie hilft ihm.”<br />

“Die Kirche benutzt und unterdrückt den Menschen. Termini<br />

wie ‘Kirchengehorsam’, ‘Kirchenrecht’, ‘Kirchenverfassung’,<br />

‘Kirchenstaat’, ‘Kirchenstrafen’, ‘Kirchensteuer’ und ‘Kirchenpolitik’<br />

sprechen da ihre eigene Sprache: Die Sprache des<br />

Machtanspruchs der Kirche, eines ganz handfesten, eines<br />

ganz irdischen Machtanspruchs. Denk nur einmal an die Forderung<br />

nach Kirchengehorsam! Das ist eine teuflische Sache.<br />

Gehorsam macht blind und taub. Unterdrückt eigenes Denken.<br />

Verbiegt die eigene Entwicklung. Gehorsam verweigert dem<br />

Gedankengut anderer den Zugang. Bringt die St<strong>im</strong>me des


66 KÖNIGSKINDER<br />

eigenen Gewissens zum Schweigen.”<br />

“Die Kirche meint Gehorsam gegenüber Gott.”<br />

“Die Kirchenoberen behaupten, <strong>im</strong> Auftrag Gottes zu handeln.<br />

Daraus leiten sie das Recht ab, statt seiner zu befehlen<br />

und Gehorsam zu fordern. Sie haben sich selbst legit<strong>im</strong>iert.<br />

Mit Hilfe ihrer Selbstermächtigung erzeugen sie Abhängigkeit<br />

und fördern dumpfe Ergebenheit. In der Kirche kann der<br />

Geist nur gehorchen oder weggehen.”<br />

“Die Gottesmänner dienen Gott und dem Menschen. Sie helfen<br />

uns allen!”<br />

Peter betrachtet seine Pfeife und steckt sie kopfschüttelnd<br />

in den Lederbeutel. Er möchte das Thema wechseln. Er möchte<br />

das Gespräch beenden, das ihn von Inge zu entfernen droht.<br />

Das so gar nicht geeignet ist, das tiefe Wasser zwischen ihnen<br />

zu überbrücken. Dennoch hört er sich plötzlich sagen: “So<br />

manch ein Pastor, Pfarrer oder Priester hat seine Mitmenschen<br />

verunsichert, ihnen Ängste und Schuldgefühle ins Herz<br />

gepflanzt. Dadurch hat er Abhängigkeiten geschaffen und<br />

daraus Macht gewonnen für seine eigenen Belange und die<br />

seiner Kirche. So mancher von ihnen ist ein Meister geworden<br />

auf dem Gebiet der seelischen Erpressung. Heutzutage muß<br />

er darüber hinaus auch noch ein Meister werden auf einem<br />

zweiten Gebiet: Er muß lernen, in gezielter Unschärfe zu<br />

formulieren und in virtuoser Vieldeutigkeit. Nur so kann er<br />

versuchen, die wachsenden Risse zu kitten, die <strong>im</strong>mer<br />

größeren Brüche und Verwerfungen zu überspielen zwischen<br />

seinem Glauben und der heute erkennbaren Wirklichkeit.”<br />

Peter sieht Inge an. Die aber sieht geradeaus. Obwohl sie<br />

merkt, daß er ihre Augen sucht, verwehrt sie ihm den Blickaustausch.<br />

Da sagt Peter: “Ich vermute, daß so manch ein Pfarrer<br />

diesen Konflikt fühlt oder doch ahnt, daß er das aber nach außen<br />

hin nicht zugeben will. So manch einer ist be<strong>im</strong> Gottesdienst<br />

nicht wirklich mit seinem Innersten dabei. So mancher<br />

betet nur mit den Händen, nur mit den Knien, nur mit der


Kirche 67<br />

St<strong>im</strong>me, nicht aber mit dem Herzen. In seiner Demut versteckt<br />

sich Eitelkeit, in seinem Dienen Hoffen auf Belohnung.<br />

Gebärden dominieren, nicht aber Gefühle. Richter wollen sie<br />

sein, die Priester, und Gerechte, aber so manch einer von ihnen<br />

ist eher ein Pharisäer.”<br />

“Auch Pastoren sind Menschen! Aber sie streben stärker<br />

nach dem Guten als die meisten von uns. Und wenn sie es auch<br />

nicht <strong>im</strong>mer erreichen, sie haben es versucht!!” Inge kommt<br />

sich plötzlich sehr verlassen vor und hilflos. Diese Gewitter der<br />

Kritik an ihrem Glauben, diese unnötig harten Formulierungen,<br />

sie rauben ihr buchstäblich den Atem. Es ist kalt<br />

geworden <strong>im</strong> <strong>Park</strong> und dunkel in ihrer Seele.<br />

Peter fühlt, daß er Wunden schlägt. Er weiß, er sollte jetzt<br />

aufhören. Aber er vermag es nicht. Irgendetwas zwingt ihn, seinen<br />

Gedankengang zu Ende zu führen, auch wenn es schmerzt,<br />

dem geliebten Menschen damit weh zu tun. “Im Verlauf der<br />

Menschheitsgeschichte haben religiöse Männer mit Mystik<br />

und Magik andere oft hinters Licht geführt. Sie gaben vor, <strong>im</strong><br />

Besitz besonderer Kräfte, Gewißheiten und Gehe<strong>im</strong>nisse zu<br />

sein. Sie arbeiteten mit Zauberei und Blendwerk, und sie<br />

beherrschten die dunkle Kunst der Geisterbeschwörung. Im<br />

Grunde aber waren sie <strong>im</strong>mer nur sich selber treu. Sie waren<br />

Charismatiker mit der Fähigkeit, unbeirrbar an die eigenen<br />

Lügen zu glauben. Mit souveräner Hemmungslosigkeit suggerierten<br />

sie sich und anderen die eigene göttliche Berufung<br />

und die Fähigkeit, irrtumslos zu entscheiden. Doch ihr<br />

Wissen war gering und ihre Weisheit war nicht groß.”<br />

Inge will widersprechen. Aber der zitternde Mund versagt<br />

ihr den Dienst.<br />

“Diese selbsternannten Heilsbringer vermögen andere zu<br />

prägen, sich selber aber jeder Prägung durch andere zu<br />

entziehen. So wächst in ihnen die Überzeugung heran, etwas<br />

Besonderes zu sein. Diese Überzeugung ist der Boden, aus<br />

dem sie ihre Gewißheiten gewinnen, Gewißheiten, über die sie<br />

aber objektiv nicht verfügen. Daher erbauen sie mit unter-


68 KÖNIGSKINDER<br />

schiedlichsten Mitteln eine Autorität, hinter der sie ihre Anfechtbarkeit<br />

verbergen können. Eine Autorität, die ihre ‘Gewißheiten’<br />

formal beglaubigt. Aus dieser Beglaubigung<br />

saugen sie ihre Kräfte – ihre Glaubenskraft, ihre Ausstrahlungskraft,<br />

ihre Überzeugungskraft. Wenn die Macht der Beglaubigung<br />

erlischt, wenn die Überzeugung von der eigenen<br />

Besonderheit verblaßt, dann stirbt auch ihr Charisma. Dann<br />

stehen sie nackt da. Dann sind sie auf einmal Menschen – wie<br />

du und ich.”<br />

Inge schluckt. Sie schüttelt den Kopf. Dann legt sie ihre<br />

Hand auf Peters Arm: “Peter! Du verkürzt die Problematik zu<br />

sehr. Bis zur Verzerrung. Gottesmänner sind so sehr von ihrem<br />

Glauben erfüllt, daß da kaum Platz ist für anderes. Kein<br />

Platz für Zweifel, keiner für Kritik.” Sie schweigt einen Augenblick.<br />

Dann fährt sie fort: “Wenn innere Harmonie,<br />

Hoffnung, Trost und Bejahung der eigenen Welt Maßstäbe<br />

sind für eine glückliche Lebenseinstellung, dann haben diese<br />

gläubigen Menschen etwas gefunden, nach dem die meisten<br />

noch suchen. Diese Menschen sind Opt<strong>im</strong>isten aus innerster<br />

Überzeugung. Sie leben in einer wunderschönen, in sich<br />

widerspruchslosen Welt. Man muß sie mit einer anderen Elle<br />

messen als Menschen, die wissen wollen, <strong>im</strong>mer mehr, die<br />

zweifeln und kritisieren.”<br />

Nach langem nachdenklichen Schweigen sagt Inge: “Jesus<br />

hat gewaltfreie Gerechtigkeit gepredigt. Das ist ein hohes Ziel.<br />

Wir haben es noch <strong>im</strong>mer nicht erreicht.”<br />

Peter nickt.<br />

“Und bitte bedenke einmal: Die Glaubenden bekennen sich<br />

zu ihrem Glauben. Viele der Zweifelnden aber verleugnen ihre<br />

Überzeugungen – aus Bequemlichkeit oder um eigener Vorteile<br />

willen.”<br />

Wieder nickt Peter.<br />

“Zwischen Glaubenden, Zweifelnden und Nichtglaubenden<br />

gibt es viele Übergänge. Eine faire Beurteilung des menschlichen<br />

Verhaltens verlangt nach individueller Würdigung des


Kirche 69<br />

Einzelfalles. Mit deinen Pauschalurteilen fügst du vielen ungerechtfertigt<br />

Verletzungen zu.”<br />

“Ja. Ich darf das nicht aus den Augen verlieren. Bitte glaub<br />

mir, ich kritisiere nicht aus Lust am Kritisieren. Ich bin zutiefst<br />

davon überzeugt, daß die Richtung, in die die moderne<br />

Menschheit segelt, in äußerst gefährliche Gewässer führt. Da<br />

bieten Hoffnung und Trost keinen Schutz. Auch nicht der<br />

Glaube, daß wir in einer wunderschönen Welt leben. Und<br />

nicht das bloße Bekenntnis zum Opt<strong>im</strong>ismus. Den dringend<br />

erforderlichen Kurswechsel kann nur unbeirrtes <strong>Suchen</strong> bewirken:<br />

Nach unseren Unzulänglichkeiten und Fehlern. Nach<br />

den Ursachen, die sich hinter unseren maßlosen Wünschen<br />

und Begehrlichkeiten verbergen. Und nach den Konsequenzen,<br />

die sich daraus ergeben. Für solches <strong>Suchen</strong> kann ich mir<br />

nur dann den Blick schärfen, wenn ich mich auf das Grundsätzliche<br />

konzentriere, wenn ich den Einzelfall beiseite lasse.”<br />

Wortlos blicken die beiden in die Nacht.<br />

Peters Gedanken schleichen sich zurück zu dem, was er<br />

zuvor gesagt hatte. Dort bohrt sein Geist unermüdlich weiter.<br />

Schließlich zwingt er ihn, Dinge zu sagen, die er gar nicht<br />

hatte sagen wollen. “Medizinmann, Magier und Zauberer, das<br />

sind die Vorformen des Pastoren- und Priestertums. Schon<br />

frühzeitig bildeten sie eine besondere Zunft – die Priesterzunft.<br />

Für diese Zunft waren Zauberei und Magie, Zeremoniell<br />

und gezielte Verunsicherung das gleiche wie die astronomische<br />

Navigation für den Seefahrer: Berufswissen und<br />

Einnahmequelle. Aber anders als in den meisten Berufen<br />

blieb das Wissen der Priester sorgsam gehütetes Gehe<strong>im</strong>nis.<br />

Wie sonst hätten sie fortfahren können, aus Unwissen und<br />

Furcht der Menschen Kapital zu schlagen? Die dunkle Kunst<br />

der Priester wurde als Mittel der Herrschaft über die Gläubigen<br />

ausgebaut, verfeinert und vertieft. Und oft von weltlichen<br />

Herrschern bedenkenlos für ihre eigenen Ziele genutzt.<br />

Herrschaftskalkül hat seine eigene Moral und seine eigene<br />

Logik. Angesichts der Unwissenheit und Unsicherheit vieler


70 KÖNIGSKINDER<br />

Bürger bewirkte die unantastbare Autorität der Priester und<br />

der Kirche einerseits, und der weltlichen Herrscher andererseits<br />

oft mehr als militärische Machtentfaltung und drakonische<br />

Strafen. Warum sollten Kirche und Staat diesen Zustand<br />

ändern? Die Bürger aufklären, ihre geistige Weiterentwicklung<br />

betreiben, sie zur Wahrheitssuche ermuntern? Wer sägt<br />

schon den Ast ab, auf dem er sitzt, dazu noch so bequem?<br />

Machtentfaltung, Massenbeherrschung und Massenausbeutung<br />

haben Triumphe gefeiert unter der gemeinsamen Herrschaft<br />

von Königen und Priestern.”<br />

Abrupt steht Inge auf.<br />

“Willst du schon gehen?”<br />

Inge nickt. Unbemerkt von Peter sickern Tränen – sanft und<br />

lautlos – aus gequält verschlossenen Augen wie Blut aus einer<br />

Fleischwunde. Kein Zucken, kein Schluchzen. Mit gesenktem<br />

Kopf geht sie stumm an Peters Seite den Kiesweg hinunter.<br />

Während des Gehens löst sie ihren seidenen Schal vom Hals<br />

und bindet ihn fest um den Kopf. So verbirgt sie das tränenüberflossene<br />

Gesicht.<br />

Schweigend stehen die beiden nebeneinander auf der<br />

Brücke. Zuerst lehnt sich Peter, später auch Inge mit den<br />

Ellenbogen auf das Geländer. Tief bewegt blicken beide auf<br />

das unter ihnen dahinfließende Wasser. Jeder in eine andere<br />

Richtung.<br />

Peters gefühlskalte Worte haben Inge verletzt. Ihr ganzes<br />

Empfinden und Fühlen stemmt sich gegen das, was Peter da<br />

alles gesagt hat. Viele seiner Gedanken sind neu für sie.<br />

Vieles muß sie erst einmal durchdenken und abwägen. Vieles<br />

läuft Amok gegen das, was ihr heilig ist. Vieles darf sie ihrem<br />

Vater gar nicht sagen, sonst würde es niemals zur Begegnung<br />

kommen können zwischen ihm und Peter – einer Begegnung,<br />

die sie sich so sehr wünscht.<br />

Aber, merkwürdig, ihr Verstand geht eigene Wege. Er ist<br />

nicht, wie sonst, uneingeschränkt auf seiten ihres Herzens. Er<br />

n<strong>im</strong>mt nicht bedingungslos teil am Aufbegehren gegen Peter.


Kirche 71<br />

Ja, er hat damit begonnen, sich mit ihm zu verbünden. Hinter<br />

Peters verbalem Ungestüm macht der Verstand handfeste<br />

Argumente aus und historisch belegbare Tatsachen. Wichtiger<br />

noch: er weiß, daß Peter ihrer Liebe nicht schaden,<br />

sondern nutzen will. Der Verstand sucht nach einem eigenen<br />

Weg zu Peter.<br />

Inge erkennt, daß der Kern ihres Schmerzes nicht wirklich<br />

in Inhalt, Härte und Art von Peters Worten liegt, sondern <strong>im</strong><br />

beginnenden Zerbrechen der bisherigen Einheit ihres<br />

Empfindens und Erkennens. In ihr ist ein Konflikt entbrannt<br />

zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Glauben und Geist.<br />

Doch der Glaube wurzelt tief. Sehr tief.<br />

Zärtlich legt sie ihre Hand auf die ihres Freundes. “Weißt<br />

du, Peter, in der Welt, in der ich lebe, gibt es Träume.”<br />

“Ich träume nur selten.”<br />

“Niemand kann <strong>im</strong>mer nur in der Wirklichkeit leben. Träume<br />

gleichen aus, arbeiten Angst auf.”<br />

“Angst muß man mit wachen Sinnen aufarbeiten. Träumen<br />

fesselt. Ein Träumer ist schutzlos.”<br />

“Ohne Täume kann ich nicht sein. Einen Traum habe ich<br />

<strong>im</strong>mer wieder. Ich träume von einem großen uralten Baum.<br />

Sein Stamm ist mächtig, seine Krone riesengroß. Der Baum<br />

ist ein Wunder an Harmonie und Schönheit. Kein Ast zuwenig,<br />

keiner zuviel. Für mich ist der Baum die heile Welt. Ich habe<br />

nach ihm gesucht. Überall. Ich weiß nicht ob es ihn gibt. Aber<br />

ich glaube” – sie hebt den Kopf und blickt zurück zur Bank<br />

und dann hinauf zur uralten Eiche – “ich glaube, daß dies<br />

mein Baum ist. Noch <strong>im</strong>mer träume ich von ihm. Vielleicht<br />

sollten wir es so auch mit der Religion halten. Einfach daran<br />

glauben, einfach davon träumen. Nicht alles zu genau wissen<br />

wollen. So würde es sich ganz gut leben lassen.”<br />

“Ja”, nickt Peter. “Ja, ich kann dich gut verstehen. Aber Träumen<br />

löst unsere Probleme nicht. Die Menschen hatten viel<br />

Zeit zum Träumen. Hunderttausende von Jahren. Heute<br />

stehen wir am Scheideweg. Nur wenige Schritte weiter ge-


72 KÖNIGSKINDER<br />

radeaus, und wir stürzen in den Abgrund. Wir müssen aufwachen,<br />

die Augen öffnen. Wir müssen uns umsehen, nachdenken,<br />

den Kurs ändern.”<br />

Ein Traum kennt keine Logik. Er kennt Ängste und Ahnungen,<br />

Wünsche und Hoffnungen. Im Traum tanzt das Unbewußte.<br />

Unser von Zensur befreites Selbst.<br />

Ohrring<br />

Langsam richtet Inge sich auf. Mit beiden Händen streicht<br />

sie über ihr Gesicht. Dann n<strong>im</strong>mt sie den Schal vom Kopf und<br />

beginnt, ihr Haar zu ordnen. In heller Aufregung ruft sie<br />

plötzlich: “Ich hab’ einen Ohrring verloren! Einen meiner schönen<br />

goldenen Ohrringe! Vater hat sie mir geschenkt. Der Ohrring<br />

muß bei der Bank liegen. Als wir zurückkamen, hatte ich<br />

ihn noch. Ich muß den Ohrring unbedingt wiederfinden! Ein<br />

Geschenk von Vater bedeutet mir unendlich viel!!”<br />

“Ich helfe dir. Wir werden den Ohrring finden.”<br />

Inge und Peter gehen zurück zu ihrer Bank.<br />

Tastend gleiten ihre Finger über den dunklen Boden. Sie suchen.<br />

Vor der Bank, neben der Bank, hinter der Bank. Das<br />

<strong>Suchen</strong> ist schwierig in dieser Finsternis. Doch plötzlich findet<br />

Peter etwas. Er befühlt seinen Fund: “Ich hab ihn!” Merkwürdig:<br />

zur gleichen Zeit findet auch Inge etwas. Sie n<strong>im</strong>mt<br />

ihren Fund an sich und verbirgt ihn in der Faust. Beide zur<br />

Faust geschlossenen Hände auf dem Rücken, geht sie auf<br />

Peter zu, sieht ihren Ohrring und strahlt. “Oh, wie<br />

wunderbar!” Lächelnd läßt sie sich den Ohrring anlegen.<br />

“Danke!!” Mit einem ‘Mmmhh!’ küßt sie Peter auf die Wange,<br />

dort, wo der Bart in weiche Haut übergeht.<br />

“Rate mal, was ich hier hab!” Inge streckt Peter die Rücken<br />

ihrer Fäuste entgegen. Aber sie kann die Antwort nicht<br />

abwarten. “Deinen Manschettenknopf!”, ruft sie, ihre Fäuste<br />

drehend und öffnend.


Ohrring 73<br />

“Das ist nicht meiner. Ich trage keine Manschettenknöpfe.”<br />

“Dann nehme ich ihn mit als Erinnerung an diesen Abend.”<br />

Mit beiden Händen führt sie den Manschettenknopf an die<br />

Lippen und hält ihn dort für einen Augenbick. Dann gehen<br />

die beiden abermals den Kiesweg hinunter, überqueren<br />

die Holzbrücke, biegen nach links ab und wandern den<br />

Hauptweg entlang. Unter der ersten Laterne bleibt Inge<br />

stehen: “Ich muß mir den Manschettenknopf noch einmal bei<br />

Licht ansehen.” Sie öffnet die Hand. “Mein Gott, ist der<br />

schön! Aus purem Gold. Sieh mal, diese wundervolle Filigranarbeit<br />

und dieser große, herrliche Diamant! Das ist ein<br />

wertvolles Schmuckstück, ein Kunstwerk! Den darf ich nicht<br />

behalten. Sieh nur!”<br />

“Ja, der ist offenbar sehr kostbar.”<br />

“Ich muß ihn zurückbringen.”<br />

“Aber wohin? Du weißt doch gar nicht, wem er gehört.”<br />

“Zu unserer Bank.”<br />

“Dort wird ihn irgendjemand an sich nehmen. Wie willst du<br />

je den wirklichen Besitzer ermitteln?”<br />

“Ich schreibe ein paar Zeilen dazu. Es gibt viele ehrliche<br />

Finder. Der Manschettenknopf wird wieder in die Hände seines<br />

rechtmäßigen Besitzers gelangen. Da bin ich mir ganz sicher.”<br />

Peter ist anderer Meinung. Aber das behält er für sich. “Also<br />

gut, gehen wir zurück.”<br />

An der Bank angekommen, läßt Inge ihre Tragetasche von<br />

der Schulter gleiten, sucht darin herum und findet einen Papierbogen:<br />

Ihre Aufzeichnungen von einer Vorlesung über<br />

‘Hebbels Tagebücher’. Den Papierbogen in der Hand, setzt sie<br />

sich. Dann schreibt sie, die Tasche als Unterlage benutzend,<br />

auf die leere Rückseite:<br />

Diesen Manschettenknopf habe ich gefunden. Ich möchte,<br />

daß er wieder in die Hände seines rechtmäßigen Besitzers


74 KÖNIGSKINDER<br />

kommt. Bitte, bitte lassen Sie ihn liegen, falls er Ihnen nicht<br />

gehört. Danke!<br />

Mit beiden Händen legt sie den Papierbogen auf die Bank<br />

und streicht glättend darüber. Dann legt sie den Manschettenknopf<br />

darauf.<br />

Stein<br />

Inge steht auf, senkt den Kopf. Langsam umherschreitend<br />

beginnt sie, den Boden abzusuchen.<br />

“Was ist?”<br />

“Ich suche einen Stein. Er soll meinen Fund behüten. Und<br />

meine Botschaft.”<br />

Erneut tasten Finger über den Boden. Bei der Bank finden<br />

sie nichts. Aber etwas weiter links, unter einem blühenden<br />

Fliederbusch, da liegt ein Feldstein. Gleichzeitig entdecken<br />

sie ihn. Ihre Hände berühren sich auf seiner rauhen, kalten<br />

Oberfläche. Ganz dicht beieinander sind jetzt ihre Köpfe. Sie<br />

erheben ihr Antlitz, sehen sich an, mit ernsten Augen voller<br />

Liebe.<br />

Der Stein ist beinahe so groß wie ein Kinderkopf. Aber er<br />

hat eine Verjüngung in seiner Mitte, so als habe ihn in grauer<br />

Vorzeit jemand behauen, damit man ihn besser als Werkzeug<br />

benutzen kann.<br />

Erst vor wenigen Stunden war der Stein hin und her gereicht<br />

worden zwischen Pastor, MinRat und Physiker. Alle<br />

drei hatten ihn abwechselnd in ihren Händen gehalten und<br />

dabei Überlegungen darüber angestellt, wie der Stein wohl in<br />

den <strong>Park</strong> gekommen sei. Und wie die merkwürdige Form wohl<br />

zustandegekommen sein mochte. Aber weder auf die erste<br />

noch auf die zweite Frage konnten sie eine für alle drei befriedigende<br />

Antwort finden.


Der MinRat hatte den Pastor um ein Gespräch gebeten.<br />

Angesichts des herrlichen Frühlingswetters hatten sich die<br />

beiden entschlossen, das Gespräch unter freiem H<strong>im</strong>mel zu<br />

führen, auf der Bank unter der großen Eiche. Den MinRat beschäftigt<br />

das Töten, genauer gesagt, das Töten als Freizeitsport:<br />

Angeln und Schießen. Darüber hatten die beiden lange<br />

diskutiert. Als dann plötzlich der Physiker dazukam, verstummte<br />

das Gespräch. Da hatte der Pastor die Aufmerksamkeit<br />

auf den Stein gelenkt.<br />

Schließlich erhoben sich die drei und machten sich auf den<br />

Weg. Der Pastor hatte noch gesagt: “Selbst der Stein gibt uns<br />

Rätsel auf, wie vieles andere in Gottes Natur.” Dann hatte er<br />

den Stein vorsichtshalber zur Seite gerollt.<br />

Im Stein gefrieren die Gesetze der Schöpfung. Ein Stein<br />

kann schlafen, hunderttausend Jahre, Teil eines Berges. Ein<br />

Stein kann stürzen: ins Meer, in der Brandung rollend rund<br />

werden; vor den Fuß eines Wanderers, in den Boden rammend<br />

eine Mulde stampfen. Ein Stein kann treffen oder nicht. Ein<br />

Stein kann töten.<br />

Peter und Inge heben den Stein gemeinsam und legen ihn<br />

auf den Papierbogen.<br />

3 FREUNDE<br />

Explosion<br />

Explosion 75<br />

“Das is wirknich nich zuvien vernangt.”<br />

Schon bald nach Einbruch der Dunkelheit betritt ein großer<br />

schlanker Mann den <strong>Park</strong>. Mürrisch spuckt er zur Seite. Der<br />

Festmacher ist schlecht drauf. Letztes mal ist nichts so richtig<br />

gelaufen. Und dann noch dieser neue Fiedler!<br />

‘Na ja’, denkt er, ‘ganz bescheidn der Kleine.’ Und dann


76 FREUNDE<br />

denkt er: ‘Muß noch ‘ne Menge lern’n. Als Jäger nix auf’e<br />

Latte.’ Der Festmacher spitzt den Mund und n<strong>im</strong>mt die Mütze<br />

vom Kopf. Ein strammer Schopf mittelblonder Schnittlauchhaare<br />

springt ins Freie. Der linke Mittelfinger kratzt in den<br />

Haaren herum. ‘Aber irgendwie isser auch ‘n Happn komisch.’<br />

Nachdenklich setzt er die Mütze wieder auf. Dann rückt er sie<br />

zurecht.<br />

Eine tief aus dem Unterleib aufsteigende Unruhe verbietet<br />

jede weitere Beschäftigung mit Dingen, die nicht unmittelbar<br />

etwas zu tun haben mit der Jagd, die jetzt wieder beginnt.<br />

Machtvoll drängelt Unruhe in die Schaltstellen seines Handelns.<br />

Rücksichtslos drückt sie anderes beiseite, beherrscht<br />

schließlich alles Denken und Empfinden. Er neigt sich nach<br />

vorn und hebt die Schultern. Mit eingezogenem Kopf,<br />

ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern gleitet er, den<br />

Oberkörper leicht windend, ins dunkle Gebüsch.<br />

Nach einer Weile teilen sich am Rande eines schmalen<br />

Sandweges Zweige dichtstehender Büsche. Lautlos tritt der<br />

Festmacher ins Freie. Er will sich jetzt erst mal eine<br />

Übersicht verschaffen. Will wissen, was heute los ist, will eine<br />

Runde drehen, wie er das nennt. Nur scheinbar entspannt<br />

schlendert er der nächsten Biegung des Weges entgegen. Ein<br />

Spaziergänger wie andere auch, aber mit witternden Sinnen,<br />

mit auf’s Höchste alarmierten Augen und Ohren.<br />

Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />

Zur gleichen Zeit erhebt sich wankend und augenreibend<br />

eine untersetzte, dunkelgekleidete Gestalt von einer zerfransten<br />

alten Matte. Die liegt <strong>im</strong> Gebüsch versteckt. Querab vom<br />

mittleren Teil des Trampelpfades hinter der Bank auf dem<br />

Hügel. Wenn der Schmied von seiner anstrengenden Tagesarbeit<br />

besonders ermüdet ist, macht er erst einmal ein Nickerchen<br />

auf dieser Matte, bevor er den Festmacher sucht und mit<br />

ihm zusammen auf die Jagd geht. Auf einer alten Matte zu<br />

schlafen, ist für ihn nichts Ungewöhnliches. Er entstammt<br />

einer sehr armen Familie. Noch heute weiß er, was Entbeh-


Explosion 77<br />

rung ist. Noch heute hat er den bitteren Geschmack des Hungers<br />

und der Armut <strong>im</strong> Mund.<br />

Er reckt beide Arme in die Höhe und rudert damit in der<br />

Luft herum. Leise stöhnt er vor sich hin, legt gespreizte Finger<br />

auf die mächtige Brust, drückt die Schultern nach hinten,<br />

lehnt den Kopf in den Nacken und gähnt. Dann hebt er erneut<br />

die Arme, winkelt sie ab, verschränkt die Finger hinter seinem<br />

mit dunklen Locken bedeckten Kopf und macht mit den<br />

Ellenbogen Bewegungen, als wollte er davonfliegen. Mit breitgeschnittenem,<br />

narbenverziertem Mund und rundlicher Nase<br />

strahlt sein Gesicht Gutmütigkeit aus. Unter buschigen Brauen<br />

spähen lustige Augen in die Dunkelheit. Er stellt die Matte<br />

hochkant auf zwei tiefgelegene Äste, damit sie lüften kann,<br />

streicht eine Locke aus der Stirn und windet sich durch dichtes<br />

Buschwerk. Mit einem großen Schritt betritt er den<br />

hinteren Teil des Trampelpfades.<br />

Weniger geschickt als sein hochgewachsener Freund, aber<br />

ebenfalls mit langjähriger Jagderfahrung, schlängelt sich der<br />

Schmied vorbei an Sträuchern und Büschen. Sein Ziel ist der<br />

Spielplatz. Er sucht den Festmacher. Plötzlich entdeckt er,<br />

über Büsche hinweg, ein Liebespaar auf der Bank vor der Hekke.<br />

In großem Bogen pirscht er sich von hinten an die Bank<br />

heran.<br />

Mit einem Ruck hält er inne, bleibt stehen, schüttelt ärgerlich<br />

den Kopf. Die Rechte streicht über den Unterleib. Aufeinmal<br />

hat er es sehr eilig. Geschwind stelzt er zurück durch<br />

hohes Gras. Sein Darm rebelliert. Er schüttelt den Kopf.<br />

“Geht das schon wieder nos!” Es ist <strong>im</strong>mer das gleiche: Die<br />

frische Abendluft und die Jagdst<strong>im</strong>mung regen seinen Stuhlgang<br />

an. Und wie so oft hat er auch heute vergessen, Papier<br />

mitzunehmen. Gras oder Pflanzenblätter tun’s natürlich<br />

auch. Aber da kann man Pech haben. Einmal hat er sich mit<br />

einem Bündel scharfer Grashalme geschnitten. Ein anderes<br />

Mal erwischte er in der Dunkelheit einen Brennesselzweig.<br />

“Verfnucht!”, hat er da gezischt, “das brennt ja wie der Teu-


78 FREUNDE<br />

fen!” Eilig war er zum Bach gehüpft und hatte sich mit kaltem<br />

Wasser Erleichterung verschafft. Der Schmied ist eine<br />

kenntnisreiche, verläßliche Arbeitskraft auf der Werft, aber er<br />

ist ein schlechter Botaniker. Papier ist sicherer.<br />

Vor nicht langer Zeit ist auf der Werft ein Druckkessel explodiert.<br />

Das hat sein Leben verändert. Umherfliegende Kesselteile<br />

schlugen ihm die Vorderzähne raus, beschädigten<br />

Oberkiefer und Lippe und beraubten ihn seiner Zungenspitze.<br />

Nun waren seine Vorderzähne niemals eine Zier. Schon in<br />

den ersten Lebenstagen hatten Mittelfinger und Ringfinger<br />

der linken Hand den Weg zum Mund gefunden. Hier verbrachten<br />

sie fortan viele Stunden. Tagaus, tagein. Jahraus,<br />

jahrein. Mit Hingebung lutschte er auf den beiden Fingern<br />

herum, während die noch zur freien Verfügung stehenden anderen<br />

beiden, der Zeigefinger und der kleine Finger, genüßlich<br />

die Wangen massierten.<br />

Sicher keine schl<strong>im</strong>me Sache an sich. Aber <strong>im</strong> Laufe der<br />

Jahre führte das ständige Nuckeln dazu, daß die zweite Generation<br />

seiner Schneidezähne geradezu abenteuerlich aus<br />

dem Mund hervorragte. Das hatte ihm sogleich nach der<br />

Einschulung den Necknamen ‘Mäuschen’ eingebracht. Später<br />

war der Schmied dann für seine Arbeitskollegen der<br />

‘Raffzahn’. Nach der Kesselexplosion fand alle Neckerei ein<br />

Ende. Ein tüchtiger Zahnarzt verpaßte ihm wunderschöne<br />

neue Zähne. Als Erinnerung an die Explosion blieb aber eine<br />

kleine sprachliche Besonderheit: mit der Zungenspitze hatten<br />

den Schmied auch alle seine Ls verlassen. Dieser Verlust<br />

wurde aber dadurch ausgeglichen, daß ihm seine genesende<br />

Zunge genau die gleiche Anzahl zusätzlicher Ns bescherte.<br />

Auch die Oberlippe erlitt durch die Kesselexplosion Schaden:<br />

einen fast drei Zent<strong>im</strong>eter langen Riß. Seit dessen Vernarbung<br />

ziert den Schmied ein ansehnlicher Schmiß. Der könnte<br />

einem Angehörigen einer schlagenden Studentenverbindung<br />

das Herz höher schlagen lassen. Aber der Schmied weiß das<br />

nicht zu würdigen.


Viel Zeit hat er jetzt nicht mehr zu verlieren. Auf der von<br />

dringender Not beflügelten Suche nach Papier erreicht er den<br />

Spielplatz. Dort hatte er schon des öfteren Papier gefunden.<br />

Und siehe da, dort liegt, neben dem Sandkasten, ein großes<br />

Stück Papier. Schnell reißt er es an sich und rennt damit ins<br />

Gebüsch. Weit genug weg von der nächsten Bank. Das hat<br />

ihm der Festmacher eingebleut. ‘Daß du ja nich unsere Kundschaft<br />

vergraulst!’, hatte der gesagt. Und was der Festmacher<br />

sagt, das ist Gesetz <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Jedenfalls nachts.<br />

Erleichtert strebt der Schmied nun dem Hauptweg zu. Dort<br />

wendet er sich nach rechts.<br />

Quatsch<br />

Quatsch 79<br />

Auch der Festmacher hat den Hauptweg erreicht. Nur einen<br />

Steinwurf weit ist er gegangen, da kommt ihm aus der Dunkelheit<br />

ein untersetzter Mann entgegen. Leicht watschelnd<br />

vertraut der, mehr als das aus Gründen der Statik<br />

erforderlich wäre, sein Gewicht ganz dem jeweiligen Standbein<br />

an. Das kann nur einer sein: sein Freund, der Schmied.<br />

“Halloh!”<br />

“Hannoh!”<br />

Die beiden begrüßen einander wie <strong>im</strong>mer. Sie lassen die<br />

offenen Handflächen ihrer erhobenen Rechten gegeneinander<br />

klatschen und knuffen sich gleichzeitig mit der linken Faust<br />

in die Seite.<br />

“Was gehabt?”<br />

“Nee.”<br />

Seite an Seite gehen die beiden in die Richtung weiter, die<br />

der Festmacher eingeschlagen hatte.<br />

“Schmied!”, ruft der plötzlich. “Was is? An dein Watscheln<br />

hab ich mich ja gewöhnt. Aber da is heut noch so’n extra Dreh<br />

drin. Was’s los?”<br />

Der Schmied duckt sich, zieht die Mundwinkel nach unten.


80 FREUNDE<br />

Wiegt den Kopf. Zuckt mit den Schultern. Dann endlich – er<br />

weiß, wenn der Festmacher eine Frage stellt, dann muß man<br />

antworten – rollt es aus ihm heraus: “Hab ‘n Virus am Arsch.<br />

Obn auf’e Backe. Virus s<strong>im</strong>pnex sagt der Doktor. Krieg ich <strong>im</strong>mer<br />

man wieder.” Erneut zucken Schultern. “Der Doktor verschreibt<br />

annes Mögniche. Nix hinft.”<br />

“Tschaaa”, macht der Festmacher gedehnt. “Warum hast du<br />

mich nich gefragt?”<br />

“Dich? Wieso dich? Ach so, knar, Festmacher weiß annes,<br />

wa?”<br />

“Nich alles. Aber manches. Das nächste Mal, wenn dein<br />

Virus wieder in See sticht, sofort Zahnpasta drauf!”<br />

Wwass??”<br />

“Kein Wundermittel. Aber nich schlechter als Chemiezeug.<br />

Zuerst warmes Seifnwasser. Abwaschn. Mit Kleenex abtupfn<br />

bis alles trockn is. Denn Zahnpasta drauf. Gut verstreichn.<br />

Ganz eintrockn’n lassn. Wenn du hast, n<strong>im</strong>m ‘n Fön. Das<br />

machst du jedn Tag ‘n paarmal. Zahnpasta killt Bakterien, ärgert<br />

den Virus.”<br />

“Das hinft?”<br />

“Nix hilft <strong>im</strong>mer. Du mußt das mal probiern.”<br />

Einmal in Fahrt gekommen, ist es für den Festmacher nicht<br />

so leicht, gleich wieder aufzuhören. “Ich sag dir, die Viren,<br />

die werdn uns noch zu schaffn machn! Schnupfn, Aids, genau<br />

dasselbe. Viele Mittel. Keins hilft. Weißt du, wie lange ‘n<br />

Schnupfn dauert, wenn du zum Doktor gehst? Zwei Wochn.<br />

Und wenn du nich zum Doktor gehst? Vierzehn Tage.” Er<br />

nickt. “Gegn Viren hilft nur Natur. Natur gegn Natur. Und<br />

das auch nich <strong>im</strong>mer. So’n Virus is klüger als der ganze Polizeiverein<br />

in unserm Körper. Menschengrips? Versager! Ich<br />

sag dir: die großn Tiere, die hat der Mensch runtergeschraubt.<br />

Aber die Klein’n, die schafft er nich. Die sind zu gewitzt. Die<br />

werdn uns noch zu schaffn machn. Die sind Meister <strong>im</strong> Anpassn<br />

und Versteckspiel. Kein’n Kopf, keine Arme, keine<br />

Beine, keine Ohrn, keine Augn. Aber ich sag dir, so’n Virus


Quatsch 81<br />

hat mehr auf’n Kasten als das ganze gesammelte Gesundheitswesn!”<br />

Schweigend gehen sie weiter. ‘Jupp’, denkt der Schmied, ‘der<br />

Festmacher. Das ‘n Typ! Mit ninks könnte der Professor sein.<br />

Aber ich gnaub, da hätt der gar kein’n Spaß dran.’<br />

Sie drehen eine Runde. Nichts los. Eine Zeitlang spricht<br />

keiner ein Wort. Dann werden Gedanken des Schmieds zu<br />

Worten: “Das wird <strong>im</strong>mer weniger. Die jungen Neute habn<br />

kein’n Schwung mehr. Weißt du, was ich gnaub? Ich gnaub,<br />

die sind zu faun zum fickn.”<br />

“Na ja, Mann. Ganz so läuft das ja auch nich. Vorhin da<br />

war’n da zwei zugange.”<br />

“Wo?”<br />

“Aufn Spielplatz.”<br />

“Wo da?”<br />

“Auf’e Kante vom Sandkastn.”<br />

“Auf’e Kante vom Sandkastn”, wiederholt der Schmied voller<br />

Hochachtung. “Wahnsinn! Im Niegn?”<br />

“Im Liegn.”<br />

“Akrobaten, wa?” Der Schmied grient und hebt den Kopf in<br />

den Nacken. “Seintänzer, wa?”<br />

Beide lachen.<br />

“Scheint mehr nos zu sein auf’n Spienpnatz jetzt.”<br />

“Scheint.”<br />

“Nos, nass fitschn, Festmacher! Vienneicht gib’s da noch<br />

mehr. Nos, komm!”<br />

Aber auch auf dem Spielplatz ist nichts los.<br />

So gehen sie weiter.<br />

“Okay”, sagt der Festmacher schließlich, “setzn wir uns mal<br />

auf die Bank da.”<br />

Die Bank, das ist eine von den schönsten <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ganz<br />

frisch lackiert. Gestiftet von der Stadtsparkasse. Eine Bank,<br />

die nicht zu übersehen ist und die ein noch weniger zu übersehendes,<br />

großes, blitzendes Messingschild ziert. In die Rükkenlehne<br />

eingelassen, informiert das Schild jeden Rast-


82 FREUNDE<br />

suchenden darüber, wem er diese Wohltat zu verdanken hat.<br />

Doch das Sitzen währt nicht lange. Aus den Tiefen ihrer<br />

Leiber quillt Jagdfieber. Sie drehen eine Runde. Nach angespanntem<br />

aber erfolglosem <strong>Suchen</strong> betreten sie einen halbkreisförmigen<br />

Weg. Da stößt der Festmacher den Freund mit<br />

dem Ellenbogen in die Rippen. Beide sehen sich an, mit hochgezogenen<br />

Brauen, gespitztem Mund und blitzenden Augen.<br />

Der Festmacher nickt und kneift ein Auge zu. Auf der ersten<br />

Bank sitzt ein Paar. Auf der zweiten Bank sitzt ein Paar. Und<br />

ein drittes Paar, das vor ihnen auf dem Weg spaziert, schickt<br />

sich gerade an, auf einer Bank Platz zu nehmen.<br />

“Endnich wieder was an’ne Angen!”<br />

Lautlos verschwinden ihre gebückten Gestalten hinter Büschen,<br />

werden Teil der Finsternis. Von hinten pirschen sie<br />

sich an ihr Wild. Erste Bank. Vier aufgerissene Augen. Nichts<br />

geschieht. Nur leise dahinfließende Unterhaltung. Enttäuscht<br />

machen sich die beiden auf den Weg zur zweiten Bank. “Hast<br />

du gehört”, flüstert der Festmacher, “wie der Herr Gehe<strong>im</strong>rat<br />

da die Menschn hochgejubelt hat?” Leise <strong>im</strong>itiert er das gestelzte<br />

Reden: “Wirklich, meine Liebe, es ist erstaunlich, was<br />

die Menschen alles können. Und wie phantastisch ihr Körper<br />

konstruiert ist. Eine würdige Krone der Schöpfung!”<br />

“Wenn ich ‘n Menschn baun würde”, flüstert der Schmied<br />

zurück, “das erste wär ‘ne zweite Pumpe. Zwei Augn, Ohrn,<br />

Niern, Nungn – aber nur eine Pumpe. Das’s doch ‘ne Fehnkonstruktion!<br />

Wenn die Pumpe ausfännt is annes hin.”<br />

Der Festmacher nickt. Dann flüstert er: “Da gibt’s aber auch<br />

Gutes.”<br />

“Was?”<br />

“Jeder Mensch is so gebaut, dasser mit’m Arsch nich an’n<br />

Kantstein haut.”<br />

Der Schmied prustet. Nur mit Mühe kann er lautes Lachen<br />

unterdrücken. So signalisiert er seinen Beifall mit heftigem<br />

Kopfnicken, schuckelnden Schultern und nach oben abgespreiztem<br />

Daumen der wippenden Faust.


Quatsch 83<br />

Jetzt haben sie die zweite Bank erreicht. Nur leise<br />

dahinplätschernder Gedankenaustausch. Und auch auf der<br />

dritten Bank spielt sich nichts ab.<br />

“Da näuft nix.” Sie tasten zurück zum Weg. “Theater is aus.<br />

Die komm’n direkt ausm Theater. Redn nur genehrtes Zeug.”<br />

Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken quer über den<br />

breiten Mund. “Da näuft nix. Annes ganz kuntivierte Neute.<br />

Vien zu kuntiviert zum Bumsn.”<br />

“Quatsch!” sagt der Festmacher. “Reiner Quatsch!!” Er hebt<br />

den Kopf, zieht die Brauen ganz hoch, schürzt bedeutungsvoll<br />

die dünnen Lippen, bereitet eine Verkündigung vor.<br />

Sie haben eine Bank erreicht. “Setz dich!”<br />

Sitzend fixiert der Festmacher den Mond, saugt eine große<br />

Portion würziger Nachtluft in sich hinein und läßt sie mit leisem<br />

Pusten aus gespitzten Lippen wieder entweichen. Er lüftet<br />

die Schiffermütze und rückt sie wieder an ihren Platz.<br />

Dann hebt er den kräftigen Zeigefinger und verkündet: “Alle<br />

fickn. Junge, Alte, Arme, Reiche. Alle. Auch die ganz kultiviertn<br />

Leute!” Er macht eine Pause. Zieht das Kinn an, so<br />

wie einer, der über eine Halbbrille einen Gegenstand fixiert.<br />

Dann vollendet er seine Verkündigung: “Und ich und du und<br />

der Fiedler – und all die sechs Milliardn Typn, die auf dieser<br />

Erde rumhopsn – alles Bumsprodukte! Eine Riesnfickerei,<br />

sag ich dir. Riesig!” Er spuckt und wischt bedächtig mit<br />

Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. Schließlich<br />

sagt er: “Das ist der Weisheit letzter Schluß. Frei nach<br />

Goethe.”<br />

Der Schmied prustet und hustet. Mit hochrotem Kopf ringt<br />

er nach Luft. “Du und Goethe!”, bricht es aus ihm hervor,<br />

“das’n Ding, wa?” Er schluckt und würgt. Dann lehnt er den<br />

Kopf zurück und lacht, ganz laut, ganz hell, ganz rein. Wie<br />

Quellwasser springt das Gelächter aus seinem Mund. “Festmacher<br />

und Goethe!” Abermals prustet er. “Das’n Paar, wa?<br />

Das’n ...”<br />

Der Festmacher kennt Kritik nur aus dem Munde seiner


84 FREUNDE<br />

Frau. Daß der Schmied es wagt, über etwas, das er sagt, zu<br />

lachen, das ist neu für ihn. Mit gewölbtem Mund und zusammengezerrten<br />

Brauen dreht er sich dem Kleineren zu. Aus den<br />

klaren harten Augen springt ein vernichtender, ein funkensprühender<br />

Blick wie ein Peitschenhieb. Augenblicklich läßt<br />

der Schmied die Schultern fallen, ist mucksmäuschenstill.<br />

Da hebt der Festmacher den Kopf und starrt zum Mond.<br />

Abermals saugt er eine große Portion klarer Nachtluft in sich<br />

hinein und entläßt sie wieder, diesmal mit leisem Zischen.<br />

Dann sagt er, jedes Wort voll wuchtigem Ernst: “Unser Problem<br />

is nur, wir wolln da auch mal was von sehn, von dieser<br />

Riesnfickerei. Nur ganz wenig. Niemand störn.” Dann denkt<br />

er an den neuen Fiedler und grinst: “Niemandem ein Leid zufügen.”<br />

Er spuckt. “Und das is doch wirklich nich zu viel<br />

verlangt. Oder?”<br />

“Right!” ruft der Schmied. “Das is wirknich nich zuvien<br />

vernangt.” Beide blicken stumm in die Nacht. Dann nickt der<br />

Schmied. Mehrmals. Eine Mundbewegung zwingt die Narbe<br />

auf der Oberlippe zum Schlängeln. “Ein richtiger Phinosoph<br />

bist du.” Er fährt mit dem Handrücken über den Mund, blickt<br />

auf zu seinem großen Freund: “Wahnsinn! Festmacher for<br />

President!”<br />

Die beiden stehen auf, recken und strecken sich, rudern mit<br />

den Armen. Dann machen sie sich auf den Weg.<br />

Der Festmacher erzählt dem Freund vom neuen Fiedler.<br />

“Bnoß nich! Bnoß nich noch so ein’n!!” Energisch schüttelt<br />

der Schmied den Kopf.<br />

“Nich noch so ein’n. Der Fiedler aus’m Waldschloß, der fiedelt<br />

jetz woanders. Und der neue Fiedler, das is’n ganz Bescheidener.”<br />

‘Aber’, fügt er in Gedanken hinzu, ‘irgendwie<br />

isser auch ‘n Happn komisch. Weiß der Klabattermann, wo<br />

der Rudi herkommt.’<br />

Dem Schmied ist das gar nicht recht. Er hat die Nase voll<br />

von Fiedlern. Und er hat ein sehr merkwürdiges, ja, ein sehr<br />

schlechtes Gefühl bei dieser Sache.


Aber bevor er seine Bedenken äußern kann, sagt der Festmacher:<br />

“Der spielt in so’m Klub.” Kopfwiegend fügt er hinzu:<br />

“Aber so’n richtiger Nachtklub kann das auch wieder nich<br />

sein, sonst hätt der ja nachts keine Zeit.” Er denkt einen Augenblick<br />

nach. “Vielleicht is das ja auch so’n armer Sack, der<br />

da nur mal ein’n vertretn darf.” Er nickt. “So isses vielleicht ...<br />

Ich sag dir, der is ganz schüchtern. Und der hat soviel Angst,<br />

der tut ein’m richtig leid.”<br />

Das beeindruckt den Schmied. Er hat ein großes Herz. Da<br />

ist viel Platz drin für viel Mitleid. “Ja wenn das so is ...”<br />

“Wir wolln mal ‘n Happn nett sein zu dem”, entscheidet der<br />

Festmacher.<br />

Wunder<br />

Wunder 85<br />

Wiederum sind die beiden Freunde am Spielplatz<br />

angelangt. Aber noch <strong>im</strong>mer ist da nichts los. So gehen sie<br />

weiter, Richtung See.<br />

Zögernd formt sich <strong>im</strong> Schmied ein Gedanke zu einer für ihn<br />

wichtigen Frage. Er senkt den Kopf, starrt auf seine<br />

dahinstapfenden Füße. Überlegt. Druckst. In stummer<br />

Vorübung des zu Fragenden beginnen seine Lippen sich zu<br />

bewegen. Dann wird die Frage zu gesprochenen, zunächst<br />

noch einleitenden Worten: “Du bist einer von den Großn. Du<br />

weißt <strong>im</strong>mer wo’s nang geht. Du bist der König hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />

Jedenfanns nachts.” Wieder druckst er. Fährt sich durch die<br />

üppigen Lokken. Noch <strong>im</strong>mer traut er sich nicht so recht.<br />

Aber dann sagt er: “Ich hab da man ‘ne Frage.”<br />

“Schieß los!”<br />

“Gnaubst du an Gott?”<br />

“Was für ‘ne Frage! Ich glaub nich nur an Gott. Ich seh ihn.<br />

Immerzu. Gott is hier. Im <strong>Park</strong>. Die Blum’n, die Büsche, die<br />

Bäume, die Tiere, die Menschn. Das is Gott.” Mit ernster Miene<br />

fügt der Festmacher hinzu: “Ich sag dir, Gott is ein Wunder.


86 FREUNDE<br />

Ein wundersames Wunder. Und auch wir Spanner”, er tickt<br />

an seinen Mützenschirm, “auch wir mit alln unsern Fehlern,<br />

auch wir sind Gottes Kinder.”<br />

Der Schmied nickt. Mehrmals. Ganz bedächtig. Dann deutet<br />

er mit dem Kopf zum Kirchturm. “Und der da?” Er sieht seinen<br />

Freund an. “Der Gott da in der Kirche?”<br />

“Aus dem bin ich noch nich so richtig schlau gewordn. So wie<br />

die Kirchenfritzn den sehn, is das ‘n Komischer.”<br />

“Wieso?”<br />

“Der is so komisch, ich glaub den habn die Kirchenfritzn<br />

selbstgemacht.”<br />

“Wieso?”<br />

“Die sagn, ihr Gott kann alles. Aber der tut nix. Und was die<br />

Kirchenfritzn sagen, das der tut, das is komisch.” Er schüttelt<br />

den Kopf. “Der hat zwei Maschn, Menschn zu machn. Einmal<br />

aus Erde und einmal mit ‘ner Frau. Aber ohne die anzufassn.”<br />

Er grinst und schüttelt wieder den Kopf.<br />

“Kirchenneute kümmern sich auch um Menschen.”<br />

“Die meistn kümmern sich um ihre Kirche.”<br />

“Die gebn den Menschen vien.”<br />

“Meist nur leere Luft.”<br />

“Und die wissen vien.”<br />

“Meist nur das, was se selber wolln. Aber ihr Gott, der weiß<br />

nich mal wasser selber will. Ich sag dir, der is komisch. Einmal<br />

haut der den Leutn ein’n auf’e Rübe, dasses knackt. Und<br />

einmal macht der wieder auf Barmherzigkeit und vergibt<br />

denen. Stell dir vor: Adam und Eva essen ‘n Apfel. Was macht<br />

der? Der schmeißt se raus aus sein’m Paradies. Für <strong>im</strong>mer<br />

und ewig. Und auch alle ihre Kinder und Kindeskinder, die<br />

doch gar nix dafür könn’n. Aber als die Kindeskinder sein’n<br />

Sohn umbringn, was macht der da? Da bleibt der ganz freundlich<br />

und vergibt den’n. Da st<strong>im</strong>mt doch was nich. Oder?”<br />

“Aber die Kirchenneute ...”<br />

“Die labern. Auch bei ‘ner Beerdigung labern die. ‘Ruhe sanft!<br />

Ewige Liebe!’ Nix wie leere Luft. Nach ‘n paar Dutzend Jahrn


Wunder 87<br />

hol’n se alles wieder raus, weil se den Platz brauchn für die<br />

Nächstn. ‘Ruhe sanft!’ Und nach ‘n paar Tausend Jahrn hol’n<br />

se Reste raus und stelln die ins Museum, und den Totn klaun<br />

se ihre Geschenke. ‘Ewige Liebe!’”<br />

“Aber die Kirchenneute predign schön.”<br />

“Ich hör da nur labern. Nix wie leere Luft. Die müßtn doch<br />

jubeln, wenn ihre Kumpels krepiern. Oder wenn se selbst ins<br />

Gras beißn. Denn kommn se endlich in ihr Gottesreich. Denn<br />

könn’n se endlich in Freudn ewig lebn. Gesund und ohne<br />

Sorgn. Aber die habn Schiß. Genau wie alle andern. Und die<br />

heuln. Genau wie alle andern. Warum? Ich sag dir warum:<br />

weil se ihr eigenes Labern nich glaubn. Weil se ganz tief da<br />

drinnen wissn, daß das alles leere Luft is.”<br />

Der Festmacher schüttelt den Kopf und zuckt die Schultern:<br />

“Und wer hat den Sohn von ihr’m Gott verratn und gekreuzigt?<br />

Die Männer. Wer is bei ihm gebliebn, hat ihm die Treue<br />

gehaltn? Die Frauen. Aber wer is nun sein Vertreter auf Erdn,<br />

und wer hat das Sagn in seiner Kirche? Die Männer! Kriegst<br />

du das auf die Reihe?”<br />

“Nee”, sagt der Schmied, “das krieg ich nich man auf’n Punkt.”<br />

“Warum is Gott ein Mann? Warum keine Frau? Warum<br />

schickt der sein’n Sohn? Warum nich seine Tochter?”<br />

“Warum?”<br />

“Weil die Kirchenfritzn Männer sind!”<br />

“Und die Frauen?”<br />

“Für so manche Kirchnfritzn gibts nur drei Frauen: Heilige,<br />

Nonnen und Nutten.” Der Festmacher spuckt und fährt sich<br />

mit Daumen und Zeigefinger langsam über die Mundwinkel.<br />

“Und was bist du für die? ‘N Bösewicht. Dauernd drohn die dir<br />

mit Strafe. Dauernd mußt du um Vergebung bittn. Alles Mögliche<br />

bring’n die dir bei, nur nich das Lachn.”<br />

“Ja”, sagt der Schmied, “nachn und sich freu’n, das tun die<br />

nicht da in der Kirche. Überhaupt sonnt’n die Neute sich<br />

mehr freu’n und mehr nachn. Wer nacht und sich freut, tut<br />

andern weniger weh.”


88 FREUNDE<br />

Der Festmacher hebt den Zeigefinger. “Und noch was. Die<br />

Kirchenfritzn sagn, ihr Gott is allmächtig, weiß alles, kann<br />

alles, hat unsere Welt gemacht. Ja verdammt noch mal,<br />

warum hat der das denn nich besser gemacht? Sieh dich um.<br />

Das meiste is doch Scheiße! Und warum duldet der so viel<br />

Leid und so viel Ungerechtigkeit? Immer wieder und <strong>im</strong>mer<br />

weiter? Warum n<strong>im</strong>mt der das Leid nich weg, wenn der das<br />

doch kann? Und warum haßt der die Menschn, die den<br />

Kirchenfritzn nich glaubn könn’n oder wolln? Warum verfolgt<br />

der die Ungläubign mit so viel Härte und Haß, dieser<br />

allgütige Gott? Wo is denn da die Güte? Und hat der die denn<br />

nich auch selbst gemacht, die Ungläubign? Das is doch alles<br />

unlogisch. Und auch unwürdig für so’n allerhöchstes Wesen!<br />

Oder?”<br />

“Yes, sir!” Der Schmied ist beeindruckt. “Güte und Niebe<br />

sind wichtig. Härte und Haß nur gegn Böses!”<br />

“Und was is das fürn Gott, der sein’n Sohn für die Sünden<br />

von andern ans Kreuz nageln läßt! Und der den da nich<br />

runterholt, wenn der das doch kann. Und was sind das für<br />

Kirchenfritzn, die so ein’n auch noch anbetn!”<br />

“Right!”<br />

“Ich sag ja, das is’n Komischer.” Der Festmacher zieht die<br />

Mundwinkel nach unten und nickt. “Und das is’n Zauberkünstler.<br />

Der offenbart sich mit links und versteckt sich mit<br />

rechts. Und das alles auf einmal.”<br />

“Jupp!” macht der Schmied. “Und wir soll’n den niebn und<br />

fürchtn. Und das auch annes auf einman.”<br />

Der Festmacher denkt nach. Dann sagt er: “Und die Kirchenfritzn?<br />

Die fordern Freiheit – Freiheit für ihr Gewissn,<br />

Freiheit für ihre Meinung, Freiheit für ihrn Glaubn. Aber<br />

selbst? Die duldn keine Freiheit! Ich sag dir, die sind genau<br />

wie Diktatoren. Nur sie habn recht. Alles andere is falsch. Was<br />

richtig is und was falsch is, das best<strong>im</strong>m’n sie. Ganz allein.<br />

Und weh dir, du bist andrer Meinung!”<br />

Der Schmied verzieht den Mund, daß die lange Narbe sich


windet. Mit geneigtem Kopf nach vorn starrend nickt er. Dann<br />

hebt er den Kopf und lehnt ihn zurück. “So isses.” Wieder<br />

nickt er. “Festmacher weiß <strong>im</strong>mer wo’s nang geht. Festmacher<br />

for President!”<br />

Buschkrieg<br />

Buschkrieg 89<br />

Die beiden haben den See erreicht. Ein Gebiet, das außerhalb<br />

ihres Reviers liegt, in das sie nur selten gehen, sozusagen<br />

nur <strong>im</strong> äußersten Notfall. Aber auch am See ist nichts los. Es<br />

ist kalt geworden. Und es hat zu nieseln begonnen. Das vertreibt<br />

ihr Wild. Sie gehen zurück in ihren Teil des <strong>Park</strong>s.<br />

Zunehmend verdrossen, drehen sie eine weitere Runde.<br />

Die Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche<br />

scheint leer zu sein. Aber in der Dunkelheit kann man das<br />

nicht so genau sehen. So gehen sie am Bach entlang. An der<br />

Stelle, wo der Bach am schmalsten ist, springen sie ans<br />

andere Ufer. Dann pirschen sie sich in weitem Bogen von hinten<br />

an die Bank. Jetzt haben sie den Trampelpfad erreicht,<br />

den der Festmacher <strong>im</strong>mer wieder in Ordnung bringen muß,<br />

weil der Gärtner ihm da <strong>im</strong>mer wieder ins Handwerk pfuscht.<br />

Der hat da sogar dornige Rosen gepflanzt!<br />

Vorsichtshalber holt der Festmacher die Taschenlampe<br />

hervor. Man weiß ja nie, was der Gärtner da wieder angestellt<br />

hat. ‘Hier hat der Arsch nix verlorn. Hier is unser Revier!’ Das<br />

hat der Festmacher nun schon oft gesagt. Auf der Taschenlampe<br />

klebt eine Kappe. Ein schmaler Schlitz läßt nur einen<br />

Sch<strong>im</strong>mer von Licht durch. Gerade genug für die scharfen<br />

Eulenaugen. “Was is das?” Am Ende des Pfades, nahe der<br />

Bank liegt etwas. Der Festmacher bückt sich. Da reißt ihn der<br />

Schmied zurück: “Das’s ‘ne Fanne! ‘Ne dicke fette Fanne! Laß<br />

man ‘n Fachmann ran, wa.”<br />

Der Schmied bricht einen Zweig von einem Busch. Vorsichtig<br />

nähert er sich damit der Falle. Und dann löst er mit dem


90 FREUNDE<br />

Zweig den gespannten Fallenmechanismus aus. Bbbenggg!!<br />

Mit großer Wucht schlagen die Eisenbacken aufeinander. Die<br />

ganze schwere Falle macht einen Luftsprung.<br />

“Mann, Mann, Mann!”, ruft der Festmacher. “Dies gottsverdammte<br />

Arschloch! Stellt da so’n Ding hin. Ohne Absperrung!”<br />

“Bis du sicher, daß das der Gärtner war?”<br />

“Klar war der das. Der kriegt sein Fett!”<br />

“Was winnst du tun?”<br />

“Das wirst du schon sehn. Ersmal schreib ich dem ‘n freundlichn<br />

Brief.”<br />

“ ‘N Brief?”<br />

“Hast du was zu schreibn?”<br />

“ ‘N Kugenschreiber, aber kein Papier.”<br />

“Such was! Geh du da lang. Ich geh Richtung Bank.”<br />

An der leeren Bank angekommen, sieht der Festmacher Papier.<br />

Mitten auf der Bank liegt es, darauf ein großer Stein.<br />

Und ein Manschettenknopf. Er legt den Stein beiseite. Dann<br />

ergreift er erneut die Taschenlampe und betrachtet staunend<br />

den Manschettenknopf. Er steckt ihn in die Hosentasche und<br />

wendet sich dem Blatt Papier zu. Darauf steht etwas geschrieben.<br />

Er liest.<br />

“Das geht in Ordnung”, sagt er und legt Papier, Manschettenknopf<br />

und Stein zurück auf die Bank.<br />

Nun setzt er die Papiersuche fort. Aber er findet nichts. So<br />

kehrt er zurück zur Falle. Dort wartet bereits der Schmied.<br />

“Kein Papier”, meldet der, “aber ‘n Stück Karton.”<br />

“Zeig her. Genau richtig. Den Schreiber!”<br />

Der Festmacher schreibt:<br />

Sie gefährden Tier und Mensch. Sie Unmensch!<br />

Er zwingt die Fallenbacken etwas auseinander und gibt<br />

seinem Freund einen Wink mit dem Kopf. Der schiebt das<br />

Kartonstück dazwischen. Langsam läßt der Festmacher die<br />

Eisenbacken wieder zusammenklappen.


“Der hat ja noch man Schwein gehabt.”<br />

“Denkst du. Jetzt geht’s zur Gärtnerei.”<br />

Dort angekommen, inspiziert der Festmacher den Fuhrpark.<br />

Seine Wahl fällt auf das Gärtnereifahrzeug. Er zieht sein großes<br />

Taschenmesser aus der Seitentasche seiner Hose, klappt<br />

die Schneide auf, arretiert sie und ... zack, zack, zack, sticht er<br />

in den linken Vorderreifen. Ppschschsch sackt das Fahrzeug<br />

nach vorne links ab. Dann n<strong>im</strong>mt er sich den linken Hinterreifen<br />

vor. Zack, zack, zack. Wiederum entweicht zischend die<br />

Luft. Jetzt hat das Fahrzeug eine abenteuerliche Schlagseite –<br />

und der Buschkrieg einen neuen Höhepunkt.<br />

Die beiden gehen zurück in ihr Revier. Nochmals drehen sie<br />

eine Runde.<br />

Nichts los. Gar nichts.<br />

“Ich mach fünfzehn. Bin totan kaputt. Tschüß.”<br />

Auch der Festmacher entschließt sich, nach Hause zu<br />

gehen. Auch er ist todmüde. Ihn wurmt das alles maßlos. Aufkommender<br />

Wind bläht seine Jacke, läßt sie flattern. Er greift<br />

zum Mützenschirm und zerrt ihn in die Stirn.<br />

“Du hast O-Beine!”, ruft er dem Schmied hinterher.<br />

Der hebt nur den linken Arm. Sieht sich nicht um.<br />

“So’n Rattenzirkus!”, sch<strong>im</strong>pft der Festmacher. “Wieder nix<br />

Reelles gehabt. Mann, Mann, Mann!!”<br />

4 WANDERER<br />

Kunst und Wissenschaft 91<br />

“In letzter Konsequenz ist<br />

alles Energie: Masse, Lebloses,<br />

Lebendes, Universum, Gott.”<br />

Kunst und Wissenschaft<br />

Weit draußen am See, auf der weißen Bank am Rande des<br />

verwaisten Bootsanlegers, sitzen zwei Männer. Seit langem


92 WANDERER<br />

wußten sie voneinander aus den Medien. Beide hatten auf<br />

eine Begegnung gehofft. Aber jeder hatte sich gescheut, den<br />

ersten Schritt zu tun. Als der Zufall sie gestern <strong>im</strong> <strong>Park</strong><br />

zusammenführte, stürzten sie sich geradezu aufeinander.<br />

Und schon bald begannen sie ein gehaltvolles Gespräch.<br />

Bevor sie sich am späten Abend trennten, verabredeten sie<br />

sich für den heutigen Tag zum Treff auf der weißen Bank: Der<br />

kahlköpfige Naturwissenschaftler, einfach und salopp<br />

angezogen, und der langhaarige Künstler, in sorgfältig<br />

zusammengestellter Kleidung – heller Sommeranzug,<br />

breitkrempiger weißer Hut und weiße handgefertigte Schuhe<br />

mit schwarzen Wappen auf dem Oberteil. Die Enden eines<br />

locker geknoteten weißen Seidenschals hängen über Brust<br />

und Rücken. Dünne Finger, an denen viele kostbare Ringe<br />

funkeln, umklammern den silbernen Griff eines weißen<br />

Handstocks. Im Verlauf des heutigen Gesprächs hat die Metallspitze<br />

des Stocks schon ein kleines Loch gebohrt in eine<br />

morsche Holzbohle zu seinen Füßen.<br />

Bei dem eleganten, hellgekleideten Herrn handelt es sich<br />

um den krummrückigen Zwerg, der sich mit einem barbarischen<br />

Riesen zu dunklen Abenteuern verabredet hat: den<br />

Maler. Sein neuer Schneider hat es vermocht, den Buckel des<br />

prominenten Kunden völlig unter einem Kunstwerk von<br />

sorgfältig in die Jacke eingearbeiteten Polsterungen verschwinden<br />

zu lassen. Auch die untersetzte Gestalt hat der<br />

Schneider kunstvoll verhüllt und optisch gestreckt.<br />

Schon bei seiner gestrigen Begegnung mit dem Physiker<br />

hatte der Maler mit tief dringendem Gespür Besonderes gelotet.<br />

Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Hoffnung, daß er <strong>im</strong> Hirn<br />

seines neuen Bekannten den Schlüssel finden könnte für die<br />

volle Entfaltung seiner künstlerischen Möglichkeiten und für<br />

eine Befriedung seines zerstrittenen Wesens.<br />

Sexuelle Anregungen in der Finsternis des nächtlichen<br />

<strong>Park</strong>s haben das Feuer seiner Sinneswelt neu entfacht, sein<br />

Genie aus grauer Erstarrung erlöst. Nun will er den elemen-


Kunst und Wissenschaft 93<br />

taren Emotionen aus den Tiefen seines Leibes Geistiges<br />

entgegensetzen. Er strebt einen Ausgleich an zwischen Leib<br />

und Kopf. Dabei soll ihm der Physiker helfen. Durch den will<br />

er sich Zugang verschaffen zu neuestem naturwissenschaftlichen<br />

und philosophischen Wissen, zu den letzten Wahrheiten<br />

und Weisheiten. Der Maler will das große Hirn anzapfen.<br />

Er weiß, der andere hat tief nachgedacht – als Physiker über<br />

Lebloses und als Biologe über Lebendes. Gezielt will er das<br />

fremde Wissen für die eigenen Zwecke nutzbar machen. Vorsichtig<br />

will er dabei vorgehen und geschickt, auf eine solche<br />

Weise, daß der andere seine wirklichen Absichten nicht wird<br />

erkennen können. Bis in die letzten Winkel des großen Hirns<br />

will er sich schleichen, ja bis in die fernsten Bereiche von<br />

Ahnungen und Visionen.<br />

Auch für den Physiker ist die neue Bekanntschaft ein<br />

besonderes Erlebnis. Seit Jahren hat er <strong>im</strong> <strong>Park</strong> – in den<br />

abgeschiedenen Teilen des Sees – nachgedacht über die<br />

Menschen, die Natur und Gott. Jetzt haben seine<br />

Vorstellungen eine Reife erlangt, die nach Mitteilung drängt.<br />

Für ihn ergibt sich hier die Möglichkeit, seine Erkenntnisse<br />

und Gedanken mit einem großen Geist aus einer anderen<br />

Sphäre der Menschenwelt zu erörtern: der Sphäre der Kunst.<br />

So kreuzen sich <strong>im</strong> <strong>Park</strong> die Lebenswege zweier Männer,<br />

die sich wie ungleichnamige Magneten mit der ganzen Kraft<br />

ihrer Verschiedenartigkeit gegenseitig anziehen. Große Geister<br />

sind sie und ständig auf der Suche: Nach den Grenzen<br />

ihrer Möglichkeiten; nach dem Sinn ihres Seins; nach den<br />

Dingen hinter den Dingen; nach den Kräften, die die Welt<br />

gebären, dirigieren und reifen lassen. Dem Physiker geht es<br />

dabei vor allem um die Sache, dem Maler vor allem um sich<br />

selbst.<br />

Auch heute haben die beiden wieder mit zunehmender<br />

Intensität und Tiefe diskutiert. Ihr Geist und ihre Phantasie<br />

sind aufs Höchste angeregt. Ihre Köpfe rauchen.


94 WANDERER<br />

Plötzlich durchzuckt den sensiblen Künstler ein unerklärliches<br />

Gefühl ernster innerer Bewegtheit. Etwas Fremdes<br />

zieht seinen Blick kraftvoll und unwiderstehlich in das Wasser<br />

zu seinen Füßen. Ihn schaudert. Es ist ihm, als sähe er auf<br />

einmal sein Leben vor sich, dort unten <strong>im</strong> klaren, kalten<br />

Wasser – als begegne er sich dort selbst. Eisig kriecht Gänsehaut<br />

über den Buckel. Fassungslos starrt er mit fahl werdendem<br />

Faltengesicht in den gefährlich-gehe<strong>im</strong>nisvoll lockenden<br />

See.<br />

“Ist Ihnen nicht wohl?” fragt der Physiker besorgt.<br />

“D … doch doch. – I … ich …” Mit vor Angst flatternden<br />

Sinnen beginnt der Bucklige plötzlich zu stottern. “E … es<br />

kam auf einmal eine ganz merkwürdige St<strong>im</strong>mung über mich.<br />

Völlig unerwartet. Aus heiterem H<strong>im</strong>mel.” Mit vereister St<strong>im</strong>me<br />

fügt er leise hinzu: “Wie eine schreckliche Vorahnung.” Der<br />

Maler schluckt. Er wendet sich hin und her auf der weißen<br />

Bank, als träfen ihn unsichtbare Peitschenhiebe. Langsam<br />

schwebt, noch <strong>im</strong> Schlierennebel ungewisser Formen, ein Bild<br />

empor aus dem Grün des tiefen Wassers. Allmählich gewinnt<br />

es Konturen und Farbe. Dann leuchtet es auf in all seiner<br />

Schönheit und in all seiner Bedrohlichkeit: das Bild des Engels!<br />

Der bezaubernde Mund lächelt, aber die traurigen<br />

Augen mahnen und drohen. Und jetzt flüstert auch der Mund<br />

Drohendes – etwas von Schuld und auch von Sühne.<br />

Alle Versuche des Künstlers, aus dem vom Engel Beherrschten<br />

zum Beherrscher des Engels zu werden, sind fehlgeschlagen.<br />

Er hat es nicht vermocht, den Engel zu einem Teil<br />

seines kreativen Könnens zu machen. Wie oft hat er nun<br />

schon vor leerer Leinwand gehockt; wie oft schon war seine<br />

Hand nach dem ersten Pinselstrich erstarrt!<br />

Der Maler hat starke äußere und innere Augen. Überhaupt<br />

ist er vor allem und zuallererst Auge. Das Auge aber, das<br />

äußere wie das innere, baut Bilder. Und das Bild ist mächtig.<br />

Für den Maler ist es mächtiger als das Wort, mächtiger als die<br />

Musik, mächtiger als der Geist. Für ihn ist das Bild vor allem


Kunst und Wissenschaft 95<br />

anderen. Es ist der Quell, aus dem sein Wesen sich formt.<br />

Mit aller Kraft reißt er sich los von dem Bild <strong>im</strong> Wasser. Erst<br />

nach einer ganzen Weile gelingt es ihm, die Gedanken wieder<br />

zu ordnen und zurückzuzwingen in das Gespräch: “W … was,<br />

was sagen Sie … zu meinen Ausführungen?”<br />

“Sie haben völlig recht. Kunst und Wissenschaft gehören<br />

zusammen, wenn es darum geht, die Welt mit all unseren<br />

Sinnen unmittelbar und intensiv zu erleben. Sowohl für die<br />

Kunst als auch für die Wissenschaft gilt: dem Kreativen gehört<br />

die Bühne. Wie Sie, so probiere auch ich mich <strong>im</strong>mer<br />

wieder aus, taste mich vor an meine Grenzen. Immer wieder<br />

exponiere ich mich Neuem, setze ich mich extremen Situationen<br />

aus. Gespannt beobachte ich dann, wie ich darauf reagiere,<br />

ob mir das weiterhilft bei meiner Suche nach einem<br />

besseren Verständnis der Welt in mir und um mich. Und <strong>im</strong>mer<br />

wieder bedrängt mich dabei die Frage: Was eigentlich<br />

verbirgt sich hinter dem, was ich sehe, was hinter dem, was<br />

ich fühle?”<br />

Noch <strong>im</strong>mer starrt der Maler in das Wasser vor und unter<br />

sich. Abrupt ruft er: “D … darf ich Sie zu einer Tasse Tee<br />

einladen?”<br />

“Gern.”<br />

Nach einer stummen Wanderung erreichen die beiden das<br />

Waldschloß. Rasch öffnet der Maler die Tür und strebt, mit<br />

federnden Schritten dem anderen davonlaufend, einem für<br />

besondere Gäste reservierten Nebenraum zu. Erst nachdem<br />

er dessen Tür hinter dem überrascht hinterdrein eilenden<br />

Physiker geschlossen hat, fühlt er sich wieder sicher. Aufatmend<br />

läßt er sich in einen der drei buntgepolsterten Korbsessel<br />

fallen. Bei dem diskret eintretenden Kellner bestellt er<br />

zwei Portionen schwarzen Tee.<br />

Und dann stürzen sich Künstler und Wissenschaftler geradezu<br />

hungrig in die Fortführung ihres Gesprächs. “Mich”,<br />

sagt der Physiker, “hat unser Thema, Kunst und Wissenschaft,<br />

schon seit langem beschäftigt.” Mit Daumen und Fin-


96 WANDERER<br />

gern umklammert er sein eckiges Kinn und gewährt den<br />

Gedanken einen Exkurs in die Vergangenheit. Schweigend<br />

streicht er über den kahlen Schädel. Auf völlig haarloser Haut<br />

glänzt dünner Schweiß unter den Strahlen der Hängelampe.<br />

“Als ich gestern abend, noch ganz eingefangen von unserem<br />

Gespräch, nach Hause kam, da passierte etwas Merkwürdiges.<br />

Ich öffnete die Tür zu meinem Wohnz<strong>im</strong>mer, und da<br />

sprang mir, in des Wortes ureigenster Bedeutung, ein Bild<br />

entgegen. Viele Jahre hatte es unbeachtet an der Wand neben<br />

meinem Kamin gehangen. Aber jetzt, auf einmal, hatte es<br />

seine alte feurige Faszination zurückgewonnen.” Er schiebt<br />

die Brille hoch und macht eine Pause. Man sieht ihm an, daß<br />

seine Gedanken eine weite Reise antreten. “Mit diesem Bild<br />

hat es eine besondere Bewandtnis.”<br />

“Ach, ja?”<br />

“Und diese Bewandtnis hat eine enge Beziehung zu unserem<br />

Thema.”<br />

“Sie machen mich neugierig!” Nur flüchtig nickt der Maler<br />

dem Kellner zu, der jetzt den Tee bringt. “Bitte spannen sie<br />

mich nicht auf die Folter!”<br />

“Vor drei Jahrzehnten habe ich an einem Physikerkongreß<br />

in Paris teilgenommen. Ein großer, ein großartiger Kongreß!<br />

Ich war ein blutjunger Wissenschaftler. Für mich wurde der<br />

Kongreß zu einem Schlüsselerlebnis. Ich war begeistert von<br />

den neuen Erkenntnissen, die dort vorgetragen wurden. Bis<br />

tief in die Nacht hinein haben wir darüber mit Feuereifer diskutiert.<br />

In unseren erhitzten Köpfen feierten die Fortschritte<br />

der Wissenschaft glanzvolle Triumphe. Was waren das für<br />

phantastische Möglichkeiten, die uns eine Anwendung der<br />

neuen Methoden erschließen würden!<br />

Und dann passierte es. Ich lernte eine junge, hübsche Rumänin<br />

kennen: dunkelhaarig, mit einer faszinierenden Figur.<br />

Sie war Malerin.”<br />

“Oho! Schon damals Physik und Malerei!” lacht der Maler<br />

und lehnt sich zurück in seinen Sessel. “Freilich”, schmunzelt


Kunst und Wissenschaft 97<br />

er, “da endet der Vergleich. Ihre damalige Bekannte war unendlich<br />

viel attraktiver als Ihr heutiger Gesprächspartner.”<br />

“Das kommt auf die Perspektive an. Aber ich leugne nicht,<br />

daß das Weibliche seine besonderen Reize hat.” Versonnen<br />

lächelt der Physiker vor sich hin. Dann sagt er: “Da ich großes<br />

<strong>Inter</strong>esse an den Arbeiten der Rumänin hatte – korrekter<br />

gesagt, zu diesem Zeitpunkt vorgab zu haben – lud sie mich<br />

für den nächsten Abend in ihre Wohnung ein. Dort wollte sie<br />

mir ihre Arbeiten zeigen.”<br />

“Sie machen mich wirklich neugierig!”<br />

“Ich kann Ihnen sagen! So was hatte ich noch nie erlebt. In<br />

dem kleinen, einzigen Z<strong>im</strong>mer der Rumänin war alles, aber<br />

auch alles vollgestellt, in dem wildesten Durcheinander, mit<br />

Kisten, Kochtöpfen, Tellern, Tassen, Farbtöpfen, Pinseln,<br />

leeren Leinwänden, Ölbildern, Schuhen, Röcken, Blechdosen,<br />

Blusen. Nur zwei wackelige Stühle und eine zerwühlte,<br />

durchgelegene Couch erinnerten daran, daß hier auch<br />

gewohnt wurde. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Die<br />

Gastgeberin rührte das überhaupt nicht. Fröhlich fragte sie –<br />

ohne meinen Schock auch nur <strong>im</strong> mindesten zur Kenntnis zu<br />

nehmen: ‘Trinken wir eine Flasche Rotwein?’<br />

‘Jjj … ja’, stotterte ich.<br />

Da nahm sie mehrere Töpfe, einen Plattenspieler und eine<br />

Bratpfanne, an der noch die Überreste der letzten Malzeit zu<br />

erkennen waren, von einer großen alten Kiste. Hob deren<br />

Deckel in die Höhe und kramte darin herum mit tief gebeugtem<br />

Kopf und hängenden schwarzen Haaren. Schließlich förderte<br />

sie eine Flasche und zwei Gläser zu Tage. Mit den<br />

Zähnen zog sie den Korken. Dann schenkte sie ein, reichte mir<br />

ein Glas und prostete mir zu.<br />

Der Wein schmeckte vorzüglich. Das sagte ich ihr. ‘Pr<strong>im</strong>a’,<br />

meinte sie. Und dann sagte sie, mit dem rechten Arm ausholend,<br />

‘und nun wollen wir uns mal meine Arbeiten ansehen.<br />

Das Z<strong>im</strong>mer ist zu klein. Die Bilder brauchen Abstand, Perspektive.<br />

Darum haben mein Freund, er wohnt nebenan, und


98 WANDERER<br />

ich einen breiten Durchgang durch die Wand geschlagen. Als<br />

der Hauswirt gerademal nicht da war. Vor drei Jahren.’<br />

Sie begann damit, einen großen alten Teppich, der mit zahlreichen<br />

angenähten Ösen an ebensovielen kräftigen Wandhaken<br />

befestigt war, Öse für Öse aus den Haken zu heben, bis<br />

er vollends zu Boden gesunken war. Dann zog sie ihn beiseite.<br />

Jetzt blickten wir durch das riesige Loch in der Mauer auf<br />

die Rückseite eines ähnlichen Teppichs, der den Durchgang<br />

von der anderen Seite, also vom Z<strong>im</strong>mer ihres Freundes<br />

her, verdeckte. Mit diesem Teppich verfuhr sie auf die gleiche<br />

Weise. Sie ging hinüber in das andere Z<strong>im</strong>mer. Für einen<br />

Augenblick war sie meinen Blicken entschwunden. Dann erstrahlten,<br />

in gleißendem Scheinwerferlicht, an der gegenüberliegenden<br />

Wand neun Ölbilder. Sofort beeindruckten<br />

mich diese Bilder sehr stark. Ich konnte weder sagen wodurch<br />

noch warum. Die Bilder machten, jedenfalls für mich, keinerlei<br />

Sinn. Aber alle waren in ihrer Figuration, ihrer Farbkomposition<br />

und in ihrer Flächenaufteilung absolut faszinierend.<br />

Die Rumänin stand <strong>im</strong> hellen Licht neben ihren<br />

Werken.<br />

Ich sagte ihr, daß ich die Bilder überwältigend eindrucksvoll<br />

fände. Da entblößte ein strahlendes Lächeln ihre schneeweißen,<br />

<strong>im</strong> Licht der Scheinwerfer blitzenden Zähne. ‘Es freut<br />

mich’, sagte sie, ‘daß meine Arbeiten Ihnen gefallen.’ Sie ging<br />

von einem Bild zum anderen und erläuterte Einzelheiten.<br />

‘Wie machen Sie das?’ fragte ich.<br />

‘Das sag ich nicht! Das hat ja auch mit unserem Thema<br />

nichts zu tun. Sie haben gestern abend behauptet, daß nur die<br />

Wissenschaft dem Kern der Dinge nahe kommen kann. Ich<br />

aber sage Ihnen, wenn ich diese Bilder erschaffe, wenn ich sie<br />

sehe, dann habe ich Empfindungen, die mir keine Wissenschaft<br />

vermitteln kann. Während ich male und ganz besonders<br />

am Ende – wenn alles richtig ist, alles st<strong>im</strong>mt – fühle ich<br />

mich der Schöpfung, meinem tiefstinneren Wesen, meinem<br />

Gott so nahe, wie mir das kein anderes Erlebnis je ermöglicht


Kunst und Wissenschaft 99<br />

hat. Ich habe gedichtet, musiziert und als Biologin drei Jahre<br />

lang wissenschaftlich gearbeitet. All das hält überhaupt keinen<br />

Vergleich aus mit dem Erlebnis des Malens, mit diesem<br />

einmaligen Mich-Selbst-Erfahren, das mir aus dem Erschaffen<br />

meiner Bilder erwächst. Diese visuelle und emotionale<br />

Urkraft! Diese Wucht der Farben, diese Gewalt der Formen!<br />

Dieser vibrierende Aufruhr bis in meine verborgensten Tiefen!<br />

Ich sage Ihnen’, fuhr sie fort, ‘ihr Wissenschaftler seid arme<br />

Wichte. Ihr seht <strong>im</strong>mer nur einen winzigen Ausschnitt von<br />

dem, was wir Menschen mit unseren Sinnen erfahren können.<br />

Ihr seid Nachtwandler. Mit einer Taschenlampe in der Hand,<br />

seht ihr nur einen kleinen Auschnitt aus einer gewaltigen<br />

Szene. Wir Künstler aber, insbesondere wir Maler, wir sind<br />

Sonnenkinder, wir können, wenn alles st<strong>im</strong>mt, eine Landschaft<br />

sehen – eine Landschaft von unerhörter Leuchtkraft, von<br />

überwältigender Schönheit und von riesigen D<strong>im</strong>ensionen, bis<br />

hin zum Herrgott.’<br />

Abermals war ich beeindruckt und sprachlos.<br />

Dann versuchte ich, der Rumänin klar zu machen, daß die<br />

Wissenschaft allgemeinverbindliche, nachprüfbare und reproduzierbare<br />

Erkenntnisse zu gewinnen vermag. Erkenntnisse,<br />

auf denen ganze Weltbilder aufgebaut worden sind, auf denen<br />

letztlich unsere Gesellschaftsordnung basiert. Erkenntnisse,<br />

die unser heutiges Leben, unsere Kultur, Medizin, Technik,<br />

Ernährungsgrundlage und, und, und – überhaupt erst ermöglicht<br />

haben. Erkenntnisse, die …<br />

‘Ja natürlich’, unterbrach sie mich. ‘Auch mein Radio, mein<br />

Auto, meine Farben … all das wäre ohne Wissenschaft nicht<br />

möglich.’ Sie verteilte den Rest des Rotweins auf unsere<br />

Gläser. ‘Aber mich kümmert das wenig. Ich suche etwas ganz<br />

anderes. Ich suche mich! Ich will mich, mich ganz persönlich,<br />

erfahren – mich, als einen einmaligen Wurf der Schöpfung.<br />

Und ich will mich in direkte Beziehung bringen zu dieser<br />

Schöpfung. Ich will wissen, wo meine ganz persönlichen Mög-


100 WANDERER<br />

lichkeiten liegen. Ich will meine ganz persönlichen Eigenarten<br />

erforschen, meine ganz persönlichen Reaktionen und Empfindungen<br />

austesten und auskosten. Das geht nicht mit dem Verstand<br />

allein, das braucht den ganzen Menschen, mit all seinen<br />

Sinnen, all seinem Herzen und all seiner Seele.’<br />

Sie schaltete die Scheinwerfer aus. Dann nahm sie einen<br />

großen Schluck Rotwein zu sich, bewegte den Wein <strong>im</strong> Mund<br />

herum und ließ ihn in kleinen Portionen über die Zunge gleiten.<br />

‘Ich will meinen Schöpfer fühlen!’, fuhr sie fort. ‘Ich weiß, ich<br />

kann ihn nicht begreifen, also will ich ihn fühlen, empfinden,<br />

mit jeder Zelle meines Körpers. Und das kann ich nur, wenn<br />

ich male, und auch nur dann, wenn ich so male, wie ich male.<br />

Früher’, sie kramte unter einem Stapel von Sperrmüll –<br />

anders kann ich das wirklich nicht bezeichnen – bemalte Leinwände<br />

hervor: wunderbare Landschaften, Akte, Portraits.<br />

Gekonnt gemalt, jedenfalls nach meiner Laienmeinung. ‘Früher,<br />

da hab ich so was gemacht. Genügt mir nicht mehr.<br />

Zündet keinen Funken mehr.’<br />

Vor sich hinblickend, strich sie sich Haar aus der Stirn. ‘In<br />

meinen Bildern fange und banne ich den absoluten Höhepunkt<br />

meiner Erlebnisfähigkeit. Be<strong>im</strong> Malen taste ich mich<br />

vor an die Grenzen dessen, was Menschen überhaupt<br />

erfahren können. Ein gelungenes Bild reicht weit hinaus über<br />

den Augenblick.’ Sie schüttelte langsam den Kopf. ‘Unsere<br />

tiefsten Gefühle lassen sich nicht analysieren, nicht einmal<br />

beschreiben. Wir können sie nur erleben, empfinden und<br />

sehen, in inneren und äußeren Bildern’.<br />

Die Rotweinflasche war jetzt leer. Ohne mich zu fragen holte<br />

sie eine zweite Flasche aus der alten Kiste. Als auch die leer<br />

war, hatte unser Gespräch eine Tiefe erreicht, die mich erschütterte.<br />

Und dann fragte ich sie doch noch einmal: ‘Wie machen Sie<br />

das? Wie malen Sie Ihre Bilder?’<br />

Sie sah mich an, als wollte sie sagen: Sie sind ja ein ganz


Kunst und Wissenschaft 101<br />

Schl<strong>im</strong>mer! Ich hab Ihnen doch schon gesagt, das sag ich<br />

nicht. Aber dann bewirkte der Wein doch ein Wunder. Plötzlich<br />

kniff sie kokett ein Auge zu, stand auf und sagte: ‘Ich mag<br />

dich, du komischer Physiker.’ Sie räumte den Fußboden ab,<br />

legte eine große leere Leinwand darauf und beschwerte sie an<br />

jeder Ecke mit einem Stein. Dann sagte sie: ‘Und weil ich dich<br />

mag, laß ich dich jetzt einen Blick tun hinter die Kulissen, einen<br />

Blick tief in meine Malerseele.’<br />

Sie verschloß die Tür, auch die nebenan, <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer ihres<br />

Freundes. ‘Das ist absolut notwendig, ich muß das sichere<br />

Gefühl haben, allein zu sein, nicht gestört zu werden. Und<br />

du’, sagte sie und hob warnend den Zeigefinger, ‘du setzt dich<br />

jetzt da hinten in die dunkle Ecke auf den Boden. Und wenn<br />

du dich bewegst oder auch nur hustest oder dich räusperst,<br />

dann ist alles zuende. Dann höre ich sofort auf. Schluß. Aus.<br />

Vorbei!’<br />

Als ich aus ihrem unmittelbaren Blickfeld verschwunden<br />

war, mit angezogenen Knien in der dunklen Ecke auf dem<br />

Boden hockte, brachte sie Töpfe herbei mit Ölfarben. Sorgfältig<br />

überlegend, verteilte sie die Töpfe um die Leinwand herum.<br />

Sie legte Platten auf. Ganz merkwürdige, rhythmische, allmählich<br />

<strong>im</strong>mer schneller und <strong>im</strong>mer lauter werdende Musik.<br />

Vielleicht indisch. Sie zündete zahlreiche Kerzen an und<br />

löschte das elektrische Licht. Dann zog sie sich aus. Splitterfasernackt.<br />

Langsam ging sie um die Leinwand herum. Zunächst<br />

stockend, <strong>im</strong>mer wieder pausierend, dann schneller, <strong>im</strong>mer<br />

schwungvoller. Schließlich tanzte sie <strong>im</strong> Takt der<br />

fremdartigen Musik. Plötzlich bückte sie sich. Griff mit beiden<br />

Händen in einen der Farbtöpfe und knetete die breiig-flüssige<br />

Farbmasse. Und dann, etwas in die Knie gehend, so wie einer,<br />

der kegelt, schleuderte sie, erst mit der Rechten, dann mit der<br />

Linken, kllatsch, kllatsch, Farben in verschiedene Richtungen<br />

über die Leinwand. Immer rascher, <strong>im</strong>mer ekstatischer sprang<br />

sie von Topf zu Topf, warf in wechselnde Richtungen, klllattsch,


102 WANDERER<br />

klllatttschsch, Farbmasse nach Farbmasse. In wildem Durcheinander<br />

und Übereinander begannen die Ölfarben Schichten<br />

und Hügel zu bilden. Das ging so eine ganze Weile. Dabei geriet<br />

sie zunehmend in einen Zustand äußerster Erregtheit, ja<br />

Besessenheit.<br />

Und dann! Dann nahm sie ein großes, in wilden Kurven gebogenes<br />

Bandeisen von der Wand, stürzte sich damit auf die<br />

Leinwand und begann, <strong>im</strong> Farbbrei kniend, das Bandeisen<br />

kreuz und quer und quer und kreuz zu schieben, hin und her<br />

und her und hin. Zwischendurch machte sie <strong>im</strong>mer wieder<br />

eine Pause und betrachtete das Ergebnis. Dann ging es wieder<br />

weiter. Plötzlich hielt sie inne. Schrie markerschütternd!!<br />

Sackte in sich zusammen. Ihr nackter Körper, in wildem<br />

Durcheinander mit Farbspritzern bekleckert, lag zuckend neben<br />

der Leinwand. Dann schob sie sich zitternd und erschöpft<br />

rückwärts und verschwand schließlich <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer ihres<br />

Freundes.<br />

Ich hockte da, in der dunklen Ecke, und starrte vor mich<br />

hin. Mein Blick sog sich fest an der Leinwand. Ich war wie<br />

gelähmt. Mein Kopf war unendlich schwer. Es stank<br />

fürchterlich nach Öl und nach anderen Dingen, die ich nicht<br />

kannte. Der Raum war irrsinnig leer, nachdem die Rumänin<br />

ihn verlassen hatte. Ganz langsam gewann das, was ich da<br />

vor mir sah, eine andere Qualität. Der Plattenspieler hatte<br />

aufgehört, den Raum mit seinen Rhythmen zu peitschen. Die<br />

flackernden Kerzen warfen stumme, huschende Muster aus<br />

Licht und Schatten über eine unwirkliche, eine phantastische<br />

Szene. Alles erschien mir plötzlich fremd und gespenstisch.<br />

Ich war wie hypnotisiert. – Unmerklich verging die Zeit.<br />

In die unendliche Stille meiner Verlorenheit drängte sich<br />

das Geräusch klirrenden Porzellans. Und dann stand die<br />

Rumänin <strong>im</strong> Mauerdurchbruch, lustig anzusehen in ihrem<br />

bunten Kleid und dem weißen, mit roten Punkten übersäten<br />

Tuch über ihren Schultern. Sie duftete nach Frische, und sie<br />

trug ein Tablett mit Kaffee, französischem Langbrot und


Kunst und Wissenschaft 103<br />

Käse. Sie öffnete das Fenster. Die hereinströmende Nachtluft<br />

tat mir gut. Sie schenkte Kaffee ein. Wir tranken und aßen.<br />

Schweigend.<br />

Dann sagte sie ganz ruhig: ‘Siehst du, so mach ich das. Von<br />

zehn Bildern, die so entstehen, werfe ich später neun weg. Sie<br />

genügen nach genauerem Hinsehen und kritischer Bewertung<br />

nicht meinen Ansprüchen. Leinwand und Farben sind teuer.<br />

So komme ich nie auf einen grünen Zweig, auch wenn ich jetzt<br />

schon ganz gut verkaufe.’<br />

Und dann sagte sie noch einmal: ‘Du hast es nun gesehen.’<br />

‘Ja’, sagte ich. ‘Das hat mich sehr beeindruckt … Mir war<br />

als hattest du am Ende einen Orgasmus.’<br />

‘Natürlich!’ rief sie. ‘Das ist ein emotionaler Vulkanausbruch.<br />

Genauso wie wenn man Liebe macht. Aber das kommt<br />

mehr aus der Höhe als aus der Tiefe.’ Sie sah mich an. ‘Das<br />

läuft auf einer anderen Ebene, in einer anderen Landschaft.’<br />

Und dann haben wir Liebe gemacht, die ganze Nacht. Es<br />

war wundervoll. Zwischendurch habe ich gefragt: ‘Was ist,<br />

wenn dein Freund uns überrascht?’<br />

‘Wieso?’ hat sie zurück gefragt, ‘er ist doch mein Freund, er<br />

liebt mich doch. Also freut er sich, wenn ich glücklich bin. Eifersucht<br />

kennen wir nicht. Aber eine Liebe, von der andere<br />

nur träumen können.’<br />

Am nächsten Morgen hat mir die Rumänin zum Abschied<br />

ein Bild geschenkt. Ich habe es rahmen lassen. Es hängt neben<br />

dem Kamin in meinem Wohnz<strong>im</strong>mer.”<br />

Lange verharrt der Künstler stumm <strong>im</strong> Korbsessel, mit vorgeneigtem<br />

Oberkörper und aufeinander gepreßten Wulstlippen.<br />

Dann schiebt er die Unterlippe vor und nickt. Gedankenverloren<br />

streicht er über lange schwarze Haare. Steifrückig<br />

richtet er sich auf und wendet das Gesicht dem<br />

Wissenschaftler zu: “Die Rumänin kann ich gut verstehen. Ich<br />

male zwar auf eine andere Art, aber vieles von dem, was sie<br />

fühlt, das empfinde auch ich. Und vieles von dem, was sie ge-


104 WANDERER<br />

sagt hat, das sehe ich ganz ähnlich … Und ich hätte das nicht<br />

besser sagen können.”<br />

Der Maler betrachtet seine grazilen, ringverwöhnten Finger.<br />

“Freilich”, sagt er dabei, “Kunst und Wissenschaft sind<br />

zwei verwandte Seiten unseres Wesens. Erst gemeinsam ermöglichen<br />

sie uns, weit vorzudringen in das, was in und um<br />

uns ist.”<br />

Wenig später wandern Künstler und Wissenschaftler den<br />

Pfad entlang, der an seinem Ende einmündet in den großen<br />

Rundweg um den See. Listig flüstert der Maler, und tut dabei<br />

so, als spräche er zu sich selbst: “Ich wünschte mir, ich hätte<br />

wie die Rumänin eine Ausbildung in den Wissenschaften genossen.<br />

So muß ich versuchen, mein Weltverständnis mit dem<br />

Wissen anderer zu vervollkommnen.” Als der Physiker nichts<br />

sagt, überlegt er, wie er es am besten anstellen könnte, tief in<br />

das Hirn des anderen vorzudringen.<br />

Mit einem Ruck bleibt er stehen und dreht sich etwas in<br />

der Hüfte. Aus schräggestellten Augen sieht er den Größeren<br />

von unten her an. Mit gezielter Nachdrücklichkeit sagt er,<br />

seine Worte sorgfältig wählend: “Sie sind ein in allen Kulturnationen<br />

hochgeachteter Physiker, Biologe und Philosoph. Ich<br />

weiß, daß Sie über die Welt viel und intensiv nachgedacht<br />

haben.” Er fixiert den silbernen Handgriff des am Schaft emporgehobenen<br />

Spazierstocks. “Ich wäre Ihnen außerordentlich<br />

dankbar, wenn ich da einmal hinter Ihre Kulissen sehen<br />

dürfte. Wenn Sie mir, wie das die Rumänin für Sie getan hat,<br />

einen Blick tief in Ihre Wissenschaflerseele eröffnen würden.”<br />

Er läßt den Handstock durch seine locker geschlossene Hand<br />

zügig nach unten gleiten, fängt ihn am Griff und stößt die<br />

Stockspitze in den Boden. “Wenn Sie mir offen darlegen<br />

würden, wie Sie, Sie ganz persönlich, den Menschen sehen,<br />

das Universum und Gott.”<br />

“Das ist eine weite Wanderung, eine abenteuerliche Expedition!<br />

Da gibt es wenige fundierte Antworten, weite Wissenslücken<br />

und riesige Wissenswüsten. Da gibt es Hypothesen


Kunst und Wissenschaft 105<br />

und gewagte Visionen.”<br />

“Werden Sie dennoch meine Bitte erfüllen? Das bedeutet<br />

unendlich viel für mich!”<br />

“Ja”, sagt der Physiker.<br />

Der Maler triumphiert. Er ist auf dem Wege! Er wird das<br />

fremde Hirn aussaugen. Er wird es sich nutzbar machen!<br />

Der Physiker spürt die Erregung des anderen. Aber er mißdeutet<br />

dessen Absicht. “So große Themen erfordern Zeit für<br />

eine angemessene Erörterung.”<br />

“Ich habe Zeit!” ruft der Maler. “Ich nehme mir Zeit, alle<br />

Zeit, die wir benötigen. Sie ahnen nicht, was das für mich bedeutet.”<br />

“So manches Bild hinter den Kulissen wird Sie überraschen.<br />

Und so mancher Blick in meine Wissenschaftlerseele wird Sie<br />

erschrecken.”<br />

“Ich denke mir mal”, grinst der Maler, “ich werde den Mut<br />

aufbringen, mich erschrecken zu lassen! – Gehen wir ganz um<br />

den See herum?”<br />

“Ja.”<br />

In der Absicht, das Auskundschaften des Physikerhirns<br />

sorgfältig vorzubereiten, sagt der Maler: “Zunächst einmal<br />

habe ich da eine grundsätzliche Frage.”<br />

“Nämlich?”<br />

“Wie funktioniert und was will Wissenschaft?”<br />

Da der Physiker nicht sogleich antwortet, sagt der Maler:<br />

“Bei uns in den visuellen Künsten gibt es drei Grundfaktoren:<br />

das schöpferische Gestalten erlebter Gefühle und<br />

Erfahrungsinhalte durch den Künstler, die Macht des Kunsthandels,<br />

der durch sein Trendsetting und seine Geschäftsinteressen<br />

maßgebliche Akzente setzt, und die ‘Verbraucher’:<br />

Staat, Kirche, Wohlhabende. Die Bewertung der Leistung<br />

eines Künstlers ist letztlich eine Kombination aus diesen drei<br />

Faktoren. Eine allgemeinverbindliche Geschmacksnorm gibt<br />

es nicht.”<br />

Als der Physiker nichts sagt, fährt der Maler fort: “Große


106 WANDERER<br />

Kunst gebiert Ehrfurcht und Staunen – über die Großartigkeit<br />

der Natur und ihres Schöpfers. Sie läßt den Beschauer<br />

nachdenken über die Vergänglichkeit des Menschen und seiner<br />

Werke. So wird der Künstler zum Künder seiner Zeit und<br />

zum Deuter der Schöpfung. Von allem Menschlichen kommt<br />

große Kunst dem Wesen Gottes am nächsten. Kleine Kunst<br />

dagegen wird nicht selten durch Betrüger groß in Szene gesetzt.<br />

Mit glasharten Verdummungskampagnen und geschickten<br />

Werbe- und Verkaufsstrategien machen Scharlatane auf<br />

diese Weise vermutliche Kunst zur Spekulationsware und<br />

verdienen daran Millionen.”<br />

Der Physiker bleibt stumm. Da fügt der Maler hinzu: “Dem<br />

Künstler, der von seiner Kunst leben will, weht der Wind hart<br />

ins Gesicht. Nur der überlebt, der in den Augen der Betrachter<br />

bestehen kann. Der Mittelmäßige muß darben, der Schwache<br />

sterben.”<br />

“Ein weites Feld”, sagt der Physiker.<br />

“Freilich. Kunst reicht von Malerei über Tanz, Theater, Film,<br />

Literatur bis hin zur Musik. Hier manifestiert sich die Vielgesichtigkeit<br />

der menschlichen Seele.”<br />

“Was ist für Sie der Kern von Kunst und Wissenschaft?”<br />

“Beide lieben den Geist des <strong>Suchen</strong>s”, antwortet der Maler.<br />

“Aber beide suchen auf verschiedene Weise. Kunst sucht<br />

nach individuellen Formen der Wahrnehmung und deren Umsetzung,<br />

Wissenschaft nach allgemeinverbindlichen Tatsachen<br />

und Theorien.”<br />

“Kunst und Kitsch – wo liegt der Unterschied?”<br />

“Da spielt die eigene Sicht eine Rolle, der eigene<br />

Geschmack. Eine formale Unterscheidung gibt es nicht.” Der<br />

Maler überlegt, dann sagt er: “Kunst ist ein Ergebnis starker<br />

emotionaler Kräfte, Kitsch ein Produkt oberflächlicher, oft<br />

kommerziell gefärbter Planungen.”<br />

“Mehr vorgetäuschte Tiefgründigkeit?”<br />

“Freilich! Kitsch ist der Versuch, mit s<strong>im</strong>plen Mitteln oder<br />

grobem Abklatsch Bewunderung oder Rührung zu erzeugen.


Kunst und Wissenschaft 107<br />

Kitsch ist wertlos – vor allem in den Augen der Künstler. Das<br />

breite Publikum ist da oft weniger kritisch.”<br />

“Woher kommt Kunst?”<br />

“Aus der Seele, aus dem Bauch. In ihren Wurzeln ist Kunst<br />

verwandt mit Religion, in ihrem Wirken mit Träumen. Wenn<br />

ich male, versuche ich, einen traumartigen Zustand herbeizuführen.<br />

So kann ich das kontrollierende, zensierende Bewußtsein<br />

einschläfern. Wenn das Bewußtsein schläft, vermag<br />

sich das Unterbewußte zu entfalten. Dann kann die Phantasie<br />

wilde, bunte Blüten treiben. – Was ist Kunst für Sie?”<br />

“Schöpfungen menschlicher Individuen, die Teilen ihrer Erlebniswelt<br />

Bedeutung, Wert und Tiefe verleihen. Kunst versinnbildlicht<br />

ein Gefühl, eine Erfahrung, eine Idee.”<br />

Der Maler nickt. “In der Kunst ist die Kreativität des Individuums,<br />

die aus seinem Innersten hervordrängende Einbildungs-<br />

und Ausdruckskraft, in hohem Maße auf sich selbst<br />

gestellt.”<br />

“Und was ist mit der Muse?” lächelt der Physiker.<br />

“Ohne Anregung läuft nichts. Jedenfalls nicht bei mir. Da<br />

stirbt der schöpferische Elan. Bei mir beginnt alles mit einer<br />

Anregung. Dann folgt deren innere Umsetzung. Wenn ich dabei<br />

Erfolg habe, wirkt alles wieder nach außen. Dann wachse<br />

ich meinem Schöpfer entgegen. Kunst schöpft und zeugt <strong>im</strong><br />

Menschen durch Gottes Geist.”<br />

“Dann ist ein Kunstwerk für Sie also eine Art …”<br />

“Ein Kunstwerk ist für mich ein Symbol, ein Bedeutungsträger.<br />

Ich denke mir mal, es ist oft auch so etwas wie eine<br />

gehe<strong>im</strong>nisvolle Botschaft.” Nach längerem Schweigen sagt der<br />

Maler: “Kunst und Kunstbetrachtung geben sich ihre eigenen<br />

Gesetze. Kunst kennt keine Verantwortung. Ich grüble nicht<br />

darüber, ob mein Malen Folgen hat für das Handeln, Wohlergehen<br />

oder Leiden anderer.”<br />

Als der Physiker wiederum schweigt, bohrt der Maler nach:<br />

“Wie also funktioniert und was will Wissenschaft?”<br />

“Wie in der Kunst, so dominiert auch in der Wissenschaft


108 WANDERER<br />

die Leistung des Einzelnen.”<br />

“Freilich! Künstler und Wissenschaftler erleben die Welt als<br />

Individuen. Sie sind Seele und Auge der Menschheit. Ein<br />

Staat, der Kunst und Wissenschaft ausreichende Förderung<br />

und Freiheit versagt, läßt Humanes verdorren und erblinden.”<br />

“Wissenschaftliche Informationen”, fährt der Physiker fort,<br />

“werden zwar in Individuen geboren, in Solisten. Aber Wissenschaft<br />

wird, wächst und reift erst <strong>im</strong> Orchester. Wenn ein<br />

Forscher Ergebnisse vorlegt, Ideen gebiert oder Theorien<br />

formuliert, dann können diese falsch sein und daher wertlos,<br />

gewisses Gewicht besitzen oder große Bedeutung. In keinem<br />

Fall aber sind sie schon Wissenschaft. Um Teil der Wissenschaft<br />

zu werden, muß das Erkannte der kritischen Überprüfung<br />

zugänglich sein, sich mit konkurrierendem Gedankengut<br />

messen und – meist nach Veränderungen – eingebaut<br />

werden in das Gesamtgebäude wissenschaftlicher Erkenntnisse.”<br />

Der Maler nickt.<br />

“Wie in der Kunst, kann Ansehen in der Wissenschaft weder<br />

vererbt noch verliehen werden.”<br />

“Das gilt offensichtlich für alle Wissenschaften.”<br />

“Ja, aber ich will mich hier auf die Naturwissenschaften<br />

beschränken. Sie liegen mir näher. In den Geistes-, Rechts-,<br />

Wirtschafts- oder Politikwissenschaften liegen die Akzente<br />

anders. Da gibt es besondere Bezogenheiten: kulturelle, nationale,<br />

regionale.”<br />

“Wovon gehen die Naturwissenschaften aus?”<br />

“Von der Annahme, daß das Weltgeschehen, jedenfalls<br />

teilweise, vom Menschen erkennbar und beschreibbar ist.”<br />

“Woraus erwächst das Wertesystem der Wissenschaft?”<br />

“Das von allen Naturwissenschaftlern anerkannte System<br />

der Werte erwächst aus dem Bemühen, Ordnung und Gesetzmäßigkeit<br />

in und um uns vorurteilsfrei zu erforschen, gedanklich<br />

zu durchdringen und zu beschreiben, und zwar unter Anwendung<br />

anerkannter Methoden der Nachprüfbarkeit.”


Kunst und Wissenschaft 109<br />

“Auf weltweiter Basis.”<br />

“Ja. Das ist ein alle Grenzen von Ländern, Ideologien und<br />

Konfessionen überschreitendes, weltweites Spiel des Geistes.”<br />

“Wie heißt das Spiel?”<br />

“Die Ausreifung des Übergehirns der Menschheit.”<br />

“Wie arbeitet das Übergehirn?”<br />

“Es produziert, widerlegt, bestätigt und verwendet Informationen,<br />

Ideen und Theorien.<br />

“Widerlegt? Muß eine wissenschaftliche Theorie<br />

widerlegbar sein?”<br />

“Sie muß irgendwann überprüfbar sein. Eine a priori Forderung<br />

nach Widerlegbarkeit schränkt die Wahl der Fragestellung<br />

ein. Eine Antwort hängt auch von der Frage ab. Eingeschränkte<br />

Fragen provozieren eingeschränkte Antworten.<br />

Die Überprüfbarkeit einer Theorie kann sich erst aus einer<br />

Erkenntnis ergeben, die viel später, vielleicht gar aus eben<br />

dieser Theorie, erwächst.”<br />

“Eine Antwort hängt auch vom Gehirn ab, das die Frage<br />

stellt.”<br />

“Ja. Das Übergehirn produziert seine eigenen Einseitigkeiten<br />

und seine eigenen Seh- und Denkfehler.”<br />

“Wie die Hirne einzelner Individuen.”<br />

“So ist es.”<br />

“Hirne sind verschieden.”<br />

“Menschenhirne sind so verschieden voneinander wie Menschengesichter.”<br />

“Wonach sucht das Übergehirn?”<br />

“Nach der für Menschen erkennbaren Wahrheit. Angeregt<br />

von Intuition und geleitet vom kritischen Denken pendelt es<br />

hin und her zwischen einer Hypothese und deren Überprüfung,<br />

zwischen einer Theorie und deren Verbesserung, zwischen<br />

Versuch und Irrtum. Im Prinzip ist das nicht viel<br />

anders als bei anderen Lebensformen. Selbst eine Amoebe, ein<br />

Bakterium, ein Virus – sie alle funktionieren nach der Methode<br />

von Versuch und Irrtum.”


110 WANDERER<br />

“Ein Virus?”<br />

“Alles Leben evolviert nach dem Grundsatz ‘Probieren und<br />

lernen aus Fehlern’. Die einzelnen Schritte lauten: Probieren,<br />

Erfolg haben oder Mißerfolg, Erfolg ausnutzen, aus Mißerfolg<br />

lernen, erneut probieren. In der Wissenschaft laufen<br />

Versuch und Irrtum aber methodischer ab. Probieren und<br />

Lernen werden zielgerichteter durchgeführt. Das Probieren,<br />

der Versuch, wird geplant, die Irrtumsmöglichkeiten, die<br />

Widerlegbarkeiten einer Hypothese, werden sorgfältig getestet.”<br />

“Das ist der einzige Unterschied?”<br />

“Nicht der einzige, aber ein wichtiger. In der Wissenschaft<br />

sind Versuch und Irrtum vorwiegend eine Sache des Geistes.<br />

In der Natur bedeutet Irrtum oft unmittelbare Existenzbedrohung.<br />

Der probierende Wissenschaftler stirbt nicht, wenn<br />

sein Versuch zum Mißerfolg führt. Die Amoebe aber muß das<br />

unter Umständen mit dem Leben bezahlen. Die Natur vergibt<br />

da nichts.”<br />

“Wie wertet Naturwissenschaft?”<br />

“Sie unterwirft Erkenntnisse, Theorien und Hypothesen den<br />

von ihr entwickelten analysierenden und synthetisierenden<br />

Methoden der kommunikativen Überprüfbarkeit.”<br />

“Wonach strebt sie?”<br />

“Nach einem verstehenden Erfassen der Erscheinungen und<br />

Wirkungen von Energie und Materie.”<br />

“Das ist mir zu allgemein.”<br />

“Wissenschaft versucht, die Welt zu beschreiben, wie sie sich<br />

darstellt aus der Sicht von Menschenhirnen. Das Erkennen<br />

und Verstehen dessen, was wirklich ist, bleibt ihr versagt.”<br />

“Ach, ja?” Der Maler ist überrascht. “Ich habe geglaubt, daß<br />

die Wissenschaft so gut wie alles in Erfahrung zu bringen<br />

vermag, sofern sie nur genügend Zeit und Mittel zur Verfügung<br />

hat.”<br />

“Da haben Sie der Wissenschaft mehr zugetraut, als sie zu<br />

leisten vermag. Dem menschlichen Geist sind Grenzen ge-


Kunst und Wissenschaft 111<br />

setzt, die er nicht überschreiten kann.”<br />

“Niemals?”<br />

“Nie.”<br />

“Wie arbeitet das Hirn?”<br />

“Nicht sehr effektiv. Nicht selten gibt’s da Ungere<strong>im</strong>tes. Das<br />

Hirn verarbeitet seine Nahrung stückchenweise. Es zwingt<br />

uns, Erkennnbares in hirngerechte Happen zu zerlegen. Danach<br />

müssen wir dann versuchen, die Happen wieder zusammenzufügen.<br />

Das ist ein langsamer und fehlerbeladener Prozeß.”<br />

“Hmm”, macht der Maler, “da lob ich mir das Fühlen! Da<br />

geht’s schneller und ganzheitlicher zu.”<br />

“In der Wissenschaft läuft das anders. Da muß dauernd<br />

Ganzes in Teile zerlegt und Teile zum Ganzen gefügt werden.”<br />

“Was ist der Samen, was der Acker der Wissenschaft?”<br />

“Der Samen ist die einzelne wissenschaftliche Arbeit, der<br />

Acker die Summe wissenschaftlichen Gedankenguts.”<br />

“Die wissenschaftliche Publikation ist also der Kern des<br />

Ganzen.”<br />

“So ist es. Sie ist die weltweit gültige Währung der Wissenschaft.<br />

Sie schweißt das Denken und Wissen der Forscher zusammen<br />

– über Raum und Zeit. Sie ist der elementare Baustein<br />

<strong>im</strong> Gewebe wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie ist eine<br />

der ungezählten Zellen, aus denen sich das Übergehirn der<br />

Menschheit formt.”<br />

“Das ist in der Tat völlig anders als in der Kunst.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Sie haben auf die Bedeutung von Ideen hingewiesen. Ideologie<br />

spielt da aber wohl keine Rolle?”<br />

“Nein. Ideologie ist der Wissenschaft fremd. Sie bringt oft<br />

verzerrende, gefahrbringende Elemente hervor. Sie kann Köpfe<br />

verdrehen, das Miteinander belasten. Wir sollten Ideologien<br />

mit kritischen Augen sehen.”<br />

“Aber das Sich-Zu-Eigen-Machen einer Ideologie bringt auch<br />

Vorteile.”


112 WANDERER<br />

“Nämlich?”<br />

“Es befreit von Unsicherheit und Zweifel. Es n<strong>im</strong>mt den<br />

Menschen Entscheidungen ab. Es gibt ihnen – innerhalb des<br />

Wirkungsbereiches der Ideologie – Freiheit und Sicherheit.”<br />

“Das ist die Freiheit und Sicherheit des Gefängnisses.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf.<br />

“Fast jede Ideologie hat am Ende enttäuscht, oftmals selbst<br />

ihre leidenschaftlichsten Verfechter.”<br />

“Freilich.”<br />

“Naturwissenschaft”, fährt der Physiker fort, “gedeiht am<br />

besten, wenn sie frei bleibt von ihrem Wesen Fremdem, und<br />

wenn sie sich aus einer Vielzahl von Talenten und Erfahrungen<br />

nährt. Eine Gesellschaft, die <strong>im</strong> internationalen<br />

Konzert intellektueller, technologischer, ökonomischer und<br />

ökologischer Aktivitäten erfolgreich bestehen will, muß ein<br />

geistiges Kl<strong>im</strong>a schaffen, das Entdeckergeist und Kreativität<br />

fördert und deren Freiräume schützt. Wissenschaft benötigt<br />

einen weltweiten, freien Austausch von Erfahrungen und<br />

Meinungen. Nur so kann sie wirklich erfolgreich sein in ihrem<br />

Bemühen, in sich schlüssige Vorstellungen in unseren Köpfen<br />

aufzubauen und zu perfektionieren über die Welt um und in<br />

uns – offen für Diskussion und Kritik und begrenzt durch die<br />

Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane und unseres Hirns.”<br />

“Nach Ihrer Darstellung ist Wissenschaft dann also <strong>im</strong> Grunde<br />

eine Reflexion der Art menschlichen <strong>Suchen</strong>s und Denkens,<br />

nicht aber eine Reflexion der Welt an sich.”<br />

“So ist es. Die Wissenschaft spiegelt nicht die Vielfalt und<br />

das Wesen der Schöpfung, sondern die Möglichkeiten der Menschen,<br />

die Vielfalt und das Wesen der Schöpfung zu beschreiben,<br />

zu begreifen und zu deuten.”<br />

“Kann ein Wissenschaftler die Welt verändern?”<br />

“Aus der Stille des Labors oder Studierz<strong>im</strong>mers können die<br />

Erkenntnisse eines Wissenschaftlers die Welt der Menschen<br />

stärker und nachhaltiger verändern als die donnernde Militärmacht<br />

eines Feldherrn.”


Kunst und Wissenschaft 113<br />

“Und ein Philosoph?”<br />

“Der hat es da schwerer. Es gibt nur wenige Menschen, die<br />

tief denken, und noch weniger, die daraus Konsequenzen ziehen.<br />

So kann ein Denker wohl am ehesten versuchen, die Welt<br />

zu verändern, indem er Mitmenschen wachrüttelt, indem er<br />

sie mit seinen Ideen herausfordert.”<br />

“Ideen sind wichtig.”<br />

“Sehr wichtig. Ideen formen sich in Individuen. Aber sie<br />

können weit über das Individuum hinauswirken. Ideen sind<br />

potentiell die mächtigsten und langlebigsten Manifestationen<br />

ausreifenden Menschseins.”<br />

“Wer setzt die Wertmaßstäbe der Wissenschaft?”<br />

“Die Wissenschaft selber. Grundwertmaßstab sind die Qualität<br />

und Quantität der Publikationen eines Wissenschaftlers.<br />

Die aus den ständigen gegenseitigen Bewertungsmaßnahmen<br />

hervorwachsenden Stars – ganz wenige Elite-Wissenschaftler<br />

– best<strong>im</strong>men die jeweiligen Hauptstoßrichtungen<br />

der Wahrheitsfindung. Naturwissenschaft ist in hohem Maße<br />

leistungsorientiert, erfolgskontrolliert und methodennormiert.”<br />

“Es gibt keine Demokratie in der Wissenschaft?”<br />

“Allenfalls <strong>im</strong> administrativen Randbereich, nicht aber <strong>im</strong><br />

Kernbereich, also <strong>im</strong> Ringen um Erkenntnis, in der Suche<br />

nach der erkennbaren Wahrheit. Da gibt es keine Mehrheitsbeschlüsse,<br />

da regieren die Minderheiten, extreme Minderheiten<br />

sogar, die sich durch hervorragende fachliche Leistungen<br />

qualifiziert haben.”<br />

“Das klingt elitär.”<br />

“Die Wissenschaft ist elitär.”<br />

“Das klingt auch idealisiert.”<br />

“Ich habe nur die großen Linien skizziert. Auch in der Wissenschaft<br />

gibt es Fehlentwicklungen, Bösewichte und Verstöße<br />

gegen intellektuelle Redlichkeit. Aber insgesamt gesehen<br />

gehören derartige Dinge eher zu den Ausnahmen, und sie<br />

werden hart geahndet.”


114 WANDERER<br />

“Wie werten Sie die Beziehungen zwischen Wissenschaft<br />

und Religion?”<br />

“In der westlichen Welt war die Wissenschaft in ihren Anfängen<br />

darauf gerichtet, Gott in seinen Werken zu suchen und<br />

zu preisen. So war sie eng verknüpft mit der Religion und mit<br />

der Entwicklung der christlichen Philosophie.”<br />

“Wie ging’s weiter?”<br />

“Die Wissenschaft entwuchs der Mystik. Nationale <strong>Inter</strong>essen<br />

kamen hinzu, kommerzielle und militärische. Die Kombination<br />

von Wissenschaft und Technologie entfachte eine rasante<br />

Entwicklung, die hier und da aus dem Ruder zu laufen<br />

droht.”<br />

“Wie steht’s da mit der Verantwortung?”<br />

“Wissenschaft muß sich, anders als Kunst, der Verantwortung<br />

für ihr Tun stellen.”<br />

“Ich denke mir mal, der Wissenschaft kommt dabei sogar<br />

eine Schlüsselrolle zu.”<br />

“Verantwortung ist nicht an einen best<strong>im</strong>mten Berufsstand<br />

gebunden. Sie ist etwas, das alle Menschen hervorbringen<br />

müssen. Dennoch: In der viele Gebiete des Lebens beeinflussenden<br />

Wissenschaft gewinnt der kategorische Imperativ eine<br />

besondere Bedeutung.”<br />

“Und die Politik?”<br />

“Auch die Politik ist gefordert. In dem Maße, in dem sie<br />

durch Richtungsvorgaben, Finanzierungsschwerpunkte und<br />

Anwendungsentscheidungen in den Wissenschaftsprozeß<br />

eingreift, wächst ihre Mitverantwortung.”<br />

“Was sind die Hauptanliegen der Wissenschaft?”<br />

“Ständiges <strong>Suchen</strong> nach der erkennbaren Wahrheit, verbunden<br />

mit der Hoffnung, daß Erkenntnis und Wahrheit dem<br />

Menschen dienlich sein mögen. Daß sie ihm geistige Reifung<br />

bescheren. Daß sie ihm zusätzliche Möglichkeiten eröffnen<br />

zur Weiterentwicklung seiner Welt. Und daß sie ihn befreien<br />

mögen von erniedrigenden Abhängigkeiten – vom bedrükkenden<br />

Dunkel des Unwissens und von den Alpträumen des


Kunst und Wissenschaft 115<br />

Aberglaubens. So gesehen, fördert Wissenschaft das Wohl der<br />

Gesellschaft, ihre geistige Gesundheit und ihre Möglichkeiten<br />

zur Entfaltung und Zukunftsgestaltung.”<br />

Die Wegabzweigung vor ihnen bietet zwei Möglichkeiten:<br />

direkt am Seeufer entlang zu wandern, das könnte an dieser<br />

Stelle, angesichts des zur Zeit hohen Wasserstandes, nasse<br />

Füße bedeuten; oder weiter oberhalb, dann würden sie durch<br />

trockenes aber wildes Terrain in einem Bogen wieder auf den<br />

Rundweg zurückgelangen. Der Physiker sieht den Maler<br />

fragend an. Der entscheidet sich für den oberen Weg. So<br />

biegen sie ab nach halb rechts.<br />

“In abendländischen Kulturkreisen”, n<strong>im</strong>mt der Physiker<br />

das Gespräch wieder auf, “wurzelte die Wissenschaft zunächst<br />

in theologischen Überlegungen. So war die Religion ursprünglich<br />

so etwas wie die Mutter der Wissenschaft, dann wurde sie<br />

deren Schwester, und heute ist sie Objekt – Gegenstand<br />

kritischer Nachdenklichkeit.”<br />

“Und in den asiatischen Kulturkreisen?”<br />

“Die fernöstlichen Religionen des ewigen Weltgeschehens<br />

gründen nicht auf einer geschichtlichen Offenbarung eines<br />

personifizierten Gottes. Sie benötigen daher keinen individualisierten<br />

Schöpfer wie die wesentlich jüngeren Religionen des<br />

Christentums und des Islams. Aus ihren andersartigen Glaubensquellen<br />

erwuchsen den Menschen in Ostasien andere<br />

Weltanschauungen, andere Wertvorstellungen und andere<br />

Beziehungen zur Wissenschaft.”<br />

“Abendländisches”, sagt der Maler, “erwuchs aus hebräischer<br />

Religiosität und griechischer Vernunft. Beide verleihen<br />

unserem Empfinden und Denken mehr Enge, als einer angemessenen<br />

Reaktion auf die Notwendigkeiten unserer Zeit<br />

bekömmlich ist. Hebräische Religiosität wurde meist von -<br />

namenlosen Künstlern nach vorgegebenen Denk- und<br />

Empfindungsmustern interpretiert und umgesetzt. Nur das<br />

handwerkliche Können war etwas wirklich Individuelles.<br />

Der Autor wirkte in der Dunkelheit der Anonymität. Er


116 WANDERER<br />

spielte seine Rolle hinter einem Vorhang mittelalterlicher<br />

Schablonen. Erst mit dem Öffnen des Vorhangs wurde der<br />

Blick auf das schöpferische Individuum frei.”<br />

Künstler und Wissenschaftler bleiben stehen. Stumm genießen<br />

sie den herrlichen Blick über den See.<br />

Erinnerungen schweben ins Bewußtsein des Physikers. Erst<br />

gestern Nacht hatte er hier gestanden. Stundenlang. Wieder<br />

waren ihm gehe<strong>im</strong>nisvolle Erscheinungen begegnet. Nebelhaft<br />

nur, mehr geahnt als gesehen. Aber in konsequenter<br />

Fortsetzung dessen, was er hier in den vergangenen Nächten<br />

erlebt hat. Seine Vermutungen und Erwartungen gewinnen<br />

<strong>im</strong>mer mehr Form und Gewicht. In seinem Innersten haben<br />

die Erscheinungen ein Feuer entfacht. Tief da drinnen fiebert<br />

er einer baldigen Begegnung mit Außergewöhnlichem entgegen.<br />

Auch der Maler versinkt in Erinnerungen. Ihm erscheint das<br />

Bild seiner Frau. Es macht ihn zittern. Seine Frau ist vor<br />

kurzem ganz plötzlich verstorben. Sie war eine milchhäutige<br />

Schönheit mit grünen Augen. Mit einer einzigen Bewegung<br />

ihres Körpers, einem einzigen lässigen Kopfwurf ihrer langen<br />

roten Haare konnte sie zum Gravitationszentrum einer Gesellschaft<br />

werden. Sie war eine rätselhafte Frau, deren Aura<br />

zugleich unnahbaren Stolz und lockende Hingebungsbereitschaft<br />

ausstrahlte. Eine Frau, die, scheinbar unbewußt, Männer<br />

anzog mit der gleichen Naturgewalt wie der Mond die Flut.<br />

Kein Bekannter, keiner der Freunde dieses ungleichen<br />

Paares hatte je verstehen können, was diese Frau zu dem<br />

häßlichen, buckligen Zwerg hinzog. Jeder aber wußte, daß er<br />

sie abgöttisch verehrte. Mancher ahnte, daß es schl<strong>im</strong>me<br />

Schwierigkeiten gab in dieser Beziehung. Und einige wußten,<br />

daß die Ursache des Todes dieser Frau niemals wirklich aufgeklärt<br />

werden konnte. Gerüchte kamen auf. Böse Gerüchte.<br />

Sie wollten nicht verstummen. Über viele Wochen nicht. Da<br />

entschloß sich der Maler, in eine andere Stadt zu ziehen.


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 117<br />

Nach dem Tod seiner Frau erlosch der kreative Vulkan. Er<br />

konnte nicht mehr malen. Und er konnte sich nicht mehr auf<br />

normale Weise sexuell befriedigen. Zwar erregten ihn schöne<br />

Frauen, aber er mochte sie nicht anfassen. Und da tauchte es<br />

plötzlich auf aus den dunklen Tiefen seines Leibes: das schöne,<br />

gehe<strong>im</strong>nisvolle, drohende Bild des Engels. Dieses leuchtende<br />

Bild, das ihn ganz und gar ausfüllen konnte, das ihm<br />

<strong>im</strong>mer häufiger erschienen war. Das nicht wieder weichen<br />

wollte. Dieses Bild zerbrach seine Welt. Es wurde leer in ihm<br />

und dunkel und kalt.<br />

Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen<br />

“Wie ist das Universum entstanden?” fragt der Physiker ins<br />

Leere. “Wie die Materie, wie die Naturgesetze, wie die Kräfte,<br />

welche die Mannigfaltigkeit der Strukturen und Funktionen<br />

<strong>im</strong> Universum entstehen lassen und steuern? Gibt es einen<br />

Anfang, ein Ende? Sind die Naturgesetze unveränderlich?<br />

Sind sie wirklich ewige Gesetze? Kein Mensch weiß, wie es<br />

wirklich war, wie es wirklich ist. Auf keine dieser Fragen haben<br />

wir eine definitive Antwort.”<br />

“Wie könnte es möglich sein, daß Naturgesetze nicht ewige<br />

Gesetze sind?”<br />

“Der Zustand des Universums wechselt zwischen Geburt,<br />

Reifung und Zerfall. Das sind unfaßbar komplizierte und unfaßbar<br />

gewaltige Prozesse. Über Milliarden von Jahren<br />

ändert sich da fast alles, wohl nicht grundsätzlich, aber in<br />

Einzelheiten.”<br />

“Wie weit ist die Wissenschaft vorgedrungen?”<br />

“Im letzten Jahrzehnt wurden phantastisch anmutende<br />

Entdeckungen gemacht, aufregende Untersuchungen angestellt<br />

und neue Gedankengebäude errichtet, die sich offenbar<br />

<strong>im</strong>mer mehr der letzten von Menschen begreifbaren Wahrheit<br />

nähern.”


118 WANDERER<br />

“Und jetzt ist das Haus der Wissenschaft festgefügt?”<br />

“Noch <strong>im</strong>mer gibt es mehr Fragen als Antworten. Neue Einsichten<br />

ergeben sich aber nur, wenn man trotz der Unsicherheiten<br />

voranschreitet.”<br />

“Aber das Fundament der Wissenschaft steht auf festem<br />

Boden?”<br />

“Nichts steht auf festem Boden.”<br />

“Oho! Das Fundament meines Hauses liegt fest an einem<br />

Ort!”<br />

“Nichts liegt fest an einem Ort.”<br />

“Alles nur eine Wolke, wie?”<br />

“Ja. Auch ein Stein ist letztlich nichts anderes als ein best<strong>im</strong>mter<br />

Zustand von Energie, nichts anderes als eine Wolke<br />

aus Teilchen – wie alles Materielle <strong>im</strong> Universum.”<br />

“Auch der Mensch?”<br />

“Das gilt auch für alles Lebende.”<br />

“Alles in Bewegung?”<br />

“Ja. Ein scheinbar fest an einem Ort liegender Stein bewegt<br />

sich mit den Erdschollen, die auf dem flüssigen Erdinnern<br />

treiben und mit den Bewegungen der Erde <strong>im</strong> Universum. Ihr<br />

Haus rast mit etwa 30 Kilometern pro Sekunde um die Sonne<br />

und diese mit hunderten von Kilometern pro Sekunde um das<br />

Zentrum unserer Galaxie. Es gibt keinen festen Punkt <strong>im</strong><br />

Universum. Und es gibt keine feste Beziehung zwischen Punkten.<br />

Alles fließt. Alles ist auf dem Wege.”<br />

“Dann hängt auch die Wissenschaft in der Luft?”<br />

“In letzter Konsequenz ist Wissenschaft der Versuch des<br />

Menschen, Zusammenhänge herzustellen in seiner Vorstellungswelt<br />

zwischen bewegten Punkten in bewegten Wolken.<br />

Wissenschaft sucht nach Regelhaftem in einem rasenden, sich<br />

entwickelnden, vield<strong>im</strong>ensionalen Gewebe von Energie und<br />

Materie. Sie spürt den Prinzipien nach, welche Organisation<br />

und Ausreifung von Energie und Materie über Milliarden von<br />

Jahren regeln. Dabei kann Wissenschaft an verschiedenen<br />

Punkten <strong>im</strong> Gewebe ansetzen. Nichts in der Wissenschaft läßt


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 119<br />

sich bis zum Grundstein zurückverfolgen. In diesem Sinne<br />

hängt die Wissenschaft in der Luft, hat sie kein festes Fundament.<br />

Und sie braucht auch keines.”<br />

“Wenn alles auf dem Wege ist, dann zieht es den Raum und<br />

die Zeit mit sich?”<br />

“Ja.”<br />

“Wo kommen sie her, der Raum und die Zeit?”<br />

“Raum entsteht mit der Formung der Materie aus Energie,<br />

Zeit mit der Bewegung der Materie.”<br />

“Unsere Welt ist eine Welt in Raum und Zeit.”<br />

“Ja. Ohne die beiden existiert sie nicht.”<br />

“Ziemlich phantastisch, das alles.”<br />

“Wenn Sie so wollen.”<br />

“Muß ein Wissenschaftler Phantastisches nicht vor der Tür<br />

lassen?”<br />

“Ein Wissenschaftler darf von einer Information nicht mehr<br />

ableiten, als diese zu leisten vermag. Er muß unterscheiden<br />

zwischen Erkanntem, Vermutetem und Erahntem. Wer das<br />

nicht beherzigt, riskiert, sich als Sucher nach der Wahrheit<br />

zu disqualifizieren. Ich muß Sie daher bitten, das, was ich<br />

Ihnen eben gesagt habe und das, was ich Ihnen noch sagen<br />

werde, mit kritischem inneren Abstand zur Kenntnis zu nehmen.”<br />

Der Physiker sieht seinen Gefährten fragend an. Als<br />

der nickt, fährt er fort: “Nach unseren gegenwärtigen Vorstellungen<br />

begann alles mit einer ungeheuren, unvorstellbar<br />

gewaltigen Explosion, dem Urknall. Sicher haben Sie davon<br />

gehört.”<br />

“Ja. Aber ich möchte Ihre Wertung kennenlernen, Ihre Meinung<br />

dazu hören.”<br />

“Ich gehe von der Annahme aus, daß der Urknall nicht der<br />

Anfang war, sondern die Folge vorausgegangener Prozesse.”<br />

“Was war am Uranfang? Woher kommt die Urenergie? Woher<br />

die Urgesetze, die dies und all das spätere Geschehen<br />

hervorbringen?”<br />

“Das <strong>Suchen</strong> nach Von-Anfang-An-Geschehen übersteigt die


120 WANDERER<br />

menschliche Vorstellungskraft. Hier läßt uns unser Hirn <strong>im</strong><br />

Stich.”<br />

“Sie verlegen die Schöpfungsgeschichte weiter zurück?”<br />

“Ja.”<br />

“Sie glauben an Gott!”, ruft der Maler überrascht.<br />

“Ja. Aber für mich ist Gott etwas anderes als für die meisten<br />

Menschen.”<br />

“Was ist Gott für Sie?”<br />

“Das werde ich Ihnen später darlegen. Zunächst zurück zum<br />

Urknall. Warum sollte es nicht auch Folgeknalls geben?<br />

Warum sollten kleinere Knalls nicht <strong>im</strong>mer einmal wieder<br />

stattfinden, auch heute noch? Zum Beispiel als Endphase der<br />

Materieverdichtung in einem Schwarzen Loch?”<br />

“Was ist das?”<br />

“Ein Schwarzes Loch ist ein von der Physik postulierter<br />

Freßgigant <strong>im</strong> Universum, der mit Hilfe seiner extrem hohen<br />

Materiedichte und daher einer außerordentlich starken Anziehungskraft<br />

ständig Materie aus seiner Umgebung in sich<br />

hineinsaugt.”<br />

“Wie ist es möglich”, fragt der Maler erregt, “daß Materie<br />

sich so stark verdichten kann?”<br />

“Wenn die Masse eines Sterns einen Grenzwert übersteigt,<br />

werden die Elektronen in den Atomkern gedrückt. Dann können<br />

die Atomkerne nicht mehr Distanz zueinander halten.<br />

Sie legen sich dicht aneinander. So stürzt alles zusammen.<br />

Be<strong>im</strong> Zusammenstürzen des Sternkerns explodiert die äußere<br />

Sternhülle wie eine riesige kosmische Wasserstoffbombe.<br />

Wenn das In-Sich-Zusammenbrechen des Sterns eine kritische<br />

Grenze, einen kritischen Radius, unterschreitet, den<br />

Ereignishorizont, dann wird nach den Berechnungen der Physik<br />

dessen Materiedichte und damit dessen Anziehungskraft<br />

so groß, daß er sogar das Licht festhält. Er leuchtet dann nicht<br />

mehr. Er ist zum alles verschluckenden Schwarzen Loch geworden.<br />

Das kann Milliarden Sonnenmassen in sich vereinigen.<br />

In ihm steht die Zeit still, hört auf zu existieren.”


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 121<br />

Ratlos zuckt der Maler mit den Schultern.<br />

“Im Universum gibt es fortwährend Geburts-, Reifungs- und<br />

Sterbevorgänge. In der Sonne zum Beispiel stirbt und wird<br />

Materie <strong>im</strong>merfort: Atome zerfallen in ihre Bestandteile,<br />

andere werden durch Kernfusion geboren. Auch Sterne sterben<br />

<strong>im</strong>merfort und werden neu geboren. Entlang des Milchstraßenbandes<br />

gibt es Hunderte von Sternentstehungsnestern.”<br />

“Das ist dann aber doch etwas anderes als Leben und Sterben,<br />

wie wir es gemeinhin verstehen.”<br />

“Ja, aber nicht grundsätzlich anders. Ich werde darauf noch<br />

zurückkommen. Also, die Physik macht folgende Annahmen:<br />

Der Urknall ereignete sich vor etwa zwanzig Milliarden<br />

Jahren. Seither dehnt sich das Universum ständig aus. Jeden<br />

Tag wächst der Raum zwischen den Galaxien um Milliarden<br />

von Kubikkilometern. Und <strong>im</strong>mer wieder verlegen elektromagnetische<br />

Felder und Gravitationskräfte neue Kreise, neue<br />

Ordnungslinien und neue Organisationsmuster durch Raum<br />

und Zeit.”<br />

“Wie groß ist das Universum?”<br />

“Die am weitesten von uns entfernten, gerade noch erkennbaren<br />

H<strong>im</strong>melskörper sind zwölf oder fünzehn Milliarden<br />

Lichtjahre von uns entfernt. Bitte bedenken Sie, Licht<br />

wandert mit einer Geschwindigkeit von rund 300 000<br />

Kilometern pro Sekunde. Ein einziges Lichtjahr bedeutet also<br />

eine Kilometerstrecke, die der Summe aller Sekunden pro<br />

Jahr entspricht, multipliziert mit 300 000.”<br />

“Unglaublich! Was war nach dem Urknall?”<br />

“Mit dem Urknall begann die Zeit. Teilen Sie eine Sekunde<br />

durch eine Milliarde. In der ersten milliardstel Sekunde nach<br />

dem Urknall wuchs das Universum von der Größenordnung<br />

eines Atoms zur Größe eines Fußballs.”<br />

“Das gesamte Universum in einem Atom?”<br />

“In einer unvorstellbar kleinen, fast ausdehnungslosen Kugel<br />

von nahezu unendlicher Energie.”<br />

“Was enthielt die Kugel?”


122 WANDERER<br />

“Aufgelöst in Superstrahlung enthielt sie bereits alle Grundbedingungen<br />

für die Ausreifung des späteren Universums.”<br />

“Das ist…”<br />

“In dieser Kugel verbarg sich die Urform aller Materie und<br />

die Urinformation, das Urprogramm, für die Entfaltung aller<br />

Erscheinungen, die wir heute erleben.”<br />

“Superstrahlung? Was ist das?”<br />

“Die Wiege von allem.”<br />

Der Maler schluckt. Dann drängelt er: “Wie ging es weiter?”<br />

“Nach einem Millionstel der ersten Sekunde war das Universum<br />

ein riesiger Feuerball mit einem Durchmesser von<br />

dreißig Milliarden Kilometern. Und es war bereits voll von<br />

Bausteinen der Atome. Nach sechzig Sekunden betrug der<br />

Durchmesser 10 hoch 15 Kilometer. Nach mehreren hunderttausend<br />

Jahren sank die Temperatur auf 4000 Grad. Erst<br />

jetzt konnten Atome entstehen. Das frühe Universum war offenbar<br />

weitgehend unstrukturiert.”<br />

“Gibt es Beweise? Fossilien, wie bei der Entwicklung des Lebendigen?”<br />

“Ein Fossil aus der Urzeit des Universums ist die heute<br />

noch meßbare kosmische Hintergrundstrahlung – das Nachleuchten<br />

des Urknall-Feuerballs.”<br />

“Wie ging’s weiter?”<br />

“Die gleißend helle Mischung aus Strahlung und Materie<br />

wurde dunkler. Schwerkraft begann zu wirken und die Materieteilchen<br />

örtlich zu verdichten. So entstanden in riesigen<br />

Gaswolken Milliarden von Sternen, und es formten sich die<br />

Galaxien.”<br />

“Entstehen auch heute noch Galaxien?”<br />

“Offenbar nicht. Alle bekannten Galaxien sind in den ersten<br />

Jahrmilliarden nach dem Urknall entstanden. Bisher sind<br />

keine wirklich jungen Galaxien gefunden worden.”<br />

“Wie stellen sich uns die Galaxien heute dar?”<br />

“Als Superhaufen von H<strong>im</strong>melskörpern, die 100 bis 400 Millionen<br />

Lichtjahre voneinander entfernt sind.”


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 123<br />

“Wieviele Galaxien gibt es?”<br />

“Milliarden.”<br />

“Aus wievielen Sternen besteht eine Galaxie?”<br />

“Meist aus vielen Milliarden.”<br />

“Wann ist unser Sonnensystem entstanden?”<br />

“Vor etwa fünf Milliarden Jahren.”<br />

“Und wo steckt die Erde?”<br />

“Außerhalb des Zentrums der Milchstraße, einer Spiralgalaxie<br />

mit etwa hundert Milliarden Sternen. Die Milchstraße<br />

hat eine Ausdehnung von hunderttausend Lichtjahren. Sie<br />

dreht sich um ihre eigene Achse. Dabei hat unser Sonnensystem,<br />

und damit auch die Erde, eine Umlaufzeit von 200<br />

Millionen Jahren.”<br />

“Dann st<strong>im</strong>mt es also, was die Sternforscher sagen: Jeder<br />

Blick in den H<strong>im</strong>mel ist ein Blick in die Vergangenheit?”<br />

“Ja. Und so manch ein verträumter Blick in den Nachth<strong>im</strong>mel<br />

enthält wohl auch ein Stück unbewußter Sehnsucht –<br />

Sehnsucht nach unserem Ursprung, nach unserer Urhe<strong>im</strong>at.”<br />

“He<strong>im</strong>at?”<br />

“He<strong>im</strong>weh nach der Urwiege. Nach dem Anfang von allem.”<br />

“So habe ich das bisher nicht gesehen.”<br />

“Die Galaxien, deren Licht uns heute erreicht, enthüllen uns<br />

den Zustand des Universums vor Milliarden von Jahren. Die<br />

Physik spricht hier von Rückblickzeit. Je weiter ein beobachtetes<br />

H<strong>im</strong>melsobjekt entfernt ist, desto tiefer taucht der Blick<br />

des Beobachters ein in die Vergangenheit, desto mehr nähert<br />

er sich dem Beginn des Universums.”<br />

Staunend steht der Künstler vor dem kosmischen Bild, das<br />

der Wissenschaftler da vor ihn hinmalt. “Wie sieht die Zukunft<br />

aus?”<br />

“Die Wissenschaft erwägt zwei Möglichkeiten. Die erste:<br />

Das Universum dehnt sich endlos aus; nach dem Verbrauch<br />

des nuklearen Brennstoffs erlöscht das Licht der Sterne; das<br />

Universum wird dunkel, erkaltet und stirbt. Die zweite:<br />

Die Ausdehnung des Universums findet eine Grenze, kommt


124 WANDERER<br />

zum Stillstand und kehrt sich um. Alles stürzt wieder zusammen,<br />

wird wieder zu einem winzigen Punkt und verschwindet<br />

völlig oder entsteht neu durch einen abermaligen<br />

Urknall.”<br />

“Wie könnte es zu einer Umkehrung kommen?”<br />

“Eine Umkehrung der Ausdehnung des Universums ist nach<br />

gegenwärtigen Berechnungen nicht möglich. Dazu reichen<br />

Materiedichte und Schwerkraft nicht aus. Aber meiner Ansicht<br />

nach ist eine Hauptmasse der Universum-Materie noch<br />

nicht erfaßt worden. Wo wir derzeit riesige Räume gähnender<br />

Leere ausmachen, vermute ich riesige Massen kleinster Materieteilchen,<br />

einer besonderen Art von Materie, die für<br />

den Entwicklungszyklus des Universums von grundlegender<br />

Bedeutung ist und letzten Endes auch für Stoffwechselprozesse<br />

und Intelligenzleistungen, die ich dem Universum zuspreche.”<br />

“Intelligenz?!”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Bitte erklären!”<br />

“Später. Meiner Ansicht nach würde die Masse dieser<br />

Kleinstteilchen ausreichen, um den Ausdehnungsprozeß des<br />

Universums anzuhalten, den Vorgang des Schrumpfens einzuleiten<br />

und schließlich eine neue Explosion auszulösen.”<br />

“Alles dacapo, wie?”<br />

“Ich erkenne in der Natur nur vorwärts Gerichtetes. Aber<br />

ich sehe nirgends gerade Linien, nirgends starr geradeaus<br />

Verlaufendes. Überall entdecke ich Gebogenes, <strong>im</strong> Kreis sich<br />

Drehendes.”<br />

“Also alles Wiederholung?”, insistiert der Maler.<br />

“Nur <strong>im</strong> Prinzipiellen, nicht <strong>im</strong> Einzelnen.”<br />

“Haben die Kleinstteilchen weitere Wirkungen?”<br />

“Meiner Ansicht nach beeinflussen sie nicht nur die Entwicklung<br />

des Universums, sondern auch dessen Gestalt. Sie<br />

krümmen das Universum. So wird seine Ausdehnung endlich.”<br />

“Wodurch?”


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 125<br />

“Durch die in der Raumzeit enthaltene Materie und Energie.”<br />

“Dann würde ein scheinbar geradeaus gerichteter Lichtstrahl<br />

also irgendwann wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehren?”<br />

“So wäre es.”<br />

“Das ganze eine Kugel?”<br />

“Vermutlich. Die Raumzeit wird durch die drei Raumrichtungen<br />

und die <strong>im</strong>aginäre Zeit gebildet. Da gibt es keinen Anfang<br />

und kein Ende, sowenig wie die Oberfläche einer Kugel<br />

einen Anfang und ein Ende hat.”<br />

“Demnach sind die Kleinstteilchen das Wichtigste von allem?”<br />

“In der Kleinstteilmaterie und in ihrer unauflöslichen Wechselbeziehung<br />

zur Energie vermute ich das größte Gehe<strong>im</strong>nis<br />

Gottes.” Der Physiker bleibt stehen, umfaßt mit Daumen,<br />

Zeige- und Mittelfinger sein eckiges Kinn. Senkt das Haupt.<br />

Schweigt. Dann hebt er den Kopf, läßt den Arm sinken und<br />

sagt: “Und dabei sollte es auch bleiben.” Nach weiterem<br />

Schweigen setzt er hinzu: “Für uns Menschen wird das auf<br />

ewig unerkennbar bleiben.”<br />

Die Reise durch die Vorstellungswelt des Physikers erregt<br />

den Maler maßlos. Er wird das große Hirn aussaugen! Er wird<br />

sich alles für ihn Nutzbare aneignen! Endlich wird er ein<br />

stabilisierendes geistiges Gegengewicht finden. Endlich wird<br />

er seine überstarke Gefühlswelt in den Griff bekommen. Und<br />

endlich wird er seinen Glauben auf eine naturwissenschaftliche<br />

Basis stellen können. ‘Nur nichts tun’, denkt er, ‘das den<br />

Gedankenfluß des anderen unterbrechen könnte. Nur nicht<br />

den Physiker verärgern!’<br />

Die beiden wandern weiter. Nach einer Weile sagt der<br />

Physiker: “Ich glaube an einen <strong>im</strong>merwährenden Kreis von<br />

Geburt, Wachstum, Reifung, Tod und Neugeburt des Universums.”<br />

“Wie ist die Welt <strong>im</strong> Kleinen aufgebaut?”<br />

“Alle Materie <strong>im</strong> Universum, leblose und lebende, besteht


126 WANDERER<br />

aus den gleichen Urbausteinen. Sie sind verwandte gewachsene<br />

Strukturen. Die kleinsten Bausteine der Materie, die<br />

wir bisher mit hinreichender Sicherheit identifizieren konnten,<br />

sind die Quarks und die Elektronen. Die Quarks bilden<br />

die Protonen und Neutronen, die Bausteine der Atomkerne.<br />

Die Elektronen formen die Atomhüllen. Es gibt viele andere<br />

Teilchen, zum Beispiel Photonen, Mesonen, Neutrinos, Gluonen.<br />

Weitere Teilchen werden vermutlich mit fortschreitender<br />

Forschung entdeckt werden.”<br />

“Wie organisieren sich diese Teilchen? Ich meine, wie<br />

verhalten sie sich zueinander? Wie entsteht aus ihnen unsere<br />

Welt?”<br />

“Stellen Sie sich vor, ein Atomkern hätte die Größe einer<br />

Haselnuß. Dann rasen die Elektronen, welche die Atomhülle<br />

bilden, <strong>im</strong> Abstand von hundert Metern um ihn herum.<br />

Der Kern ist schwer. Seine Masse macht über 99 Prozent<br />

der Masse des Atoms aus. Wenn Sie von außen zum Kern vordringen<br />

wollen, stoßen Sie hundert Meter von ihm entfernt<br />

auf die Atomhülle – nichts anderes, als die Folge der effektiven<br />

Omnipräsenz der Elektronen, die so schnell herumrasen,<br />

daß sie praktisch überall zur gleichen Zeit zur Stelle sind.<br />

In dem riesigen scheinbaren Nichts zwischen Kern und Hülle<br />

schwirren unvorstellbar viele, unvorstellbar kleine Teilchen<br />

umher, die dauernd aus dem ‘Nichts’, aus Energie, entstehen<br />

und unvorstellbar schnell wieder darin verschwinden, Grenzgänger<br />

zwischen Energie und Materie. Vermutlich halten<br />

diese Teilchen alles zusammen, die Welt <strong>im</strong> Großen und die<br />

Welt <strong>im</strong> Kleinen. Alles Materielle besteht aus Kernen, rasenden<br />

Teilchen und Grenzgängern: H<strong>im</strong>melskörper, Stein,<br />

Metall, Wasser, Luft, Pflanze, Tier, Mensch.”<br />

“Diese Teilchen sind also der Kern von allem?”<br />

“Nein. Der Kern von allem, das ist das Geschehen, welches<br />

die Teilchen entstehen läßt, ihre Bewegungen, ihre Dynamik<br />

steuert und ihre Kombinationsmöglichkeiten best<strong>im</strong>mt.<br />

Dieses Geschehen enthält, entfaltet und gestaltet das Welt-


Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 127<br />

programm. In ihm liegt das wirkliche Wesen dessen, was das<br />

Universum ausmacht – <strong>im</strong> Großen wie <strong>im</strong> Kleinen. Ich nenne<br />

dieses Phänomen ‘Gestaltungsgeschehen’.”<br />

Mit halb geöffnetem Mund schüttelt der Maler langsam den<br />

Kopf. Er setzt an zu einer Frage. Aber da sagt sein Gefährte<br />

auch schon: “Bisher konnten wir drei Hauptkräfte erkennen,<br />

welche die Welt formen und zusammenhalten: die elektroschwache<br />

Kraft, die starke Kraft und die Schwerkraft. Möglicherweise<br />

sind die elektroschwache Kraft und die starke<br />

Kraft Manifestationen einer einzigen Grundkraft. Möglich ist<br />

auch, daß Schwerkraft, wie Masse, letztlich aus elektromagnetischen<br />

Phänomenen hervorgeht.”<br />

“Was ist …”<br />

“Das Zauberwort aber heißt Energie. Alle Materie ist ja<br />

nichts anderes als gefrorene Energie, gefrorene Strahlung,<br />

gefrorenes Licht. Energie ist die Basis aller Dinge und aller<br />

Kräfte. Sie kann weder erzeugt noch vernichtet werden.”<br />

“Nanu! Wir sprechen doch dauernd von Energieerzeugung,<br />

Energievergeudung, Energieverlust, Energievernichtung.”<br />

“Physikalisch sind das alles falsche Begriffe.”<br />

“Alles nur Wortfloskeln?”<br />

“So ist es. Kein Mensch kann Energie erzeugen oder<br />

vernichten. Menschen können nur vorhandene Energie umwandeln<br />

und daraus Nutzen ziehen. Die Erzeugung und<br />

Vernichtung von Energie liegt außerhalb menschlicher Möglichkeiten.”<br />

Der Maler ist verwirrt.<br />

“Aus Energie können Materieteilchen entstehen, sozusagen<br />

aus dem ‘Nichts’. Aber Energie kann niemals aus dem<br />

‘Nichts’ entstehen. Energie bleibt ewig erhalten. Sie wird ewig<br />

gestalten.”<br />

“Das muß doch irgendwo ein Ende haben, sich irgendwann<br />

erschöpfen.”<br />

“Der Energieumwandlungsprozeß, der das Ausreifen der<br />

Schöpfung ermöglicht, beginnt mit jedem Urknall von neuem.”


128 WANDERER<br />

“Energie ist dann aber doch mehr, als in unserem Umgangsdenken<br />

zum Ausdruck kommt.”<br />

“Ja. Und für mich ist das auch mehr, als wir in der Physik<br />

darunter zu verstehen gewohnt sind. Für mich ist Energie vor<br />

allem eine ordnende Urkraft, enthalten <strong>im</strong> Gestaltungsgeschehen,<br />

auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Energie<br />

und elektrische Spannung repräsentieren, bewahren und entwickeln<br />

das Urprogramm aller Dinge und Vorgänge, den Code<br />

für die Struktur und Funktion von allem. In letzter Konsequenz<br />

ist alles Energie: Masse, Lebloses, Lebendes, Universum,<br />

Gott.”<br />

Der Maler schluckt. Dieses Feuerwerk von Vorstellungen<br />

und schwer verständlichen Zusammenhängen verschlägt ihm<br />

die Sprache. Er fühlt sich plötzlich sehr bedeutungslos.<br />

Da sagt der Physiker: “Die Welt <strong>im</strong> Großen und die Welt <strong>im</strong><br />

Kleinen sind <strong>im</strong> Prinzip einfach aufgebaut. Die Vielfalt, die<br />

wir erleben, ergibt sich erst aus den nahezu unendlichen<br />

Kombinations- und Funktionsmöglichkeiten, aus den unfaßbar<br />

großen und vielschichtigen Gestaltungsmöglichkeiten, die<br />

der ordnenden Energie und den sich ausformenden Bausteinen<br />

der Materie innewohnen. Diese Möglichkeiten können<br />

aber erst <strong>im</strong> Verlauf von Milliarden von Jahren ausreifen.<br />

Dabei entsteht <strong>im</strong>mer wieder Neues.”<br />

Ethik und Moral<br />

“Eine kalte Welt”, sagt der Maler. “Wie kamen Ethik und<br />

Moral da rein?”<br />

“In urmenschlichen Kleingruppen hat sich kooperatives<br />

Verhalten zu Moral entwickelt, zur Kleingruppenmoral.”<br />

“Entwickelt? Wie?”<br />

“Die Kleingruppenmoral besitzt einen positiven Selektionswert.<br />

Bei der Jagd, bei Kämpfen gegen Konkurrenten, bei der<br />

Besetzung und Verteidigung eines Reviers sind Gruppen <strong>im</strong>


Ethik und Moral 129<br />

Vorteil, die eine straffe, mit Härte durchgesetzte Moral entwickeln<br />

können.”<br />

‘Revier!’ Der Maler fährt zusammen. Aber dann denkt er:<br />

‘Straffe Kleingruppenmoral? Ist das nicht etwas, das der Festmacher<br />

praktiziert?’ – “Worum geht es bei der Kleingruppenmoral?!”<br />

“Um gegenseitige Unterstützung be<strong>im</strong> Jagen. Und <strong>im</strong> Krieg.<br />

Um Teilung und Nutzung von Revier, Beute, Nahrung und<br />

Besitz. Um Aufrichtigkeit, Disziplin, Einschränkung von Egoismen<br />

und Lenkung von Agressionen nach außen. Es geht<br />

um gruppenverträgliche Kontrolle von Emotionen und potentiell<br />

gefährlichen Trieben. Um die Regelung der Beziehungen<br />

zwischen den Geschlechtern. Und es geht um Aufgabenteilung,<br />

etwa bei der Erziehung von Kindern oder der Herstellung<br />

von Gebrauchsgegenständen. Die moralischen Forderungen<br />

der Kleingruppe wurden später präzisiert, begründet<br />

und umgesetzt durch religiöse und weltliche Kräfte. Nur wer<br />

die moralischen Forderungen der Gruppe akzeptierte, wurde<br />

in ihr aufgenommen, durfte in ihr leben.”<br />

“Gruppe, Gruppe! Wo bleibt das Individuum?”<br />

“In unserer Welt empfinden wir ethisches Denken und moralisches<br />

Handeln letztlich <strong>im</strong>mer als Ausdruck individueller<br />

Eigenarten: des eigenen Gewissens, der eigenen Persönlichkeit.”<br />

“Wo bleibt Raum für die Befriedigung eigener Wünsche?”<br />

“Die Befriedigung eigener Wünsche ist nie ein Ziel der Moral<br />

gewesen.”<br />

“W … was ist der Unterschied zwischen Ethik und Moral?”<br />

“Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied. Beide Begriffe<br />

bezeichnen ein sittliches Empfinden und Verhalten, das von<br />

der Mehrheit einer Gruppe als verbindlich angesehen wird.<br />

Dabei meint Ethik oft mehr die theoretisch-wissenschaftliche<br />

Perspektive, Moral mehr das in der Praxis Verwirklichte. Den<br />

Begriffen ‘Ethik’ und ‘Moral’ liegen Gesinnungen und Wertschätzungen<br />

zugrunde, welche örtlichen Differenzen und zeit-


130 WANDERER<br />

lichen Veränderungen unterworfen sind.”<br />

“Was ist mit der Moral heute?”<br />

“Die in Hunderttausenden von Jahren evolvierten Grundwerte<br />

der steinzeitlichen Kleingruppenmoral formen auch<br />

heute noch die Basis menschlichen Verhaltens. Heute aber ist<br />

der Selektionswert der Steinzeitmoral nicht mehr wirksam.<br />

Heute beruht menschliches Miteinander nicht mehr auf dem<br />

persönlichen Sichkennen der Gruppenmitglieder, ihrem unmittelbaren<br />

Zusammenleben und ihrem kompromißlosen Vorgehen<br />

gegen Fremdes. Heute müssen wir moralische Regeln<br />

formulieren und durchsetzen für Milliarden von Menschen,<br />

die unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen entwickelt<br />

haben und in unterschiedlichen Lebensräumen zu<br />

Hause sind. Heute gilt es, bewährte Werte der Steinzeitmoral<br />

einzubringen in eine global ausgerichtete Neuzeitmoral. Archaisch-egoistisches<br />

Hordenführerdenken darf nicht persistieren.<br />

Es muß weiterentwickelt werden zu weltumspannendem<br />

kooperativem Planen und Handeln. Das ist die zentrale Aufgabe<br />

der Politik und der Religion heute. Hier hilft uns die<br />

Natur nicht weiter. Hier können wir uns nur selber helfen.”<br />

“Das sollte doch nicht so schwer sein.”<br />

“Das ist eine gewaltige Aufgabe. Größer als alles, was die<br />

Menschen bisher bewältigt haben.”<br />

“Denken Sie an unsere kulturellen, wissenschaftlichen und<br />

ökonomischen Errungenschaften!”<br />

“Das war ein langer, verschlungener Weg. Im Kern war das<br />

soviel anders nicht als bei der evolutiven Ausreifung neuer<br />

Lebensformen.”<br />

“Aber das ging doch noch viel langsamer vor sich.”<br />

“Ja. Die Menschen haben <strong>im</strong>mer schnell erkannt, was ihnen<br />

nützlich ist bei ihrem Streben nach Wachstum, Raum und<br />

Macht, was ihre <strong>Inter</strong>essen und Bedürfnisse am besten befriedigt,<br />

was ihrer Selbstverwirklichung am förderlichsten ist.<br />

Dem sind sie dann gefolgt.”<br />

“Nichts von Ethik und Moral in unserem Erbgut?”


Ethik und Moral 131<br />

“Der Mensch hat nicht nur angeborene Triebe, er hat auch<br />

eine angeborene Bereitschaft zum ethischen und moralischen<br />

Denken und Handeln.”<br />

“Dann müßten sich Instinkte und Triebe auf der einen Seite<br />

und Ethik und Moral auf der anderen doch das Gleichgewicht<br />

halten können!”<br />

“Über Milliarden von Jahren hat es so etwas wie Ethik und<br />

Moral in der Entfaltung des Lebens auf der Erde nicht gegeben.<br />

Bei der Entwicklung der Pr<strong>im</strong>aten sind Ethik und Moral<br />

weit zurückgeblieben hinter den Instinkten und Trieben.<br />

Ethik und Moral sind etwas Neues, etwas für das Leben auf<br />

der Erde Fremdes – wie der Mensch selbst.”<br />

“Aber der Mensch kann nicht überleben ohne Ethik und<br />

Moral.”<br />

“So ist es. Angesichts der Komplexität seiner Gemeinschaftsstrukturen<br />

und seines ins Enorme gesteigerten Veränderungsund<br />

Vernichtungspotentials würde er sonst rasch zugrunde<br />

gehen. Die Stärkung der aus Wissen und Einsicht gewollten<br />

Moral, das ist die zentrale Aufgabe für die heutige Menschheit.<br />

Wir müssen sie lösen. Oder vergehen.”<br />

“Und da geht der Wissenschaftler voran?”<br />

“Nein. Ein Wissenschaftler kann zwar möglicherweise die<br />

Notwendigkeit moralischen Verhaltens klarer erkennen als<br />

manch ein anderer, aber er ist deshalb noch nicht moralischer.”<br />

“Ich denke, der Wissenschaftler ist der Ethik schon von berufswegen<br />

in besonderem Maße verpflichtet.”<br />

“Die Berufsethik verlangt vom Wissenschaftler Exaktheit,<br />

Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit bei der forschenden Suche<br />

nach der erkennbaren Wahrheit. Da geht er voran.”<br />

“Färbt die ständige Beschäftigung mit der Wahrheit nicht<br />

ab auf die Person?”<br />

Der Physiker schüttelt nachdenklich den Kopf. Dann sagt er:<br />

“Allenfalls wenig. Die größte Enttäuschung in meinem Studentenleben<br />

war diese: ich mußte erkennen, daß meine von<br />

mir so bewunderten und verehrten Professoren – diese Sucher,


132 WANDERER<br />

Bekenner und Hüter der Wahrheit – in ihrem privaten Leben<br />

nicht wahrhaftiger waren als andere Menschen. Damals habe<br />

ich mich verzweifelt gefragt: ‘Wenn nicht die, wer denn?’” Der<br />

Physiker wendet sich dem Maler zu. “Die Weiterentwicklung<br />

von Ethik und Moral ist eine Aufgabe für alle Menschen.”<br />

“Aber ein Chemiker …”<br />

“Ein Chemiker, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit glasharte<br />

Logik praktiziert, unbeirrt die Wahrheit sucht und<br />

unnachgiebig auf der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher<br />

Ergebnisse beharrt, ist dennoch fähig, sich quer durch die<br />

Welt zu lügen und sich unbeirrt unüberprüfbaren mystischen<br />

oder religiösen Vorstellungen hinzugeben. Hier wird er schizophren.”<br />

Unfehlbarkeit<br />

“War die Religion dem Menschen nicht eine Richtschnur,<br />

eine Hilfe? Hat sie nicht das Los der Menschen erleichtert,<br />

verbessert?”<br />

“Richtschnur, ja. Hilfe, nur wenigen. Verbessert, nichts.”<br />

“Darüber denke ich anders.”<br />

“Das ist Wunschdenken. Keine der gegenwärtig<br />

existierenden Religionen hat die Menschheit wirklich<br />

verbessert. Kein Gebot kann eine Änderung <strong>im</strong> Verhalten der<br />

Menschheit bewirken ohne Einsicht, ohne Orientierung an<br />

der Realität, ohne den aus Angst und Leid geborenen und vom<br />

Menschen akzeptierten Zwang der Notwendigkeit.”<br />

“Angst und Leid lassen die Seele schrumpfen.”<br />

“Angst und Leid vermögen zu verändern – mehr als Glauben<br />

und Sicherheit.”<br />

“Sind da nicht Strenge und Autorität wirksamere Kräfte?”<br />

“Mit Strenge und Autorität haben Staats- und Religionsführer<br />

selten gespart. Der Erfolg blieb mäßig. Ich hoffe, daß für moderne<br />

Menschen Einsicht als Basis für Moral wirksamer sein


Unfehlbarkeit 133<br />

kann als von Politikern oder Klerikern verordneter Zwang.”<br />

“Offenbar ist die katholische Kirche da anderer Ansicht. Der<br />

Papst hat ja gerade wieder Fundamentalistisches in den Vordergrund<br />

gerückt, die Zügel straffer gezogen. Und er hat<br />

erneut seinen Anspruch auf Unfehlbarkeit bekräftigt.”<br />

“Unfehlbarkeit für einen Menschen??”<br />

“Freilich, das klingt merkwürdig.”<br />

“Merkwürdig? Der Anspruch eines Menschen auf Unfehlbarkeit<br />

ist der Gipfel narzißtischer Selbstüberhöhung.”<br />

“Ein hartes Urteil.”<br />

“Ein Mensch, der in unseren Tagen für sich Unfehlbarkeit<br />

proklamiert – und sei es auch nur <strong>im</strong> Rahmen seiner Religion<br />

– disqualifiziert sich als geistige und geistliche Autorität.”<br />

“Der Papst”, widerspricht der Maler, “ist der oberste Repräsentant<br />

einer riesigen Glaubensgemeinschaft, einer weltweit<br />

sehr erfolgreichen Kirche. Einer Kirche, die auf geistigen und<br />

geistlichen Gebieten über zahlreiche Generationen unerhört<br />

viel geleistet hat.”<br />

“Wenn der Papst weiterhin unbeirrt an mittelalterlichen<br />

Vorstellungen festhält – Zölibatsgebot für Priester, Sexualkodex<br />

für Gläubige – wird seine große Kirche bald zu einer<br />

kleinen Sekte werden.”<br />

“Kann eine harte Hand nicht manchmal Wunder wirken?<br />

Richtpfosten einrammen? Gutes bringen?”<br />

“Nicht die harte Hand autoritärer Vermessenheit.”<br />

“Sie! Der Papst …”<br />

“Der Papst steht vor sehr schwierigen Aufgaben und Entscheidungen.<br />

Er muß vieles in einem sein. Die Anforderungen<br />

an ihn sind gewaltig. Den Menschen, der so viel auf sich<br />

n<strong>im</strong>mt, bewundere ich. Den Ausschöpfer einer überkommenen,<br />

übergroßen Machtfülle kritisiere ich.”<br />

“Machtfülle?”<br />

“Jurisdiktionspr<strong>im</strong>at, Pr<strong>im</strong>atialgewalt! Und den Märchenkönig,<br />

den selbsternannten Stellvertreter Gottes, für den<br />

habe ich nur Kopfschütteln.”


134 WANDERER<br />

“Sie sollten mehr Verständnis aufbringen!”<br />

“Das kann ich nicht.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil es keine Moral geben kann ohne Wahrhaftigkeit und<br />

keine Würde ohne Widerstand gegen Tyrannei – religiöse oder<br />

staatliche.”<br />

Der Physiker schweigt eine Weile. Dann sagt er: “So manch<br />

ein Führer so manch einer Religion n<strong>im</strong>mt für sich mit der<br />

gleichen Selbstverständlichkeit in Anspruch, zwischen Wahrheit<br />

und Unwahrheit unterscheiden zu können, zwischen<br />

Richtigem und Falschem, mit der er anderen diese Fähigkeiten<br />

abspricht.”<br />

Jetzt nickt der Maler.<br />

“Und wer von denen denn meint, die Wahrheit gefunden zu<br />

haben, der will sie anderen oft verordnen. Wo ein solcher Wahrheitsverordner<br />

über Macht verfügt, da verbindet sich<br />

vermeintliche Wahrheit schnell mit Gewalt. Und dann<br />

beginnen furchtbare Entwicklungen.”<br />

“Freilich!”<br />

“So manch ein Religionsführer betrachtet sich als offizielles<br />

Bindeglied zwischen Mensch und Gott. Welch Anmaßung!”<br />

“Wie können Sie das Verhältnis eines Religionsführers zu<br />

seinem Gott beurteilen? Ist das nicht Anmaßung?”<br />

“Es gibt nicht einen einzigen nachprüfbaren Hinweis für die<br />

Existenz irgendeiner Ex-officio-Beziehung zwischen einem<br />

Religionsführer und seinem Gott – außer in seinem Kopf oder<br />

in seinem Herzen. Das aber ist keine Beziehung, sondern eine<br />

Einbahnstraße menschlichen Denkens, Fühlens und Hoffens.<br />

Es gibt nicht einen einzigen überzeugenden Beweis dafür, daß<br />

auch nur ein einziges Gebet eines Menschen, gleich welcher<br />

Glaubensrichtung, jemals erhört worden wäre von einem<br />

Gott.”<br />

“Woher wollen Sie das wissen? Woher nehmen Sie das Recht<br />

für eine solche Behauptung? Warum überhaupt kommen Sie<br />

zu solchen Schlußfolgerungen?”


Unfehlbarkeit 135<br />

“Weil sonst die Welt der Menschen anders aussehen müßte.<br />

Weil sonst das harte Los von Milliarden letztlich nichts anderes<br />

wäre als die Konsequenz der Nichtinanspruchnahme<br />

der besonderen Beziehungen der Religionsführer zu ihrem<br />

Gott, nichts anderes also als unterlassene Hilfeleistung!” Der<br />

Physiker fährt sich kopfschüttelnd über den kahlen Schädel.<br />

“Oder all das wäre ein Beweis dafür, daß dem Gott der Religionsführer<br />

der Mensch vollkommen wurscht ist. Oder dafür,<br />

daß deren Gott überhaupt nicht existiert. Überlegen Sie doch<br />

mal: die oft ans Herz gehenden Gebete der Gläubigen – meist<br />

nichts als Hilferufe und Bitten …”<br />

“Beten ist nicht nur Hilferufen, nicht nur Bitten. Beten ist<br />

auch Anbeten, Verehren!”<br />

“Nun gut. Aber das Anbeten und Verehren geschieht doch in<br />

der Hoffnung, daß der Angebetete den Betenden mit Wohlwollen<br />

begegnen möge, daß er die Verehrung mit Zuwendung<br />

und Hilfe vergelten möge.”<br />

Der Maler zieht die Mundwinkel nach unten. Widerstrebend<br />

nickt er.<br />

“Also: aus meiner Sicht haben Gebete die Sorgen und Leiden<br />

der Gläubigen, außer in ihren Vorstellungen, niemals mehr<br />

gelindert als Zufall oder eigenes Tun die Sorgen und Leiden<br />

der Nichtbetenden oder Nichtgläubigen.”<br />

Dem Maler kommen Bedenken: ‘Kann der mir wirklich<br />

helfen? Wie kann ich mich am Glauben aufrichten, wenn der<br />

das Beten entzaubert? Wie kann ich vorankommen, wenn der<br />

meine Lasten so schwer macht, daß sie mich <strong>im</strong>mer wieder in<br />

den Sumpf drücken?’ Von unten her starrt er den Physiker an:<br />

“Was Sie da so alles sagen! Woher wollen Sie wissen, daß Gebete<br />

den Gläubigen nichts genutzt haben?”<br />

“Weil sonst die Religionsführer längst die Wirksamkeit<br />

von Gebeten auf Grund handfester Tatsachen und objektiver<br />

Statistiken zweifelsfrei hätten belegen können, also längst etwas<br />

hätten tun können, wonach sie sich seit Jahrhunderten<br />

sehnen.”


136 WANDERER<br />

“Statistik! Was besagt sie schon!”<br />

“Sie ist das wichtigste Werkzeug der Wahrscheinlichkeitstheorie.”<br />

“Rrmm”, knurrt der Maler.<br />

“Trotz vielen Betens bleibt keinem Religionsführer Leid erspart.<br />

Ein Religionsführer lebt vermutlich nicht glücklicher,<br />

und sicher nicht länger, als ein Gottloser. Denken Sie mal darüber<br />

nach: Aus Milliarden leidender, schluchzender Münder<br />

und weinender Herzen ein unablässiges Bitten, W<strong>im</strong>mern<br />

und Stöhnen – ein weltweiter, erschütternder, nie versiegender<br />

Chor hilflos Hilfesuchender, ein Ozean des Rufens und<br />

Flehens – ohne jedes Echo!”<br />

“Willkür also heißt der Herrscher?”<br />

“Ein menschenähnlicher Gott schon.”<br />

“Sie dürfen nicht alles nur aus der Sicht der Naturwissenschaft<br />

deuten. Hier sind auch andere Felder menschlichen<br />

Wirkens beteiligt.”<br />

“Bei meiner Suche nach Antworten auf die großen Fragen<br />

der Menschheit messe ich der Wissenschaft keinen Sonderstatus<br />

bei. Ich stelle die …”<br />

“Wer große Fragen fragt, riskiert auch große Fehler.”<br />

“Ich stelle die Tragfähigkeit der Wissenschaft ebenso <strong>im</strong>mer<br />

wieder auf den Prüfstand wie die der Philosophie, Kunst und<br />

Religion. Jedenfalls versuche ich das.”<br />

Der Maler sieht das anders. Kritisch wiegt er den Kopf. “Sie<br />

schw<strong>im</strong>men gegen den Strom! Der Mensch muß die Natur aus<br />

sich heraus deuten.”<br />

“Das ist der Kardinalfehler vieler Philosophen und aller Religionsführer.”<br />

“Ich sehe da keinen Fehler. Der Mensch ist ein Produkt der<br />

Natur.”<br />

“Und?”<br />

“Also kann er die Natur auch in sich suchen und deuten.”<br />

“Ein in sich selbst <strong>Suchen</strong>der sieht sein Spiegelbild.”<br />

Der Maler ärgert sich über den Begriff ‘Spiegel’. “Ihre Ent-


Unfehlbarkeit 137<br />

gegnung ist mir zu substanzlos.”<br />

“In sich selbst begründete Kathederweisheit schneidet nur<br />

ins Fleisch einer Problematik. Wenn sie auf einen Knochen<br />

stößt, schnippelt sie darum herum, dann argumentiert sie ihn<br />

weg. Übrig bleibt Breiiges, das ebenso leicht runtergeht wie es<br />

bedeutungsarm ist.”<br />

“Wir suchen nach einer uns gemäßen Antwort”, insistiert<br />

der Maler, “also müssen wir auch von uns ausgehen. Danach<br />

folgt alles andere.”<br />

“Ganz falsch! Zuerst muß der Mensch versuchen, die Rolle<br />

zu erkennen, welche die Natur ihm zuweist.”<br />

“Was soll das heißen?”’<br />

“Daß wir mehr darüber wissen müssen, wer wir wirklich<br />

sind.”<br />

“Und wer sind wir wirklich?”<br />

“Teil des Universums, verwurzelt in der irdischen Natur,<br />

der toten wie der lebendigen. Aus der Natur und ihren Geschöpfen,<br />

auch anderen Menschen, und aus dem, was wir Natur<br />

und Geschöpf antun, wie sie auf uns reagieren, erst daraus<br />

formt sich ein Spiegel, in dem wir mehr sehen können als<br />

nur uns selbst.”<br />

‘Wieder Spiegel!’, hämmert es <strong>im</strong> Hirn des Malers. ‘Spiegel!!’<br />

Blitzschnell schlägt die St<strong>im</strong>mung um. Schweiß bricht aus.<br />

Rinnt in tiefe Wangenfurchen. Salzt die Lippen. Da! Aus dem<br />

Dunkel, aus den Tiefen seiner Eingeweide, schwebt es wieder<br />

empor, das Bild des Engels. Das Bild, das so leise kommt und<br />

das so laut in ihm schreit. Der Mund lächelt, aber die<br />

wissenden Augen drohen. ‘Spiegel!!!’<br />

Gebannt verharrt der Bucklige mit geschlossenen Augen<br />

auf der Stelle. Er starrt in sein Innerstes. Es dauert eine<br />

Weile, bis er sich wieder zu bewegen vermag. Er atmet tief.<br />

Reißt den Hut vom Kopf, lockert den Schal.<br />

Nur mit Mühe findet er zurück in das Gespräch. “S…Sie sehen<br />

vieles zu einseitig”, krächzt er. “Der Mensch hat sich eine<br />

völlig neue Welt geschaffen!”


138 WANDERER<br />

“So völlig neu ist die nicht. Da ist viel Uraltes drin. Und viel<br />

Unabänderliches. Die Art unseres Empfindens und Denkens<br />

ist uns ebenso angeboren wie die Strukturen und Funktionen<br />

unseres Körpers. Unsere Hand greift, wie sie greifen kann<br />

und muß. Unser Hirn denkt, wie es denken kann und muß.<br />

Dieses unwiderbringlich festgezurrte Können und Müssen<br />

und die sich daraus ergebenden Richtungsvorgaben und Einschränkungen<br />

sind von vielen Philosophen und den meisten<br />

Religionsführern nicht erkannt worden.”<br />

Tricks<br />

‘Dieser Wissenschaftler’, denkt der Künstler, ‘der hat sein<br />

eigenes Fenster zur Welt. Der sieht Dinge, die ich nicht sehe.<br />

Und der empfindet so manches anders als ich. Kann der mir<br />

wirklich helfen? Wo versteckt sich der Teufel? Ich muß ihn<br />

entlarven! Wir müssen ihn be<strong>im</strong> Namen nennen!’ – “Wie paßt<br />

der heutige Mensch in die Natur?”<br />

“Schlecht.”<br />

“Warum?”<br />

“Er hat sich in ein Dilemma hineinentwickelt.”<br />

“Was für ein Dilemma?”<br />

“Das Leben auf der Erde ist mehrere Milliarden Jahre alt.<br />

In dieser unermeßlichen Zeitspanne haben sich die verschiedenen<br />

Lebensformen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander<br />

ausgebildet und in enger Bindung zu ihrer Umwelt. Keine<br />

der Millionen verschiedener Lebensformen kann für sich allein<br />

existieren, auch nicht der Mensch.”<br />

“Ich weiß. Sie alle leben in Ökosystemen.”<br />

“So ist es.”<br />

“Wo liegt das Dilemma?”<br />

“Im zunehmenden Hinauswachsen des Menschen aus seinem<br />

Ökosystem.”<br />

“Hinauswachsen? Wie sieht’s innen aus? Wie ist das Zu-


Tricks 139<br />

sammenleben innerhalb von Ökosystemen geregelt?”<br />

“Durch unerbittliche Gesetze.”<br />

“Was für Gesetze?”<br />

“Man kann ihre Essenz in vier Punkten zusammenfassen.”<br />

Der Physiker holt Zettel hervor aus seiner Jackentasche. Er<br />

hat stets Zettel bei sich und einen Schreiber. Wenn ihm etwas<br />

einfällt, das ihm wichtig erscheint, macht er sich sogleich darüber<br />

Notizen. Er sortiert die Zettel. Und nun beginnt er:<br />

“Rücksichtslosigkeit: Genetische Programmierung jedes<br />

Systemmitglieds auf erbarmungslose Konkurrenz, Ausbeutung<br />

und Ausnutzung aller Möglichkeiten der eigenen Vorteilsnahme.<br />

Koevolution: Eingliederung und Einbindung aller Mitglieder<br />

in die Fließmuster der Energie und das Zirkulieren der<br />

Materie.<br />

Reifung: Förderung des Eigenschaftsreichtums, Zunahme<br />

von Diversifikation. Ausbau eines vernetzenden Beziehungsgewebes.<br />

Absicherung: Entwickeln von Selbstregulation. Vermeiden<br />

einer Anreicherung systemgefährdender Substanzen und Vermeiden<br />

der Ausformung einer systemgefährdenden Art.”<br />

“Ich sehe kein Dilemma.”<br />

“Nach Millionen von Jahren völliger Einbindung in die Systemgesetze<br />

ist der Mensch eigene Wege gegangen. Ursprünglich<br />

ein voll integriertes Systemmitglied, hat er Regulationsmechanismen<br />

unterlaufen und ist zu einer systemgefährdenden<br />

Art geworden.”<br />

“Was sind das für Mechanismen?”<br />

“Sie basieren auf Kontroll- und Korrekturkräften, die in<br />

ihrer Wirkung den Mechanismen vergleichbar sind, welche in<br />

Einzelorganismen Ganzheit und Harmonie herstellen. Im Bereich<br />

von Ökosystemen ist das noch weitgehend wissenschaftliches<br />

Neuland. Ich sehe jedoch Ansatzpunkte für ein Eindringen<br />

in diese Problematik.”<br />

“Welche?”


140 WANDERER<br />

“Überall da, wo eine Art das ihr gemäße ökologische Potential<br />

überhöht und so die Systemharmonie kritisch deformiert,<br />

schlägt das System zurück.”<br />

“Wie?”<br />

“Das System stärkt Kräfte, die den Ausbrecher schwächen.<br />

So zwingt es ihn wieder zurück in die natürliche Dynamik<br />

oder läßt ihn aussterben. Außer Kontrolle geratene Systemkomponenten<br />

…”<br />

“Was ist das?”<br />

“Lebensformen, welche systemtypische Energie- und<br />

Materieströme deformieren.”<br />

“Deformieren? Wie?”<br />

“Durch explodierendes Populationswachstum, durch systemschädigendes<br />

Verhalten.”<br />

“Zum Beispiel?”<br />

“Im Verlaufe des letzten Jahrhunderts hat die Menschheit<br />

die Atmosphäre mit etwa 150 Milliarden Tonnen zusätzlichen<br />

Kohlenstoffs belastet. Hinzu kommen in jüngerer Zeit riesige<br />

Mengen giftbeladener Luft von Industrie, Autos und Haushalten.<br />

Dadurch werden Veränderungen verursacht, nicht zuletzt<br />

auch <strong>im</strong> Kl<strong>im</strong>a. Das wird auf den Menschen zurückschlagen.”<br />

“Freilich! Und das ist sicherlich ähnlich mit anderen vom<br />

Menschen verursachten Umweltschäden.”<br />

“So ist es. Für alle Wunden, die der Mensch der Schöpfung<br />

schlägt, muß er früher oder später die Schmerzen ertragen.”<br />

“Aber Schäden durch Technik könnten doch auch durch Technik<br />

wieder beseitigt werden.” Der Maler grinst. “Ich erinnere<br />

mich da an eine Story. Zwei Unternehmer stehen an einem<br />

Fluß. Fragt der eine: ‘Wie läufts?’ Sagt der andere: ‘Könnte<br />

nicht besser sein. Da oben verunreinigen wir den Fluß, da<br />

unten reinigen wir ihn wieder. Beidesmal verdienen wir.’”<br />

“Und beidesmal leidet die Natur.”<br />

Der Maler nickt. “Und beidesmal müssen wir die Rechnung begleichen.”<br />

Dann fragt er: “Gibt es andere Regulationskräfte?”


Tricks 141<br />

“Hormone und Mikroorganismen. Hormone, also chemische<br />

Regulationsstoffe, treiben und dirigieren Stoffwechselprozesse,<br />

in einzelnen Lebensformen und in Ökosystemen. Wenn<br />

der Mensch die Chemie durcheinander bringt, kann das sehr<br />

nachteilig auf ihn zurückwirken. Mikroorganismen beeinflussen<br />

in erheblichem Maße das erdweite Fließen von Energie<br />

und das Rezirkulieren von Materie. Ich halte es für möglich,<br />

daß Mikroorganismen auf diese Weise – und als Krankheitserreger<br />

– Kontrollfunktionen wahrnehmen, daß sie langfristig,<br />

durch eine Schwächung oder Auslöschung einer in Anzahl<br />

und Einfluß zu stark werdenden Art, mithelfen, die<br />

Harmonie wiederherzustellen.”<br />

“Ich sehe das umgekehrt: Menschengemachte Antibiotika<br />

kontrollieren Bakterien!”<br />

“Das Bakterium, welches Tuberkulose hervorruft, konnte<br />

früher mit einem Antibiotikum ausgeschaltet werden. Dann<br />

wurden zwei verschiedene Antibiotika erforderlich und schließlich<br />

drei oder gar vier. Bakterien entwickeln Abwehrmechanismen<br />

gegen Antibiotika oft schneller als der Mensch neue<br />

Antibiotika erfinden kann.”<br />

“Wie machen das die Bakterien? Hier kämpft doch hochentwickelter<br />

Verstand gegen hirnlose Dummheit.”<br />

“Das sind Noten, die Menschen sich und den Bakterien geben.<br />

Eine solche Einschätzung geht an der für uns heute erkennbaren<br />

Realität vorbei.”<br />

“Wie also machen das die Bakterien?”<br />

“Sie nutzen etwas, das ich als Universalverstand bezeichne.”<br />

“Was ist das?”<br />

“Ein Verstand, der allem Leben eigen ist.”<br />

“Und was bewirkt dieser Verstand für die Bakterien?”<br />

“Er ermöglicht ihnen, dem antibiotischen Angriff der Mediziner<br />

zu begegnen.”<br />

“Wie?”<br />

“Über viele Generationen verändern die Bakterien ihren<br />

Stoffwechsel so, daß er auch in Anwesenheit der Antibiotika


142 WANDERER<br />

funktioniert. Sie produzieren Enzyme, die Antibiotika<br />

abbauen, noch bevor diese in die Bakterienzelle eindringen<br />

können. Sie konstruieren Moleküle, die Antibiotika ‘auffressen’,<br />

nachdem diese in die Zelle eingedrungen sind. Sie<br />

entwickeln Pumpen, die eingedrungene Antibiotika wieder<br />

aus ihrer Zelle hinausbefördern. Sie verändern die Struktur<br />

eines Moleküls, an das Antibiotika andocken müssen, um wirksam<br />

werden zu können. Der Erfindungsreichtum der Bakterien<br />

scheint unerschöpflich zu sein.”<br />

“Aber die Medizin hat die meisten krankheitserregenden<br />

Mikroben unter Kontrolle und viele von ihnen bereits vernichtet.”<br />

“Das ist ein frommer Wunsch. Wir erleben einen für uns<br />

<strong>im</strong>mer gefährlicher werdenden Krieg. Einen Krieg des Erfindungsvermögens<br />

der Mikroben gegen das Erfindungsvermögen<br />

unseres Immunsystems und unseres Gesundheitswesens.<br />

Die Mikroben müssen sich gegen Immunsystem und<br />

Gesundheitswesen durchsetzen, sonst kommen sie nicht an<br />

ihre Energie- und Materialresourcen. Wir müssen sie abwehren,<br />

sonst schädigen oder vernichten sie uns.”<br />

“Wie stehen unsere Chancen?”<br />

“Wir haben keine guten Aussichten, diesen Krieg zu gewinnen.<br />

Der ständig wachsenden und <strong>im</strong>mer besser ausgerüsteten<br />

Angriffsarmee haben wir <strong>im</strong>mer weniger entgegenzusetzen.<br />

Die Angreifer haben den Vorteil einer sehr kurzen<br />

Generationszeit und damit einer großen genetischen Beweglichkeit.<br />

Sie formen <strong>im</strong>mer wieder neue genetische Linien und<br />

zwingen unseren Körper, für jede Angriffseinheit eine Abwehreinheit<br />

hervorzubringen. Das ist eine gewaltige Aufgabe,<br />

umsomehr als wir unser Immunsystem durch eigene Unvernunft<br />

<strong>im</strong>mer stärker und in der vielfältigsten Weise schwächen<br />

und schädigen. Längst besiegt geglaubte Seuchen kehren<br />

zurück. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet in <strong>im</strong>mer<br />

kürzer werdenden Zeitabständen von neu entdeckten, für den<br />

Menschen potentiell gefährlichen Mikroben. Global geht be-


Tricks 143<br />

reits ein sehr hoher Prozentsatz aller Todesfälle auf mikrobielle<br />

Erreger zurück – vor allem auf Viren, Bakterien und Pilze.<br />

Milliarden Menschen leiden an Infektionskrankheiten. Einige<br />

Kenner der Szene warnen sogar vor einem Mikroben-GAU.”<br />

“Was ist das?”<br />

“Eine weltweite Infektion durch einen neuen Super-<br />

Mikroorganismus, der in kurzer Zeit Milliarden Menschen<br />

tötet.”<br />

“Ein Horrorszenario!!”<br />

“Ein weiteres Beispiel für Kontrollmöglichkeiten der Natur<br />

ist das mit der Ausreifung einer Art einhergehende Nachlassen<br />

ihres evolutiven Elans. Das führt zu einer Verringerung<br />

ihres Vermögens, auf Veränderungen zu reagieren. Und<br />

schließlich gibt es da auch noch die Möglichkeit der Selbstvernichtung<br />

eines Harmoniebrechers.”<br />

“Wer vernichtet sich selbst?”<br />

“Der Mensch.”<br />

“Der Mensch?!”<br />

“Wir sind ja schon kräftig dabei. Da gibt’s verschiedene<br />

Möglichkeiten zusätzlich zur militärischen Eigenvernichtung<br />

und zur Umweltdegradierung. Zum Beispiel<br />

Beeinträchtigung der natürlichen Selektion – nicht nur bei<br />

Organismen, die wir für unsere eigenen Zwecke nutzen,<br />

sondern auch bei uns selbst.”<br />

“Bei uns selbst? Das verstehe ich nicht.”<br />

“Unsere Erfolge in der Bekämpfung von Krankheiten feiern<br />

wir als Fortschritt.”<br />

“Freilich!”<br />

“Aber kaum jemand hat begriffen, was das langfristig bedeutet.”<br />

“Was?”<br />

“Krankheiten gibt es bei allen Lebewesen, vom Virus bis<br />

zum Wal.”<br />

“Und?”<br />

“Krankheiten sind ein natürliches ökologisches Korrektiv,


144 WANDERER<br />

ein Instrument der Selektion und ein Motor der Evolution.<br />

Erfolge in der Bekämpfung von Krankheiten auf der Ebene<br />

des Individuums führen langfristig zu einer Schwächung der<br />

Entwicklungs- und Abwehrkräfte auf der Ebene der Art.”<br />

“Das … Ist das eine Kritik an den Ärzten?”<br />

“Ärzte sind bestrebt, menschliches Leben zu erhalten. So<br />

unterstützen sie ein übermäßiges Wachstum der Weltpopulation.<br />

So ermöglichen sie manchem Kranken, sein Erbgut<br />

weiterzugeben. Die Resultate sind eine Überbeanspruchung<br />

unserer Lebensgrundlagen und eine Verformung der arterhaltenden<br />

Kräfte der Selektion. Beides schadet uns.”<br />

“Schadet? Wodurch?”<br />

“Dadurch, daß der Mensch in naturgewolltes Geschehen eingreift.<br />

Das wird langfristig die Lebensfähigkeit der Menschheit<br />

verringern. Also: Ärzte unterstützen das Individuum,<br />

aber sie schwächen, natürlich ohne das zu wollen, die Art.<br />

Hier wird, wie so oft, durch die Bekämpfung eines Problems<br />

ein neues Problem erzeugt.”<br />

“Aber …”<br />

“So manche Aktivitäten der Menschen schädigen nicht nur<br />

ihre Umwelt, sondern auch ihre Innenwelt. Nachteilige Veränderungen<br />

<strong>im</strong> Genpool sind nicht wieder gutzumachen.”<br />

“Ja wollen Sie denn kranke Menschen, denen einen Arzt<br />

helfen könnte, lieber leiden, lieber sterben lassen?”<br />

“Natürlich nicht! Aber eben hier liegt ja ein weiterer, unauflöslicher<br />

Aspekt des Dilemmas.”<br />

“Ärzte heilen! Das ist…”<br />

“Nicht Ärzte heilen, sondern die Natur. Der eigentliche<br />

Vorgang der Heilung entzieht sich ärztlicher Kunst. Was da<br />

wirklich passiert, das weiß der Arzt auch heute noch nicht.<br />

Ein Arzt kann den kranken Körper, die geschädigte Psyche<br />

unterstützen. Er kann den Heilungsprozeß fördern. Das Heilen<br />

aber, das vollbringt der Körper selbst. Heilen liegt außerhalb<br />

der Grenzen menschlicher Möglichkeiten – wie das Verhindern<br />

von Altern und Sterben.”


Tricks 145<br />

“Aber die Medizin hat enorme technische Fortschritte erzielt.<br />

Sie verfügt jetzt über machtvolle Behandlungsmethoden,<br />

von denen wir noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen<br />

wagten.”<br />

“Ja”, lächelt der Physiker, “manche davon sind so machtvoll,<br />

daß man sie als ‘Körperverletzung mit gutem Vorsatz’ einstufen<br />

könnte.”<br />

“Glauben Sie nicht, daß Genmanipulationen helfen können?<br />

Daß die Genforschung unerwünschte Erbgutveränderungen<br />

durch gezielte Eingriffe wieder in Ordnung bringen kann?”<br />

“Allenfalls in besonderen Situationen.”<br />

“Aber andere Wissenschaftler behaupten, daß sich da sogar<br />

Möglichkeiten ergeben werden, die Natur zu verbessern.”<br />

“Der Mensch weiß noch <strong>im</strong>mer nicht, wie die Natur funktioniert.<br />

Wie kann er sie da verbessern?”<br />

“Viele Fortschritte schienen zuerst unmöglich.”<br />

“Fast alle Fortschritte haben neben Vorteilen auch Nachteile<br />

gebracht. Bei aller Freude über Fortschritte sollten wir<br />

potentiellen Nachteilen und Gefahren größere Aufmerksamkeit<br />

widmen. Bescheidenheit steht dem Menschen besser an<br />

als euphorische Überschätzung der eigenen Möglichkeiten.”<br />

“Früher waren die Menschen bescheidener.”<br />

“Die Menschen waren nie bescheiden. Sie waren nur weniger<br />

mächtig.”<br />

Der Maler schweigt einen Augenblick. Dann sagt er: “Dem<br />

Menschen ist eine Sonderrolle zugedacht. Könnte Gott daher<br />

nicht einen erneuten Ausgleich <strong>im</strong> Naturgeschehen herbeiführen,<br />

ohne dem Menschen Schaden zuzufügen?”<br />

“Ich sehe keine Sonderrolle.”<br />

“Oho!”<br />

“Alles Leben auf der Erde hat gleiche Wurzeln. Alles<br />

funktioniert auf die gleiche Weise. Alles unterliegt den<br />

gleichen Gesetzen. Die modernen Menschen allerdings …”<br />

“Was verstehen Sie darunter?”<br />

“Die Menschen der letzten Jahrzehnte, die Menschen, wel-


146 WANDERER<br />

che begonnen haben, die Erdoberfläche rücksichtslos nach<br />

ihren einseitigen <strong>Inter</strong>essen zu verändern. Diese Menschen<br />

allerdings spielen eine Sonderrolle: die Rolle des gefährlichsten<br />

Wesens, das die Evolution bisher hervorgebracht hat.”<br />

Der Maler knurrt. Ihm paßt das alles nicht. “Wenn es keine<br />

prinzipiellen Unterschiede gibt, worauf beruht dann die gewaltige<br />

Macht des modernen Menschen?”<br />

“Auf ein paar Tricks.”<br />

“Tricks? Was für Tricks?”<br />

“Der Mensch hat die langsame, sich selbst <strong>im</strong>mer wieder<br />

harmonisierende ökologische Koevolution ergänzt durch eine<br />

selbstgemachte, sich ständig beschleunigende ökonomische<br />

Soloevolution.”<br />

“Was ist das?”<br />

“Das Ergebnis ökonomischer, technologischer, wissenschaftlicher<br />

und kultureller Faktoren.”<br />

“Was für Faktoren?”<br />

“Entwicklung von Sprache und Schrift und somit der Fähigkeit,<br />

kommunikativ zu beschreiben und zu argumentieren.<br />

Organisation von Neugier und Vorteilsgewinnung in Wissenschaft<br />

und Technologie. Perfektionieren der Erarbeitung und<br />

Weitergabe individuell gewonnener Erfahrungen und Informationen<br />

durch Forschungsinstitute, Universitäten, Schulen,<br />

Druckwerke und Elektronik. Erschließung zusätzlicher Ressourcen.<br />

Aufbau eines komplexen Sozialgefüges, das Arbeitsteilung<br />

ermöglicht, und Spezialisierung. Das sind die fünf<br />

Tricks, mit denen sich der Mensch unglaubliche Konkurrenzvorteile<br />

verschafft hat gegenüber seinen Mitkreaturen. Das<br />

sind die Tricks, mit denen er sich aus seinem Ökosystem<br />

hinausentwickeln konnte, jedenfalls ein Stück.”<br />

“Schulen? Universitäten? Sie sind …”<br />

“Lern- , Lehr- und Forschungsorgane der Gesellschaft.”<br />

“Und die Mitkreaturen, was ist mit denen?”<br />

“Bei denen können von Individuen gemachte Erfahrungen<br />

nur in beschränktem Umfang an die nächste Generation wei-


Tricks 147<br />

tergegeben werden. Vor allem dann, wenn sie ihren Niederschlag<br />

finden <strong>im</strong> Erbmaterial, wenn sie also der neuen Generation<br />

als angeborene Verhaltensmuster zur Verfügung<br />

stehen. Das ist ein langsamer Prozeß. Wo eine Weitergabe individuell<br />

gewonnener Erfahrungen fehlt, da müssen Neugeborene<br />

mit dem Eingemachten anfangen.”<br />

“Bei Tieren.”<br />

“Auch bei Menschen. Was glauben Sie, wie sich ein neugeborenes<br />

Kind entwickeln würde ohne Informationsbelieferung,<br />

ohne Erziehung, ohne Vorbild, also – außer Nahrungszufuhr<br />

– in völliger Isolation? Es wäre seinen Mitgeschöpfen<br />

hoffnungslos unterlegen. Bitte bedenken Sie: Diese gewaltige<br />

Reduktion des Konkurrenzpotentials eines Menschen erfolgt<br />

bei gleicher genetischer Ausstattung. Ergo: Die Macht des<br />

modernen Menschen gegenüber seiner Mitkreatur beruht vor<br />

allem auf nicht-genetisch Dazugekommenem: Erlerntem und<br />

gezielt in Erfahrung Gebrachtem, sowie dessen Auswertung,<br />

Weitergabe, Anwendung und Speicherung.”<br />

“Es ist wirklich ganz unglaublich, wie Sie das s<strong>im</strong>plifizieren!”<br />

“Ich habe das so einfach wie möglich dargestellt. Daher muß<br />

ich den Vorwurf akzeptieren, manches vor der Tür gelassen zu<br />

haben. Aber der Kern ist korrekt: kleine Veränderungen<br />

hatten <strong>im</strong>mense Folgen.”<br />

“Der Mensch ist nicht nur ein Produkt seines Ökosystems,<br />

sondern auch seiner Kultur und Zivilisation!”<br />

“Die hängen nicht in der Luft. Auch sie wurzeln <strong>im</strong> harten<br />

Boden der Ökosystemgesetze. Auf diesem harten Boden sind<br />

sie zarte Pflanzen geblieben.”<br />

“Kultur und Zivilisation haben dem Menschsein eine völlig<br />

neue Qualität verliehen!”<br />

“Ich sehe keine völlig neue Qualität. Allenfalls zarte Blüten<br />

an den zarten Pflanzen. Auch Kulturen bekämpfen einander.”<br />

“Sie sehen das zu negativ.”<br />

“Ungeachtet kultureller und zivilisatorischer Errungenschaf-


148 WANDERER<br />

ten führt die gewaltige Veränderungsmacht von mehreren<br />

Milliarden Menschen und deren horrendes militärisches<br />

Vernichtungspotential zu massiven Deformationen <strong>im</strong> Haushalt<br />

der Natur und zu einer kolossalen Bedrohung irdischer<br />

Lebensformen. Diese gefährliche Entwicklung wird noch<br />

angeheizt durch Rivalitäten zwischen konkurrierenden politischen<br />

und wirtschaftlichen Machtgruppierungen, durch<br />

wachstumsorientierte Politik und Wirtschaft, durch eine explosive<br />

Vermehrung der Anzahl an Menschen und durch<br />

deren steigenden Pro-Kopf-Umsatz an Energie und Materie.<br />

Hier haben Sie eine Kurzbeschreibung des ganzen Ausmaßes<br />

des Dilemmas.”<br />

Der Maler will etwas sagen, aber die Gedanken des Physikers<br />

überschlagen sich. “Im Theaterspiel der Schöpfung gibt<br />

es für den Menschen nur zwei prinzipielle Rollenpläne: Ökosystemmitglied<br />

oder Ökosystemkontrolleur. Ein normales<br />

Ökosystemmitglied ist der Mensch nicht mehr, ein<br />

funktionsfähiger Kontrolleur noch nicht. Ob er das jemals<br />

werden kann, bezweifle ich.”<br />

“Warum?”<br />

“Die Rolle eines Ökosystemkontrolleurs erfordert – neben<br />

umfassendem Wissen – Eigenschaften, die sich grundsätzlich<br />

unterscheiden von denen eines Ökosystemmitglieds: Selbstbeschränkung,<br />

Verantwortlichkeit, Achtung vor der Mitkreatur.<br />

Für derartige Eigenschaften gibt es in der Natur keine<br />

Selektionsmechanismen.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil sie für ein Ökosystemmitglied, das ja mit koexistierenden<br />

Arten <strong>im</strong> gnadenlosen Wettbewerb steht, tödlich wären.”<br />

Wieder knurrt der Maler. Er überlegt. “Das ist eine Betrachtungsweise,<br />

die neu für mich ist.” Er wiegt den Kopf. Schließlich<br />

sagt er: “Mir scheint, Ihre Darstellung ist in sich logisch.<br />

Durchaus plausibel. Die Essenz …”<br />

“Die Essenz ist diese: In jeder seiner Milliarden Zellen ist


Tricks 149<br />

der Mensch genetisch programmiert für seine Rolle als Ökosystemmitglied.<br />

Aber <strong>im</strong> nichtgenetischen Bereich hat er<br />

gewaltige, die Systemharmonie sprengende Konkurrenz-,<br />

Veränderungs- und Vernichtungspotentiale entwickelt.”<br />

“Sehen Sie eine Lösung für dieses Problem?”<br />

“Die Menschen müssen die gefährlichen Auswirkungen ihrer<br />

selbstgemachten ökonomischen Soloevolution kompensieren<br />

durch eine ebenfalls selbstgemachte ethische Soloevolution<br />

und auf diese Weise einen erneuten Ausgleich untereinander<br />

und mit der Natur anstreben.”<br />

“Was verstehen Sie unter ethischer Soloevolution?”<br />

“Die Summe der moralisch motivierten Kräfte und Prozesse,<br />

die erforderlich sind, um eine Entartung der ökonomischwissenschaftlich-technologisch-militärischen<br />

Entwicklungen<br />

zu verhindern.”<br />

“Ist das machbar?”<br />

“Das ist äußerst schwierig. Die ökonomische Soloevolution<br />

wird angetrieben durch mächtige Süchte und Triebe. Ständig<br />

schreien sie nach mehr Macht, Raum, Geld, Wachstum, Erfolg.<br />

Im Vergleich dazu sind die Antriebskräfte für die ethische<br />

Soloevolution noch kümmerlich entwickelt: Wahrhaftigkeit,<br />

Verantwortlichkeit und Einsicht.”<br />

Auf ihrer Wanderung um den See herum sind die beiden<br />

jetzt in jenem Teil des <strong>Park</strong>s angelangt, in dem sich die Natur<br />

frei entfalten kann, in der Wildnis. Hier wandern sie auf engen,<br />

sich windenden Wegen, deren Boden kaum je ein Sonnenstrahl<br />

erwärmt. Von den Seiten her drängeln Zweige riesiger<br />

Tannen mit langen Bärten aus Flechte. Jetzt betreten<br />

sie einen Wegabschnitt, der umsäumt ist von alten Erlen und<br />

Weiden.<br />

“Für mich”, sagt der Physiker, “ist dies der schönste Teil des<br />

<strong>Park</strong>s. Hier verbringe ich viel Zeit, wenn ich allein spazieren<br />

gehe. Hier habe ich Erlebnisse gehabt, die mich <strong>im</strong>mer wieder<br />

zutiefst bewegen.”


150 WANDERER<br />

“Was sind das für Erlebnisse?” Der Maler denkt an seine eigenen<br />

besonderen Erlebnisse <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Für einen Augenblick<br />

erscheint es ihm nicht völlig ausgeschlossen, daß das Gefühlsleben<br />

des Physikers von dem seinen gar nicht so verschieden<br />

ist.<br />

“Ich begegne hier Erscheinungen, von denen ich vermute,<br />

daß sie nicht in unsere Erdenwelt gehören. Erscheinungen,<br />

die eine Beziehung zu dem zu haben scheinen, was mich in zunehmendem<br />

Maße beschäftigt.”<br />

“Das klingt gehe<strong>im</strong>nisvoll. Darf man da weitere Fragen stellen?”<br />

“Man darf. Aber es gibt derzeit keine Antworten.”<br />

“Weil Sie noch nicht wissen, was das für Erscheinungen sind,<br />

oder weil sie darüber noch nicht sprechen wollen?”<br />

“Beides.”<br />

Schweigend wandern die beiden weiter. Der Maler überlegt,<br />

wie er den anderen dazu bringen könnte, sein Gehe<strong>im</strong>nis<br />

preiszugeben. “Erst machen Sie mich neugierig, und dann<br />

lassen Sie mich in der Luft hängen. Wahrscheinlich werde ich<br />

jetzt solange unruhig schlafen, bis ich weiß, wovon Sie reden.”<br />

“Tut mir leid.”<br />

“Und wenn ich wirklich nicht schlafen kann?” Der Maler<br />

grinst gewitzt. Irgendwie hofft er, den Physiker doch noch aus<br />

seiner Reserviertheit herauslocken zu können.<br />

Der aber schweigt.<br />

Wortlos setzen sie ihre Wanderung fort.<br />

“Schauen Sie mal”, schüttelt der Maler den Kopf, “das ist ja<br />

wirklich wie <strong>im</strong> Urwald!”<br />

Eine große, morsche Weide ist umgestürzt. Ihre gewaltige<br />

Krone liegt quer über dem Weg. So müssen sie sich einen Pfad<br />

durchs Buschwerk bahnen. Der Maler geht voran. Er hat da<br />

einige Übung. Mit einem Ruck bleibt er stehen. Wie zu Stein<br />

erstarrt, verharrt er auf der Stelle, das rechte Bein noch in der<br />

Luft. Nicht weit vor ihm liegt ein nacktes Paar, das sich äußerst<br />

intensiv einer Beschäftigung hingibt, von der er bisher


annahm, daß sie für den nächtlichen <strong>Park</strong> reserviert sei.<br />

Blitzschnell explodiert Erregung, greift die Hand zum Schritt.<br />

Doch dann steht auch schon der Physiker hinter ihm. Was<br />

würde er darum geben, wenn der jetzt nicht da wäre!<br />

Der Wissenschaftler tippt dem Künstler leicht auf die<br />

Schulter, lächelt und winkt ihn mit dem Kopf zurück. Widerstrebend<br />

folgt ihm der Maler, nicht ohne sich noch zwe<strong>im</strong>al<br />

umzusehen. Wieder bei der umgestürzten Weide angelangt,<br />

sagt der Physiker: “Natur pur. Wie schön. Da sollte man nicht<br />

stören. Kommen Sie, wir gehen links ‘rum.”<br />

Dem Maler fällt es schwer, seine Erregung zu verbergen.<br />

Ihm ist das sehr unangenehm. Ja, ihm ist das außerordentlich<br />

peinlich!<br />

Freier Wille<br />

Freier Wille 151<br />

Ein ganzes Stück wandern Maler und Physiker auf dem langen<br />

Weg, der um den See herumführt, ohne ein einziges Wort<br />

zu wechseln. Bunte Schmetterlinge flattern taumelnd und<br />

kursändernd an ihnen vorüber, aufgeregte Vögel jagen einander,<br />

sch<strong>im</strong>pfen und zwitschern, emsige Bienen summen …<br />

Aber der Maler sieht und hört das alles nicht. Seine drängelnde<br />

Neugier ist plötzlich versunken in bedrückender Nachdenklichkeit.<br />

“Die Expeditionen an die Grenzen Ihrer Vorstellungswelt”,<br />

sagt er schließlich, “sie werden uns noch lange beschäftigen.<br />

Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne etwas vorwegnehmen.<br />

Es geht um eine für mich sehr wichtige Frage.”<br />

“Wie lautet die Frage?”<br />

“Haben wir Menschen einen freien Willen?”<br />

“Nein. Wir Menschen haben keinen freien Willen.”<br />

Entrüstet atmet der Zwerg aus. Die Schultern fallen nach<br />

unten. Die Wulstlippen pressen aufeinander. “S…so klar”, sagt<br />

er mit rauher St<strong>im</strong>me, “so einfach ist das für Sie?”<br />

“Ja. Aber wir können uns einbilden, ohne bewußtwerdendes


152 WANDERER<br />

Selbstbelügen, daß wir einen freien Willen hätten.”<br />

“Das müssen Sie mir schon erläutern!”<br />

“Die meisten Menschen sind davon überzeugt, daß sie einen<br />

freien Willen haben. Aber das ist eine Illusion. Was sie<br />

wirklich haben, das ist die Möglichkeit der Beeinflussung des<br />

sich in ihnen formenden Willens, die Möglichkeit einer <strong>Inter</strong>vention<br />

des Geistes. Diese Möglichkeit ist größer <strong>im</strong> Denken<br />

als <strong>im</strong> Handeln.”<br />

Der Maler will das so nicht gelten lassen. “Schauen Sie mal,<br />

das macht doch keinen Sinn. Wie paßt denn das zusammen?<br />

In unserem täglichen Leben, für unseren normalen Umgang<br />

miteinander ist doch letzten Endes entscheidend, daß wir<br />

fühlen und somit für uns selbst auch wissen, daß wir etwas<br />

aus freiem Willen tun.” Er denkt nach. Dann sagt er, leiser:<br />

“Manchmal tun wir etwas, das wir eigentlich gar nicht tun<br />

wollen. Aber manchmal ist es uns auch möglich, das nicht zu<br />

tun – auf Grund neugewonnener Einsichten.”<br />

“Das Ausmaß der Möglichkeiten, auf die Willensbildung<br />

Einfluß zu nehmen, ist eine Funktion von Angeborenem und<br />

Erworbenem: Erziehung, Lernen, Vorbild, sowie der Kraft, die<br />

wir aus eigener Einsicht und Verantwortlichkeit mobilisieren<br />

können. Was am Ende herauskommt, hängt ab von der<br />

unterschiedlichen Qualität und Intensität der beteiligten<br />

Faktoren und von dem individuellen Stil der inneren<br />

Konfliktbewältigung. Wo aber der Wille stark ist, wo er sich<br />

klare Ziele setzt, da kann das Wollen viel bewirken.”<br />

“Was ist mit der Vernunft?”<br />

“Was verstehen Sie darunter?”<br />

“Unmittelbare, objektive Umsetzung eigener Sinneseindrücke<br />

und …”<br />

“So etwas gibt es nicht.”<br />

“… Einsicht, Besonnenheit und Logik als Grundlage für<br />

Denken und Handeln.”<br />

“So etwas ist selten.”<br />

“Sie unterschätzen die Vernunft!”


Freier Wille 153<br />

“Ich halte nicht so viel von der theoretisierenden Verklärung<br />

menschlicher Vernunft – nicht so viel jedenfalls wie mancher<br />

Philosoph.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Woher n<strong>im</strong>mt die Vernunft ihre Vernunft?”<br />

“Die Frage gebe ich an Sie zurück.”<br />

“So wie ich das sehe, entwächst Vernunft dem Urboden der<br />

Schöpfung. Sie war vor dem Menschen da und sie existiert<br />

auch außerhalb von ihm. In der realen Menschenwelt ist Vernunft<br />

mehr Ziel als Wirklichkeit.”<br />

“Die Geschichte der Menschheit spricht dagegen!”<br />

“Die Geschichte der Menschheit ist ein Triumpf der Unvernunft.”<br />

“Sie!”<br />

“Mehr noch: Die Geschichte der Menschheit ist eine zutiefst<br />

inhumane Geschichte.”<br />

“Rrmm!” knurrt der Maler. Nach einer Weile sagt er: “Sie<br />

haben von der realen Menschenwelt gesprochen. Gibt es eine<br />

andere?”<br />

“Die Welt der Phantasie und Träume. Ich nenne sie die<br />

nicht-reale oder die zweite Menschenwelt. Im Traum sind wir<br />

den Urquellen unseres Empfindens, unserer Wünsche, Triebe,<br />

Ängste und auch unseres Geistes näher als <strong>im</strong> Wachen. Im<br />

Traum gerät manches, das sonst nicht gerät, da ist vieles<br />

schöner, bunter und intensiver als in der realen Welt. Aber<br />

<strong>im</strong> Traum kann die Phantasie auch ins Bizarre, Unsinnige<br />

und Furchterregende wuchern. In der ersten, der realen Welt<br />

führt das Bewußtsein Regie, in der zweiten das Unterbewußtsein.”<br />

“Was also ist mit der Willensbildung?”<br />

“Das Resultat eines Willensbildungsprozesses, das wir als<br />

freie Entscheidung empfinden können, ergibt sich aus einem<br />

Konflikt zwischen verschiedenen in uns wirksamen, oftmals<br />

miteinander ringenden Faktoren, von denen jeder sozusagen<br />

einen eigenen Willen haben kann.”


154 WANDERER<br />

“Welche Faktoren sind beteiligt?”<br />

“Bei der Willensbildung, der unbewußten oder der absichtsvollen,<br />

also bewußt werdenden Entscheidung zwischen Alternativen,<br />

unterscheide ich vier Gruppen von Faktoren:<br />

Die erste Gruppe beinhaltet konstitutionelle Faktoren, wie<br />

Ererbtes, Gesundheitszustand und Alter, sowie Grundbedürfnisse:<br />

Fortpflanzung, Durst, Hunger, Schlaf, geeignete Umwelt<br />

und soziale Einbindungen. Hier dominieren Gemeinsamkeiten<br />

mit den Tieren.<br />

Die zweite Gruppe umfaßt gefühlsbetonte Faktoren: St<strong>im</strong>mungslage,<br />

Angst, Wut, Sucht, Trieb. Bei der Sucht nenne ich<br />

Sehnsucht, Eifersucht und Geltungssucht. Auch Drangzustände,<br />

Neigungen und Teilaspekte der Liebe lassen sich<br />

hier einordnen. Zu den Trieben gehören Geschlechtstrieb, Ernährungstrieb,<br />

Selbsterhaltungstrieb und Machttrieb. Sie<br />

sind ein unmittelbares Erbe aus unserer tierischen Vergangenheit.<br />

In die dritte Gruppe gehören eine Reihe subl<strong>im</strong>ierter Bedürfnisse.<br />

Ich nenne hier Wissenwollen, Kultur und religiöse<br />

Hingabe.<br />

Die vierte Gruppe umfaßt verstandesbetonte Komponenten,<br />

wie Erkenntnis und Einsicht. Und verantwortungsbetonte,<br />

wie Ethik und Moral.”<br />

“Wie werten Sie die relative Bedeutung dieser vier Gruppen?”<br />

“Je mehr die Situation, auf die wir reagieren, <strong>im</strong> Bereich der<br />

konstitutionellen und gefühlsbetonten Faktoren liegt, desto<br />

geringer sind unsere Beeinflussungsmöglichkeiten, je mehr<br />

sie <strong>im</strong> Bereich des Subl<strong>im</strong>ierten, sowie des Verstandes- und<br />

Verantwortungsbetonten liegt, desto größer werden sie.”<br />

“Warum lassen uns Gefühle so wenig Freiraum?”<br />

“Weil sie sich einfach einstellen. Weil wir sie kaum oder gar<br />

nicht beeinflussen können. Sie herrschen mehr über uns, als<br />

wir über sie.”<br />

Stumm st<strong>im</strong>mt der Maler zu.


Freier Wille 155<br />

“Insgesamt ist das komplizierter als es auf den ersten Blick<br />

erscheinen mag.”<br />

“Warum?”<br />

“Weil bei all dem auch noch Vergangenes eine Rolle spielt.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Man kann eine Sucht oder einen Trieb abreagieren und<br />

damit eine andere St<strong>im</strong>mungslage herbeiführen, die dann<br />

ihrerseits die Willensbildung beeinflußt. Wenn ich gerade meinen<br />

Geschlechtstrieb befriedigt habe, werden andere willensbildende<br />

Kräfte aktiv. Wenn ich gerade ein reiches Mahl<br />

verspeist habe, fällt Hunger als willensbildender Faktor aus.”<br />

“Wirklich kompliziert!”<br />

“Und das könnte noch komplizierter werden.”<br />

“Wodurch?”<br />

“Ich halte es für möglich, daß der Willensbildungsprozeß<br />

auch durch uns unbekannt bleibende Faktoren beeinflußt<br />

werden kann.”<br />

“Wie das!?”<br />

“Ich vermute, daß es Sinnesqualitäten gibt, die nicht die erforderliche<br />

Intensität erreichen, um die Grenze zur Bewußtwerdung<br />

zu überschreiten, die aber dennoch aus dem Verborgenen<br />

heraus unsere Ideen, Vorstellungen und Entscheidungen<br />

mitgestalten. Eine brisante, in ihren Konsequenzen<br />

schwer abschätzbare Angelegenheit.”<br />

Dem Maler ist plötzlich, als sähe der andere durch ihn<br />

hindurch, als erkenne der tief in ihm Verborgenes, als dringe<br />

er problemlos vor bis in die schwärzesten Höhlen seines schillernden<br />

Wesens. ‘Verdammt noch mal’, denkt er, ‘da will ich<br />

mich in das Hirn dieses Mannes schleichen, der aber dreht<br />

den Spieß um. Der spaziert in mir herum, als sei er dort zu<br />

Hause!’ Mürrisch sagt er: “Ist das nicht alles ein bißchen weit<br />

hergeholt?”<br />

“Nein. Bitte bedenken Sie, auch unser Gedächtnisinhalt verharrt<br />

normalerweise <strong>im</strong> Unterbewußtsein. Nur ein Teil davon<br />

kann mit einer gewissen Anstrengung in den Lichtkegel des


156 WANDERER<br />

aktuellen Denkvorgangs gerufen werden und steht dort<br />

vorübergehend zur unmittelbaren Verfügung. Der Mensch ist<br />

nicht ein bewußt erlebendes Wesen mit einem Unterbewußtsein,<br />

wie das allgemein behauptet wird, sondern ein unbewußt<br />

erlebendes Wesen, das fähig ist, einen Bruchteil der sich<br />

in ihm abspielenden Vorgänge vorübergehend dem Bewußtsein<br />

zuzuführen.”<br />

“Sie drehen mir zu vieles um. So wird Oben zu Unten!”<br />

“Unser Körper erledigt die weitaus meisten seiner Tätigkeiten,<br />

und er löst die weitaus meisten seiner Probleme, ohne<br />

uns damit zu behelligen. Erst wenn ein Organ nicht mehr<br />

richtig funktioniert, erst wenn eine Infektion nicht mehr<br />

abgewehrt werden kann – erst wenn etwas schief geht –<br />

erst dann werden uns die Tätigkeiten und Probleme des<br />

Körpers bewußt. Der große Zeh beschäftigt uns erst, wenn<br />

ein Stein auf ihn fällt, der Magen drängt sich erst in unser<br />

Bewußtsein, wenn Schmerzen ihn quälen. Der Körper erkennt<br />

und löst jeden Tag viel mehr Probleme als der<br />

Verstand. Er empfängt, speichert und verarbeitet viel mehr<br />

Informationen, als der Geist sie je zu erfassen und zu<br />

interpretieren vermag. Unser Körper ist viel klüger und<br />

weiser als der Teil von uns, den wir Gehirn nennen, und der<br />

in erster Linie koordiniert und unsere Beziehungen zur<br />

Außenwelt regelt.”<br />

“Unterschätzen Sie da nicht das Potential unseres Geistes?”<br />

“Der Geist ist nicht in der Lage, auch nur ein einziges Haar<br />

auf Ihrem Kopf entstehen und wachsen zu lassen. Die Energieversorgung,<br />

die Bereitstellung und Umformung des<br />

benötigten Materials, sowie die Aktivierung und Steuerung<br />

von Differenzierungs-, Koordinierungs- und Reparaturprozessen,<br />

von Alterungs- und Erneuerungsprogrammen – all<br />

das übersteigt das Potential unseres Geistes. Aber unser<br />

Körper erledigt das spielend.”<br />

Grinsend weist der Maler auf die Glatze des Gefährten:<br />

“Nicht der Ihrige!”


Freier Wille 157<br />

“Auch der konnte das mal”, lächelt der Physiker. “Aber jetzt<br />

macht ihm das wohl keinen Spaß mehr.”<br />

“Zurück zum freien Willen!”, ruft der Maler. “Etabliertes<br />

Denken und abendländische Traditionen setzen seit eh und<br />

je für moralische Verantwortlichkeit einen freien Willen<br />

voraus. Wie könnte jemand schuldig werden, der keinen<br />

freien Willen hat?”<br />

“Das fragen Sie mal die Juristen. So manche ihrer Vorstellungen<br />

haben keine Entsprechungen in der für uns heute erkennbaren<br />

Wirklichkeit.”<br />

“Juristen sind Meister <strong>im</strong> vorurteilsfreien logischen Denken<br />

und Folgern! Sie haben ein in sich nahezu lückenloses Gebäude<br />

von Ideen, Anschauungen und Argumenten aufgebaut.<br />

Die Rechtswissenschaft ist eine in sich vorbildlich durchdachte<br />

und geordnete Normwissenschaft!”<br />

“Gegenstand der Rechtswissenschaft ist der Mensch und<br />

dessen Welt. Über beides wissen Juristen zu wenig. Sie haben<br />

ein in sich selbst ruhendes gedankliches Ordnungsgefüge<br />

geschaffen, in dem sie vernunftgemäße Einsichten und Verhaltensweisen<br />

der Menschen voraussetzen und gesetzlich<br />

regeln – ein Ordnungsgefüge, das in sich logisch ist, das aber<br />

keine ausreichende Basis hat in den biologischen Wirklichkeiten<br />

menschlichen Werdens, Seins und Verhaltens.”<br />

“Beispiele! Begründungen!!”<br />

“Juristen behaupten, daß Menschen einen freien Willen<br />

haben, daß sie ihre Entscheidungen bewußt abwägen können,<br />

und daß sie diese zu rechtfertigen vermögen. Beweise sind<br />

sie schuldig geblieben. Juristen bauen auf Gleichheit der<br />

Menschen vor dem Recht. Das widerspricht täglicher Erfahrung<br />

und biologischen Erkenntnissen. Die Menschen sind<br />

nicht gleich, auch nicht in ihrer Fähigkeit, gesetzestreu oder<br />

verantwortlich zu handeln. Auch …”<br />

“Sie legen sich ihre Argumente nach Bedarf zurecht. Sie …”<br />

“Auch bei ihrem Ringen um Recht vor dem Richter sind die<br />

Menschen nicht gleich. Da haben sie oft sehr unterschiedliche


158 WANDERER<br />

Chancen. Das ist ein eher dunkles Kapitel der Jurisprudenz.<br />

Juristen gründen ihre Vorstellungen auf eine Konzeption vom<br />

Ich, die längst als Trugbild entlarvt worden ist. Und wie<br />

halten sie es mit der Gewalt? Goethe’s bittere Worte gelten<br />

auch heute noch: ‘Man hat Gewalt, so hat man Recht.’”<br />

“Wenn der Mensch in allem was er denkt und tut seiner Biologie<br />

widerstandslos unterworfen wäre, dann gäbe es …”<br />

“Wer behauptet das?! Ein normaler Mensch ist ebensowenig<br />

ein widerstandsloser Untergebener wie ein absoluter Herrscher<br />

über sein Denken, Tun und Entscheiden. Die Wahrheit<br />

liegt dazwischen.”<br />

Mürrisch wirft der Maler ein Ende seines Schals über die<br />

Schulter. “Wer Recht sprechen will muß Anforderungen an den<br />

Menschen formulieren und praktizieren, die sich am Durchschnitt<br />

messen. Ohne Generalisieren kommt kein Gesetz aus.<br />

Das Grundprinzip der Rechtsprechung ist das Messen an der<br />

Norm. Insofern orientiert sich jedes Schuldurteil letztlich am<br />

Vergleich.”<br />

“Ja. Aber …”<br />

“Wir brauchen die Strafe!”, schreit der Maler. “Strafe und<br />

Strafvollzug haben die gesamte Entwicklung der Menschheit<br />

geformt und geprägt. Sie sind unverzichtbar! Sie sind die<br />

wichtigsten erzieherischen Mittel unserer Gesellschaft!”<br />

Abwehrend hebt der Physiker die Hand. “Man argumentiert:<br />

‘Wir messen am Durchschnitt’. Dazu sage ich: Aber<br />

wir kennen seine Maße nicht. Man <strong>im</strong>pliziert: ‘Wir sind <strong>im</strong>mer<br />

so verfahren, also ist das richtig.’ Und ‘du sollst, also kannst<br />

du’. Dazu sage ich: Das sind unakzeptable Begründungen und<br />

unrichtige Schlußfolgerungen. Wo bleibt da die Logik der<br />

Rechtshüter?”<br />

Der Maler wiegt den Kopf. ‘Logik’, denkt er, ‘sie strebt in<br />

Höhen, aber sie wurzelt <strong>im</strong> Tal. Sie verachtet Gefühl, aber sie<br />

fußt auf ihm.’<br />

“Hier ist noch viel Forschung und Aufklärung zu leisten”,<br />

insistiert der Physiker. “Noch <strong>im</strong>mer sind wir weit davon


Freier Wille 159<br />

entfernt, die Norm verbindlich definieren und das von der<br />

Norm abweichende Verhalten eines Einzelnen hinreichend<br />

erklären und bewerten zu können. Wir …”<br />

“Das ist doch …”<br />

“Wir sind noch <strong>im</strong>mer nicht in der Lage, die Ursachen und<br />

Abläufe des Schuldigwerdens in ausreichendem Maße zu analysieren.<br />

Daher dürfen wir auch nicht die zur Zeit geltenden<br />

Vorstellungen von Schuld und Sühne als etwas Unumstößliches<br />

darstellen.”<br />

“Das ist doch alles graue Theorie. Wie sollen Ordnung und<br />

Gesetz ohne das bisherige Konzept von Schuld und Strafe<br />

zurechtkommen?”<br />

“Mit einer anderen, einer aufrichtigeren Begründungskonzeption.”<br />

“Wie soll die lauten?”<br />

“Der Mensch ist geworden und lebt in sozialen Bindungen.<br />

Die Gemeinschaft, zu der er gehört, ist die formende und<br />

schützende Kraft seiner humanen Existenz. Die Gemeinschaft<br />

kann nur funktionieren, wenn sie sich Gesetze gibt. Mit<br />

ihren Gesetzen, die dem Durchschnitt zumutbar sein müssen,<br />

sichert und fördert die Gemeinschaft ihren Bestand und den<br />

des Einzelnen. Aus diesem Grunde darf sie die Einhaltung<br />

ihrer Gesetze einfordern, wenn nötig erzwingen.”<br />

“Bitte kommen Sie zurück zu meiner Frage!”<br />

“Sie haben gefragt, ob wir einen freien Willen haben.”<br />

Der Maler nickt.<br />

“Damit fragen Sie doch, ob wir frei, also nach Belieben, in jeder<br />

Situation unseres Lebens entscheiden können, dieses oder<br />

jenes zu tun oder zu lassen?”<br />

“Ja.”<br />

“Das können wir nicht.”<br />

“Das sehe ich anders!”<br />

“Ein Beispiel: Wir beschließen, um den See zu wandern. Es<br />

ist heiß, die Sonne brennt. Wir schwitzen. Nach einer Stunde<br />

sehen wir Männer, die Bier trinken. Der Wunsch flammt auf,


160 WANDERER<br />

etwas zu trinken. Aber wir hatten ja beschlossen, um den See<br />

zu gehen. So wandern wir weiter. Immer weiter. Das Gespräch<br />

verstummt. Die Kehlen werden trocken. Schließlich haben wir<br />

nur noch eins <strong>im</strong> Sinn: Trinken! Wir sehnen die nächste<br />

Gastwirtschaft herbei. Als die endlich am Wegrand auftaucht,<br />

gehen wir rasch hinein und bestellen zwei Bier. – Freier<br />

Wille? Von wegen! Unser Körper schreit nach Flüssigkeit.<br />

Physiologische Meßstellen haben Alarm geschlagen. Ihre<br />

Botschaft ist bis in die zentrale Schaltstelle, das Gehirn,<br />

gedrungen. Dort entsteht daraufhin der Befehl: Trinken! Wo<br />

ist da freier Wille?”<br />

Mit gesenktem Kopf sieht der Maler auf seine Schuhe. Er<br />

denkt an seine eigenen Probleme. Daran, wie wenig frei er<br />

wirklich ist, wenn der laue Nachtwind seine Haut streichelt.<br />

Wenn die verdammten Triebe aus ihren dunklen Höhlen kriechen,<br />

ihren Weg nach oben suchen bis in sein Hirn. Wenn sie<br />

dort ihre Macht entfalten. Wenn sie solange herumrumoren,<br />

bis er das tut, was sie von ihm verlangen … bis er Dinge tut,<br />

die er eigentlich gar nicht tun wollte.<br />

Nach längerem Schweigen sagt der Maler: “Aber schauen<br />

Sie mal, wie ist denn das mit den Asketen?” Er klammert<br />

sich jetzt an die Hoffnung, anhand des Verhaltens dieser<br />

besonders willensstarken Menschen den Nachweis führen<br />

zu können, daß es eben doch einen freien Willen gibt. “Asketen<br />

haben einen sehr starken Willen, und den vervollkommnen<br />

sie durch fortwährendes Üben. Sie setzen ihren<br />

enormen Willen ein, um materielle Wünsche und Begehrlichkeiten<br />

zu kontrollieren und spirituelle Ziele zu erreichen.<br />

Sie dursten, hungern und üben sexuelle Enthaltsamkeit.<br />

Es gibt indische Jainisten, die sich zu Tode hungern, um<br />

Heilige zu werden. Hier haben wir doch ein Beispiel dafür,<br />

daß tierisch Triebhaftes durch menschlich Geistiges<br />

vollkommen beherrscht werden kann. Bei den Asketen gibt<br />

es einen freien Willen! Freilich, bei ihnen feiert der freie<br />

Wille Triumphe!!”


Freier Wille 161<br />

“So mancher Asket flieht vor seinen Begehrlichkeiten.<br />

Die aber fliehen mit ihm. Oft lasten sie auf ihm wie schwere<br />

Steine.”<br />

“Viele Asketen sind sehr stark. Sie haben einen enorm starken<br />

Drang.”<br />

“Ja. Aus den Tiefen ihrer Individualität erwächst ihnen ein<br />

enorm starker Drang, das zu tun, was sie tun. Und wenn dieser<br />

Drang so stark ist, daß sie das, was er von ihnen fordert,<br />

auch tatsächlich zu tun vermögen, selbst gegen mächtige<br />

Süchte und Triebe, dann können sie auch gar nicht anders.<br />

Dann müssen sie das tun!” Der Wissenschaftler sieht in die<br />

unsicher umhersuchenden Augen des Künstlers. “So gesehen<br />

haben also auch Asketen keinen freien Willen.”<br />

Der Maler kneift die Lippen aufeinander und verzieht das<br />

gefurchte Gesicht. Schl<strong>im</strong>m sieht das aus, wie er da so drein<br />

schaut mit einer Mischung aus Empörung, Fassungslosigkeit<br />

und Hilflosigkeit. Und dann wird ihm plötzlich klar, was ihn<br />

an diesem Gespräch am meisten schmerzt: Die Tatsache, daß<br />

er früher bei seinen eigenen Überlegungen <strong>im</strong> Grunde zu ganz<br />

ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen war. Das aber hatte<br />

er niemals wirklich wahrhaben wollen. Das hatte er <strong>im</strong>mer<br />

wieder verdrängt. “Aus Ihrer Sicht”, sagt er nun mit vereister<br />

St<strong>im</strong>me, “hat dann also nur Gott einen freien Willen.”<br />

“Nein.”<br />

“Wieso nein?”<br />

“Auch Gott hat keinen freien Willen.”<br />

“Fffftt!” macht der Maler und verbraucht dabei alle Luft, die<br />

er in den Lungen hat. In Abwehr hebt er die Hand. Der Mund<br />

klappt auf. Hastig schnappt er nach neuer Luft. Wie besessen<br />

schüttelt der Kopf. “D…das ist zuviel!”, schreit der Zwerg.<br />

“Das können Sie nicht ernsthaft behaupten wollen!!”<br />

“Ich kann.”<br />

Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das Schwarz scharf<br />

kontrastiert gegen glitzerndes Weiß, starrt der Maler den<br />

Physiker an: “Welchen Gott meinen Sie?”


162 WANDERER<br />

“Meinen Gott.”<br />

“Was ist das für ein Gott?”<br />

“Das werde ich Ihnen noch erläutern.” Der Physiker sagt<br />

langsam, ruhig und eindringlich: “Im Universum kann nichts<br />

existieren außerhalb der Naturgesetze. Gott ist entweder Teil<br />

der Naturgesetze oder, wie ich das sehe, identisch mit diesen.”<br />

“Gesetze, Gesetze! Wo bleibt die Freiheit??”<br />

“Freiheit setzt Gesetze voraus.”<br />

“Gesetze hemmen auch!”<br />

“Derartiges Hemmen hat unsere Zivilisation ermöglicht.”<br />

Wütend stampft der Maler mit dem Fuß auf den Boden.<br />

“Wenn also Gott ein Teil der Naturgesetze ist”, fährt der<br />

Physiker unbeirrt fort, “so kann er nur in ihrem Rahmen existieren.<br />

Nur innerhalb ihres Rahmens ist er frei. Wenn Gott<br />

und die Naturgesetze aber ein und dasselbe sind, dann hat<br />

Gott nur die Freiheit, seine eigenen Gesetze zu beachten, sich<br />

also selber treu zu bleiben. Einen wirklich freien Willen hätte<br />

er auch dann nicht.”<br />

“Gott …”<br />

“Gott kann nichts wollen – und wenn er es denn wollte,<br />

nichts tun – was den Naturgesetzen zuwiderläuft. Er kann<br />

nicht verhindern, daß ein Stein, der von der Klippe rollt, zu<br />

Boden stürzt, daß ein Mensch, der versucht, über Wasser zu<br />

schreiten, darin versinkt. Er kann nicht bewirken, daß die<br />

Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne plötzlich<br />

stehenbleibt. Gott existiert in der Ordnung. Gott ist Ordnung.<br />

Jede Ordnung aber erfordert Gesetze. Nur bei Einhaltung der<br />

Gesetze, unter denen eine Ordnung geworden und gereift ist,<br />

kann sich diese Ordnung erhalten und entfalten. Die<br />

universumweit wirksamen Energie-Materie-Konstellationen<br />

ahnden jeden Verstoß gegen ihre Ordnungsprinzipien. Sie<br />

dulden keinen freien Willen!”<br />

Abermals stürzt der Maler in eine andere St<strong>im</strong>mungslage.<br />

Seine Emotionen sind ebenso mächtig und intensiv, wie sie<br />

gebrechlich sind und instabil. Depr<strong>im</strong>iert schnarrt er: “Wenn


Freier Wille 163<br />

letztlich alles in den Naturgesetzen vorgegeben ist, so reduziert<br />

uns das doch zu Automaten, zu Maschinen.”<br />

“Im Prinzip ist das so. Aber <strong>im</strong> Detail gibt es Freiräume –<br />

innerhalb der von den Naturgesetzen best<strong>im</strong>mten Grenzen.<br />

Das gilt besonders für mit Einsicht und Besonnenheit<br />

begabte Menschen. Wir haben erhebliche Möglichkeiten, den<br />

Prozeß der Willensbildung zu beeinflussen: durch Erkennen,<br />

Lernen und Vorbild; durch Ausübung von Verantwortlichkeit<br />

gegenüber Mitmensch und Natur. Aber Art und Ausmaß der<br />

Fähigkeiten, die erforderlich sind, um diese Möglichkeiten<br />

wirksam werden zu lassen, hängen auch von Zwängen ab, die<br />

der Mensch selbst nicht zu beeinflussen vermag.”<br />

Der Maler überlegt eine Weile. Dann ruft er: “Wir brauchen<br />

einen Halt!” Er nickt. “Wir brauchen eine heile Welt –<br />

wenigstens in unserer Phantasie. Wir brauchen Utopien, um<br />

leben zu können!”<br />

“Ganz falsch! Der Mensch muß versuchen, ohne Utopien<br />

auszukommen. Ich wünsche mir eine Humanität, die frei ist<br />

von Gefälligkeitsverzerrungen. Ich wünsche mir einen Menschen,<br />

der fähig ist, Unvermeidbares zu akzeptieren und auszuhalten,<br />

statt es zu verdrängen – einen Menschen, der aus<br />

unbeschönigtem Leid die Kraft zu gewinnen vermag, die erforderlich<br />

ist, um sich neu einzurichten in dieser Welt.”<br />

“Viele Menschen werden an einer Welt zugrundegehen, die<br />

ihnen auch noch ihre Phantasien und Utopien raubt.”<br />

“Wegschauen bringt auf die Dauer nichts. Der Wegschauer<br />

muß zum Hinseher werden. Es gilt, Sinnleere auszufüllen<br />

durch <strong>Suchen</strong> nach der erkennbaren Wahrheit, nach der<br />

Wirklichkeit. Wir müssen danach streben, an der Realität zu<br />

wachsen und zu reifen. So, nur so, können wir unserem Leben<br />

einen neuen Sinn geben.”<br />

“Reifen, reifen! Was bringt das?”<br />

“Es gebiert Verantwortlichkeit.”<br />

“Zum Teufel mit Ihrer Verantwortlichkeit!”<br />

“Wir müssen erkennen und akzeptieren, daß wir unentrinn-


164 WANDERER<br />

bar und in der vielfältigsten Weise eingebunden sind in eine<br />

große und großartige Gemeinschaft.”<br />

“Was für eine Gemeinschaft?”<br />

“Die Gemeinschaft von allem Lebenden und allem Toten.<br />

Wo<strong>im</strong>mer wir uns gegen diese Gemeinschaft wenden, verursachen<br />

wir Schaden. Das Bemühen, solchen Schaden zu<br />

vermeiden, das ist die Wurzel der Verantwortlichkeit. Hier<br />

wird Verantwortlichkeit zum Gewissen-Haben.”<br />

“Gewissen-Haben!” schreit der Maler außer sich, “Gewissen-<br />

Haben! Was ist das schon!!”<br />

“Das ist der Gegenpart von Gewissen-Sein.”<br />

“Verflucht nochmal! Was ist Gewissen-Sein?”<br />

“Gott ist Gewissen-Sein. Der Mensch soll ein Gewissen<br />

haben. Aber auch so mancher Mensch beansprucht für sich<br />

Gewissen-Sein. Das ist Anmassung. Ja, es ist Gotteslästerung!”<br />

Der Maler wankt. Ihm ist übel. Er ringt nach Luft. Es dauert<br />

eine Weile bis er wieder sprechen kann. Dann sagt er mit<br />

schnarrend zitternder St<strong>im</strong>me: “I…ist das alles? Alles, was<br />

Sie über den freien Willen sagen können?” Der Zwerg atmet<br />

schwer. Dann beißt er die fast blutleeren Lippen aufeinander.<br />

Er reißt den Hemdkragen auf, daß ein weißer Knopf<br />

davonschwirrt. “Was”, ruft er verzweifelt, “was, in Gottes Namen,<br />

können wir denn tun? Wir, die wir mit einem einigermaßen<br />

normalen Willen ausgestattet sind, oder doch glauben,<br />

es zu sein?”<br />

Der Maler findet keinen Mittelweg – zwischen Ruhe nicht<br />

und Explosion, zwischen Gutem nicht und Bösem. Von einem<br />

Extrem stürzt er ins andere. Ein Verweilen in der Mitte,<br />

<strong>im</strong> Gleichgewicht, ist ihm nur selten vergönnt. Sein Wesen<br />

wächst aus Zerrissenem. Es wandelt auf dem gewundenen<br />

Pfad des Widersprüchlichen. Er haßt den Teufel, aber ohne<br />

Teufel kann er nicht sein. Er sucht einen Gott, aber keinem<br />

Gott kann er dienen. Er will alles wissen, aber er kann nicht


alles Wißbare ertragen. Er fordert die Angst, aber er fürchtet<br />

sich auch vor ihr.<br />

Aus den Augenwinkeln sieht der Physiker, wie es<br />

wetterleuchtet in den harten Zügen, wie sein kleiner Gefährte<br />

mit sich ringt. So sucht er nach einer hilfreichen Antwort:<br />

“Der Dualismus von Wollen und Müssen ist nicht so scharf<br />

ausgeprägt, wie das auf den ersten Blick den Anschein haben<br />

mag. Die Schwarz-Weiß-Manier, in der wir diese Dinge sehen,<br />

ist ein weiteres Beispiel für unser Zwangsdenken in Gegensätzen.”<br />

In freundschaftlichem Mitgefühl legt der Wissenschaftler<br />

behutsam die Hand auf den Arm des Künstlers. “Der Konflikt<br />

zwischen Wille und Trieb, zwischen Tugend und Laster, zwischen<br />

Gut und Böse, er ist so alt wie die Menschheit, und er<br />

wird weiterwirken, bis der letzte Mensch verwelkt ist. Immerfort<br />

streben die meisten Menschen danach, gut zu sein.<br />

Immerfort sehnen sie sich nach Anerkennung und hoffen auf<br />

Liebe. Immerfort aber auch plagen und versuchen sie Laster,<br />

Süchte und Triebe, die all dem entgegenwirken. Das Ziel, gut<br />

zu sein, ist in unserer Kultur vielfach verankert, ja nahezu<br />

allgegenwärtig. Aus diesem Ziel erwachsen Hoffnung, Mut<br />

und Kraft. Mit ihrer Hilfe können wir versuchen, die<br />

Auswirkungen des Bösen in uns zu mildern und zu lenken.”<br />

Gut und Böse<br />

Gut und Böse 165<br />

“Was ist das, das Gute?” flüstert der Maler “Was das Böse?<br />

Das ist …” Der Maler beißt sich auf die Unterlippe. Er senkt<br />

den Kopf. Stumm betrachtet er seine Schuhe. Nach einer Weile<br />

fragt er: “Wenn es st<strong>im</strong>mt, daß der Mensch nicht von Natur<br />

aus böse ist, wie kam das Böse in die Welt?”<br />

“In der unverfälschten irdischen Natur gibt es weder Gut<br />

noch Böse. Diese Begriffe kamen in die Welt mit einem der


166 WANDERER<br />

Natur Entwachsenden: dem Menschen. Gut und Böse sind<br />

seine Projektionen.”<br />

“Was bringt die Projektionen hervor?”<br />

“Menschsein funktioniert nur mit der Natur, nur <strong>im</strong> Rahmen<br />

ihrer Gesetze. Wo<strong>im</strong>mer …”<br />

“Sie haben meine Frage nicht beantwortet!”<br />

“Ich bin noch dabei. Wo<strong>im</strong>mer aber Natur ungehemmt in<br />

menschliches Miteinander drängt, wo<strong>im</strong>mer irdische Ordnung<br />

unzensiert <strong>im</strong> Menschen wirksam wird, da entstehen<br />

Probleme. Gut und Böse sind Vorstellungen, mit denen der<br />

Mensch versucht, diese Probleme in den Griff zu bekommen.”<br />

“Ist das Ihre Antwort auf meine Frage?”<br />

“Gemach! Die Menschen haben erfahren, daß ihre komplizierten<br />

Sozialstrukturen und Gesellschaftsformen nur funktionieren<br />

können, wenn ihrem ursprünglichen, natürlichen<br />

Verhalten Fesseln angelegt werden.”<br />

“Ich mag Fesseln nicht!”<br />

“Ohne Fesseln keine Menschenwelt!”<br />

“Menschenwelt! Was heißt das in diesem Zusammenhang?”<br />

“Versuchen Sie mal, einem Regenwurm das Einmaleins beizubringen,<br />

oder einer Katze das Schachspiel.”<br />

“Zum Teufel auch! Was wollen Sie damit sagen?”<br />

“Das Einmaleins liegt außerhalb der Regenwurmwelt, das<br />

Schachspiel außerhalb der Katzenwelt. Und so gibt es Dinge,<br />

die außerhalb – oder innerhalb – der Menschenwelt liegen.”<br />

“Weiter!”<br />

“Unser Denken und Empfinden in Kategorien von Gut und<br />

Böse ist Konsequenz und Ausdruck unserer Angst vor den<br />

eigenen Urinstinkten. Koexistenz ist niemals konfliktfrei –<br />

weder innerhalb von Arten, noch in zwischenartlichen Beziehungen.<br />

Es ist die Natur selbst, die diese Konflikte erzwingt.”<br />

“Was hat das mit unserem Thema zu tun?”<br />

“Das Erahnen oder Erleben des von der Natur ausgehenden<br />

Konfliktzwangs und das Wissen darum, daß wir etwas gegen


Gut und Böse 167<br />

ausufernde Konflikte tun müssen, weil wir sonst nicht überleben<br />

können, das ist der Boden, auf dem die Projektionen von<br />

Gut und Böse entstanden und gewachsen sind. Die Ordnung<br />

irdischen Lebens sieht ursprünglich keine Ethik vor. Hier läßt<br />

die Evolution den Ausbrechenden <strong>im</strong> Regen stehen.”<br />

“Wie kommt er wieder ins Trockene?”<br />

“Durch Selbsthilfe. Mit zunehmender Komplexität und<br />

Größe der Sozialgefüge gewinnt der Konflikt zwischen Gut-<br />

Sein-Wollen und Böse-Sein-Müssen an Gewicht. Und damit<br />

auch die Überlegungen darüber, wie das Gute zu fördern sei,<br />

was die Begriffe ‘Gut’ und ‘Böse’ beinhalten und wie deren<br />

Inhalte in Verhalten umgesetzt werden können.” Langsam<br />

wischt die Hand über den kahlen Schädel. “Voraussetzung für<br />

erfolgreiche Selbsthilfe ist die Fähigkeit, Gutes und Böses zu<br />

werten.”<br />

“Was ist gut? Was böse?”<br />

“Der Mensch hält das für gut, was für ihn angenehm ist,<br />

zuträglich und nützlich, was sich bewährt hat, was<br />

gruppenverträglich seine Bedürfnisse befriedigt und was ein<br />

geordnetes Zusammenleben von Menschen fördert. Aus der<br />

Sicht seiner Nützlichkeit wird der Begriff ‘gut’ hier wertgleich<br />

mit Ehrlichkeit, Gerechtigeit, Fleiß, Selbstbeschränkung,<br />

Hilfsbereitschaft und anderen sozialen Tugenden.”<br />

Der Physiker überlegt einen Augenblick. Dann fährt er fort:<br />

“Aber all das wird subjektiv empfunden. Daher kann manches<br />

von diesem Guten auch Böses sein.”<br />

“Wie?”<br />

“Wenn jemand etwas, das er subjektiv als gut erlebt, einsetzt,<br />

um anderen Menschen zu schaden, etwa <strong>im</strong> Krieg. Oder<br />

wenn Verbrecherbanden mit gruppenintern als gut bewerteten<br />

Verhaltensweisen – Verbrüderung nach innen, aber Lügen,<br />

Betrügen und Morden nach außen – anderen Böses zufügen.”<br />

“Was verstehen Sie unter Bösem?”<br />

“Sittlich Verwerfliches. Verstöße gegen eigene ethische Ge-


168 WANDERER<br />

bote. Gegen Ordnung und <strong>Inter</strong>esse der Gruppe gerichtetes<br />

Wollen und Wirken.”<br />

“Was treibt den Menschen zum Bösen?”<br />

“Archaische Instinkte, Aggressionen, Egoismen, Triebe. Wo<strong>im</strong>mer<br />

Urverhalten ungedämpft an die Oberfläche bricht, da<br />

kann das Böse gedeihen.”<br />

“Aber es gibt auch viel Belehren und Anleiten.”<br />

“Ja. In unserer Gesellschaft wird viel gegen Böses gesagt<br />

und getan. Aber am Ende ist das Böse leider oft erfolgreicher<br />

als das Gute.”<br />

“Zum Beispiel?”<br />

“Be<strong>im</strong> Sichdurchsetzen <strong>im</strong> Konkurrenzkampf, be<strong>im</strong> Besitzerwerben,<br />

be<strong>im</strong> …”<br />

“Dann sind Gut und Böse also relative Begriffe.”<br />

Der Physiker nickt. “Weder Gut noch Böse haben allgemeinverbindliche<br />

Wertinhalte. Was für einen Menschen oder eine<br />

Gruppe gut sein mag, schadet möglicherweise einem anderen<br />

oder einer anderen Gruppe, ist für jene also böse. Gut und<br />

Böse sind Extrapolationen einer best<strong>im</strong>mten Art menschlichen<br />

Empfindens, Denkens und Wollens. Sie sind etwas Subjektives,<br />

Situationsgebundenes. Und sie sind, wie gesagt, oft<br />

etwas anderes innerhalb einer sozialen Gemeinschaft als gegenüber<br />

Gruppenfremden.”<br />

“Gut zu sein und rein ist ein Kerngebot der Bibel.”<br />

“Im biblischen Sinne gut und rein zu sein bedarf der besonderen<br />

Mentalität des unreflektiert Gläubigen. Die Naivität<br />

bedingungslosen Gottvertrauens beschwört Gefahren.”<br />

Der Maler will etwas sagen. Aber seine noch unausgesprochenen<br />

Worte versinken <strong>im</strong> Nebel zunehmender Hoffnungslosigkeit.<br />

Schließlich sagt der Physiker: “Im Kampf gegen Böses und<br />

bei der Gestaltung unserer Zukunft können wir nur dann Erfolg<br />

haben, wenn wir das Erkennbare suchen, wenn wir uns<br />

dem Gefundenen öffnen, und wenn wir bereit sind, daraus Lehren<br />

zu ziehen.”


Eine Geschichte<br />

Eine Geschichte 169<br />

Der Maler geht mit sich zu Rate. Unvermittelt bleibt er<br />

stehen, n<strong>im</strong>mt den Hut vom Kopf und übergibt ihn der den<br />

Handstock tragenden Rechten. Gedankenverloren fährt er<br />

sich mit der Linken über die langen Haare. Er ist ganz und<br />

gar in sich gekehrt. Es dauert lange, bis er den Hut wieder<br />

aufsetzt und an der Seite des Physikers weiterwandert. Seine<br />

Gedanken kreisen und suchen. Nun stolpern sie weit zurück<br />

in die Vergangenheit.<br />

Er räuspert sich. Schluckt. “Unser Gespräch”, sagt er mit<br />

rauher St<strong>im</strong>me, “hat Erinnerungen beschworen. Erinnerungen<br />

an eine Begebenheit, die ich schon fast vergessen hatte.”<br />

Er wirft einen Zipfel des weißen Schals über die Schulter. “Ich<br />

möchte Ihnen davon erzählen.” Er nickt vor sich hin. Und nun<br />

beginnt er.<br />

“Ich hatte das Leben in der Stadt auf einmal satt. Daher<br />

kaufte ich ein Haus auf dem Lande. Mit einem großen Grundstück.<br />

So wurde ich unbeabsichtigt Eigentümer einer kleinen<br />

Heidschnuckenherde. Es gab viel zu tun <strong>im</strong> und am Haus, und<br />

ich mußte viel malen, um Geld zu verdienen. So war ich ständig<br />

in Zeitnot und konnte mich wenig um meine Heidschnukken<br />

kümmern. An einem schönen, sonnigen Frühjahrsmorgen<br />

sah ich von meinem Wohnz<strong>im</strong>mer aus ein schwarzes Knäuel<br />

auf der grünen Wiese liegen – ein Osterlamm. Ich freute mich<br />

über diesen Zuwachs der Heidschnuckenfamilie. Aber schon<br />

bald gab es Probleme. Immer wieder versuchte das Lamm, auf<br />

schaukeligen Beinen das Euter der Mutter zu erreichen, und<br />

<strong>im</strong>mer wieder lief die Mutter davon oder trat ihr Kind beiseite.<br />

Das ging so zwei Tage lang. Das Lamm wurde zusehends<br />

schwächer. Was sollte, was konnte ich tun? Bis über beide<br />

Ohren in Arbeit und mit der Schafhaltung in keiner Weise<br />

vertraut, mußte ich mit ansehen, wie das Lamm allmählich<br />

verhungerte. Das war furchtbar. Am dritten Tag sah ich nach<br />

getaner Arbeit aus dem Fenster. Das Lamm regte sich nicht


170 WANDERER<br />

mehr. Da ging ich mit einem Spaten auf die Wiese, um es zu<br />

begraben. Die Mutter lief davon. Als ich das Lamm erreicht<br />

hatte, hob es zitternd den Kopf. Dann versuchte es, sich zu<br />

erheben. Doch die Beine versagten ihm den Dienst. Halb aufgerichtet<br />

brach es zusammen.<br />

Ich kniete nieder neben dem Lamm. Es sah mich an. Diese<br />

halbtrockenen, schon fast toten Augen! Diese Hilflosigkeit!<br />

Diese schwarze Trauer <strong>im</strong> Blick!<br />

Das war zu viel!! Ich stürmte in den Schafstall. Suchte<br />

fieberhaft herum. Endlich fand ich eine schmutzige kleine<br />

Flasche. Ich säuberte sie unter einem Wasserhahn. Dann fand<br />

ich auch noch einen alten Nuckel. So schnell ich nur konnte,<br />

rannte ich mit Flasche und Nuckel ins Haus und machte<br />

Milch warm. Der Nuckel war schon spröde. Aber es gelang<br />

mir, ihn über den Hals der milchgefüllten Flasche zu ziehen.<br />

Nun hastete ich zu dem sterbenden Lamm. Ich nahm es auf<br />

den Arm. Es war ganz leicht. Ich ließ etwas Milch auf seine<br />

Nase tropfen und machte mich darauf gefaßt, daß ich ihm nun<br />

das Trinken beibringen mußte. Kaum aber hatte die Milch die<br />

ausgetrocknete Nase berührt, da kam Bewegung in den zum<br />

Skelett gemagerten Körper. Mit einem Stoß seines Kopfes<br />

verschlang das Lamm den Nuckel. Und dann trank es. Trank<br />

und trank und trank. Schließlich sackte es erschöpft in sich<br />

zusammen. Es blickte mich an. Wenn Lämmeraugen strahlen<br />

können, dieses Lamm strahlte. Wenn Lämmer dankbar sein<br />

können, die Augen dieses Lammes flossen über vor Dankbarkeit.<br />

Und von diesem Augenblick an war ich seine Mutter.<br />

Fortan lief das Lamm hinter mir her, von morgens bis<br />

abends. Ich versorgte es mit Milch und Vitaminen. Es zitterte<br />

und schrie vor Angst, wenn es mich nicht sah. So ließ ich es<br />

neben meinem Bett schlafen. Am Morgen darauf war meine<br />

Haut von Flohstichen übersäht. Ich inspizierte das Bettzeug.<br />

Es war voller Flöhe. Mit Insektiziden befreite ich Bett und<br />

Lamm von dieser Pest. Der herbeigerufene Schäfer beriet<br />

mich über Fragen und Probleme, die nun auf mich als Lamm-


Eine Geschichte 171<br />

Mutter zukamen. Und er sagte mir, daß das Lamm ein Junge<br />

sei. Ich nannte ihn Gustav.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf. “Erste ernstere Probleme stellten<br />

sich ein, als Gustav Gefallen an Grünzeug fand und in meinem<br />

Hausgarten tüchtig aufräumte. Weitere Probleme gab es<br />

bei der Eingliederung in die kleine Herde. Keines der Schafe<br />

wollte etwas mit Gustav zu tun haben. Und Gustav hatte nur<br />

Augen für mich.<br />

Gustav reifte zum Bock. Mühsam boxte er sich die Rangordnung<br />

empor. Schließlich war er König in der Herde.<br />

Als ich ihn eines Morgens wie üblich begrüßen wollte auf<br />

der Wiese, da raste er auf mich zu. Ehe ich begriff, was da los<br />

war, hatte er mich mit einem gewaltigen Boxhieb seiner Hörner<br />

zu Boden geschleudert. Da lag ich. Im Gras. Mit großen<br />

Schmerzen <strong>im</strong> Oberschenkel. Und Gustav? Der ging<br />

rückwärts, <strong>im</strong>mer weiter rückwarts. Mit gesenktem Kopf!<br />

Ließ kein Auge von mir. Endlich begriff ich, daß er den<br />

zweiten Angriff vorbereitete. Entsetzt und mit letzter Kraft<br />

erreichte ich den Bretterzaun, wuchtete mich darüber und<br />

ließ mich auf der anderen Seite ins Gebüsch fallen. In diesem<br />

Augenblick krachte Gustav mit ohrenbetäubendem Lärm<br />

gegen die Bretter. Wieder und <strong>im</strong>mer wieder boxte er mit<br />

Macht dagegen. Als sich die ersten Bretter zu lockern<br />

begannen, humpelte ich ins Haus und holte Hammer und<br />

Nägel, um die Bretter wieder festzunageln. Ich konnte kaum<br />

so schnell nageln, wie Gustav die Bretter wieder losboxte.<br />

Gott sei Dank kam ein Nachbar herbeigerannt. Er hatte den<br />

Kampf beobachtet. Ein weiterer Nachbar holte den Schäfer.<br />

Gemeinsam fingen die drei meinen Gustav ein und schleppten<br />

den heftig Widerstand Leistenden an den Hörnern in den<br />

Schafstall. Dann verriegelten sie die Tür. Es dauerte keine<br />

zehn Minuten, da war Gustav wieder auf der Wiese. Er hatte<br />

die Stalltür mitsamt Rahmen herausgeboxt. Nun wurde es<br />

wirklich gefährlich. Selbst der Schäfer sagte: ‘Das ist ja ein<br />

ganz Wilder!’


172 WANDERER<br />

‘Warum tut er mir das an? Ich habe ihm das Leben gerettet.<br />

Ohne mich wäre Gustav längst Blumendünger.’<br />

‘Der Bock tut Ihnen nichts an. Für ihn sind Sie ein Schaf.<br />

Das einzige hier, mit dem er noch nicht seine Kräfte gemessen<br />

hat. Den Bock trifft keine Schuld. Er kann nicht anders. Seine<br />

Hoden zwingen ihn, das zu tun, was er tut. Aber für Sie ist das<br />

gefährlich, und für die Nachbarkinder könnte das tödlich<br />

sein.’<br />

‘Was kann ich tun?’<br />

‘Da gibt’s nur zwei Möglichkeiten, schlachten oder kastrieren.’<br />

Schlachten? Meinen Gustav? Unmöglich! So kam, was<br />

kommen mußte. Ich holte den Tierarzt. Er und der Schäfer<br />

haben den Gustav kastriert. Innerhalb weniger Tage war<br />

Gustav wieder der alte. Ein Prachtkerl. Wir hatten ihn befreit<br />

von seinem Trieb. Freilich”, fügt der Maler nach einer kurzen<br />

Pause hinzu, “wohl auch von so manchem Vergnügen.”<br />

Der Physiker lacht, laut und herzlich. Dann sagt er: “Sehen<br />

Sie, auch Ihr Gustav hatte keinen freien Willen.”<br />

Schweigend legen Maler und Physiker den Rest des Weges<br />

um den See zurück. Aber noch bevor sie das Seeufer ganz<br />

verlassen, bleibt der Maler stehen. Leer und rastlos irrt sein<br />

Blick über die weite Wasserfläche. Im Widerschein der rot-goldenen<br />

Abendsonne glüht und funkelt das Wasser, und die<br />

blaudunstige Frühlingsluft zittert voller Lockungen und Warnungen.<br />

Abrupt wendet er sich ab und blickt mit stumpfen<br />

Augen hinüber zu den Büschen, Bäumen und Bänken des<br />

<strong>Park</strong>s.<br />

Plötzlich würgt der Maler, bringt Geräusche hervor, die wie<br />

ein Hilferuf klingen. Dann schreit er: “Verdammt noch mal!!”<br />

– so laut, daß es weit über den abendlichen See hallt. Leise<br />

zischelt er: “Ich würde mir selbst die Hoden rausschneiden,<br />

wenn … wenn ich damit loskommen könnte von der Kraft, die<br />

mir Probleme schafft. Aber”, flüstert er, “wie kann ich sicher<br />

sein, daß dann nicht auch die Kraft versiegt, die meine Krea-


tivität beflügelt?”<br />

‘Die gleichen Kräfte!’, denkt der Physiker. Aber er sagt es<br />

nicht.<br />

Schriftlich<br />

Schriftlich 173<br />

Eine Morgenbrise weckt den schlaftrunkenen <strong>Park</strong>. Vorbote<br />

des Tages, verweht und vertreibt sie letzte dünne Nebelschwaden.<br />

Frisches Grün trinkt Tautropfen, saugt die ersten<br />

Strahlen der Morgensonne in sich hinein. Ein neuer Tag<br />

beginnt.<br />

Pünktlich um sechs Uhr betritt der Gärtner, mit einer<br />

zerrissenen Nacht <strong>im</strong> Gesicht, den Platz vor seinem Haus. Auf<br />

diesem Platz bespricht er Einzelheiten des Tagesablaufs und<br />

verteilt die Aufgaben an seine zwanzig Mitarbeiter. Die linke<br />

Seite des Platzes wird begrenzt von Gewächshäusern und der<br />

Werkstatt, die rechte von einer Mauer mit einem durch<br />

Pfeiler gestützten, zum Platz hin geneigten Dach. Darunter<br />

stehen Mähmaschinen, LKWs, Anhänger, Traktoren, Bagger,<br />

Raupenschlepper – und das Gärtnereifahrzeug.<br />

Schon von weitem sieht der Gärtner, daß das Fahrzeug eine<br />

gewaltige Schlagseite hat. Und da kommt auch schon der<br />

Altgeselle angerannt, hebt beide Arme und schreit: “Plattfuß!<br />

Beide linken Reifen! Da hat einer reingestochn!”<br />

“Wer in aller Welt macht so was?” Der Gärtner ist außer<br />

sich. Die ganze Nacht hat ihn der Schlaf gemieden. Immer<br />

wieder hat sich das Bild der Falle in sein Bewußtsein gedrängt.<br />

Und dann noch die Suche nach dem Manschettenknopf,<br />

den sein Vater ihm geschenkt hatte. Sein Vater, den er<br />

sehr verehrt, und der viel zu früh gestorben ist. Was sein Vater<br />

wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sein einziger Sohn<br />

<strong>im</strong> <strong>Park</strong> als Gärtner arbeitet?<br />

Und nun noch dieser unverhoffte Ärger mit den zerstochenen<br />

Reifen!


174 WANDERER<br />

Unverhofft? Wirklich? Den Gärtner durchzuckt ein Gedanke.<br />

‘Könnten die zerstochenen Reifen etwas zu tun haben mit<br />

der Falle?’ Er läuft zu seinem Fahrrad und ruft dem Altgesellen<br />

zu: “Mach du das heute!” Aus vollem Lauf schwingt<br />

er sich in den Sattel. Stehend von einer Seite zur anderen<br />

schwankend, saust er wie ein Rennfahrer um die Ecke. Auf<br />

seinem Weg zum Hügel flüchten sch<strong>im</strong>pfende Vögel. An der<br />

Holzbrücke angekommen, steigt er rasch vom Rad und lehnt<br />

es ans Geländer. Polternd rennt er über die Brücke und dann<br />

mit ausholenden Knirschschritten den Kiesweg hinauf. Auf<br />

der Bank sieht er einen großen Stein. Der liegt auf einem<br />

Papierbogen. Neben dem Stein funkelt etwas in der Morgensonne<br />

– sein Manschettenknopf! Kopfschüttelnd n<strong>im</strong>mt er ihn<br />

in die Hand, drückt ihn ein paarmal in der wippenden Faust<br />

und steckt ihn in die Brusttasche.<br />

Dann legt er den Stein beiseite, n<strong>im</strong>mt den Papierbogen<br />

zur Hand und liest. “Das gibt’s doch gar nicht!”, sagt er laut,<br />

holt den Manschettenknopf noch einmal hervor, betrachtet<br />

ihn und schüttelt wieder den Kopf. Erst jetzt wird ihm der<br />

Zusammenhang klar: be<strong>im</strong> Spannen der Falle war ihm der<br />

Manschettenknopf aus dem Hemd gerutscht. Bei so einer<br />

Falle, da achtet man auf nichts anderes … ‘Mein Gott, die<br />

Falle!’<br />

Er stürzt in den Trampelpfad. Die Falle ist zugeklappt! Ein<br />

frisch beschnittener Ast ritzt die Haut des rechten Armes.<br />

Keuchend steht er über der Falle. Sie hat ein Stück Karton<br />

gefangen. Er will es rausziehen. Doch die Falle hält es eisern<br />

fest. Mit beiden Händen zwingt er die Eisenbacken auseinander<br />

und ergreift mit Daumen und Zeigefinger das Kartonstück.<br />

Durch einen raschen Dreh schleudert er es aus dem<br />

Backenbereich. Dabei wird er unvorsichtig. Und schon schnappt<br />

die Falle zu. Sie fängt seinen Daumen!<br />

Da die Eisenbacken nur ein kleines Stück geöffnet wurden,<br />

ist der Schaden nicht groß. Aber der Daumen schmerzt erheblich.<br />

Mit einem Stöhner zwingt er das Fallenmaul wieder auf.


Schriftlich 175<br />

Der Daumen blutet stark. Er führt ihn zum Mund und lutscht<br />

daran. Dann spuckt er Speichel und Blut auf den Trampelpfad.<br />

“Du Idiot!”, ruft er und spuckt nochmals, “wie konntest<br />

du nur so was tun!”<br />

Das Kartonstück liegt vor ihm. Er liest die daraufgekritzelten<br />

Worte. Endlich macht er die Bekanntschaft mit seinem<br />

Widersacher. Aber nur schriftlich. Noch einmal durchzuckt ihn<br />

Ärger: ‘Dieser Kerl!’ Doch der Bann ist gebrochen. “Gott sei<br />

Dank!”, ruft er, “Gott sei Dank, daß nichts passiert ist.” Und<br />

dann sagt er noch: “Schluß jetzt mit dem Buschkrieg!”<br />

Mit der Falle unterm Arm geht der Gärtner zurück zur<br />

Bank. Wieder lutscht er am Daumen und spuckt Blut auf den<br />

Boden links neben die Bank. Die rechte Hand rollt den Stein<br />

beiseite. Ein rotes Rinnsal fließt über dessen verengte Mitte.<br />

Die Linke legt die Falle auf die Bank. Dann holt sie sein Taschentuch<br />

hervor. Er wickelt es fest um die Wunde und<br />

verknotet es mit Fingern und Zähnen.<br />

Wieder wendet er sich dem Papierbogen zu. Offensichtlich<br />

die Handschrift einer Frau. Er setzt sich, holt den Kugelschreiber<br />

hervor und schreibt auf den freien Teil des Papierbogens:<br />

Verehrte Finderin,<br />

Sie haben mir eine große Freude bereitet!<br />

Der Manschettenknopf ist ein unersetzbares<br />

Erbstück. Gern würde ich Ihnen meinen Dank<br />

persönlich abstatten. Wenn Sie mögen, rufen Sie mich<br />

bitte abends an unter der Nummer 391011. Danke!!<br />

Sorgfältig faltet er den Papierbogen zusammen. Nach kurzem<br />

Überlegen plaziert er ihn neben der Bank auf dem Boden<br />

Dann beschwert er ihn mit dem Stein. ‘Hier’, denkt er, ‘wird<br />

der Stein niemanden stören. Und hier wird meine Botschaft,<br />

hoffentlich, in die Hände der Finderin gelangen.’<br />

Erleichtert und trotz blutenden Daumens und zerstochener


176 WANDERER<br />

Reifen guten Mutes, klemmt der Gärtner die Falle auf den Gepäckträger<br />

seines Fahrrads und radelt zurück zur Gärtnerei.<br />

Aquarianer<br />

Auf einem Weg, nicht weit von der Gärtnerei, stellen sich<br />

zwei Männer einander vor. Sie gehen einige Schritte. Dann<br />

setzen sie sich auf die Bank vor der hohen Buchenhecke. Die<br />

beiden sind sich Samstags oder Sonntags schon mehrfach<br />

begegnet <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Aber die Beziehung zueinander bestand<br />

bisher nur aus kurzen, unverbindlichen Wortwechseln. Der<br />

MinRat bewundert den <strong>Park</strong>. Daher spricht er auch schon mal<br />

mit einem Gärtner, etwas von oben herab, versteht sich, aber<br />

in voller Anerkennung der Leistungen, die der Gärtner und<br />

dessen Mitarbeiter erbringen.<br />

“Haben Sie sich verletzt?” Der MinRat deutet auf den Daumen<br />

des anderen, der mit einem weißen Verband versehen ist.<br />

“Nicht der Rede wert. Planungsfehler.”<br />

Der MinRat nickt. Dann sagt er: “Es ist wirklich bemerkenswert,<br />

was Sie und Ihre Leute vollbracht haben. Ich kenne den<br />

<strong>Park</strong> seit fünfzehn Jahren. Sooft es mir möglich war, bin ich<br />

hierher gekommen, um mich an der Natur zu erfreuen. Leider<br />

ging das bis vor kurzem nur an Wochenenden. Ich hatte in<br />

Bonn zu tun. Dort war ich in einem Ministerium tätig, als Ministerialrat.”<br />

“Im Wirtschaftsministerium?”<br />

“Nein, <strong>im</strong> Bundesjustizministerium. Warum fragen Sie?”<br />

“Nur so”, murmelt der Gärtner.<br />

“Wie meinen?”<br />

“Das war nur so ein Gedanke.”<br />

“Seit einem Monat bin ich MinRat a.D. Und seither komme<br />

ich, wenn das Wetter es zuläßt, fast jeden Tag in den <strong>Park</strong>.<br />

Das Wandern hier und das Bewundern Ihrer Arbeit ist für<br />

mich zu einem Hobby geworden. Unter Ihrer sachkundigen


Aquarianer 177<br />

Leitung ist der <strong>Park</strong> <strong>im</strong>mer schöner geworden. Wir <strong>Park</strong>besucher,<br />

wenn ich das mal so verallgemeinern darf, wir sind<br />

Ihnen sehr dankbar dafür.”<br />

“Viele Pflanzen werden von allein <strong>im</strong>mer schöner.”<br />

“Wie wir, was!”<br />

“Ich …” Der Gärtner hustet.<br />

“Wie meinen?”<br />

“Ich bin da anderer Meinung. Aber es freut mich, daß Ihnen<br />

der <strong>Park</strong> gefällt.”<br />

“Was mich besonders beeindruckt, das ist die geradezu<br />

kunstvolle Anordnung der Buschgruppen und die ausgewogene<br />

Plazierung der Laub- und Nadelgehölze. Auch die Blumenbeete<br />

haben Sie sehr geschickt in die Gesamtkonzeption<br />

eingefügt. Deren Farbkompositionen sind für mich <strong>im</strong>mer<br />

wieder ein Quell der Freude. Die Führung der Wege haben Sie<br />

erheblich verbessert. Und nicht zuletzt findet die vernünftige<br />

Relation zwischen gärtnerisch betreuten und sich selbst überlassenen,<br />

verwildernden <strong>Park</strong>arealen meine volle Zust<strong>im</strong>mung.<br />

In der Wildnis gewähren Sie, ganz <strong>im</strong> Sinne des modernen<br />

Naturschutzes, Pflanzen und Tieren eine Schon- und<br />

Schutzzone. Bravo!”<br />

Wiederum muß der MinRat an das denken, was der Physiker<br />

über Angeln und Schießen gesagt hatte. Das Gespräch<br />

am Fluß hat ihn nie mehr losgelassen. ‘Hier rede ich der Schonung<br />

und dem Schutz der Natur das Wort’, wirft er sich in<br />

Gedanken vor, ‘und was mache ich selber?’ Schon früher<br />

hatten seine Hobbys – Angeln und Jagen als Freizeitsport –<br />

<strong>im</strong> Bereich seines kritischen Verstandes Bedenken ausgelöst.<br />

Aber er angelt und jagt sehr gern. So hatte er die Bedenken<br />

<strong>im</strong>mer wieder beiseite geschoben, so war er einem ernsthaften<br />

Konflikt <strong>im</strong>mer wieder ausgewichen. Mit unwiderlegbaren<br />

Argumenten hat der Physiker nun den verdrängten Gewissenskonflikt<br />

ans Licht gezerrt, das Ringen zwischen archaischem<br />

Trieb und einsichtigem Verstand mitten ins Bewußtsein<br />

geschleudert. Der MinRat ist ein aufrechter Mann. So


178 WANDERER<br />

verlangt dieser Konflikt jetzt eine Lösung, mit der er langfristig<br />

leben kann. Einer Entscheidung – einer sehr schwierigen<br />

– kann er nun nicht mehr ausweichen.<br />

Als der Gärtner sich dem schweigenden MinRat zuwendet,<br />

scharrt der mit dem Schuh <strong>im</strong> Sand, als wolle er dort etwas<br />

wegwischen. Dann findet er zurück in das Gespräch: “Ich<br />

freue mich über so viel unbeeinträchtigte Natur.” Er ordnet<br />

seine Krawatte. “Im Grunde ist das aber doch, wenn ich das<br />

mal so sagen darf, ganz ungärtnerisch. Ihr Gärtner lernt doch<br />

<strong>im</strong>mer so viel darüber, wie man Pflanzen seinen Willen<br />

aufzwingt, wie man veredelt, tr<strong>im</strong>mt und beschneidet. Neulich<br />

habe ich gelesen, daß Gärtner be<strong>im</strong> Beschneiden von<br />

Obstbäumen sogar von ‘Erziehung’ sprechen!”<br />

Der Gärtner schmunzelt.<br />

“Ich bin froh darüber, daß Sie den Pflanzen <strong>im</strong> <strong>Park</strong> eine<br />

großzügige Erziehung angedeihen lassen!” Der MinRat n<strong>im</strong>mt<br />

die Brille ab, haucht gegen deren Gläser und putzt sie mit<br />

Sorgfalt. Dann setzt er die Brille zurück auf seine etwas<br />

gebogene Nase. “Vermutlich war es nicht einfach, das Gartenbauamt<br />

<strong>im</strong> Rathaus von der konventionellen Linie<br />

abzubringen. Da gab es doch sicherlich Schwierigkeiten.”<br />

“Gab es.”<br />

“Wie haben Sie Ihre Ansichten dort erfolgreich vertreten<br />

können?”<br />

“Das hat seine Zeit gedauert. Aber am Ende haben die<br />

Herren eingesehen, daß ein neues Zeitalter in der Landschaftsgärtnerei<br />

angebrochen ist.”<br />

“Das freut mich. Es ist ja auch nicht zu übersehen, mit wieviel<br />

Fleiß und Eifer Sie bei der Sache sind, daß Sie mit Leib<br />

und Seele Gärtner sind.”<br />

“Ja.”<br />

“Haben Sie heute sehr schwer arbeiten müssen?”<br />

“Ich bin das gewohnt.”<br />

“Und ist Ihr Arbeitstag gut verlaufen?”<br />

“Gemischt.”


Aquarianer 179<br />

“Wie meinen?”<br />

“Da gibt’s auch mal Probleme, manchmal auch Ärger. Aber<br />

am Ende überwiegt die Freude an der Arbeit und an der<br />

Natur.”<br />

“Was macht ein Gärtner in seiner Freizeit?”<br />

Der Gärtner streicht mit den Fingern durch den Bart.<br />

“Haben Sie neben dem Gärtnern noch andere <strong>Inter</strong>essen?”<br />

“Mich interessieren mehrere Dinge.”<br />

“Zum Beispiel?”<br />

“Ich lese gern.”<br />

“Kr<strong>im</strong>is?”<br />

“Nein.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Es gibt schon zuviele Verbrechen in der Welt. Da mag ich<br />

mir nicht auch noch die Freizeit verderben lassen.”<br />

“Unterhaltungsliteratur?”<br />

“Kaum.”<br />

“Schöngeistiges?”<br />

“Schon eher.”<br />

“Was interessiert Sie denn besonders?”<br />

“Literatur über Probleme, mit denen die Menschen fertig<br />

werden müssen.”<br />

“Philosophisches??”<br />

Der Gärtner wiegt den Kopf. Dann nickt er.<br />

Der MinRat ist überrascht, ja empört: ‘Das hätte ich von<br />

diesem einfachen, scheinbar so geraden Mann nicht erwartet.<br />

Was für ein Aufschneider!’ Er beschließt, dem Angeber eine<br />

Falle zu stellen. Nicht ohne Spott fragt er: “Was ist denn Ihrer<br />

Ansicht nach Literatur?”<br />

“Die Antwort kann man sich schwer machen. Aber man kann<br />

das auch in einem Satz sagen.”<br />

“Da bin ich aber sehr gespannt!”<br />

“Literatur”, formuliert der Gärtner gelassen, “vermittelt eine<br />

wichtige Botschaft in gut geschriebener Form.”<br />

“Das ist alles?”


180 WANDERER<br />

“Das ist alles. Nur wer etwas zu sagen hat, und wer das in<br />

einem Schreibstil zu tun vermag, der gefangen n<strong>im</strong>mt, Spannung<br />

erzeugt, Gefühle beschwört, den Nagel auf den Kopf<br />

trifft, nur der kann Literatur produzieren.”<br />

“Ich hoffe, die Herren Literaturkritiker sind da der gleichen<br />

Meinung.”<br />

“Auch da gibt es Unkraut zwischen Rosen.”<br />

“Ich bitte Sie!” Der MinRat stutzt. “Wie meinen Sie das?”<br />

“Das Unkraut, das sind die Leute, die sich spezialisiert haben<br />

in der kritischen Häme. Manch einer von denen hat als<br />

Schriftsteller Segel gesetzt und ist gestrandet. Vielleicht zerrt<br />

er gerade deshalb die Schwächen anderer, die tatsächlichen<br />

oder die vermeintlichen, so erbarmungslos ans Licht der Öffentlichkeit.<br />

Die Rosen regen an, werten und korrigieren. Sie<br />

trennen die Spreu vom Weizen. Zu Ihrer Bemerkung: Ich<br />

hoffe, die Rosen können meine Definition mittragen.”<br />

“Was wissen Sie denn eigentlich über Literaturkritik?”<br />

“Wenig. Aber zwei Dinge sind mir gewiß: Daß ein Kritiker<br />

nach Ojektivität streben sollte, und daß er etwas von der Sache<br />

verstehen muß über die er schreibt.”<br />

Der MinRat ist unsicher geworden. Er weiß nicht mehr, was<br />

er vom Gärtner halten soll. Er schweigt.<br />

Da n<strong>im</strong>mt der Gärtner das Gespräch wieder auf: “Den größten<br />

Teil meiner Freizeit widme ich meinen Aquarien.”<br />

Das schlägt ein wie eine Bombe! “Was?! Sie sind Aquarianer??”<br />

“Seit vielen Jahren.”<br />

Mit einem Ruck richtet sich der MinRat auf. Kerzengrade<br />

sitzt er da, mit huschenden Augen und hüpfendem Adamsapfel.<br />

“Aquarien faszinieren mich, seit ich denken kann. Ich<br />

konnte kaum laufen, da überraschte mich meine Mutter mit<br />

einem Aquarium und drei Goldfischen. Da hat sich bei mir,<br />

wenn ich das mal so sagen darf, eine Blitzprägung vollzogen.<br />

Davon bin ich nie wieder losgekommen. Das hat in mir<br />

Schwingungen ausgelöst, die heute noch nachwirken. Schon


Aquarianer 181<br />

wenn ich das Wort ‘Aquarium’ höre, fängt in mir etwas an zu<br />

vibrieren.”<br />

Der Gärtner nickt. Das kann er nachempfinden.<br />

“Aber heute halte ich keine Goldfische mehr. Ich züchte tropische<br />

Fische. Mehrere Jahre habe ich den örtlichen Aquarianerverein<br />

geleitet. Leider hat es da unerfreuliche Auseinandersetzungen<br />

gegeben. Vor drei Jahren bin ich ausgetreten.<br />

Seitdem stehe ich allein auf weiter Flur.”<br />

Der MinRat ist jetzt nicht mehr zu halten. Ganz nach vorn<br />

rutscht er, auf die Kante der Sitzfläche. “Züchten Sie auch<br />

tropische Fische?”<br />

“Ja.”<br />

“Das ist denn doch … Das müssen wir unbedingt eingehend<br />

erörtern!”<br />

Der Gärtner nickt. Schon seit Jahren lebt er sehr<br />

zurückgezogen. Ein Gedankenaustausch mit einem<br />

Aquarianer hat ihm sehr gefehlt.<br />

Der MinRat scharrt mit dem Schuh <strong>im</strong> Sand. “Meine neueste<br />

Herausforderung stammt aus der Familie der Pantodontidae.<br />

Sie heißt Pantodon buchholzi.”<br />

“Schönes Tier.”<br />

“Sie kennen diese prächtigen Burschen?”<br />

“Ja.”<br />

“Mit viel Mühe habe ich herausgefunden, was sie anmacht,<br />

wenn ich da mal einen Terminus aus der Jugendszene benutzen<br />

darf, also was sie so richtig in Farbe bringt, was ihr Temperament<br />

voll zum Ausdruck kommen läßt. Aber ich kriege<br />

diese Burschen nicht richtig zum Laichen. Nur ein einziges<br />

Mal hat es geklappt. Ich weiß nicht warum. Es war ein Zufall.<br />

Ich kann Ihnen sagen! Die Schmetterlingsfische haben mir<br />

schon manche schlaflose Nacht bereitet. Immer wenn ich<br />

dachte, ‘jetzt geht’s los’, wurde ich enttäuscht. Wahre Torturen<br />

habe ich ausgestanden!” Wieder muß er an das Gespräch mit<br />

dem Physiker denken. ‘Wie paßt denn das zusammen? Auf der<br />

einen Seite angle ich und füge Fischen Schock und Verlet-


182 WANDERER<br />

zungen zu. Auf der anderen Seite pflege ich Fische und sorge<br />

mich um ihr Wohlbefinden mehr als manche Mutter um ihr<br />

Kind!’ Wieder scharrt der Schuh <strong>im</strong> Sand.<br />

Sich dem Gärtner zuwendend, sagt der MinRat: “Die Schmetterlingsfische<br />

zum Laichen zu bringen, das ist ein großes Problem!”<br />

“Ja, das ist nicht einfach.”<br />

“Sie kennen das Problem?”<br />

“Ich züchte Schmetterlingsfische seit Jahren.”<br />

“Was??!” Der MinRat springt auf. Wie ein nervöses Rennpferd<br />

trippelt er auf und ab vor der Bank. “Das gibt es nicht!<br />

Das gibt es wirklich nicht! Da wandere ich durch den <strong>Park</strong>,<br />

suche nach Lösungen, kann kaum abwarten, bis ich sehe, was<br />

sich bei meinen Fischen ereignet hat, bin zu Tode betrübt,<br />

wenn da wieder nichts geworden ist aus deren Liebesleben.<br />

Und da wandert hier einer auf denselben Wegen – einer, der<br />

die Schmetterlingsfische seit Jahren züchtet, der die Probleme<br />

gemeistert hat! Wie machen Sie das? Wie beschwören<br />

Sie die Pantodon buchholzi, sich zu lieben? Eier zu legen? Und<br />

wie bringen Sie die Jungen hoch?”<br />

Der Gärtner wiegt den Kopf. “Das ist ganz einfach. Und<br />

doch auch wiederum nicht so ganz einfach. Man muß das mal<br />

gesehen haben. Wenn Sie Zeit und Lust haben, zeige ich Ihnen<br />

mal meine Anlage.”<br />

“Zeit und Lust!”, ruft der MinRat. “Jederzeit! Große Lust!!”<br />

“Na dann geh’n wir mal.” Der Gärtner steht auf und weist<br />

mit dem Kopf die Richtung. Hinter der Gärtnerei angelangt,<br />

führt er seinen neuen Bekannten vorbei an Spalieren mit<br />

rosa und blau blühenden Clematis zu einem gewächshausähnlichen<br />

Bau. Er öffnet die Außentür. Durch eine Wärmeschleuse<br />

gelangen sie in eine Halle, die in mehrere Sektionen<br />

unterteilt ist. Warm schlägt ihnen feuchte Luft entgegen.<br />

Es summt, brummt und gluckst von Hunderten von Durchlüftern,<br />

Abschäumern, Filteranlagen und von fließendem<br />

Wasser.


Aquarianer 183<br />

Dem MinRat verschlägt es die Sprache. Er ringt um Fassung.<br />

So was hat er noch nie gesehen. Das übersteigt seine<br />

kühnsten Aquarianerträume!<br />

Durch schmale Gänge, gesäumt von übereinander angeordneten<br />

Aquarien, gehen sie vorbei an Becken mit Spritzsalmlern,<br />

Prachtkärpflingen, schwarzen Mutanten von Pterophyllum<br />

e<strong>im</strong>ekei und vielen anderen Tropenbewohnern, darunter<br />

wahre Kostbarkeiten. Und dann stehen sie vor fünf<br />

Becken mit Schmetterlingsfischen.<br />

“Eine seltene Varietät aus einem kleinen Gewässer in einem<br />

entlegenen Teil des tropischen Westafrika”, erläutert der Gärtner.<br />

“Wie Sie sehen, hat jedes Becken seine eigene Wasseraufbereitungsanlage.<br />

Die Zuchtbecken und die Aufzuchtbecken<br />

habe ich zusätzlich an Pflanzenfilter angeschlossen, große<br />

Behälter <strong>im</strong> Nachbarraum. Und hier beginnen die Tricks: In<br />

den Behältern wachsen ausgesuchte Pflanzen. Die werden<br />

zwanzig Stunden pro Tag mit speziellem Licht versorgt. Der<br />

Wasserkreislauf beginnt <strong>im</strong> Fischbecken. Danach folgen Sandfilter<br />

und Pflanzenfilter und schließlich ein Gefäß, in dem das<br />

Wasser so weit wie möglich ke<strong>im</strong>frei gemacht wird. Das steht<br />

da an der Seite. Von dort wird das Wasser in das Fischbecken<br />

zurückgepumpt.”<br />

“Superb!” ruft der MinRat. “Absolut superb!”<br />

“Pantodon buchholzi var. mechi, so nenne ich meine Tiere,<br />

benötigen, wie andere Schmetterlingsfische auch, torfiges, sehr<br />

weiches Wasser. Das bereite ich <strong>im</strong>mer wieder neu zu, dort<br />

hinten in der Ecke.”<br />

“Was füttern Sie?”<br />

“Junge He<strong>im</strong>chen, Heuschrecken, Mücken, Fliegen, Fische.<br />

Die Futtertiere züchte ich selbst.”<br />

“Welchen Licht-Dunkel Rhythmus?”<br />

“Achtzehn zu sechs.”<br />

“Welche Temperatur?”<br />

“Achtundzwanzig Grad.”<br />

“Und die Eier?”


184 WANDERER<br />

“Die sammle ich ein mit einer Pipette.<br />

“Was machen Sie mit den Eiern?”<br />

“Ich überführe sie in eine Petrischale. Dort zähle ich sie und<br />

kontrolliere ihren Zustand. Befruchtete, gesunde Eier<br />

pipettiere ich in eine weitere Schale. Das Umpipettieren<br />

mache ich mehrere Male. Dabei werden die Eier weitgehend<br />

von anhaftenden Schädlingen befreit. Erst danach gebe ich sie<br />

in das abgedeckte Inkubationsgefäß.”<br />

“Warum decken Sie das Gefäß ab?”<br />

“Nicht aus Angst, daß die Eier rausspringen.” Das zerfurchte<br />

Gesicht beleben Verwerfungen und Verschiebungen, die einen<br />

Geologen in Verzückung versetzen könnten: der Gärtner<br />

lacht. “Ich möchte damit Verunreinigungen fernhalten, die<br />

aus der Luft niedersinken, und Sporen von Bakterien und<br />

Pilzen. Das Inkubationsgefäß wird an einen eigenen Kreislauf<br />

angeschlossen und dem Wasser zusätzlicher Sauerstoff<br />

zugeleitet. Oftmals baue ich außerdem noch einen Kohlendioxydfilter<br />

ein.”<br />

“Warum?”<br />

“Die Luft <strong>im</strong> <strong>Park</strong> ist zwar gut, aber die Großstadt ist nicht<br />

fern.”<br />

“Womit füttern Sie die Jungen?”<br />

“Blattläuse, Springschwänze, Nauplien, Rädertierchen. Die<br />

lasse ich vorher etwas antrocknen, damit sie an der Wasseroberfläche<br />

haften. Von dort schnappen die Jungen sie auf.<br />

Vielseitige Ernährung ist wichtig. Und natürlich eine erstklassige<br />

Wasserqualität. Daher werden die zwei Wochen alten<br />

Jungen in neu vorbereitete Aquarien umgesetzt.”<br />

Jetzt entspinnt sich eine atemberaubende Fachs<strong>im</strong>pelei.<br />

Auch der MinRat erweist sich als ein erfahrener Fachmann.<br />

Die beiden verbeißen sich förmlich ineinander.<br />

Nach drei Stunden werden die Beine müde. In dem großen<br />

Aquarienhaus gibt es nur einen Hocker. Außer dem Physiker<br />

hat noch kein Gast die Aquarienanlage betreten. Der Gärtner<br />

lebt allein. Plötzlich hört er sich fragen: “Wie wär’s mit einem


Aquarianer 185<br />

Drink?” Das hätte er besser nicht tun sollen.<br />

Aber da antwortet sein Gast auch schon: “Sehr gern, danke.”<br />

Vom Aquarienhaus geleitet der Gärtner den MinRat durch<br />

Blumenbeete zu seinem Wohnhaus. Ein Seiteneingang führt<br />

in eine kleine Halle. Von dort geht’s ins Wohnz<strong>im</strong>mer. Es ist<br />

spät geworden. Der Gärtner schaltet die Beleuchtung ein.<br />

Versteckte Strahler und indirekte Beleuchtung erhellen eine<br />

überraschende Szene. Der Anblick des Wohnz<strong>im</strong>mers verschlägt<br />

dem MinRat abermals die Sprache: Kostbare Möbel,<br />

Orientteppiche, Ölgemälde, wertvolles Porzellan.<br />

“Bitte nehmen Sie Platz.” Der Gärtner weist auf einen von<br />

zwei Ledersesseln. Die stehen in der Nähe des Kamins neben<br />

einem runden Mahagonitisch, dessen Oberfläche eine kunstvoll<br />

gehämmerte goldene Platte ziert.<br />

“Danke”, sagt der MinRat leise und verwirrt.<br />

“Was darf’s sein?”<br />

“Wa … was können Sie anbieten?”<br />

“Wie wär’s mit einem Scotch oder einem Manhattan?”<br />

“Bitte einen Manhattan.”<br />

“Dry oder sweet? Mit Olive oder Kirsche?”<br />

Der MinRat kennt sich da nicht so aus. Er zögert. Dann aber<br />

sagt er, in einem Ton, als tränke er jeden Tag Manhattan:<br />

“Sweet mit Kirsche.”<br />

Der Gärtner mixt den Drink. <strong>Inter</strong>essiert verfolgt der Gast<br />

jede seiner Bewegungen. Als der Drink fertig ist, gibt der<br />

Hausherr in jedes Glas eine Cocktailkirsche. Auf den Außenseiten<br />

der Gläser schlägt sich ein Wassermantel nieder, hinter<br />

dem der Manhattan <strong>im</strong> Licht der Strahler dunkelrot aufleuchtet.<br />

Der Gärtner stellt ein Glas vor dem MinRat ab. Da<br />

knickt dessen steif aufgerichteter Oberkörper ein zu einer<br />

förmlichen Verbeugung. Den zweiten Drink plaziert er vor den<br />

anderen Sessel, auf dem er jetzt Platz n<strong>im</strong>mt.<br />

“Zum Wohl. Auf unser gemeinsames Hobby!”<br />

“Zum Wohl.” Abermals eine einknickende Verbeugung, und<br />

dann ein angehobener Ellbogen. Nahezu feierlich führt der


186 WANDERER<br />

MinRat den Manhattan zum Mund.<br />

Nachdenklich befingert der Gärtner seinen Bart und blickt<br />

dabei hinüber zu seinem Gast. Dann sagt er entschlossen: “Ich<br />

freue mich, in Ihnen einen Hobby-Partner gefunden zu haben.”<br />

“Es ist eine Ehre für mich, mit so einem erfahrenen Aquarianer<br />

diskutieren zu dürfen. Jahrzehntelang habe ich geglaubt,<br />

ich sei ein toller Hecht, wenn ich das mal so sagen<br />

darf, aber heute habe ich meinen Meister gefunden!”<br />

Beide trinken.<br />

Wiederum sieht sich der MinRat um. ‘Ich kann den Gärtner<br />

nicht einordnen!’, denkt er. ‘Zuerst hatte ich mir gedacht, sei<br />

mal nett zu dem, darüber freut der sich. Und schließlich ist<br />

der wirklich sehr tüchtig. Aber dann hat sich unser<br />

Verhältnis <strong>im</strong>mer mehr geändert. Und jetzt bin ich dankbar<br />

dafür, daß dieser Mann mit mir redet!’ Der MinRat muß unbedingt<br />

eine Frage loswerden. Sie brennt ihm auf der Zunge.<br />

Unsicher beginnt er: “Ich bin sehr beeindruckt von Ihrem<br />

Aquarienhaus … und von dem, was ich hier sehe. Das ist<br />

alles sehr … überraschend für mich. Bitte erlauben Sie mir<br />

eine Frage.”<br />

“Nur raus damit.”<br />

“Wie … wie kommt ein Mann wie Sie, ein so kultivierter<br />

Mann, dazu, Gärtner zu werden?”<br />

“Hoho! Der Beruf eines Gärtners ist doch sehr respektabel!<br />

Sie glauben gar nicht, wieviel Freude mir der tägliche Umgang<br />

mit der Natur bereitet. Das ist nicht viel anders als mit<br />

den Aquarien. Und Kreativität ist auch gefragt. Man kann,<br />

wie ein Architekt, Ideen entwickeln und verwirklichen, Neues<br />

schaffen. Gärtner, das ist ein herrlicher Beruf. Für mich ist er<br />

der schönste auf der Welt.”<br />

“Ja, ja. Das kann ich alles verstehen. Aber …” Der MinRat<br />

zieht seine Krawatte fester, schiebt sich noch weiter nach vorn<br />

auf die Kante der Sitzfläche. Steil aufgerichtet hockt er nun<br />

da, mit hüpfendem Adamsapfel. Neugier und Verlegenheit<br />

erreichen einen Höhepunkt.


Aquarianer 187<br />

Und der Gärtner, mit übergeschlagenen Beinen weit<br />

zurückgelehnt in seinen Sessel, denkt: ‘Ich müßte lügen,<br />

wollte ich behaupten, daß mir das keinen Spaß macht. Beamte<br />

sind nicht nur tüchtig. Auch da gibt’s Unkraut zwischen<br />

Rosen.’ Immer wieder einmal hatte er sich über Verwaltungsbeamte<br />

ärgern müssen, über ihre Formalienhörigkeit und<br />

manchmal auch über ihren Hochmut. So ist es schon eine Art<br />

Genugtuung, einen Vertreter dieses Menschentyps in Bedrängnis<br />

zu sehen – auch wenn dieser Ministerialrat da ein<br />

guter, ja ein liebenswerter Mann ist. Natürlich hat der Gärtner<br />

die Frage erwartet, die sein Gast ihm sicherlich gleich<br />

stellen wird. Es ist sein Fehler, daß er ihn – ganz gegen seinen<br />

ehernen Entschluß – zu einem Drink in sein Haus eingeladen<br />

hat.<br />

“Aber … ich meine, wenn ich das mal so sagen darf”, tastet<br />

sich der MinRat weiter vor, “ein Mann wie Sie könnte doch in<br />

einer Reihe von Berufen – auch ausgesprochen anspruchsvollen<br />

– erfolgreich sein. Und …” Er wiegt den Kopf, ordnet<br />

den Schlips, räuspert sich. Dann endlich stößt ihn seine Neugier<br />

über die Schwelle. Dann endlich stellt er die Frage, auf<br />

die er keinerlei Antwort finden kann: “Ich meine, wenn ich<br />

Ihnen da nicht zu nahe trete, ich meine … wie kann sich ein<br />

Gärtner so etwas leisten? So eine Aquarienanlage, solch eine<br />

erlesene Einrichtung.”<br />

Der Gärtner nickt vor sich hin. Obwohl diese Frage unvermeidbar<br />

war, zögert er mit der Antwort. Soll er, darf er den<br />

MinRat ins Vertrauen ziehen? Aber es ist ihm auch klar, daß<br />

es für jede andere Lösung schon zu spät ist. Auf keinen Fall<br />

hätte er weiter gehen dürfen, als dem neuen Bekannten die<br />

Aquarienanlage zu zeigen. Seine Freude, hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong> einen<br />

so engagierten und einen so versierten Aquarianer gefunden<br />

zu haben – einen Aquarianer par excellence – hat ihn einfach<br />

die selbstauferlegte Zurückhaltung vergessen lassen. Und wie<br />

sollte er mit dem MinRat, der ja ebenfalls in der Ausübung<br />

seines Hobbys isoliert ist und nach Kontakt drängt, in Zu-


188 WANDERER<br />

kunft verkehren, wenn er ihn jedesmal vor der Schwelle<br />

seines Hauses verabschieden müßte? Wie könnte er eine Bekanntschaft,<br />

ja eine Freundschaft – und er ist sich jetzt ganz<br />

sicher, daß dies der Beginn einer Freundschaft ist – mit einer<br />

Lüge beginnen? Der Gärtner hat nur noch einen Freund: den<br />

Physiker, einen alten Studienkollegen. Nur der kennt sein<br />

Gehe<strong>im</strong>nis. Außer dem Physiker und einigen von weither geholten<br />

Handwerkern hat noch kein Fremder sein Haus <strong>im</strong><br />

<strong>Park</strong> betreten.<br />

Der Gärtner n<strong>im</strong>mt einen Schluck Manhattan zu sich, sieht<br />

seinem Gast ernst und durchdringend in die Augen, solange,<br />

daß der den Blick senkt, abwendet und nun, erneut etwas<br />

verlegen, ebenfalls zum Glas greift.<br />

Da leert der Gärtner den Drink. “Ich war nicht <strong>im</strong>mer Gärtner”,<br />

sagt er. “Das Leben, das ich hier führe, ist völlig<br />

verschieden von dem, in das ich hineingeboren wurde und in<br />

dem ich bis vor einem Jahrzehnt zu Hause war. Ihre Frage ist<br />

berechtigt. Dennoch ist es schwer für mich, darauf zu antworten.<br />

Man soll aber eine Freundschaft nicht mit einer Unwahrheit<br />

beginnen. So bin ich bereit, Ihnen ein Gehe<strong>im</strong>nis anzuvertrauen.<br />

Ich muß Sie aber bitten, mit niemandem,<br />

absolut niemandem, darüber zu sprechen.”<br />

Wieder sieht er seinem Gegenüber geradenwegs in die<br />

Augen, ernst, offen, fragend. Auch der MinRat ist sehr ernst<br />

geworden. Mit Nachdruck nickt er. Was der Gärtner in den<br />

Augen des anderen sieht, ermutigt ihn, fortzufahren, aber<br />

nicht ohne noch einmal nachzuhaken: “Mein Seelenfrieden<br />

hängt davon ab. Ich muß Ihr Ehrenwort haben.”<br />

“Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.”<br />

Beide Männer erheben sich und reichen einander die Hand.<br />

Versonnen fährt sich der Gärtner über das zerfurchte<br />

Gesicht. Schweigend nickt er vor sich hin. Dann sagt er: “Zunächst<br />

mixe ich uns noch einen Manhattan, wenn es Ihnen<br />

recht ist.”<br />

“Gern.”


5 DREIGESTIRNE<br />

Begegnung<br />

Begegnung 189<br />

“Ich bewundere Ihre Bilder.<br />

Ihre besondere Art zu malen.”<br />

Inge erstarrt. Auf dem Weg, der am Pastorenhaus vorbeiführt,<br />

kommt ihr ein Mann entgegen. Seit Jahren blickt er<br />

von einem Wandposter in ihr Z<strong>im</strong>mer. Seine Augen mit dem<br />

runden Schwarz und dem ovalen Weiß scheinen ständig auf<br />

sie gerichtet zu sein und jede ihrer Bewegungen zu verfolgen.<br />

Inge ist fasziniert von diesem hartgesichtigen Mann. Sie<br />

bewundert seine großartigen und vielseitigen künstlerischen<br />

Fähigkeiten, sein monumentales Schaffen. Ja, sie ist buchstäblich<br />

gefesselt von der Gewalt seiner Werke und von der<br />

verborgenste Gefühle aufwühlenden Art seiner Schöpfungen.<br />

Wie angewurzelt verharrt sie <strong>im</strong> Bannkreis der sich nähernden<br />

Gestalt, wenige Schritte vor dem hölzernen Eingangstor<br />

zum Garten des Pastorenhauses mit dem großen eingeschnitzten<br />

Kreuz. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.<br />

Inge und der Mann sind ganz allein auf diesem Weg.<br />

Mit jedem Schritt, den der Mann näher kommt, wächst<br />

Inges Faszination.<br />

Der Mann <strong>im</strong> hellen Frühlingsmantel, mit dem<br />

breitkrempigen weißen Hut, dem weißen Spazierstock und<br />

den langen schwarzen Haaren: es ist der Maler!<br />

Als der Maler vor ihr steht, überzieht ihre Wangen eine feine<br />

Röte: “Guten Tag.”<br />

Der Maler ist überrascht. Ratlos grüßt er zurück: “Guten<br />

Tag.” Irgendwo hat er dieses Mädchen schon einmal gesehen,<br />

dieses wunderschöne Gesicht, diese bezaubernde Figur. Aber<br />

wo? Wo war das nur?? In seiner augenblicklichen Verfassung<br />

verbindet er die Erscheinung der jungen Frau nicht mit dem<br />

Engel. Den sieht er nur, wenn eine besondere St<strong>im</strong>mung sich


190 DREIGESTIRNE<br />

einstellt, eine St<strong>im</strong>mung, von der er noch <strong>im</strong>mer nicht weiß,<br />

wovon sie eigentlich hervorbracht wird. Offenbar spielt das<br />

schlechte Gewissen dabei eine Rolle, das Streben nach Gutem<br />

und die Hoffnung, sich mit reiner Seele künstlerisch vollenden<br />

zu können – aber auch Angst vor dem Dunkel in ihm und um<br />

ihn, und unbefriedigte Sexualität. Vielleicht gibt es da noch anderes,<br />

etwas, das noch in der Nebelwelt seines Unterbewußtseins<br />

vor der Tür lauert. Im Maler wohnen viele Maler. Dunkle<br />

und helle. Mit dem Ausreifen seiner Schaffenskraft, mit dem<br />

Sichsteigern seiner Kreativität sind aber die dunklen schneller<br />

gewachsen als die hellen. – Noch <strong>im</strong>mer steht das Mädchen vor<br />

ihm. Das wird jetzt peinlich. So fragt er: “Kennen wir uns?”<br />

“Nicht wir uns. Aber ich Sie. Ich bewundere Ihre Bilder. Ihre<br />

besondere Art zu malen. Die elementare Kraft Ihrer Werke.<br />

Das alles fasziniert mich sehr.” Als der Maler nichts sagt, fügt<br />

Inge hinzu: “Ich bin meinem Schicksal sehr dankbar. Es ist<br />

ein großes Erlebnis für mich, daß ich Ihnen persönlich<br />

begegnen durfte.” Ein angedeuteter Knicks. Dann wendet sie<br />

sich ab und geht auf das Holztor zu.<br />

Noch als das Tor sich hinter ihr geschlossen hat, steht der<br />

Maler dort, wo die junge Frau sich von ihm verabschiedet hat.<br />

Mit der Rechten schwer auf den Spazierstock gestützt, schaut<br />

er ihr nach. In seinem Inneren leuchtet noch <strong>im</strong>mer ihr Bild,<br />

das sich jetzt auf gehe<strong>im</strong>nisvolle Weise mit dem Kreuz auf der<br />

Tür zu verbinden scheint.<br />

Inge wollte einkaufen. Heute abend kommt Peter! Heute<br />

werden sich die beiden Männer zum erstenmal begegnen, die<br />

ihr Leben ausmachen: ihr Vater und ihr Peter. Aber der Maler<br />

läßt sie sogleich ins Haus zurückkehren. Daß sie diesem<br />

Mann persönlich begegnen durfte, davon muß sie sogleich ihrem<br />

Vater berichten!<br />

‘Diese zauberhafte junge Frau!’ Der Maler ist wie angefaßt.<br />

Irgendwo hat er dieses Gesicht, diesen Körper schon einmal


gesehen. Wo war das nur? Langsam spaziert er weiter. Bei jedem<br />

Schritt schwingt er den Spazierstock weit voraus und<br />

stößt dessen Ende dann, <strong>im</strong> Takt mit seinem linken Fuß, fest<br />

auf den Boden.<br />

Er schickt seine Gedanken auf die Reise. Nach Paris zu seiner<br />

letzten Ausstellung, nach Hannover zu seinem Vortrag<br />

in der vorigen Woche, nach Berlin zur gestrigen Pressekonferenz<br />

… Nichts. Er vermag das Gesicht der Frau, ihre Gestalt<br />

seiner Erinnerung nicht zu entlocken.<br />

“Aber”, flüstert er vor sich hin, “aber ich bin mir gewiß, ich<br />

habe dieses Mädchen schon einmal gesehen.” Dann lächelt er:<br />

“Es war wohl in einer anderen Welt.”<br />

Wie recht er doch hat!<br />

Predigt<br />

Predigt 191<br />

“Und noch ein drittes laßt mich sagen”, fährt der Pastor<br />

fort. “Es handelt von Selbstlosigkeit. Von der Hinwendung<br />

zum anderen. Die christliche Aufforderung zur Selbstlosigkeit<br />

ist eine Herausforderung für uns alle. Damit haben wir wohl<br />

alle schon unsere Schwierigkeiten gehabt. Ein jeder auf seine<br />

Weise. Hier ringen ganz unterschiedliche Kräfte miteinander:<br />

Edelmut und Egoismus, Hilfsbereitschaft und Gleichgültigkeit.<br />

Dieses Ringen wird nie enden. Der Kampf gegen die<br />

vielen Formen und Gesichter der Selbstsucht, die ja oft aus<br />

mächtigen Quellen fließt, muß <strong>im</strong>mer wieder aufs neue geführt,<br />

<strong>im</strong>mer wieder neu bestanden werden.”<br />

Von der alten, mit Schnitzereien reich verzierten Kanzel<br />

schweift der eindringliche, gütige Blick des Pastors langsam<br />

über seine Gemeinde. In seinem Wesen vereint er die Akzeptanz<br />

einer bedingungslosen Pflicht, seinem Herrn zu dienen,<br />

mit der allgegenwärtigen Bereitschaft, Gutes zu tun. Hinzu<br />

kommt, in schöner Verbindung, die Fähigkeit, sich des Lebens<br />

zu erfreuen und rundum glücklich zu sein. Aber sein bis-


192 DREIGESTIRNE<br />

heriges Dasein war leider so geartet, daß sich Freude am Leben<br />

nur ungenügend hatte entfalten können.<br />

“Macht nicht so recht eigentlich erst das auf freiem Entschluß<br />

gründende Überwinden dunkler Süchte und egoistischen<br />

Strebens den Menschen zum Menschen? Das Sichselbstüberwinden?<br />

Die Hinwendung zum Nächsten? Eigene<br />

Wünsche aus freiem Willen zurückzunehmen? Wahrlich, das<br />

sind alte Anliegen christlicher Ethik und christlichen Glaubens.<br />

Erst dadurch, daß wir versuchen, selbstlos Gutes zu<br />

tun, erst dadurch werden wir wirklich zu Christen. Allein<br />

schon, den Willen zu fassen zum Verzicht, zur Begrenzung<br />

eigener Bedürfnisse, zur Nächstenliebe, zur Hilfe, das ist<br />

etwas Gutes. Und wenn dann der Wille zum Ziel führt, zur<br />

Vollendung der guten Tat, dann ist dies <strong>im</strong>mer auch ein<br />

erhebendes Erlebnis für uns selbst.”<br />

Der Pastor ist sehr beliebt. Er erfreut sich eines hohen<br />

Ansehens in seiner Gemeinde. In dieser kleinen, vor einem<br />

Jahrhundert erbauten Kirche predigt er nun schon seit fünfundzwanzig<br />

Jahren. Im ebenfalls hundert Jahre alten Pastorenhaus,<br />

direkt neben der Kirche, haben seine Frau und er<br />

glückliche, erfüllte Stunden der Liebe und des gegenseitigen<br />

Verstehens erleben dürfen. Als seine über alles geliebte Frau<br />

starb, unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter, da hat ihm<br />

sein unerschütterlicher Glaube an Gottes Willen und Weisheit<br />

die Kraft gegeben, den Schmerz des Verlustes einzubringen in<br />

seine große neue Aufgabe: beides zu sein für seine Tochter,<br />

Mutter und Vater. Ohne Inge hätte er nicht überleben können,<br />

nicht überleben wollen. Heute ist Inge das Ebenbild ihrer<br />

Mutter, und sie ist der Sonnenschein seines Lebens.<br />

“So fasse ich denn das Dreigestirn meiner Predigt noch<br />

einmal zusammen: Bedingungsloses Vertrauen in Gott den<br />

Allmächtigen. Ergebenheit in seinen unerforschlichen Willen.<br />

Und ständiges Sich-Bemühen um selbstloses Handeln. Diese<br />

drei sind das Herz christlicher Ethik. Auf dem Boden dieser<br />

drei kann das Ringen um ein Verinnerlichen, ja, um ein neues


Predigt 193<br />

Verständnis des Lebensentwurfs Gottes großen Gewinn<br />

bringen.<br />

Gewiß, auch ein Tier kann selbstlos handeln. Aber niemals<br />

durch Einsicht oder Überwindung, sondern <strong>im</strong>mer nur durch<br />

unverrückbar in seinem Erbgut festgelegtes Verhalten. Ein<br />

Vogel, der einen erbeuteten Regenwurm an seine Jungen weitergibt,<br />

obwohl er hungrig ist, er handelt selbstlos. Eine Biene,<br />

die in unermüdlichem Fleiß Honig herbeischafft für die<br />

Nachkommenschaft, sie handelt selbstlos. Eine Ameise, die in<br />

einer für sie aussichtslosen Situation ohne jedes Zögern ihr<br />

Leben gibt für die Verteidigung ihres Volkes, sie handelt<br />

selbstlos.<br />

Vogel, Biene und Ameise müssen so handeln. Sie können<br />

nicht anders. Sie haben keinen freien Willen.<br />

Und genau hier, liebe Schwestern und Brüder <strong>im</strong> Glauben,<br />

hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und<br />

Tier. Wir Menschen können wählen. Im Vergleich zu den<br />

Tieren sind unsere Wahl- und Reaktionsmöglichkeiten um ein<br />

Vielfaches größer. Wir verfügen über die Fähigkeit, einsichtig<br />

zu handeln. Wir sind Erleuchtete. Wir sind Auserwählte. Uns<br />

hat Gott Augen und Seele geöffnet, auf daß wir sehend<br />

werden, auf daß wir unterscheiden können zwischen Gut und<br />

Böse. Jesus hat uns gelehrt, selbstlos zu handeln. Wahrlich,<br />

Er hat uns selbstloses Handeln vorgelebt bis in den Tod.<br />

Was kann ein Mensch nicht alles anrichten, wenn er die<br />

Grenzen der Ethik überschreitet! Es gibt kein Verbrechen, das<br />

nicht schon ein Mensch dem anderen zugefügt hätte. Selbst<br />

die fürchterlichsten Verbrechen, die menschliche Hirne sich<br />

überhaupt auszudenken vermögen – sie sind irgendwo,<br />

irgendwann von Menschen an Menschen begangen worden.<br />

Wir haben die Fähigkeit, unsere eigenen <strong>Inter</strong>essen rücksichtslos<br />

vor alles andere zu stellen. Wir haben die Fähigkeit,<br />

andere Menschen ohne Hilfeleistung verhungern zu lassen.<br />

Wir haben die Fähigkeit, Gottes Natur zu schänden, ganze<br />

Tierarten, ganze Pflanzenarten auszurotten. Wahrlich, wir


194 DREIGESTIRNE<br />

haben viele, viele böse Fähigkeiten. Daß wir sie kontrollieren,<br />

daß wir das Böse, dessen wir fähig sind, nicht tun, darin liegt<br />

unsere Würde als Mensch, darin liegen Wesenszüge, die den<br />

Menschen vor allen anderen Geschöpfen Gottes auszeichnen:<br />

Edelmut und Selbstlosigkeit.<br />

Durch unerschütterliches Gottvertrauen, durch bedingungslose<br />

Akzeptanz Seines unerforschlichen Willens und durch<br />

praktizierte Selbstlosigkeit werden wir zu Schwestern und<br />

Brüdern <strong>im</strong> Glauben.”<br />

Die Arme ausbreitend ruft der Pastor in die Gemeinde: “Das<br />

ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht<br />

setze auf Gott den Herrn, daß ich verkünde all Sein<br />

Tun!”<br />

Während der Pastor sich anschickt, den Gottesdienst zu<br />

beenden, eilt Inge durch den gepflegten kleinen Vorgarten ins<br />

Haus.<br />

“Vater, Vater!”, ruft sie. Doch der Pastor ist noch nicht zurück<br />

von seiner Predigt. So muß sie warten. Voller Ungeduld.<br />

Dann, endlich, kommt der Pastor. Inge fliegt in weit geöffnete<br />

Arme.<br />

“Vater!”, platzt es aus ihr heraus, “weißt du, wem ich<br />

begegnet bin? Hier, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>? Gerade eben? Vor dem Tor zu<br />

unserem Garten?? Dem Maler!!”<br />

“Bist du dir sicher?”<br />

“Ganz sicher. Ich habe sogar mit ihm gesprochen.”<br />

“Hier, bei uns”, wiederholt der Pastor kopfschüttelnd, als<br />

könne er das noch <strong>im</strong>mer nicht fassen. “Erst gestern habe ich<br />

ein <strong>Inter</strong>view mit ihm in der Zeitung gelesen. Er ist nicht nur<br />

ein genialer Maler, er ist auch ein beachtlicher Denker und<br />

ein großartiger Mensch.” Der Pastor sieht seine Tochter an.<br />

“Ein guter dazu.”<br />

“Ja.”<br />

“Schade”, sagt der Pastor und nickt, “schade, daß wir so<br />

einen Mann nicht dauernd um uns haben dürfen.”


Der Pastor legt den Talar ab, klappt den Deckel eines kleinen<br />

Kastens auf und greift nach einer Zigarre. Mit Sorgfalt<br />

packt er sie aus, kneift die Spitze ab, legt die in den Aschenbecher<br />

und befeuchtet das Zigarrenende mit dem Mund. Inge<br />

reicht ihm Feuer. Ermüdet vom langen Stehen während des<br />

Gottesdienstes, läßt sich der Pastor in seinen Sessel fallen.<br />

“Was wäre das für ein Erlebnis”, sinniert er vor sich hin und<br />

pafft mit großem Behagen die ersten Rauchwolken in Richtung<br />

Z<strong>im</strong>merdecke, “diesen Mann hier bei uns – in unserem<br />

Garten, in unserem Haus – haben zu dürfen. Seine Schaffenskraft<br />

und seine Weltsicht sind sehr eindrucksvoll. In vielen<br />

Punkten deckt sich die Art, in der er die Welt sieht, mit der<br />

meinen. Aber es gibt da auch ganz wesentliche Unterschiede.<br />

Darüber müßte man einmal in Ruhe und in aller Offenheit<br />

miteinander diskutieren können.”<br />

Vorbereitungen<br />

Vorbereitungen 195<br />

Nach dem Einkaufen geht Inge in die große alte Küche und<br />

beginnt damit, das Abendessen vorzubereiten. Sie ist sehr<br />

aufgeregt. Heute abend kommt Peter!<br />

Über diesen ersten Besuch ihres Freundes <strong>im</strong> Pastorenhaus<br />

hat sie schon oft nachgedacht, schon lange bevor eine Einladung<br />

überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen werden<br />

konnte. Neben Vorfreude haben bei ihren gedanklichen Vorbereitungen<br />

auf diesen Besuch auch <strong>im</strong>mer wieder andere<br />

Gefühle ihr Herz erfüllt. Zum erstenmal wird ein Mann in<br />

diesem Hause sein, den sie liebt, der aber nicht ihr Vater ist.<br />

Das Verhältnis zwischen ihrem Vater und ihr ist so einmalig,<br />

so voller Liebe und gegenseitiger Achtung. Ist da genügend<br />

Platz für einen Dritten? Und wie werden sich die beiden<br />

Männer verstehen? Wird Peter in seinem Ungestüm genügend<br />

Geduld, genügend guten Willen aufbringen können? Wie<br />

gewaltig sind die Unterschiede zwischen diesen beiden


196 DREIGESTIRNE<br />

Menschen – in Erziehung, Ausbildung und Beruf, aber auch<br />

<strong>im</strong> Fühlen, Denken und Wissen! Vereint sind sie nur in der<br />

Liebe zu ihr.<br />

Vielleicht ergeben sich Verständigungsmöglichkeiten zwischen<br />

ihrem Vater und ihrem Peter <strong>im</strong> Streben nach Erkenntnis,<br />

nach Wahrheit? Aber selbst hier gehen sie eigene,<br />

voneinander verschiedene Wege. So hofft Inge darauf, daß vor<br />

allem ihr Vater dazu beitragen möge, daß der heutige Abend<br />

nicht zu einem Desaster wird. Er kann auch andere, ganz<br />

andere Menschen verstehen. Und er kann, wie kaum ein anderer,<br />

Brücken schlagen.<br />

Auf jeden Fall wird der heutige Abend für ihr Leben von<br />

entscheidender Bedeutung sein. Ein Leben mit Peter ohne<br />

ihren Vater ist für sie unvorstellbar. Aber seit sie sich so<br />

richtig in Peter verliebt hat, erscheint es ihr auch undenkbar,<br />

ohne Peter zu leben.<br />

Inge hat jetzt einen Teil der Vorbereitungen erledigt. Sie<br />

kann sich eine kleine Pause gönnen. Ein Schwung – und schon<br />

sitzt sie auf dem hohen Küchenhocker. So kann sie die Beine<br />

baumeln und ausruhen lassen. Doch das währt nicht lange.<br />

Sie erinnert sich an den Manschettenknopf und an ihre Botschaft<br />

auf dem Papierbogen. Vielleicht hat der rechtmäßige<br />

Besitzer eine Zeile des Dankes hinterlassen? Mit umgebundener<br />

Küchenschürze läuft sie schnurstracks zur Bank auf<br />

dem Hügel, der Bank unter der großen Eiche. Die Bank ist<br />

leer. Links neben der Bank liegt der Stein. Aber ihr Papierbogen<br />

ist fort. Tief atmend vom Laufen sucht sie gebückt<br />

umher. Von ihrem Zettel findet sie keine Spur. “Schade”, sagt<br />

sie vor sich hin. Und sie denkt: ‘Jemand muß das Dankschreiben<br />

weggenommen haben.’ Keinen Augenblick zweifelt sie<br />

daran, daß der Manschettenknopf wieder in die Hände seines<br />

Eigentümers gelangt ist. ‘Schade!’ Sie läuft zurück zum Pastorenhaus,<br />

über Kiesweg und Brücke, links ab, den Hauptweg<br />

entlang, dritter Weg links – und schon steht sie vor dem


Vorbereitungen 197<br />

Holztor mit dem großen Kreuz. Durch den kleinen Vorgarten<br />

eilt sie ins Haus und dann, ganz schnell, in die Küche, daß nur<br />

ja alles besonders schön wird heute abend!<br />

Peter sitzt derweil in seinem Laboratorium. In der letzten<br />

Woche haben seine Exper<strong>im</strong>ente Ergebnisse erbracht, die er<br />

so nicht erwartet hatte. Das hat seine Planungen über den<br />

Haufen geworfen. Nun muß er seine Konzeption ändern, neue<br />

Versuche ausarbeiten und durchführen. Das kostet Zeit. Erhebliche<br />

Zeit, die in seinem Programm nicht vorgesehen war.<br />

Ärgerlich! Aber insgesamt ist er mit den Resultaten seiner<br />

Forschungsarbeit zufrieden. Seine Publikationen haben <strong>im</strong><br />

In- und Ausland ein positives Echo gefunden. Er erfreut sich<br />

internationaler Anerkennung, und das ist für einen so jungen<br />

Wissenschaftler keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Vor<br />

drei Monaten hatte er sich habilitiert, mit einer Arbeit über<br />

die Evolution und Ökologie einhe<strong>im</strong>ischer Gräser. Nun ist er<br />

der jüngste Privatdozent in der Fakultät.<br />

Heute abend wird er Gast sein <strong>im</strong> Pastorenhaus. Wer in<br />

aller Welt hätte das gedacht, ausgerechnet er <strong>im</strong> Pastorenhaus!<br />

Und bis über beide Ohren verliebt in eine Pastorentochter!<br />

Er, dieser unverbesserliche Heide, dieser Ketzer. Peter<br />

schmunzelt.<br />

Aber nun wird er ernst. Heute abend wird er zum ersten<br />

Mal Inges Vater gegenüberstehen. Seit Tagen hat er versucht,<br />

sich auf das Zusammentreffen mit dem Pastor vorzubereiten.<br />

Immer wieder hat er darüber nachgedacht. Ja, er hat sogar<br />

schon davon geträumt. Aber wie kann man sich denn wirklich,<br />

realistisch, auf so ein Treffen, auf so einen ersten Besuch<br />

vorbereiten? Jede Vorstellung über den Verlauf des Abends,<br />

über das Gespräch mit dem Pastor, ging anders aus. Dennoch:<br />

der heutige Abend wird für Inge und für ihn von größter<br />

Bedeutung sein. Er fühlt, er weiß: ein Konflikt zwischen dem<br />

Pastor und ihm ist unausweichlich. Zu unterschiedlich sind<br />

die Welten, in denen sie leben. Und er weiß um seine Schwä-


198 DREIGESTIRNE<br />

chen als Diskussionspartner. Schon oft haben ihn seine Kollegen<br />

darauf hingewiesen. Sein hartnäckiges kompromißloses<br />

Streben nach Logik und Wahrheit kann andere schnell<br />

verletzen.<br />

Be<strong>im</strong> Pastor<br />

Als Peter drei Stunden später in dunklem Anzug, weißem<br />

Hemd und roter Krawatte mit weißen Punkten vor dem<br />

Gartentor mit dem großen Kreuz steht, da kommt ihm Inge<br />

schon entgegengesprungen. So stürmisch ist die Umarmung,<br />

daß er fast das Gleichgewicht verliert und zunächst völlig<br />

vergißt, ihr den Strauß roter Rosen zu überreichen. Mit<br />

klopfendem Herzen führt Inge ihren Peter an der Hand durch<br />

den Garten ins Haus. In der kleinen Vorhalle küssen sich die<br />

beiden. Dann n<strong>im</strong>mt Inge die Rosen in Empfang, bringt sie in<br />

die Küche und stellt sie in eine Vase.<br />

Peter sieht sich um. Für ihn ist dies ein großes Haus. Alt, ja,<br />

aber eindrucksvoll. Durch die halboffene zweiflügelige Tür<br />

kann er einen Teil des Wohnz<strong>im</strong>mers sehen. Strenge Möbel.<br />

Schöne Teppiche. Eine große Vase mit bunten Gartenblumen.<br />

Und über allem schwebt der Duft guter Zigarren.<br />

Inge hakt sich bei Peter ein und geht mit ihm ins Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />

Da steht der Pastor. Groß ist er, mit schneeweiß gelocktem<br />

Haar und einem gütigen, von der Sonne leicht gebräunten<br />

Gesicht. Der Mund hat jenen unverwechselbaren<br />

Ausdruck, der nur Lebenserfahrenen und Schicksalsgeprüften<br />

eigen ist. Die sanften graublauen Augen nehmen gefangen<br />

durch einen eindringlichen Glanz. ‘Ja’, denkt Peter, ‘das ist<br />

Inges Vater. Wie anders hätte er auch aussehen können!’ Er<br />

macht eine artige Verbeugung und sagt: “Herzlichen Dank,<br />

Herr Pastor, für die freundliche Einladung.” Auch der Pastor<br />

verneigt sich, ganz leicht nur, aber begleitet von einem warmen<br />

Willkommensblick. In seinen Augen leuchtet so etwas


Be<strong>im</strong> Pastor 199<br />

wie Erleichterung. ‘Das ist ja ein netter junger Mann’, denkt<br />

er. “Herzlich willkommen, Herr Doktor! Meine Tochter hat<br />

mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, daß ich Sie<br />

kennenlernen darf.” Die St<strong>im</strong>me des Pastors ist angenehm,<br />

tief und tragend, wie die eines Baritons. Sie strahlt innere<br />

Harmonie aus und gedämpfte Ruhe.<br />

Der Pastor geleitet den jungen Wissenschaftler durchs<br />

Wohnz<strong>im</strong>mer zu einer Sitzgruppe. Sie besteht aus einem runden<br />

Eichentisch und drei darum gruppierten dunkelbraunen<br />

Ledersesseln. “Bitte nehmen Sie Platz.”<br />

“Danke.” Peter sieht sich um. “Sie haben ein sehr schönes<br />

Haus”, sagt er. “Und ein großes dazu.”<br />

“Das ist nicht mein Haus. Das ist sozusagen meine Dienstwohnung.<br />

Aber ich wohne und wirke hier nun schon seit fünfundzwanzig<br />

Jahren, und da habe auch ich das Gefühl, daß<br />

dies mein Haus ist. Meine Tochter und ich, wir leben hier bescheiden,<br />

aber wir sind sehr glücklich miteinander.”<br />

Der Pastor ergreift einen alten, mit Schnitzereien verzierten<br />

Holzkasten und öffnet den Deckel: “Zigarre?”<br />

“Nein danke, ich bin Pfeifenraucher.”<br />

“Na”, schmunzelt der Pastor, “da können wir ja gemeinsam<br />

die Luft hier verpesten – jeder auf seine Weise.” Während<br />

er seine Zigarre beschneidet, befeuchtet und anzündet, stopft<br />

sich Peter eine Pfeife, holt das Feuerzeug hervor und pafft<br />

den Tabak in Glut. Blau-graue Rauchwolken quellen, breiten<br />

sich aus, steigen, sich drehend und umeinanderwindend,<br />

sich trennend und wieder vereinigend, hinauf zur Z<strong>im</strong>merdecke.<br />

“Sie sind Wissenschaftler”, beginnt der Pastor das Gespräch<br />

und legt seine Zigarre mit einer ruhigen, nahezu<br />

zelebrierenden Bewegung in die von ihm bevorzugte der drei<br />

Dellen seines Aschenbechers.<br />

“Ja, Botaniker.”<br />

“Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit?”<br />

Peter berichtet dem Pastor in großen Zügen über seine For-


200 DREIGESTIRNE<br />

schungsarbeiten. Das geht ihm leicht von der Zunge. Und<br />

während er nun redet – vielleicht etwas mehr und etwas<br />

eifriger, als das bei einem ersten Besuch schicklich wäre – ist<br />

er froh, auf diese Weise die Spannung, die ihn erfüllt, etwas<br />

abbauen zu können. Dann reden die beiden über Inges Germanistikstudium,<br />

sie studiert <strong>im</strong> dritten Semester, und schließlich<br />

spricht Peter über den <strong>Park</strong>, wie groß er ist und wie schön.<br />

“Und wie herrlich muß es sein, <strong>im</strong> <strong>Park</strong> wohnen und arbeiten<br />

zu können.”<br />

“Ja”, nickt der Pastor, “das ist es.”<br />

Inge kommt herein von der Küche. Rasch wandern ihre Augen<br />

von dem einen zum anderen. ‘Gott sei Dank!’ denkt sie,<br />

‘bisher scheint alles in Ordnung zu sein.’ “Was trinken die<br />

Herren, was darf ich bringen?”<br />

“Nichts”, antwortet der Pastor und zwinkert Peter zu. “Das<br />

ist meine Sache. Herr Doktor, was darf’s sein? Ich …”<br />

“Oh, bitte, Vater”, unterbricht Inge, “bitte sag Peter zu ihm.<br />

Herr Doktor, das klingt so fremd, so distanziert.”<br />

Der Pastor sieht Peter an. Als der, nachdrücklich nickend,<br />

Zust<strong>im</strong>mung signalisiert, wiederholt er seine Frage. “Also<br />

Peter, was trinken Sie? Sherry, Wein oder Orangensaft?”<br />

“Sherry, wenn ich darf.”<br />

“Und du, Inge?”<br />

“Wein.”<br />

Der Pastor erhebt sich und geht in ein Nebenz<strong>im</strong>mer.<br />

“Wie ist es gegangen?” flüstert Inge aufgeregt.<br />

“Bis jetzt gut.” Peter sieht ihr an, wie sehr sie sich sorgt.<br />

“Gott sei Dank! Ich hoffe, ich wünsche mir so sehr, daß es so<br />

bleibt!”<br />

“Ich werde mir große Mühe geben, mein Ketzertum für mich<br />

zu behalten”, grinst Peter.<br />

“Ach, du …”<br />

Peter streichelt Inges Arm. Sie beugt sich zu ihm hinunter.<br />

Die beiden küssen einander.<br />

Klirren von Glas dringt zu ihnen herüber. Der Pastor han-


tiert mit Gläsern und Flaschen. Jetzt kommt er, ein Tablett<br />

vor sich hertragend, zurück. Peter erhebt sich. Zuerst reicht<br />

der Pastor ihm den Sherry, dann Inge den Wein. Er selbst hat<br />

sich auch ein Glas Sherry eingeschenkt.<br />

“Zum Wohl ihr beiden!”<br />

“Zum Wohl.”<br />

“Auf einen guten Abend”, sagt der Pastor.<br />

“Auf einen guten Abend”, antwortet Peter.<br />

Die drei stoßen miteinander an. Nachdem jeder einen<br />

Schluck zu sich genommen hat, blickt der Pastor zuerst Peter<br />

an und dann Inge, hebt noch einmal kurz das Glas, nickt, und<br />

dann fragt er seine Tochter: “Na, wie weit bist du?”<br />

“Bitte habt Geduld. Ich möchte heute alles besonders schön<br />

richten.”<br />

Die beiden Männer machen es sich in den Ledersesseln<br />

bequem. “Wie wär’s mit einem Feuerchen?”, fragt der Pastor<br />

und weist mit dem Kopf zum Kamin.<br />

“Sehr gern. Das ist so schön gemütlich.”<br />

Der Pastor öffnet die Abzugsklappe, schiebt Zeitungspapier<br />

unter die sorgfältig geschichteten Holzscheite und entzündet<br />

es. Flammen züngeln. Rasch fangen trockene Zweige Feuer.<br />

Im Kamin beginnt es zu knistern und zu knacken, und schon<br />

bald strahlen flackernder Feuerschein und wohlige Wärme<br />

ins Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />

Der Pastor hat erneut in seinem Sessel Platz genommen.<br />

“Zum Wohl”, sagt er und hebt sein Glas.<br />

“Zum Wohl.”<br />

Schweigen. Langes, tiefes Schweigen.<br />

Intelligenz<br />

Intelligenz 201<br />

Peter sucht nach einem Thema für den Einstieg in ein<br />

Gespräch. ‘Religion scheidet aus’, sagt er sich abermals. Wie<br />

könnte man auch ernsthaft mit einem Pastor über Religion


202 DREIGESTIRNE<br />

diskutieren? Jeder, der einem Dogma, ob nun in der Religion<br />

oder in der Politik, verpflichtet ist, fällt als Gesprächspartner<br />

für dessen Erörterung aus. In einer Diskussion muß man die<br />

eigene Auffassung zur Disposition stellen können, die Argumente<br />

des anderen ernst nehmen und, wenn sie Logik und<br />

Beweiskraft enthalten, auch akzeptieren. Oder man muß sie,<br />

ebenfalls mit Logik und Beweiskraft, widerlegen. Nur so kann<br />

ein Gespräch fruchtbar sein. Ein fruchtbares Gespräch aber<br />

kann niemand führen, der von vornherein mit einer<br />

festgefügten Meinung antritt. Solche Leute wollen nur<br />

belehren, missionieren.<br />

Da kommt ihm der Pastor zu Hilfe: “In der vorigen Woche<br />

habe ich ein interessantes Buch gelesen. Der Autor erörtert<br />

das Verhalten der Tiere, stellt hier und da Vergleiche an zwischen<br />

Mensch und Tier, und dann spricht er auch einem Tier,<br />

jedenfalls einem höher entwickelten, Intelligenz zu. Was meinen<br />

Sie dazu als Ökologe?”<br />

“Um nicht aneinander vorbeizureden, müssen wir uns<br />

zunächst einmal darüber einigen, was wir unter Intelligenz<br />

verstehen wollen.”<br />

Jedes Wort bedenkend sagt der Pastor langsam: “Für mich<br />

ist Intelligenz nicht so sehr eine einzelne Eigenschaft. Eher die<br />

Summe verschiedener Fähigkeiten, die <strong>im</strong> Resultat eine Bewältigung<br />

neuer Aufgaben und neuer Situationen ermöglichen.”<br />

Peter nickt.<br />

“Intelligenz ist die Schwester der Kreativität”, fährt der<br />

Pastor fort. “Sie ist die Voraussetzung für eine kritische Würdigung,<br />

<strong>Inter</strong>pretation und Lösung von Problemen – wissenschaftlichen,<br />

religiösen, literarischen, sozialen, politischen.”<br />

“Vor allem der erste Teil Ihrer Definition hat meiner Ansicht<br />

nach unmittelbare Beziehung zu Ihrer Frage. Und dem kann<br />

ich voll zust<strong>im</strong>men.” Peter pafft. “Gehen wir also einmal davon<br />

aus, daß Intelligenz das Vermögen beinhaltet, neue Aufgaben,<br />

Anforderungen und Situationen zu bewältigen.” Er<br />

sieht den Pastor an.


Intelligenz 203<br />

Der nickt.<br />

“In diesem Sinne müssen wir Tieren zweifellos Intelligenz<br />

zubilligen. Denken Sie nur einmal an eine Katze, die zum<br />

erstenmal einen für sie neuen Raum betritt. Sie betrachtet,<br />

bewittert und betastet jeden Gegenstand. Sie n<strong>im</strong>mt alles für<br />

sie Neue ganz konzentriert – man kann sie dabei kaum<br />

ablenken – in sich auf. Ähnlich verhält sich die Katze in<br />

einem für sie neuen Revier in der freien Natur. Sie<br />

kundschaftet es genau aus. Und sie merkt sich mit großer<br />

Sorgfalt eine Fülle von Einzelheiten. So bewältigt sie die neue<br />

Aufgabe, sich in diesem Revier zurechtzufinden. Und sie stellt<br />

sich auf neue Situationen ein: neue Jagdmöglichkeiten, neue<br />

Fluchtmöglichkeiten, neue Versteckmöglichkeiten. Dieses<br />

Verhalten entspricht Ihrer Definition von Intelligenz.”<br />

“Einverstanden.”<br />

“Tiere müssen oft neue Aufgaben und Anforderungen<br />

bewältigen und sich auf neue Situationen einstellen. Bei einer<br />

Taube, zum Beispiel, ist der normale Fluchtabstand zum Menschen<br />

in freier Wildbahn vierzig, fünfzig Meter oder mehr. In<br />

der Stadt aber kann eine Taube oft nur von Speiseresten überleben,<br />

die von den Tischen eines Straßenrestaurants fallen.<br />

Auf einer belebten Straße laufen Tauben zwischen den Beinen<br />

der Menschen umher. Sie haben sich auf eine neue Situation<br />

eingestellt. Sie haben das Problem bewältigt, sich neue Nahrungsquellen<br />

zu erschließen und sich in einer Stadt einzurichten.”<br />

Der Pastor nickt.<br />

“Das sind nur zwei Beispiele tierischer Intelligenz und sicher<br />

nicht die eindrucksvollsten.”<br />

“Sehr intessant und durchaus plausibel.”<br />

Dann aber sagt Peter etwas, das den Pastor überrascht:<br />

“Bisher haben wir nur über Intelligenz gesprochen, die an ein<br />

Individuum gebunden ist.”<br />

“Gewiß. Gibt es eine andere?”<br />

“Meiner Ansicht nach ja. In der Evolution geschehen Ent-


204 DREIGESTIRNE<br />

wicklungen, die so kompliziert sind und in sich so logisch, so<br />

offensichtlich darauf ausgerichtet, neue Aufgaben zu bewältigen<br />

und neue Situationen zu berücksichtigen, daß ich hier<br />

von Intelligenz sprechen möchte – von einer überindividuellen,<br />

einer evolutiven Intelligenz. Das gilt nicht nur für<br />

Tiere, sondern auch für Pflanzen und für Mikroorganismen.<br />

Für mich ist Intelligenz eine grundsätzliche Eigenschaft der<br />

Natur.”<br />

“Das ist neu für mich. Das müssen Sie mir bitte erläutern.<br />

Was verstehen Sie unter überindividueller Intelligenz?”<br />

“Ein Beispiel ist die Wechselbeziehung zwischen unserer<br />

Fledermaus und ihrer Beute, Insekten. Aus paläontologischen<br />

Funden und Verhaltensstudien ergibt sich ein faszinierendes<br />

Bild von den Möglichkeiten der Fledermaus, <strong>im</strong><br />

Laufe vieler Generationen neue Aufgaben, Anforderungen<br />

und Situationen zu bewältigen. Ursprünglich ein bodenlebendes<br />

Tier, hat sie in Hunderttausenden von Jahren einen<br />

Flugapparat ausgebildet, fliegen gelernt, und sich so eine<br />

Nahrungsnische <strong>im</strong> Luftraum erobert. Als Säugetier konnte<br />

sie nun, wie ein Vogel, Insekten nachstellen, die schon vor ihr<br />

fliegen gelernt hatten. In der Luft jedoch gab es Vögel, die ihr<br />

die Nahrung streitig machten, und auch einige, die sie als<br />

Beute nutzten. So mußte die Fledermaus in den Schutz der<br />

Dunkelheit ausweichen. Wie aber sollte sie in der Dunkelheit<br />

Insekten aufspüren und fangen? Auch diese neue Anforderung<br />

hat sie bewältigt: Sie hat, wie Sie vermutlich wissen,<br />

das Prinzip der Echoorientierung, das Sonar, erfunden – also<br />

eine Art Radar, aber ein viel besseres und viel feineres Radar,<br />

als wir Menschen es mit unserer Individualintelligenz Hunderttausende<br />

von Jahren später entwickelt haben. Die Fledermaustechnik<br />

können wir auch heute noch nicht<br />

nachbauen.”<br />

Der Pastor wiegt den Kopf.<br />

“Wie Sie vermutlich ebenfalls wissen”, fährt Peter fort, “sendet<br />

die Fledermaus hochfrequente Schreitöne aus, oberhalb


Intelligenz 205<br />

der Grenze menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeit. Aus<br />

dem von Gegenständen ihrer Umgebung zurückgeworfenen<br />

und von der Fledermaus empfangenen Echo der Schreitöne<br />

konstruiert sie blitzschnell ein gehörtes Raumbild. Selbst<br />

wenn Hunderte von Fledermäusen gleichzeitig jagen, ist es<br />

nicht möglich, sie durch das Abspielen von Tonbändern mit<br />

ihren eigenen St<strong>im</strong>men, die dem Geschreikonzert hinzugefügt<br />

werden, zu verwirrren. Eine phantastische Leistung und eine<br />

hochintelligente dazu!”<br />

“Ja, ein Wunder der Natur. Ein Wunder der göttlichen<br />

Schöpfung.”<br />

“Man kann das auch so sagen. Aber all das existierte ja<br />

nicht am Ende des letzten Tages der Schöpfung, als der<br />

Christengott laut Bibel sein Werk vollendet hatte. Es hat<br />

sich nachweislich über sehr lange Zeitspannen hinweg ereignet,<br />

<strong>im</strong> Verlauf eines ständigen Agierens und Reagierens<br />

der beteiligten Geschöpfe und unter dem Einfluß ihrer Umwelt.<br />

Und so etwas passiert auch heute noch, jeden Tag und<br />

<strong>im</strong>mer wieder.”<br />

Der Pastor legt Holz nach. Über die Schulter sagt er:<br />

“Darüber ist viel diskutiert worden, auch in meiner<br />

Gemeinde. Die christliche Kirche behauptet heute nicht<br />

mehr, daß mit dem Ende der biblischen Schöpfungsgeschichte<br />

alles abgeschlossen war. Heutzutage wird das ursprüngliche<br />

Verständnis der Schöpfung in weiten Teilen den Erkenntnissen<br />

der Naturwissenschaften angepaßt. Es ist Raum<br />

in der christlichen Religion, auch für eine sich entwickelnde<br />

Natur.”<br />

“Die christliche Schöpfungslehre hat sich erst unter dem<br />

Druck nicht mehr zu widerlegender Tatsachen zu einer Korrektur<br />

bequemt. Weitere Korrekturen werden folgen. Vermutlich<br />

aber auch in Zukunft <strong>im</strong>mer erst mit erheblicher Verspätung.”<br />

Der Pastor unterdrückt eine Entgegnung.


206 DREIGESTIRNE<br />

Lebensprozeß<br />

“Wie dem auch sei”, fährt Peter unbekümmert fort,<br />

“für mich manifestiert sich in der Entwicklung des Fledermaussonars<br />

eine grundsätzliche Form der Intelligenz. Eine<br />

überindividuelle, evolutive Intelligenz des Lebensprozesses<br />

selbst.”<br />

“Was ist das, der Lebensprozeß?”<br />

“Das ist ein Begriff, der meinen Vorstellungen entwachsen<br />

ist. Für die Natur spielt das Individuum eine untergeordnete<br />

Rolle, <strong>im</strong> Gegensatz zu unseren menschlichen Erfahrungen<br />

und Vorstellungen, bei denen ja alles von Individuen empfunden<br />

wird, alles von Individuen ausgeht.”<br />

“Individuen sind die Basis allen Lebens.”<br />

“Individuen sind kurzlebige Raum-Zeitgestalten, in denen<br />

sich der augenblickliche Status des Lebensprozesses manifestiert.<br />

Bildhaft ausgedrückt: Individuen sind die rasch vorübergehend<br />

aufflammenden Fackeln <strong>im</strong> langen, Milliarden<br />

von Jahren dauernden Fackelzug des Lebensprozesses.”<br />

“Sie glauben nicht an ein Weiterleben von Individuen nach<br />

dem Tod?”<br />

“Nein.”<br />

“Was sagen Sie zu neuen Forschungsergebnissen, nach<br />

denen einfaches Leben, Bakteriensporen, über Hunderttausende<br />

von Jahren lebensfähig geblieben sind? Das ist doch<br />

keine rasch vorübergehend aufflammende Fackel. Oder?”<br />

“Diese Befunde bedürfen der Überprüfung. Es muß nachgewiesen<br />

werden, daß es sich wirklich um so alte Sporen<br />

handelt und nicht um später dazugekommene.”<br />

“Und wenn sich bei der Überprüfung herausstellen sollte,<br />

daß dieses Leben tatsächlich Hunderttausende von Jahren<br />

überdauern konnte?”<br />

“Im Zustand latenten Lebens kann die Lebensuhr sehr, sehr<br />

langsam ticken, zum Beispiel in der Spore eines Bakteriums.<br />

Aber wenn die Uhr abgelaufen ist, bleibt sie stehen. Keine


Lebensprozeß 207<br />

Macht der Welt kann sie dazu bringen, weiterzulaufen. Die<br />

Uhr wird aufgezogen, wenn ein neues Individuum entsteht,<br />

sie tickt während seines Lebens, und sie kommt zum unwiderruflichen<br />

Stillstand, wenn ihre Antriebskraft aufgebraucht<br />

ist. Die Einmaligkeit und die begrenzte Lebensspanne eines<br />

Individuums sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung<br />

des vielartigen Lebens, das wir auf der Erde vorfinden.”<br />

“Und der Lebensprozeß?”<br />

“Der Lebensprozeß umfaßt alle lebenden Arten. Davon sind<br />

der Wissenschaft gegenwärtig rund zwei Millionen bekannt.<br />

Und er umfaßt alle Kräfte, die das Entstehen, Reifen und<br />

Vergehen dieser Arten steuern. Keine der zwei Millionen<br />

Arten, auch nicht der Mensch, ist für sich allein lebensfähig.<br />

Irdisches Leben hat sich in Systemen verschiedener, koexistierender<br />

Arten entwickelt. Nur in diesen Systemen kann es<br />

sich erhalten. In den Kräften, die die Dynamik dieser Systeme<br />

steuern, liegt das wirkliche Wesen des Lebens.”<br />

“Einen Augenblick!”, ruft der Pastor und erhebt die Hand,<br />

“wo bleibt denn da der Herr Darwin mit seiner auf Individuen<br />

basierenden Variation und Selektion?”<br />

“Im Individuum entwirft und testet der Lebensprozeß neue<br />

Strukturen und Funktionen. Hier würfelt er <strong>im</strong> Wirkungsfeld<br />

von Konkurrenz, Ressourcenknappheit, Anpassung und Auslese<br />

um die Entstehung und Weiterentwicklung neuer Arten,<br />

um Ausdruck und Richtung seiner Gestaltungsmöglichkeiten<br />

unter den jeweils gegebenen Bedingungen.”<br />

Peter klopft seine Pfeife aus <strong>im</strong> Aschenbecher und legt sie<br />

auf einen kleinen Teller, der auf dem Eichentisch steht. “Darwin<br />

hat nachgewiesen, daß eine Evolution <strong>im</strong> Reich des Lebendigen<br />

stattfindet und daß Individuen, die besser angepaßt<br />

sind, eine größere Chance haben, sich zu vermehren. Seine<br />

sorgfältigen und umfangreichen Beobachtungen hat Darwin<br />

zu erklären versucht durch die Annahme zufallsbedingter<br />

Variationen und einer Begünstigung der vorteilhafteren Form<br />

<strong>im</strong> Existenzkampf. Seine Theorien haben das Denken der


208 DREIGESTIRNE<br />

Naturwissenschaftler in starkem Maße beeinflußt und<br />

nachhaltig befruchtet.”<br />

“Und? Was kritisieren Sie?”<br />

“Es gibt zu vieles, das Darwins Theorien nicht zu erklären<br />

vermögen. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß Darwins<br />

Vorstellungen nur Randaspekte der Entwicklung des Lebens<br />

beleuchten. Darwin hat dem Zufall und dem von uns unmittelbar<br />

Erlebbaren zu viel Bedeutung beigemessen. Meiner<br />

Ansicht nach geht der Darwinismus an Wesentlichem vorbei.”<br />

“Was ist denn Ihrer Ansicht nach das Wesentliche?”<br />

“Für mich liegt das Wesentliche in den universumweiten<br />

Reifungs- und Ausfächerungsvorgängen. Im Verlauf von Milliarden<br />

von Jahren best<strong>im</strong>men sie die sich wandelnden Formen<br />

der Materie. Sie steuern alle Entwicklungen des Leblosen<br />

und des Lebenden. Individuen und Arten sind ein Teil der für<br />

uns sichtbar werdenden Wirkungen dieser Grundvorgänge.<br />

Machtvoll und unaufhaltsam drängen sie vorwärts, <strong>im</strong>mer<br />

nur vorwärts, einem uns nicht bekannten Ziel entgegen. Immer<br />

wieder erzwingen sie neue, miteinander in vielfältiger<br />

Weise verflochtene, sich gegenseitig beeinflussende, nur vorübergehend<br />

ausbalancierte Fließgleichgewichte. Ein ewiger<br />

Strom von Aufbau, Umbau und Abbau, von Erhaltung und<br />

Veränderung, von Schöpfung und Vernichtung.”<br />

“Und wohin soll das führen? Ich meine in bezug auf die<br />

Evolution des Lebendigen?”<br />

“Zu einer sich fortschreibenden Differenzierung und Diversifikation.<br />

Die Entstehung neuer Arten ist ein Teilaspekt<br />

dieses umfassenden Ganzen.”<br />

“Ich sehe da keine Ordnungsprinzipien.”<br />

“Ein stärkeres Energiesystem entzieht einem schwächeren<br />

Energie. Aber ein und dasselbe System kann <strong>im</strong>mer nur eine<br />

begrenzte Menge an Energie, Informationen und Strategien<br />

in sich aufnehmen. Das Anreichern von Energie, das Festschreiben<br />

von Bewährtem und das Ausprobieren und Anwenden<br />

von Neuem sind in ein und demselben System zeitlich


Lebensprozeß 209<br />

und räumlich nur begrenzt vereinbar. Sobald ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Ausmaß an Systembefrachtung überschritten wird, muß es<br />

zur Abspaltung, also zur Bildung eines neuen Systems<br />

kommen. Überfrachtung mit Strukturen, Funktionen und<br />

Programmen führt nicht zu weiterem Gewinn an<br />

Ausfächerungspotential, sondern zu Destabilisierung. Daraus<br />

erwächst die entscheidende Triebfeder für die Entstehung<br />

und Entfaltung neuer Energie-Materie-Konstellationen, also<br />

auch neuer Arten. Wenn Stabilität verlorengeht, kann die<br />

Entstehung eines neuen Systems, einer neuen Lebensform,<br />

sich schnell vollziehen. So können auch große Veränderungen<br />

in der Evolution sozusagen <strong>im</strong> Sprung stattfinden.”<br />

“Eine für mich fremde, aber faszinierende Perspektive. Wie<br />

soll das <strong>im</strong> einzelnen funktionieren?”<br />

“Eine Art besitzt einen gemeinsamen Eigenschaftspool. Der<br />

ist das Ergebnis evolutiver Kräfte. Im Laufe der Zeit können<br />

Veränderungen in den evolutiv wirksamen Faktoren zu einer<br />

Destabilisierung der Harmonie innerhalb des Pools führen<br />

und damit zu einer Tendenz zum Ausgliedern. Abgetrenntes<br />

strebt nach eigener Stabilität. So entsteht ein neues System.<br />

Das geht sofort auf Distanz, um seine Identität nicht wieder<br />

zu verlieren. Der Zwang zur ausfächernden Diversifikation,<br />

die Dynamik zwischen Einbindung und Abtrennung, zwischen<br />

Nähe und Distanz, zwischen Anziehung und Abstoßung,<br />

das sind die Grundkräfte der Natur.”<br />

Nachdenklich zieht der Pastor an seiner Zigarre. “Wie sollen<br />

neue Eigenschaften festgeschrieben und wie weitergegeben<br />

werden? Das geht doch nach allem, was die Biologen bisher an<br />

Wissen zutage gefördert haben, nur durch an Individuen gebundene<br />

Chromosomen, von Eltern auf Kinder.”<br />

“Die Beschaffung, Auswertung, Speicherung und Weitergabe<br />

von Informationen ist von zentraler Bedeutung für den<br />

Ausfächerungsplan lebender Materie. Ich vermute, daß die<br />

Natur dafür verschiedene, auch uns noch verborgen gebliebene<br />

Mechanismen ausgebildet hat.”


210 DREIGESTIRNE<br />

“Genetische Informationen wandern nicht nur von Eltern zu<br />

Kindern?”<br />

“Dieser vertikale Wanderweg ist der effektivste und häufigste,<br />

aber nicht der einzige. Genetische Informationen<br />

wandern auch horizontal zwischen verwandten, ja selbst<br />

zwischen nicht verwandten Organismen.”<br />

“Wie?”<br />

“Die Wissenschaft ist zur Zeit dabei, diese Dinge zu erforschen.<br />

Ein Weg ist bereits erkennbar: Transfer vererbbarer<br />

Information durch extrachromosomale, dynamische und<br />

relativ autonome DNA Moleküle. Mit ihrer Hilfe können sich<br />

in einer Mikrobenpopulation medikamenten-resistente Eigenschaften<br />

rasch horizontal ausbreiten. Ich vermute, daß Querfeldein-Austausch<br />

genetischer Elemente in der Evolution von<br />

Bedeutung sein kann.”<br />

“Wie soll sie funktionieren, die horizontale Weitergabe von<br />

Erbinformationen?”<br />

“Es gibt wandernde Erbinformationen, die durch best<strong>im</strong>mte<br />

Mikroorganismen in die Zellen artfremder Lebewesen eingeschleust<br />

und dort in das genetische Programm eingebaut<br />

werden können.”<br />

“Das verstehe ich nicht.”<br />

“Überall da, wo Trägereinheiten wandernden genetischen<br />

Materials direkten Kontakt herstellen mit Wirtszellen – durch<br />

Fusion, Plasmabrücken, verbindende Proteinfilamente – könnte<br />

dieses Material von der Zelle eines Organismus in die Zelle<br />

eines anderen Organismus hinüberwandern. Die zur Zeit viel<br />

diskutierte Gentechnik und den Gentransfer haben nicht die<br />

Menschen in die Welt gebracht. So etwas existiert seit langem<br />

in der Natur.”<br />

“Das würde Herrn Darwin aber doch wohl sehr beunruhigen.”<br />

“Möglich.” Peter nickt vergnügt. “Extrachromosomaler Erbinformationsfluß<br />

könnte eine Funktion haben in der langfristigen<br />

Gestaltung, Harmonisierung und Ausfächerung von


Lebensprozeß 211<br />

zwischenartlichen Beziehungen.”<br />

“Für einen Laien ist es nicht ganz einfach, Ihnen zu folgen.<br />

Ist das Erforschen derartiger Dinge nicht sehr schwierig?<br />

Übersteigt das nicht die Grenzen menschlicher Möglichkeiten<br />

– das dem Menschen von Gott Gegebene?”<br />

“Naturwissenschaft erforscht von Menschenhirnen erfahrbare,<br />

überprüfbare und reproduzierbare Zusammenhänge.<br />

Dabei späht sie <strong>im</strong>mer nur durchs Schlüsselloch. Die Tür<br />

zu wirklich umfassender Erkenntnis bleibt ihr verschlossen.”<br />

Peter umfaßt sein bärtiges Kinn und sagt, vor sich hin nikkend:<br />

“Und wenn wir denn die Tür öffnen könnten, so würden<br />

wir nichts sehen.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil all das wirklich Wesentliche, das unserere Welt<br />

gebiert und steuert, für uns Menschen unsichtbar ist und unerkennbar.”<br />

Der Pastor signalisiert Zust<strong>im</strong>mung. Das sieht er genauso:<br />

“Bis hieher sollst du kommen, sagt der Herr zu Hiob und nicht<br />

weiter; hie sollen sich legen deine stolzen Wellen!”<br />

Nachdenklich nickt Peter.<br />

“Die Wissenschaft ist also kurzsichtig?”<br />

“Ja.”<br />

“Würden Sie dann auch zugeben, daß die Wissenschaft auf<br />

einem Auge blind ist?”<br />

“Ja. Für mich sind die Ordnungsprinzipien, nach denen das<br />

Universum entsteht, reift und wieder vergeht, komplexer,<br />

wenn Sie so wollen gehe<strong>im</strong>nisvoller, als es die Naturwissenschaft<br />

ann<strong>im</strong>mt. Die Wissenschaft kann nicht ausschließen,<br />

daß Ordnungskräfte <strong>im</strong> Universum wirksam sind, von denen<br />

wir noch nicht die geringste Vorstellung haben. Wie gesagt:<br />

Im Bereich des Lebendigen fasse ich die entscheidenden<br />

hypothetischen Wirkungskräfte zusammen in dem Begriff<br />

‘Lebensprozeß’.”<br />

“Und da”, sagt der Pastor und schmunzelt, “sind wir wieder<br />

angelangt bei ihrem Wunderkind.”


212 DREIGESTIRNE<br />

“Ja. Ich vermute, daß der Lebensprozeß das Urprogramm<br />

enthält, das der Entstehung, Entfaltung, Reifung und Vernichtung<br />

des Lebens zugrundeliegt. Und daß in ihm auch die<br />

Basis ruht für die überindividuelle Intelligenz.”<br />

“Was für eine Form von Intelligenz meinen Sie jetzt?”<br />

“Ich meine Intelligenz wie wir sie vorhin definiert haben: die<br />

Fähigkeit, neue Aufgaben, Anforderungen und Situationen zu<br />

meistern.”<br />

Peter fährt mit den Fingerspitzen tastend <strong>im</strong> Bart herum.<br />

“Soweit ich sehe, sind diese Vorstellungen von der Wissenschaft<br />

bisher so nicht geäußert worden. Das ist Neuland.<br />

Das alles beschäftigt mich erst seit kurzem. Bitte nehmen<br />

Sie diese Dinge daher als das, was sie sind: meine Hypothesen.”<br />

Der Pastor nickt.<br />

“Das <strong>im</strong> Lebensprozeß enthaltene Organisationskonzept ist<br />

meiner Ansicht nach Teil der Gesamtorganisation des Universums.<br />

Es ist so umfassend, daß es bereits alle grundsätzlichen<br />

Konstruktionen und Funktionen der sich in Milliarden<br />

von Jahren entfaltenden Natur in sich trägt. Etwa so, wie in<br />

einer befruchteten Eizelle bereits das gesamte Grundprogramm<br />

des sich aus ihr entwickelnden Organismus enthalten<br />

ist. Die Entstehung und Ausfächerung von Arten ist ein Teil<br />

dieses Ganzen.”<br />

Der Pastor zieht an seiner Zigarre und legt sie dann<br />

nachdenklich in den Aschenbecher. Langsam spitzt er den<br />

Mund, schiebt die Unterlippe vor und senkt den Kopf. So<br />

verharrt er eine Weile. Dann macht er ein langgezogenes<br />

“Hhmmm”, hebt den Kopf und sieht den jungen<br />

Wissenschaftler fragend an: “Ihr Lebensprozeß, ist das etwas<br />

Materielles, etwas gegenständlich Faßbares?”<br />

“Nein.”<br />

“Könnte man dann sagen, der Lebensprozeß sei eine Idee?”<br />

“In gewisser Weise schon. Aber eine Idee <strong>im</strong> Sinne von elementarem<br />

Wesensinhalt, nicht <strong>im</strong> Sinne eines menschlichen


Denkvorganges.”<br />

“Dann ist Ihr Lebensprozeß vielleicht eine Entsprechung<br />

göttlicher Schöpfung?”<br />

Peter wiegt den Kopf und überlegt. Dann sagt er langsam:<br />

“Ja, das könnte man vielleicht so sagen.” Und er denkt: ‘Aber<br />

nicht mit Bezug auf Ihren menschenähnlichen Christengott,<br />

sondern mit Bezug auf ein allen Dingen und allen Vorgängen<br />

<strong>im</strong> Universum innewohnendes Organisationsprinzip, mit Bezug<br />

auf das, was für mich Gott ist.’<br />

Der Pastor streckt mechanisch, wie <strong>im</strong> Traum, seinen Arm<br />

aus und holt sich langsam seine Zigarre zurück aus dem<br />

Aschenbecher. Seine Gedanken sind jetzt ganz absorbiert von<br />

dieser Diskussion, die ihn in zunehmendem Maße gefangen<br />

n<strong>im</strong>mt. Er zieht an seiner Zigarre.<br />

Ökosysteme<br />

Ökosysteme 213<br />

Der Pastor überlegt. “Diese Systeme koexistierender Arten,<br />

die Sie vorhin erwähnt haben, woraus bestehen die?”<br />

“Diese Lebenssysteme, die Wissenschaft nennt sie Ökosysteme,<br />

bestehen aus lebloser Umwelt und verschiedenartigen<br />

Lebensformen. Die Teile eines Ökosystems sind vielschichtig<br />

miteinander vernetzt und verwoben. Sie beeinflussen<br />

sich gegenseitig. Die beteiligten Geschöpfe reagieren miteinander<br />

und gegeneinander, und sie nutzen einander als<br />

Quelle für Energie und Material. Durch Austausch-, Durchfluß-<br />

und Regulationsprozesse werden sie lebenserhaltend<br />

aneinander gekoppelt und mit ihrer Umwelt fest verknüpft –<br />

eine Schicksalsgemeinschaft.”<br />

“Eine Schicksalsgemeinschaft?”, wundert sich der Pastor.<br />

“Ja. Man könnte sogar sagen ein Überorganismus. Dessen<br />

Teile verbinden und koordinieren gemeinsame Entwicklungen<br />

und gemeinsame Muster rezirkulierender Materie und durchfließender<br />

Energie.”


214 DREIGESTIRNE<br />

“Wo gibt es denn solche Überorganismen?”<br />

“Hier. Der <strong>Park</strong> ist so ein Überorganismus.”<br />

“Das habe ich bisher nicht so gesehen.” Der Pastor ist<br />

überrascht. Aufke<strong>im</strong>ende Skepsis ringt mit dem festen<br />

Vorsatz, eine faire Diskussion zu führen.<br />

“Die Grenzen zwischen Ökosystemen sind nicht scharf. Der<br />

wissenschaftliche Ökologe best<strong>im</strong>mt sie anhand der Systemstrukturen<br />

und Systemfunktionen. Die Strukturen, das sind<br />

die beteiligten Arten und die Eigenschaften der Umwelt, also<br />

des Lebensraumes. Die Funktionen, das sind die<br />

Stoffwechselprozesse, also die Art und Intensität der<br />

Energieflüsse und des Austauschens und Verwandelns von<br />

Material. Die von der Wissenschaft auf diese Weise erkannten<br />

und untersuchten Systeme sind ihrerseits wiederum<br />

Komponenten größerer Systeme. Das ist nach oben hin offen.<br />

Man kann die ganze Erde als ein verwobenes System aus<br />

Lebendem und Leblosem ansehen.”<br />

Peter überlegt. Dann sagt er: “Lebenssysteme sind sehr anpassungs-<br />

und widerstandsfähig.”<br />

“Sooo? Gerade heute habe ich gelesen, daß die Nordsee<br />

stirbt. Nach Ihrer Definition doch auch ein Lebenssystem,<br />

oder?”<br />

“Ja.”<br />

“Es hieß in dem Bericht, daß bald alles Leben in der Nordsee<br />

erloschen sein wird, daß das Wasser der Nordsee bald<br />

keinerlei Leben mehr enthalten wird, jedenfalls dann nicht,<br />

wenn wir so weitermachen wie bisher.”<br />

“Das ist Unsinn. Selbst wenn alles höhere Leben – Seehunde,<br />

Vögel, Fische – sterben sollte, das Leben in der Nordsee<br />

würde weitergehen. Anderes Leben, ja, und auch ein anderes,<br />

verarmtes Lebenssystem. Aber die Nordsee würde<br />

nicht sterben, nicht ohne Leben sein.”<br />

“Wie können Sie da so sicher sein?”<br />

“Wissen Sie, wie schwierig es ist, das Leben in auch nur<br />

einem einzigen Liter Nordseewasser zu vernichten?”


Ökosysteme 215<br />

“Nein.”<br />

“Dazu müßten Sie diesen einen Liter auf 120 Grad erhitzen<br />

und gleichzeitig erhöhten Drücken aussetzen, und das mehrere<br />

Male nacheinander. Aber selbst dann könnten Sie nicht<br />

völlig sicher sein, daß wirklich alles Leben in diesem einen<br />

Liter Nordseewasser ausgelöscht ist.”<br />

“Das ist dann aber doch wohl ein sehr pr<strong>im</strong>itives Leben.”<br />

Peter wiegt den Kopf. “Ich würde eher von einem weniger<br />

eigenschaftsreichen oder weniger komplexen Leben sprechen.<br />

Pr<strong>im</strong>itiv ist eine derartig fabelhafte Überlebensleistung<br />

nicht.”<br />

Mit der Hand fächelt der Pastor Rauch beiseite.<br />

“Auf jeden Fall sind die Menschen nicht dazu in der Lage,<br />

das Leben in der Nordsee auszulöschen, ebenso wenig wie das<br />

Leben in anderen Teilen der Erde – und schon gar nicht den<br />

Lebensprozeß selber.”<br />

Der Pastor will etwas erwidern.<br />

Aber da sagt Peter auch schon: “Selbst diese zweifellos<br />

größten Bösewichte auf Erden schaffen das nicht. Mit all<br />

ihrem egoistischen Unverstand nicht und nicht mit all ihren<br />

Giften und Bomben. Aber die Menschen können gewaltigen<br />

Schaden anrichten, einen großen Teil der Schöpfung<br />

unwiderbringlich zerstören. Und da sind sie ja auch schon<br />

kräftig dabei. Viel ausgereiftes Leben können sie vernichten,<br />

sich selber eingeschlossen. Doch nach dem Verschwinden der<br />

Menschen wird der Lebensprozeß damit beginnen, sich zu<br />

regenerieren und zu reorganisieren. Allmählich wird er auch<br />

wieder komplexe Lebensformen ausbilden. Das könnte<br />

Hunderte von Millionen von Jahren dauern. Vielleicht würde<br />

die insgesamt noch zur Verfügung stehende Zeit – die Erde<br />

wird vermutlich höchstens noch einige Milliarden Jahre<br />

Leben tragen können – nicht ausreichen, um Lebenssysteme<br />

von der Ausgefächertheit, Ausgewogenheit und Formenfülle<br />

zu entwickeln, wie wir sie heute erleben dürfen.”<br />

Der Pastor sieht nach dem Feuer.


216 DREIGESTIRNE<br />

“In den Steuerungskräften der Lebenssysteme”, fährt Peter<br />

fort, nachdem der Pastor wieder in seinem Sessel Platz genommen<br />

hat, “liegt der Schlüssel für ein vertieftes Verständnis<br />

des Lebens auf der Erde. Die einzelne Art und das einzelne<br />

Individuum sind für die Natur unwichtig.”<br />

“Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?”<br />

“Die Natur geht sehr verschwenderisch mit ihnen um. In<br />

jeder Woche entstehen und vergehen Arten und in jeder Sekunde<br />

Trillionen von Individuen. Bei einem einzigen Fortpflanzungsgeschehen<br />

produziert ein einziger Baum, oder<br />

ein Fisch, Hunderttausende von Individuen, andere Geschöpfe<br />

sogar viele Millionen. Statistisch gesehen überleben<br />

davon bis zur Geschlechtsreife max<strong>im</strong>al eins oder zwei. Alle<br />

anderen Individuen verheizt die Natur als Betriebsstoff<br />

für den Lebensprozeß oder benutzt sie als Versuchskaninchen<br />

für das Ausprobieren zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten.”<br />

Der Pastor schüttelt den Kopf: “Wenn das wirklich so<br />

st<strong>im</strong>men würde, wie Sie es darstellen, warum dann überhaupt<br />

Individuen? Warum könnten die Lebenssysteme dann nicht<br />

aus einer formlosen Masse lebenden Materials bestehen?”<br />

“Die Lebenssysteme benötigen Individuen, also räumlich<br />

und zeitlich eng begrenzte Gestalten, weil sie in ihnen Energie<br />

und Materie aufnehmen und vorübergehend speichern,<br />

weil sie in ihnen Einzelheiten ihrer Informationen und Programme<br />

unterbringen und wirksam werden lassen können<br />

und weil Arten in ihnen zu evolvieren vermögen. Nur in<br />

eng begrenzten Raum-Zeit-Gestalten kann die für das Ausfächern<br />

organischen Lebens erforderliche Vielfalt entstehen.<br />

Geburt, Ernährung, Reifung, Fortpflanzung, Tod und Zerfall<br />

von Individuen, das sind die Zahnräder, mit denen die ständig<br />

durchs System fließende Energie den Motor des Lebensprozesses<br />

betreibt.”<br />

“Und was bewirkt das alles?”<br />

“Kanalisiertes Fließen von Energie und mustergebundenes


Rezirkulieren von Materie. So steuert die Natur die Reifung<br />

und Ausfächerung ihrer Erscheinungsformen.”<br />

“Offenbar ist für Sie auch ein Bakterium ein Individuum.<br />

Oder eine Amoebe.”<br />

“Einzeller sind die eigentlichen Individuen, sozusagen die<br />

Urindividuen. Vielzeller repräsentieren eine spätere Entwicklungsstufe,<br />

in der sich Zellindividuen zu einem Verband zusammengeschlosssen<br />

haben. So wurde eine Arbeitsteilung<br />

unter den Zellindividuen möglich. Die Verbände von Zellindividuen<br />

waren ökologisch sehr erfolgreich. Heute dominieren<br />

sie unsere Vorstellungswelt in einem solchen Ausmaß,<br />

daß wir sie – fälschlicherweise – für die eigentlichen Individuen<br />

halten.”<br />

Der Pastor schüttelt den Kopf. Das widerspricht all seinem<br />

Denken und Empfinden.<br />

“Der Aufbau ausgewogener Wechselbeziehungen zwischen<br />

einzelligen und vielzelligen Lebensformen führte zu der Natur,<br />

die wir heute erleben.”<br />

Kartoffel<br />

Kartoffel 217<br />

Peter überlegt. Dann sagt er: “Die Grenze zwischen Individuum<br />

und Lebenssystem ist nicht scharf. Weder bei einzelligen<br />

noch bei vielzelligen Lebensformen. Und auch zwischen<br />

Individuum und Umwelt gibt es keine scharfe Grenze.”<br />

“Aber damit wollen Sie doch wohl nicht sagen, daß man<br />

nicht exakt unterscheiden kann, wo ich aufhöre und wo dieser<br />

Eichentisch anfängt!” Der Pastor schmunzelt. Das ist ihm<br />

denn doch ein bißchen zu sehr an den Haaren herbeigezogen.<br />

“Selbst dabei gibt es Unschärfen.”<br />

“Oho!”<br />

“Bitte lassen Sie mich versuchen, das, was ich meine, an einem<br />

Beispiel zu erläutern. Wir werden bald zu Abend essen.”<br />

“Ich hoffe.”


218 DREIGESTIRNE<br />

“Das Essen, das dann auf Ihrem Teller sein wird, sagen wir<br />

mal eine Kartoffel, ist ebenso exakt von Ihnen zu<br />

unterscheiden wie dieser Eichentisch.”<br />

“Auch das hoffe ich”, lacht der Pastor, erhebt sich und legt<br />

zwei Holzscheite auf das müde gewordene Kaminfeuer.<br />

“Wenn Sie nun die Kartoffel in den Mund nehmen, so ist das<br />

noch <strong>im</strong>mer eine Kartoffel <strong>im</strong> Munde des Herrn Pastor. Jetzt<br />

zerkauen Sie die Kartoffel und schlucken sie hinunter. Die<br />

Kartoffel ist in Ihrem Magen. Und schon wird die Unterscheidung<br />

schwierig. Kein Mensch würde sagen, da sitzt der<br />

Herr Pastor mit einer Kartoffel <strong>im</strong> Magen. Aber nun geht es<br />

weiter. Die Kartoffel wird verdaut. Schon bald tauchen Komponenten<br />

von ihr in äußerlich veränderter Form in Ihrem Blut<br />

auf und werden schließlich in Ihre Zellen eingebaut, sie<br />

werden Bestandteil Ihres Körpers. Die Kartoffel ist zum<br />

Pastor geworden!”<br />

Beide lachen.<br />

“Und irgendwann wird das, was einmal die Kartoffel war,<br />

Ihren Körper auch wieder verlassen. Wie jeder andere Organismus,<br />

so n<strong>im</strong>mt auch der Mensch ständig Umwelt in sich<br />

auf – Nahrung, Mineralien, Flüssigkeit, Luft – und gibt all<br />

das wieder an die Umwelt zurück. Die Umwelt, lebende und<br />

leblose, fließt <strong>im</strong>merfort durch Lebewesen hindurch. Auch <strong>im</strong><br />

Holz dieses Eichentisches befindet sich Materie, die früher<br />

einmal Teil anderer lebender Strukturen gewesen ist, vermutlich<br />

auch menschlicher Körper. Und die Materie, die zur Zeit<br />

<strong>im</strong> Holz dieses Tisches gebunden ist, wird irgendwann einmal<br />

wieder frei werden und am Aufbau anderer Strukturen beteiligt<br />

sein. Wo ist da die exakte Grenze zwischen Leben und<br />

Umwelt? Zwischen Individuum und Lebenssystem?” Ganz in<br />

Gedanken eingetaucht schüttelt Peter langsam den Kopf. “Es<br />

gibt keine scharfe Grenze.”<br />

Beide schweigen.<br />

Nach einer Weile sagt Peter: “Auch in den Wirkungsbeziehungen<br />

zwischen Mensch und Umwelt gibt es keine klare


Grenze. Die Auswirkungen der Aktivitäten menschlicher Gesellschaften<br />

reichen weit in die Umwelt hinein, bis in die<br />

tiefsten Tiefen der Ozeane und bis in die höchsten Höhen der<br />

Stratosphäre, ja bis weit hinaus in den Weltraum. Und von<br />

überall dort wirkt Umwelt zurück auf den Menschen.”<br />

“<strong>Inter</strong>essant und in vieler Hinsicht neu für mich. Ich muß<br />

darüber nachdenken. Im Ganzen aber kann ich nur wiederholen,<br />

was ich vorhin bereits angedeutet habe: Wir begreifen<br />

eben erst sehr langsam und mit großem Forschungsaufwand,<br />

wie kompliziert die Welt wirklich ist und wie großartig … die<br />

Welt, die Gott erschaffen hat.”<br />

“Ja Gott, aber was ist das?”<br />

Abendessen<br />

Abendessen 219<br />

Ein rasselnd quietschendes Geräusch läßt Peter auffahren.<br />

Inge öffnet die Schiebetür zum Eßz<strong>im</strong>mer. Und nun steht sie<br />

vor dem mit Sorgfalt und Liebe hergerichteten Eßtisch, <strong>im</strong><br />

langen weißen Abendkleid. Wie die Prinzessin aus einem<br />

Märchen. Ihre blonden Haare fließen weit herab auf ihre<br />

nackten Schultern. Links in den Haaren steckt, als wäre sie<br />

dort gewachsen, eine der roten Rosen, die Peter ihr überreicht<br />

hatte. Ein überirdisch schönes Bild. Die beiden Männer sind<br />

bewegt. Inge macht einen Knicks und sagt mit strahlendem<br />

Lächeln: “Darf ich bitten, meine Herren. Es ist angerichtet.”<br />

Auf dem mit weißem Tuch bedeckten Tisch steht formschönes<br />

Geschirr, weiß mit dunkelrotem Rand, auf Sets, die <strong>im</strong><br />

Farbton dazu passen. Daneben liegen weiße, kunstvoll<br />

gefaltete Servietten und mattleuchtendes Tafelsilber. Links<br />

und rechts auf dem Tisch stecken, in silbernen Haltern mit<br />

viereckigen geriffelten Füßen, je zwei große rote, brennende<br />

Kerzen, und in der Mitte des Tisches prangt, alles<br />

überstrahlend, eine weiße Vase mit Peters roten Rosen. Alles<br />

in allem: eine wahre Augenweide.


220 DREIGESTIRNE<br />

Als die drei am Tisch stehen, weist der Pastor einladend auf<br />

einen Stuhl und lächelt Peter an. Der macht eine Verbeugung<br />

und schickt sich an, Platz zu nehmen. Doch da streckt sich<br />

ihm, von links und von rechts, eine Hand entgegen. Er ergreift<br />

die Hände, und auch Vater und Tochter reichen einander die<br />

Hand. Nachdem auf diese Weise der Kreis geschlossen ist,<br />

sagen Vater und Tochter, die Arme leicht auf und ab schwingend:<br />

“Komm, Herr Jesu Christ, sei unser Gast<br />

und segne, was Du uns bescheret hast.”<br />

Dann nehmen sie Platz. Der Pastor läßt sich zuerst Peters,<br />

dann Inges Teller reichen und füllt Suppe ein. Eine Pilzsuppe.<br />

Während des Essens wird nicht gesprochen. Nach der Suppe<br />

gibt es Karpfen blau mit grünen Salaten aus dem eigenen<br />

Garten. Und zum Abschluß serviert die Hausfrau Schokoladenmousse<br />

mit Schlagsahne. Peter schmeckt das Essen vorzüglich.<br />

Er macht Inge ein Kompl<strong>im</strong>ent. Die lacht und freut<br />

sich darüber.<br />

Nun reichen die drei sich abermals die Hände, und Vater<br />

und Tochter sprechen ein Dankgebet.<br />

Eigentlich hatte Peter beabsichtigt, die Diskussion nach<br />

dem Essen fortzusetzen. Er wollte ein zweites Beispiel für<br />

überindividuelle Intelligenz anführen, aus dem Reich der<br />

sozialen Insekten. Und anhand eines dritten Beispiels wollte<br />

er erläutern, daß selbst Viren evolutive Intelligenz besitzen.<br />

Ja, Viren, diese Zwischengestalten zwischen toter und lebender<br />

Materie, diese Bündel nackter Moleküle ohne eigene<br />

Atmung, Nahrungsaufnahme und Energieproduktion. Wie,<br />

wenn nicht Intelligenz, sollte man es nennen, wenn Viren<br />

sich auf die geschickteste Art und Weise Zugang zu verschaffen<br />

wissen zu den riesigen Materie- und Energievorräten,<br />

die sich in lebenden Körpern befinden. Wie sonst


sollte man es nennen, wenn Viren nach dem Eindringen in<br />

den Körper komplizierte, vielschichtige Abwehrbarrieren<br />

unterlaufen, wenn sie ganze Armeen von Polizeizellen hinters<br />

Licht führen. Einige setzen sich chemische Tarnkappen auf,<br />

machen sich für die Abwehrzellen unsichtbar, andere signalisieren<br />

ihnen hinterhältig: ‘keine Angst, ich bin nicht fremd,<br />

ich bin einer von euch’, und beschwichtigen und lähmen so<br />

deren Verteidigungsreaktionen. Aber nicht genug damit. Sie<br />

dringen ein in die Fabrikhallen der Zellen, verfälschen hier<br />

die Produktionsanweisungen und zwingen die Zellmaschinerie,<br />

statt körpereigener Substanz Virensubstanz<br />

zu produzieren. Aber <strong>im</strong>mer noch nicht genug damit: Wenn<br />

der so getäuschte Körper das merkt und Gegenmaßnahmen<br />

einleitet, oder wenn das Individual-Intelligenz-gesteuerte<br />

Gesundheitswesen seine grobschlächtigen Kanonen auffährt<br />

– was macht das Virus dann? Es ‘n<strong>im</strong>mt dies zur Kenntnis’<br />

und beginnt damit, sich entsprechend zu verändern. Es fährt<br />

ganz einfach fort, die Körperabwehr und ganze Armadas von<br />

Forschungslaboratorien der selbsternannten Krone der<br />

Schöpfung an der Nase herum zu führen. Wenn das nicht<br />

genial ist!<br />

Aber die St<strong>im</strong>mung, in die sich dieser schöne Abend<br />

<strong>im</strong> Pastorenhaus hineinentwickelt, gebietet Peter zu schweigen.<br />

Nachtmusik<br />

Nachtmusik 221<br />

Nachdem Inge mit viel Gerassel und Gequietsche die Schiebetür<br />

zum Eßz<strong>im</strong>mer wieder geschlossen hat, bringt sie ein<br />

Notenpult herbei und einen Geigenkasten. Der Pastor packt<br />

seine Violine aus und reibt die Haare des Bogens mit Kolophonium<br />

ein. Seine Geige unter dem Arm, geht er hinüber<br />

zum Klavier, öffnet den Deckel, schlägt mit dem Zeigefinger


222 DREIGESTIRNE<br />

zwe<strong>im</strong>al den Kammerton A an und st<strong>im</strong>mt mit Sorgfalt sein<br />

Instrument. Derweil plaziert Inge drei fünfarmige Kerzenständer<br />

aus blitzendem Messing so, wie sie dies offenbar<br />

schon seit Jahren tut. Sie entzündet die Kerzen. Dann<br />

schaltet sie das elektrische Licht aus.<br />

Vater und Tochter wechseln, kaum hörbar, ein paar Worte.<br />

Daraufhin holt Inge Noten aus einem Schrank und verteilt sie<br />

auf Geigenpult und Klaviernotenhalter. Dann n<strong>im</strong>mt sie am<br />

Klavier Platz.<br />

Der Pastor ordnet die Noten auf seinem Pult, legt ein weißes<br />

Tuch auf den Kinnhalter seiner Geige und hebt diese an ihren<br />

Platz. Dann blickt er hinüber zu seiner Tochter und gibt, energisch<br />

mit dem Kopf nickend, das Zeichen zum Musikbeginn.<br />

Schon der erste, kräftige Ton von Mozarts ‘Eine Kleine Nachtmusik’<br />

verwandelt das Wohnz<strong>im</strong>mer des Pastorenhauses in<br />

einen Konzertsaal.<br />

Nahe am Klavier hängt ein großes Ölbild. Es wird von<br />

einem der drei Kerzenständer beleuchtet. Eine wunderschöne<br />

Frau. Sofort erkennt Peter: das ist Inges Mutter. Schon mehrfach<br />

hatte Inge ihm von ihr erzählt, auch daß sie kurz nach<br />

ihrer Geburt gestorben ist, und daß ihr Vater diesen<br />

furchtbaren Verlust bis heute nicht verwunden hat.<br />

Die Kleine Nachtmusik, so hingebungsvoll musiziert, und<br />

die wunderbare Szene vor ihm nehmen Peter ganz und gar<br />

gefangen. Sanft flackernder Kerzenschein taucht die beiden<br />

Musizierenden und das Bild der Mutter in einen traumhaften<br />

Tanz von Licht und Schatten: eine auf zauberhafte Weise wiedervereinte<br />

Familie.<br />

Nachdenklich betrachtet Peter den Pastor. Wie er unter der<br />

Wirkung der Musik Mozarts das weißgelockte Haupt hin und<br />

her bewegt, wie seine ganze Gestalt der Musik folgt, sie aufn<strong>im</strong>mt<br />

und reflektiert. Und Inge, seine geliebte Inge, sie<br />

musiziert so völlig den Tönen hingegeben und dabei so graziös<br />

und anmutig, daß ihn das bewegt bis in sein Innerstes. ‘Schade’,<br />

denkt Peter, ‘daß ich mein ohnehin reichlich spät begon-


Nachtmusik 223<br />

nenes Geigenspiel wieder aufgegeben habe. Wir drei hätten<br />

ein wunderbares Trio abgeben können.’<br />

Dem eher etwas steifen, zu sehr von der Wissenschaft<br />

erfüllten Botaniker dringt der Zauber dieses Abends tief ins<br />

Herz. Einen derartigen Ausbruch seiner Gefühle hat er noch<br />

niemals erlebt. Erschüttert erfährt er nie gekannte Emotionen.<br />

Langsam neigt er den Kopf. Zögernd zuerst und kaum<br />

wahrnehmbar, werden seine Augen feucht. Dann glitzert es.<br />

Eine Träne quillt. Langsam rollt sie über die Wange in den<br />

Bart. Ihr folgt eine zweite, eine dritte …<br />

‘Mein Gott’, denkt er, ‘was für Menschen! Wie nahe müssen<br />

sie einander sein und wie nahe ihrem Schöpfer. Hier hat der<br />

gemeinsame Glaube wirklich ein Wunder vollbracht! Hier hat<br />

er Zuneigung und Liebe veredelt, vergoldet.’ Und dann denkt<br />

er: ‘Und wenn der Glaube nichts anderes vermöchte, er hätte<br />

bereits dadurch seine Berechtigung bewiesen.’<br />

Und zum erstenmal in seinem Forscherleben kommen ihm<br />

Bedenken … Bedenken, daß seine nur von wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis, nur von Logik, nur von Wahrheitssuche best<strong>im</strong>mte<br />

und geformte Welt so ganz allein für sich Bestand haben<br />

kann. Bedenken, ob seine Welt dem Menschen gerecht zu<br />

werden vermag.<br />

Mitten in den zweiten Satz der Kleinen Nachtmusik hinein<br />

hört er sich plötzlich flüstern, ganz leise: “Nein. Wissenschaft<br />

allein, das ist nicht genug.”


1 EINMALEINS<br />

Einweisung<br />

IM SOMMER<br />

225<br />

Sie haben einander erkannt<br />

Es ist Nacht. Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />

Schon eine geschlagene Stunde schleicht und schlängelt er<br />

umher. Erfolglos. Ärgerlich zerrt er die Schiffermütze in die<br />

Stirn: ‘Wieder nix los.’<br />

Scharf biegt er ab nach rechts. Verbissen beginnt er die<br />

nächste Runde. Er muß heut unbedingt was haben! Mit lautlosen<br />

Schritten überprüft er die Bänke an einem schmalen<br />

dunklen Pfad. Da kommt ihm aus der Finsternis ein kleiner<br />

Mann entgegen – mit einer sehr großen, schwarzen Schiffermütze.<br />

“Du dickes Ei. Der Fiedler! Und mit’m zünftign Deckel!!”<br />

Dem Maler ist das gar nicht recht. Obwohl heute noch nicht<br />

wieder Mittwoch ist, hat es ihn in den <strong>Park</strong> getrieben. Während<br />

einer Fahrt durch die Stadt war er einer plötzlichen<br />

Eingebung gefolgt und hatte die Richtung geändert. Noch<br />

bevor er es so recht wußte, war er am <strong>Park</strong>. Rasch hatte er<br />

seinen Wagen geparkt, mit der Linken die langen Haare hochgeschoben<br />

und mit der Rechten die neuerworbene, um drei<br />

Nummern zu große Schiffermütze darübergestülpt. Dann<br />

hatte er seine Jacke gegen eine andere aus dem Kofferraum<br />

ausgetauscht. Ängstlich glitten die Augen nach links und<br />

dann nach rechts. Die Straße war leer. Da war er mit<br />

rasendem Herzen eingetaucht ins Blättermeer. Gierig hat ihn<br />

der dunkle <strong>Park</strong> verschluckt.<br />

Wie ein Nachtwandler, gesteuert vom Instinkt, fand der<br />

Bucklige zu einem alten Haus, direkt neben der Kirche. Durch


226 EINMALEINS<br />

Gardinen hindurch konnte er <strong>im</strong> oberen Stockwerk ein Mädchen<br />

erkennen. Die Deckenlampe ließ ihre langen blonden<br />

Haare aufleuchten. Wie ein Magnet zog das Mädchen den<br />

Maler an. Augenblicklich brachte die vom Tüll der Gardinen<br />

gehe<strong>im</strong>nisvoll verhüllte Erscheinung seine Sinne zum Sieden.<br />

Aufwallende Erregung zwang ihn über den Zaun. Im fremden<br />

Garten überkam ihn Angst. Aber die Erregung war stärker.<br />

Unerbittlich peitschte sie ihn vorwärts. Zu einem Pflaumenbaum.<br />

Zitternd erstieg er den untersten Ast. Zwar konnte er<br />

das Gesicht des Mädchens nicht erkennen, aber er sah, wie es<br />

sich <strong>im</strong> Spiegel betrachtete, wie es den Unterrock über den<br />

Kopf zog, wie die langen Strähnen der blonden Mähne herniedertaumelten<br />

auf weiße Schultern. Er sah, wie sich das<br />

Mädchen mit beiden Händen in den Rücken griff und, die<br />

Schultern nach vorne rollend, aus ihrem Büstenhalter<br />

schlüpfte. ‘M…mein Gott!’, erbebte der Maler, ‘mein Gott! Was<br />

für ein Mädchen!’<br />

Da öffnete sich die Haustür. Ein Lichtstrahl fiel auf ihn. Aus<br />

dem Haus trat ein großer Mann mit gelockten weißen Haaren.<br />

Die beiden Männer starrten einander an. Einen endlosen<br />

Augenblick lang. Gefangen <strong>im</strong> Schock. Sprachlos.<br />

Dann rief der Weißgelockte: “Sie unverschämter Lümmel<br />

Sie! Scheren Sie sich raus aus unserem Garten!” Er hob den<br />

Arm und drohte mit der Faust. “Und wagen Sie es ja nicht,<br />

noch einmal zu uns zu kommen!”<br />

In Panik war der Maler vom Pflaumenbaum gesprungen<br />

und taumelnd davongerannt. Gepeischt von Angst und<br />

Schrecken hastete er über den Zaun.<br />

“Ich denk du komms nur mittwochs.”<br />

Noch <strong>im</strong>mer verwirrt und verängstigt von seiner mißglückten<br />

Expedition in den fremden Garten, nickt der Maler und<br />

schüttelt zugleich den Kopf. Dann sucht er nach einer Ausrede.<br />

Schließlich bringt er nur die Worte hervor: “H … heut ist<br />

eine Ausnahme.”


Einweisung 227<br />

“Macht nix.” Der Festmacher wundert sich über soviel<br />

Schüchternheit. “Denn zeig ich dir eben heut schon mein<br />

Revier und erklär dir, wie das alles so läuft hier.” Unter der<br />

nächsten Laterne sieht er sich seinen neuen Kumpel erstmal<br />

genauer an. “Mann, Mann, Mann! Das geht doch nich! Mit<br />

solchn Klamottn kannst du doch nich auf Tour. Fiedeln in<br />

dein’m Klub, ja. Fein’n Pinkel markiern, ja. Aber auf Tour?<br />

Nee. Ehrlich, das versteh ich nich!”<br />

Ärgerlich rückt der Riese die Mütze zurecht. “Zieh dir Mittwoch<br />

vernünftige Klamottn an! Wenn ich bloß deine weißn<br />

Schuhchen seh! Du brauchst kräftige schwarze Treter. So wie<br />

meine. Klar?”<br />

“Ja.”<br />

“Laß dein’n gottsverdammtn Klubdreß, wo der Pfeffer<br />

wächst. Kriegst nur Ärger mit der Altn. Zieh dich zünftig an!<br />

‘Ne feste Hose und ‘ne Windjacke. Nich zu dunkel, nich zu<br />

hell. So wie meine.” Er sieht an sich ‘runter. “Die habn ‘ne Farbe<br />

wie ‘n Baumschattn.”<br />

Jetzt kommt der Festmacher in Fahrt. Jetzt beginnt er mit<br />

der Einweisung. Jetzt zeigt er dem neuen Kumpel sein Revier.<br />

Und er erläutert ihm die Jagdregeln.<br />

Er bringt ihm bei, wie man sich seiner Beute nähert. Wie<br />

man sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnt, ohne dabei<br />

Geräusche zu verursachen, die sich von den übrigen Lauten<br />

des nächtlichen <strong>Park</strong>s unterscheiden. Wie man vermeidet, auf<br />

knackende Äste zu treten. Wo und wie man versteckte Beobachtungsposten<br />

anlegt. Wo und wie man sich Fluchtmöglichkeiten<br />

schafft, für den Notfall. Er erklärt ihm, wie man eine<br />

Taschenlampe präpariert, so daß sie zur winzigen Lichtquelle<br />

wird, die den Beobachteten nicht stört, aber dem Beobachter<br />

aus nächster Nähe Einzelheiten enthüllt. Er sagt ihm, wo<br />

man ein geeignetes kleines Nachtglas erwerben kann, und<br />

daß man <strong>im</strong>mer ein Taschenmesser und eine Leine bei sich<br />

haben muß.<br />

“Wozu die Leine?”


228 EINMALEINS<br />

“Wenn du mal was festbindn mußt. Wenn du dir zwischen<br />

Ästen ‘ne Sitzfläche zum Ausruhn knotn willst. Wenn du Äste<br />

ausm Sichtfeld biegn willst.”<br />

Der Riese lehrt den Zwerg das Einmaleins der Zukuckerzunft.<br />

Er bleut ihm ein, daß man seine <strong>Inter</strong>essen konsequent<br />

verteidigen muß: “Wir Spanner komm’n nur klar mit Härte<br />

und Disziplin!” Er erzählt ihm vom Buschkrieg mit dem Gärtner.<br />

Der eine pflanzt Rosen in den Trampelpfad, der andere<br />

reißt sie raus. Der eine repariert die Hecke zur Hauptstraße<br />

hin, der andere besteht auf einer Durchschlüpföffnung als<br />

Notausgang. Der eine setzt Büsche, wo er nicht soll, der andere<br />

sorgt dafür, daß sie nicht anwachsen. “Dieser irre Rudi!<br />

Der wird schon noch kapier’n, dasses was gibt <strong>im</strong> <strong>Park</strong>, gegen<br />

dasser nich ankommt!”<br />

‘Wo bin ich hingeraten?’, denkt er Maler. ‘Was ist das für<br />

eine Welt?’ Für einen Augenblick wandern seine Gedanken<br />

nach Paris. In der nächsten Woche wird er dort hinfliegen. In<br />

Paris soll ihm, einem russischen und einem amerikanischen<br />

Künstler eine hohe Auszeichnung verliehen werden. In<br />

Anwesenheit des Kultusministers wird ein namhafter Kunstmäzen<br />

die Laudatios halten.<br />

“Mit zwei auf Tour is besser. Fällt nich so auf. Früher, da<br />

hatt ich mal ‘n Kumpel, der war ‘ne Wucht. Ging als Puppe.<br />

Wir habn auf Pärchen gemacht. Große Klasse. Ehrlich. Das<br />

war ‘n Hammer! Aber der Schmied, der will da nich ran.” Er<br />

wendet sich dem Fiedler zu. “Vielleicht reisn wir beide mal auf<br />

die Masche?”<br />

“—.”<br />

“Immer gegen den Wind ranpirschn. Schattn ausnützn. Hinter<br />

dir muß <strong>im</strong>mer was Dunkles sein. Nie ranpirschn, wenn<br />

du was Helles hinter dir hast – Mond, Laterne oder so. Klar?”<br />

Der Maler nickt.<br />

“Wenn du mal nix sehn kannst, hilft manchmal hinlegn.<br />

Aufm Bauch siehst du mehr. Die meistn Büsche habn ganz<br />

untn weniger Blätter. Kapiert?”


Einweisung 229<br />

“Ja.”<br />

“Und noch was: Luki, luki, aber nich störn! Wir wolln Spaß<br />

habn, aber wir wolln den Pärchen ihr’n Spaß nich versaun.”<br />

Er hebt den Zeigefinger: “Jedem Tierchn sein Pläsierchn!”<br />

Schlag auf Schlag folgen weitere Verhaltensmaßregeln und<br />

Geländedetails: Schleichwege, Bänke, Liegeplätze. Der Festmacher<br />

kennt hier alles, jeden Weg, jeden Baum, jede Bank,<br />

den Bach und auch den Fluß.<br />

Weiter geht’s, durch Gestrüpp, auf dunklen Wegen, über<br />

Lichtungen, auf engsten Schleichpfaden. Schließlich bleibt der<br />

Festmacher stehen. Unter einer alten, riesigen Rotbuche. Mit<br />

der flachen Hand schlägt er mehrmals gegen den mächtigen<br />

Stamm – wie einer, der seinem Pferd gut zureden will. Dann<br />

lehnt er sich, Füße übereinander geschlagen, mit dem Rücken<br />

an den Baumriesen. Unbehindert durch Wolken beleuchtet<br />

der Mond eine weite, sanft abfallende und dann in der Ferne<br />

wieder ansteigende Rasenfläche.<br />

Langsam läßt der Festmacher den Blick über die Wiese<br />

wandern. Auf dem Hügel am anderen Ende der Wiese ruhen<br />

die Augen aus. “Da! Da ganz hintn, da steht die beste Bank.”<br />

Mit erhobenem Arm, verlängert durch den ausgestreckten<br />

Zeigefinger, weist er die Richtung. Die Bank selbst ist von hier<br />

aus nicht zu erkennen. “Auf’m Hügel. Unter der großn Eiche.<br />

Rundrum Gebüsch.” Sich dem Fiedler zuwendend sagt er: “Du<br />

kennst die Bank vom letztnmal.”<br />

Der Maler nickt. Dann zuckt er zusammen. Das blonde<br />

Mädchen! Aus der Kulisse seiner Gedankenbühne schreitet es<br />

langsam ins volle Licht der Erinnerung. Golden leuchten blonde<br />

Haare. Alle Einzelheiten sieht er, so deutlich, als stünde<br />

das Mädchen vor ihm. Der Engel!! – So mancher Mensch hat<br />

seine Schwierigkeiten damit, best<strong>im</strong>mte, ihm an sich wohlbekannte<br />

Wörter aus dem Gedächtnis abzurufen. Oftmals<br />

muß er so ein Wort mit Tricks aus der Dunkelheit des Unterbewußtseins<br />

hervorlocken – mit ähnlich Klingendem, mit<br />

Ereignissen, mit Bildern. So ein Wort war für den Maler bis-


230 EINMALEINS<br />

her ‘Engel’. Aber seit er mit dem Engel ringt, <strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer<br />

wieder, braucht er dieses Wort nicht mehr hervorzulokken.<br />

Sobald er in einer best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>mung ist, lauert es<br />

ihm auf, springt es ihn an.<br />

Mit einem Schulterruck löst sich der Festmacher von der<br />

Rotbuche. Den Hügel fest <strong>im</strong> Blick, beginnt er, mit ausgreifenden<br />

Schritten die Wiese zu überqueren. Noch <strong>im</strong>mer nach<br />

innen blickend, verharrt der Bucklige mit gesenktem Kopf auf<br />

der Stelle. Plötzlich schreckt er hoch aus seinen Gedanken.<br />

Und dann galoppiert er dem anderen hinterdrein.<br />

Seite an Seite gehen Riese und Zwerg auf den Hügel zu.<br />

Vor dem Fuß des Hügels kreuzt der breite Hauptweg. An<br />

seiner dem Hügel zugewandten Seite wird er von einem Bach<br />

begleitet. Über eine Holzbrücke gelangt man ans andere Ufer.<br />

Und von dort führt ein schmaler, etwa zehn Meter langer<br />

Kiesweg hügelaufwärts zur Bank. Sie stehen vor der Brücke.<br />

Die Bank auf dem Hügel ist leer. “Das’s die Bank. Hier hab ich<br />

die meistn Nummern gehabt. Nummern wie ‘ne dicke Eins.<br />

Nach sowas kannst du lange suchn. Ich sag dir: Fernsehn,<br />

Piesel – is doch Scheiße! Im Fernsehn bringn se sich um. Da<br />

klaun se und betrügn. Inne Piesel da saufn se. Da weht die<br />

Knete weg wie Herbstblätter. Aber hier, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>, hier hast du<br />

was vom Lebn. Tust kein’m weh. Kost kein Geld. Immer spannend.<br />

Mann, was habn wir hier schon für Tampn gespleißt!<br />

Ich sag dir: das’n riesn Kinkn hier.” Er spuckt. “Hier läuft nix<br />

an dir vorbei. Hier läuft alles voll in dich rein!” Die dünnen<br />

Lippen formen ein O. Daumen und Zeigefinger wischen über<br />

die Mundwinkel. “Du wirst das schon noch spitzkriegn.”<br />

Nach einer Weile sagt der Festmacher: “Brücke und Kiesweg<br />

machn Krach. Wenn wir die Bank von hier anpirschen,<br />

gehn wir da längs.” Er führt den Fiedler am Bach<br />

entlang. Plötzlich bleibt er stehen. “Hier”, er weist auf eine<br />

Steinplatte, “und da”, sein Zeigefinger schnellt hoch, deutet<br />

auf eine zweite Platte am gegenüberliegenden Ufer. “Jetzt<br />

springn wir.”


Einweisung 231<br />

Obgleich der Bach an dieser Stelle sehr schmal ist, erscheinen<br />

die beiden Steinplatten dem Zwerg gefährlich weit voneinander<br />

entfernt. Dem Riesen bleibt das nicht verborgen:<br />

“Reiß dich zusamm’n, Mann!”<br />

Der Festmacher macht einen Schritt zurück und springt.<br />

Sicher und fast lautlos landet er am anderen Ufer.<br />

“Nun du!”<br />

Der Maler weiß, daß er jetzt springen muß. Mit großer Anstrengung<br />

drängt er die Angst beiseite. Er geht zurück, viele<br />

Schritte. N<strong>im</strong>mt Anlauf. Springt. Plllatschsch! Vor der Steinplatte<br />

steht er knietief in Sand und Wasser.<br />

“Klumsig, Mann. Klumsig!”<br />

Aber der mißlungene Sprung entmutigt den Maler nicht. In<br />

merkwürdiger Gedankenverbindung erinnert er sich an sein<br />

erstes, wichtiges Bild. Auch damals verfehlte er das Ziel, nicht<br />

in den Augen seiner Malerfreunde, wohl aber in denen seiner<br />

Professorin von der Kunsthochschule. Schon damals ließ er<br />

sich nicht beirren. Er dichtete:<br />

Ich erdacht’s.<br />

und vollbracht’s<br />

Ihr betracht’s.<br />

und ihr acht’s<br />

Ich bracht’s .<br />

und vermacht’s<br />

Sie verlacht’s .<br />

und veracht’s<br />

Was macht’s!<br />

Auf engem Pfad bahnen Festmacher und Fiedler sich einen<br />

Weg hügelaufwärts. Schritt für Schritt. Durch Cotoneaster,<br />

Liguster und stachelbewehrten Feuerdorn. Dann betreten sie<br />

den dunklen Pfad, auf dem der Maler am ersten Abend dem<br />

Festmacher in die Quere gekommen war. In weitem Bogen nähern<br />

sie sich aber jetzt von hinten her der Bank. Zwischen


232 EINMALEINS<br />

Blättern sch<strong>im</strong>mern schließlich Teile der Rückenlehne zu<br />

ihnen herüber. Die Bank ist noch <strong>im</strong>mer leer.<br />

Der Festmacher erinnert sich: “Einmal”, rückt er seine<br />

Mütze zurecht, “einmal hat hier so’n Kirschkönig gefickt. ‘Ne<br />

geschlagene Stunde. Tolle Puppe, lange Beine, stramme Tittn.<br />

Nich links, nich rechts habn die gekuckt. Keine Zeit. Fleißige<br />

Leute. Die war’n da zugange! Die hattn kein’n Kummer mit<br />

der Nummer. Vor Freude hat die Puppe laut gequietscht.<br />

Schön war das. Ehrlich. Lebn wie’s richtig is. Gradeaus. Kein<br />

Theater!” Der Festmacher nickt vor sich hin. “Keine Mätzchen,<br />

kein Lametta. Sofort bis du voll dabei. Sofort schaltest<br />

du auf die gleiche Welle. – Ich und der Schmied, wir sind raus<br />

aus’m Busch und ran an den Kirschkönig und seine Puppe.<br />

Direkt nebn den beidn habn wir gehockt. Stark war das.<br />

Richtig stark!”<br />

Entspannung<br />

Der Festmacher hebt den Kopf. N<strong>im</strong>mt Witterung wie ein<br />

jagendes Raubtier. Lauscht mit Händen an den Ohren.<br />

“Hier rein!!”<br />

Die harte Faust packt den Zwerg an der Schulter, zerrt ihn<br />

hinter einen großen Busch. Dort lauern die beiden, dicht nebeneinander.<br />

Der Riese stellt sich auf die Zehenspitzen. Späht<br />

gespannt in die Nacht. Dreht und wendet sich, wiegt sich in<br />

den Hüften, reckt den Hals. Auf dem Hauptweg erkennt er ein<br />

eng umschlungen dahinschlenderndes Paar. “Da komm’n<br />

welche!”<br />

Mit vorgestreckten Armen und gespreitzten Fingern tastet<br />

er sich geduckt zu seinem Beobachtungsposten hinter einem<br />

Fliederbusch seitlich neben der Bank. Schon vor Jahren hatte<br />

er von weither Feldsteine dorthingeschleppt. Einen nach dem<br />

anderen, versteckt unter einer weiten Jacke. Eine langwierige,<br />

eine mühevolle Arbeit! Die Steine hatte er dann zu einer


Entspannung 233<br />

Plattform angeordnet und diese mit Moospolstern umgeben.<br />

Zwar ist da mal ein Stein rausgerollt, aber insgesamt hat seine<br />

Konstruktion nun schon über Jahre hinweg gehalten. Und<br />

sie hat sich sehr bewährt. Jetzt besteigt er seine Plattform.<br />

Durch blühende, duftende Fliederzweige hindurch kann er<br />

das Paar beobachten. Ein Jäger <strong>im</strong> Anstand.<br />

Des Malers Gedanken wandern. Trotz großer Erregung erreichen<br />

Trieb und Verstand vorübergehend eine Art Gleichgewichtszustand.<br />

Mit spitzen, dünnen Fingern befühlt er tropfende<br />

Hosenbeine und klitschnasse Schuhe. Verwundert darüber und<br />

über sich selbst, schüttelt er den brummenden Schädel. Und<br />

dann versucht er, das, was er heute nacht hier erlebt hat, zu<br />

ordnen. Er dreht den Kopf und blickt zu dem in die Dunkelheit<br />

starrenden Riesen. Welten liegen zwischen ihm und dem<br />

großen Mann dort. Aber ihn beherrscht die gleiche triebhafte<br />

Sucht nach sexuellen Jagderlebnissen <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong>. Da<br />

gibt es gleiche Schwingungen, gleiche Wellenlängen.<br />

Aus seinen Gedanken aufschreckend hört der Bucklige <strong>im</strong><br />

Kies knirschende Schritte. Mit zitternden Lidern blickt er erneut<br />

zu seinem Kumpel. Der spitzt die Lippen, hebt die Brauen,<br />

flüstert: “Beute!”<br />

Das Herz hüpft und hämmert. Hitze lodert in den Adern.<br />

Sinne verwirren und verirren sich, drängeln den Verstand brutal<br />

beiseite. Gliederverrenkend tanzt wilde Erwartung auf der<br />

leergefegten Bühne des Bewußtseins. Schaudernd blickt der<br />

Maler in gähnende Schlunde seines teerschwarzen Innersten.<br />

Was ihn in den finsteren <strong>Park</strong> peitscht? Es sind dieselben<br />

Naturgewalten, die auch den anderen treiben. Zitternd erlebt<br />

er dieselbe Hilflosigkeit, dieselbe Wehrlosigkeit gegenüber<br />

unkontrollierbar starken inneren Mächten. Das gleiche dunkle<br />

Dröhnen des Blutes. Das gleiche schmerz-lustvolle Sich-<br />

Winden unter den Hieben archaischer Triebe. Tief unter dem<br />

Tagesdasein, das sie so vollkommen voneinander trennt, tief<br />

da unten in der dunklen Welt der Triebe, da sind sie Verwandte.<br />

Sie haben einander erkannt.


234 EINMALEINS<br />

Die Schritte des Paares knirschen <strong>im</strong> Kies. Wie eine unirdische<br />

Uhr markieren sie die Sekunden der Nacht. Einundzwanzig,<br />

zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …<br />

Unvermittelt bricht der Knirschrhythmus ab. Eine Eule ruft.<br />

Dann herrscht Stille. Tiefe, finstere Stille. Eine leichte Brise<br />

kommt auf. Blätter knistern, wispern und flüstern. Dann ist<br />

es wieder ganz still.<br />

Aber jetzt! Jetzt knirscht es wieder. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig,<br />

siebenundzwanzig, achtundzwanzig … Pause.<br />

Vibrierende, pochende Stille. Der Festmacher wendet das Gesicht<br />

dem Fiedler zu, legt den Zeigefinger auf den Mund.<br />

Wieder knirscht es.<br />

Die Spannung wächst. Wird zu aufgestauter Kraft, ungeduldiger<br />

Erwartung, zitternder Angst, aber auch zu pulsierender<br />

Vorlust.<br />

Kommt das Paar über die Brücke zur Bank? Oder wandern<br />

die beiden auf dem Hauptweg weiter geradeaus? Das Knirschen<br />

kommt näher, <strong>im</strong>mer näher. Jetzt entschwindet das<br />

Paar den Blicken des Riesen. Die Brücke kann er von seinem<br />

Beobachtungsposten aus nicht sehen. Mit geschlossenen Augen<br />

horchen die beiden Jäger angestrengt in die Nacht.<br />

Jetzt!… Jaaa! Sie kommen!! Das Knirschen geht über in<br />

leises, dunkles Dröhnen. Die Brücke! Sie kommen!!! Der Maler<br />

erbebt. Ein Hornissenschwarm summt und brummt in<br />

seinem Leib.<br />

Mit noch lauter knirschenden Schritten schreitet das Paar<br />

den schmalen Kiesweg hinauf. Bei der Bank angekommen,<br />

umarmen und küssen sich der Mann und die Frau. Dann<br />

setzen sie sich.<br />

Der Festmacher bedeutet seinem Kumpel, zu bleiben, wo er<br />

ist, und sich ganz ruhig zu verhalten.<br />

Mit witternden Sinnen versucht der Zwerg, das Geschehen<br />

auf der Bank zu ergründen. Bebend horcht er in die Finsternis.<br />

Mit zum Schlitz verengten Lidern, auseinandergezogenem<br />

Mund und gekrümmten Handflächen an den großen Ohr-


Entspannung 235<br />

muscheln. Angst peitscht ihn und Geilheit. Gemeinsam<br />

formen sie eine enorme Explosionskraft in den Tiefen seiner<br />

zerklüfteten Sinneswelt. Ist da nicht ein leises Stöhnen? Ein<br />

Scharren <strong>im</strong> Kies? Ungeduldig wendet er den Kopf hin und<br />

her. Die Wulstlippen wölben nach außen. Die Nasenflügel<br />

blähen sich und werden an den Rändern ganz weiß. Der Atem<br />

weht leise, aber heftig, wie nach einem Dauerlauf. Gebückt,<br />

sich hin und her wendend – wie ein Beute beschleichendes<br />

Wiesel – späht der Buckelige durch Zweige und Blätter.<br />

Bewegt sich da nicht etwas auf der Bank? Die Nerven zappeln<br />

und zerfransen. Sie sind jetzt völlig überreizt, so sehr, daß die<br />

Ohren eigene Geräusche, die Augen eigene Bilder, das Hirn<br />

eigene Vorstellungen hervorbringen. Da! Wieder leises Stöhnen.<br />

Oder war das was anderes? Aber jetzt! Da bewegt sich<br />

doch wirklich etwas auf der Bank. Was ist da los? Sind die<br />

beiden etwa schon dabei?? Ganz plötzlich fällt alles in tiefe,<br />

absolute Stille. Aber jetzt, der Bucklige zuckt zusammen, jetzt<br />

wehen Geräusche an die Ohren, aufrüttelnde, merkwürdige,<br />

schwer zu deutende Geräusche. Die können doch nur von der<br />

Bank her kommen!<br />

Den Maler hält es nicht mehr an dem Ort, den ihm der Festmacher<br />

zugewiesen hatte. Auf keinen Fall will er etwas versäumen!<br />

Mit Macht drängt es ihn vorwärts. Alle Vorsicht außer<br />

acht lassend, stürmt er gebückt voran. Einige hastige Schritte.<br />

Dann rammt er mit dem Kopf in den Hintern des Festmachers.<br />

Der schnellt herum, packt den Zwerg mit harter Faust am<br />

Kragen, zerrt ihn weg von der Bank, noch weiter weg.<br />

Schließlich bleibt der Riese stehen. Lauscht. Stellt sich auf<br />

die Zehenspitzen. Reckt sich und wendet den Kopf. Faßt sich<br />

ans Kinn. Dann bückt er sich und legt den Arm um die Schulter<br />

des Zwerges, zieht ihn dicht zu sich heran, so dicht, daß<br />

seine dünnen Lippen dessen aus den hochgesteckten Haaren<br />

ragende Ohrmuschel berühren. Hinter kaum geöffneten Zähnen<br />

zischt er hervor: “Das wird nix. Das is der Quatscher und<br />

seine Puppe.”


236 EINMALEINS<br />

Frustriert treten die beiden Jäger den Rückzug an. Tagelang<br />

hat der Festmacher nichts gehabt. Und der Maler? In seiner<br />

aufgepeitschten Phantasie hatten sich bereits Dinge<br />

abgespielt, die sich gar nicht abgespielt haben. Er war schon<br />

dem Höhepunkt nahe. Jetzt will auch er Entspannung. Koste<br />

es, was es wolle!<br />

Ständig die Köpfe drehend und mit stechenden Augen die<br />

Dunkelheit aufspießend, nähern sich der schlanke Riese und<br />

der untersetzte Zwerg dem Spielplatz. Noch bevor sie den<br />

Eingangsweg erreichen, hören sie leise St<strong>im</strong>men. Durch Zweige<br />

sch<strong>im</strong>mert Helles. Es bewegt sich zum Seiteneingang des<br />

Platzes hin. Da zerrt der Festmacher den Fiedler hinter einen<br />

Busch. Einander berührend starren die beiden auf die dunkle<br />

Öffnung des Weges. Plötzlich erscheint dort ein hellgekleidetes<br />

Paar. Sich <strong>im</strong> Gehen küssend, schlendern der Mann<br />

und die Frau, leicht schwankend, am Sandkasten vorbei und<br />

steuern nun auf die Bank zu, die direkt vor den <strong>im</strong> Gebüsch<br />

lauernden Spannern steht. Den Maler durchzuckt es wie ein<br />

Blitz: Ein großer, kräftiger, gutaussehender Schwarzer und<br />

eine attraktive, blonde Weiße, höchstens siebzehn oder achtzehn.<br />

Beide wirken leicht angetrunken, kommen offenbar vom<br />

Tanzen aus dem Waldschloß. Festmacher und Fiedler sehen<br />

sich bedeutungsvoll an. Der Riese kneift ein Auge zu. Als erfahrener<br />

Jäger weiß er: das wird was!<br />

Die Nasen der beiden Männer <strong>im</strong> Gebüsch hinter der Bank<br />

saugen mit der würzigen Nachtluft den Geruch von Bier ein<br />

und von Schnaps. Und von betörend-süßlichem Parfüm.<br />

Das wird was!!<br />

Der Schwarze und die Weiße stehen vor der Bank. Sie küssen<br />

und liebkosen einander. Jetzt setzen sie sich. Im Sitzen<br />

fahren sie fort, einander zu streicheln, sich zu betasten. Der<br />

Mann öffnet die helle, dünne Bluse seiner Freundin. Seine<br />

Hand fährt langsam unter den seidigen Stoff, ertastet, befühlt<br />

und streichelt den jugendlichen Busen. Das Mädchen stöhnt<br />

leise. Plötzlich erhebt es sich und steht nun, auf hochhackigen


Entspannung 237<br />

Pumps, dicht vor dem sitzenden Freund. Dessen schwarze<br />

Hände wandern streichelnd empor an den langen weißen<br />

Schenkeln, verschwinden unter dem kurzen geblümten Röckchen.<br />

Obwohl die milde, mit den schweren Düften blühender<br />

Nachtgewächse beladene Luft von der Ausstrahlung ihrer<br />

Lust erbebt, scheinen der Mann und die Frau es nicht eilig zu<br />

haben. Nichts wird überstürzt, nichts aber auch läßt auf sich<br />

warten. Ihre Bewegungen sind traumhaft-tänzerisch, nachtwandlerisch-an<strong>im</strong>alisch:<br />

Ausdruck ihrer innigen Verbundenheit,<br />

ihres Einander-Sicher-Seins und ihrer sinnverwirrenden<br />

zitternden Erwartung.<br />

Auch der Mann steht jetzt auf. Immer heftiger umarmen,<br />

küssen und streicheln sich die beiden. Die junge Frau macht<br />

einen kleinen Schritt zurück. Grazil steigt sie aus ihrem Höschen.<br />

Sich ein wenig in den Hüften drehend, knöpft sie den<br />

Rock an der linken Seite auf, wickelt sich aus ihm heraus, legt<br />

Höschen und Rock auf die Bank.<br />

Wieder steht die Blondine unmittelbar vor ihrem Freund.<br />

Der entblößt ihren Oberkörper. Mit Hingabe leckt die rötliche<br />

Zunge breit über steifende Nippel und über dunkle Warzen<br />

auf schneeweißen Brüsten. Die junge Frau atmet schwer.<br />

Stöhnt jetzt laut. Da entledigt sich der Mann seiner Hose und<br />

seines Slips. Eng umschlungen stehen die beiden nun da und<br />

küssen sich leidenschaftlich. Wie <strong>im</strong> Tanz wiegen sie sich in<br />

den Hüften. Begierde flammt auf. Tanzendes Drehen und<br />

Beugen. Immer leidenschaflicher, <strong>im</strong>mer lustvoller. Die Frau<br />

umschlingt mit beiden Armen den kräftigen Nacken des Mannes.<br />

Der hebt sie langsam empor wie eine Puppe. Seine Hände<br />

stützen die weit geöffneten Schenkel. Weiße, schlanke Beine<br />

umklammern die schwarze Hüfte. Und nun läßt der Mann die<br />

Frau, ganz langsam, an sich hinuntergleiten. Dabei dringt er<br />

in sie ein.<br />

Beide stöhnen laut auf. Jetzt sind sie nur noch Trieb. Hemmungslos<br />

genießen sie ihre Lust. Ein wilder Reigen beginnt.


238 ANSICHTEN<br />

Der Festmacher weiß: jetzt darf man näher ran, hart an den<br />

Wind! Aber noch bevor er den ersten vorsichtigen Schritt tun<br />

kann, drängt sich ungestüm, ja wild, der Fiedler an ihm<br />

vorbei. Nur durch blitzschnelles Handeln gelingt es dem<br />

Riesen, seinen kleinen geilen Kumpel zurückzuhalten. Die<br />

Faust packt die Jacke über dem krummen Rücken und rüttelt<br />

den Zwerg.<br />

Langsam beugt sich der Schwarze vornüber und legt die<br />

Weiße auf die Bank. Liegend, liebend und mit rasenden Herzen<br />

entschwebt das Paar dieser Welt. Lautes, unkontrolliertes<br />

Hecheln, Stöhnen, Stoßen.<br />

Jetzt, endlich, gibt der Festmacher das Zeichen, die Erlaubnis,<br />

näher, ganz nahe an die Bank vorzudringen.<br />

Mit weit aufgerissenen Augen und mit zum Bersten<br />

aufgepeitschten Sinnen verschlingen die beiden Spanner das<br />

Naturschauspiel, das sich jetzt ganz dicht vor ihnen abspielt.<br />

Jeder saugt das Geschehen tief in sich hinein. Archaische<br />

Lust. Entfesselte Triebe. Freigesetzte Naturgewalten!!<br />

Die Hand findet zum Schritt. Jeder entblößt sich. Und jeder<br />

beginnt, sich zu massieren.<br />

Wenig später gehen Festmacher und Fiedler nebeneinander<br />

den Hauptweg entlang. Entspannt, erlöst, schweigend.<br />

Und dann hat jeder nur noch eins <strong>im</strong> Sinn: endlich nach<br />

Hause.<br />

2 ANSICHTEN<br />

Ausweg<br />

“Ein Wendepunkt in der<br />

Geschichte der Menschheit!”<br />

Ein Orkan hat den <strong>Park</strong> gepeitscht. Der uralten Eiche auf<br />

dem Hügel hat er einen mächtigen Ast geraubt. Am See hat er


Ausweg 239<br />

Erlen entwurzelt und eine riesige Kiefer quer über den Weg<br />

gestürzt. Überall zeugen abgebrochene Äste und Zweige von<br />

der Urgewalt bewegter Luft.<br />

Die gesamte Gärtnermannschaft ist ausgeschwärmt. Mit<br />

Seilen, Beilen, Motorsägen, Treckern und Lastwagen sind die<br />

Männer dabei, Ordnung wiederherzustellen. Als Maler und<br />

Physiker an einem Arbeitstrupp vorbeikommen, weist ein<br />

Mann mit rotblondem Haar, Kinnbart und tiefgefurchtem Gesicht<br />

drei Mitarbeiter an, eine gefährlich schrägstehende Weide<br />

zu fällen.<br />

Der Physiker winkt ihm zu und ruft: “Da hat der Orkan deine<br />

Pläne ja ganz schön durcheinander gewirbelt!”<br />

Der andere winkt nickend zurück.<br />

“Na denn, viel Erfolg!”<br />

“Danke!”<br />

“Sie duzen den?”<br />

“Ein alter Freund.”<br />

Verwundert geht der Maler weiter. Nach ein paar steifen<br />

Schritten sagt er: “Freilich, das war ein furchtbarer Orkan!”<br />

“Gut, daß die Sonne wieder scheint. So können wir spazierengehen<br />

und unsere Gespräche fortsetzen.”<br />

“Für mich”, sagt der Maler, “hatte der Orkan auch eine innere<br />

D<strong>im</strong>ension.” Ein Gewirr von Gefühlen und Gedanken<br />

durchtobt den Zwerg, irgendwie verknotet, aber hin- und hergezerrt<br />

von unkontrollierbaren Kräften. “Mich schmerzt die<br />

Tragödie menschlicher Existenz. Der Konflikt zwischen Gut-<br />

Sein-Wollen und Schlecht-Sein-Müssen. Der hockt mir auf der<br />

Seele. Wie ein schwarzes Ungeheuer… Ich ...”<br />

Als er nicht weiterspricht, sieht ihm der Physiker fragend<br />

ins Gesicht. Da erschrickt er. Das gefurchte Antlitz ist aschfahl.<br />

Zitternde Lider versuchen vergeblich, die Augen verschlossen<br />

zu halten. Ein ganz merkwürdig entrückter, verbitterter<br />

Ausdruck beherrscht die harten Züge. Übergangslos<br />

ist der Maler versunken in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.


240 ANSICHTEN<br />

Der Wissenschaftler hatte die Gewalt der Mächte unterschätzt,<br />

die den Künstler beherrschen. Nicht <strong>im</strong> Entferntesten<br />

hatte er erkannt, in welchem Ausmaß der mit machtvollspontanen<br />

inneren Kräften ringt, mit Emotionsausbrüchen,<br />

die ihn oft in mehrere Richtungen zugleich zerren. Wie sehr<br />

der kämpft gegen Triebhaftes. Wie gebrechlich die Tektonik<br />

ist in den Tiefen dieser kleinen Person. Aus den Augenwinkeln<br />

blickt er hinüber zu seinem Gefährten. Der bleibt plötzlich<br />

stehen und stützt sich schwer auf den Spazierstock.<br />

‘Wie wenig’, denkt der Physiker, ‘ist dieser Mann der<br />

selbstsichere, erfolgverwöhnte Künstler, mit dem ich glaubte,<br />

es zu tun zu haben.’<br />

“I…ich weiß nicht weiter”, flüstert der Maler. Er senkt den<br />

Kopf, atmet stoßweise. “Wie soll ich … wie sollen wir … mit<br />

diesen Problemen fertig werden?” Bebende dünne Finger fahren<br />

über das harte Gesicht. “Das kann doch auf die Dauer<br />

nicht gut gehn!” Er holt tief Luft. “Sie haben nicht gerade dazu<br />

beigetragen, meinen inneren Orkan zu besänftigen.”<br />

“Das tut mir leid. Ich will Sie nicht belasten. Ich suche die<br />

erkennbare Wahrheit. Nichts sonst.” Nach einer Pause fügt<br />

der Physiker hinzu: “Ich will niemandem ein Leid zufügen.”<br />

Da zuckt der Zwerg zusammen. Wie ein geisterhaftes Echo<br />

hallt ihm der Satz durch die Sinne. Ein Echo, woher? Ein<br />

Echo, auf wessen St<strong>im</strong>me? Der Maler wehrt sich gegen eine<br />

Gedankengestalt, die Zutritt begehrt zu seiner Bewußtseinsbühne,<br />

die antworten will auf diese Fragen. Er will sie nicht.<br />

… Und es gelingt ihm, sie zu verbannen.<br />

Seine Fassung plötzlich zurückgewinnend, geht er weiter.<br />

Ruhig sagt er nun: “Freilich! Ich weiß, daß Sie mir nicht weh<br />

tun wollen.” Er räuspert sich. “Ich habe Sie gebeten, mir einen<br />

Blick zu gewähren hinter Ihre Kulissen, in Ihre Wissenschaftlerseele.<br />

Sie haben mich gewarnt. Ich aber bin von meiner<br />

Bitte nicht abgerückt.” Er stößt den Spazierstock hart in den<br />

Boden. “Und das will ich auch jetzt nicht. Keinen Mill<strong>im</strong>eter!<br />

Für mich ist es wichtig, zu wissen, wie Sie die Welt, die Men-


Ausweg 241<br />

schen sehen.” Er zerrt die breite Krempe seines Hutes tiefer<br />

in die Stirn. Tausend Gedanken durchstürmen den Kopf.<br />

Emotionen sprühen Funken wie ein Feuerwerk. Abermals<br />

verliert er das innere Gleichgewicht. Nur mit Mühe gelingt es<br />

ihm, sich wieder zu fangen. “Ich will die Wahrheit! Soweit sie<br />

uns denn erkennbar ist. Ich will die Wirklichkeit, auch wenn<br />

sie schmerzt.”<br />

Steifrückig wendet sich der Künstler dem Wissenschaftler<br />

zu: “Was können wir tun? Sehen Sie einen Ausweg? Einen<br />

Ausweg aus dem Widerstreit zwischen dem, was und wie der<br />

Mensch ist, und dem, was und wie er sein müßte, um erfolgreich<br />

sein Leben zu meistern und seine Zukunft zu gestalten?”<br />

“Einen Ausweg können wir nur mit offenen Augen finden.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Wir müssen klarer sehen, woher wir kommen, wer wir sind,<br />

wo wir stehen.”<br />

“Ich will harte Antworten auf harte Fragen. Hat der Mensch<br />

eine Chance, sich auf der Erde langfristig einzurichten?”<br />

“Nicht ohne grundlegende Veränderungen <strong>im</strong> Verhalten.<br />

Nicht ohne neue Organisationsformen in Politik und Staat.”<br />

“Was für Organisationsformen?”<br />

“Unsere großen Probleme sind globaler Natur.”<br />

“Und?”<br />

“Daher sind sie auch nur global zu lösen.”<br />

“Nämlich?”<br />

“Durch weltweit abgest<strong>im</strong>mtes Verhalten.”<br />

“Abgest<strong>im</strong>mt wodurch?”<br />

“Durch eine Weltregierung, die demokratisch legit<strong>im</strong>iert ist,<br />

einen Weltgerichtshof, der mit ausreichenden Zuständigkeiten<br />

ausgestattet ist, eine Umweltschutzbehörde, die weltweit<br />

agieren kann.”<br />

“Bla, bla! Das sind doch alles leere Worte!”<br />

“Leider.”<br />

“Chance oder nicht!?”, ruft der Maler.<br />

“Keine Chance! Das Denken und Handeln der meisten Men-


242 ANSICHTEN<br />

schen wird zu stark best<strong>im</strong>mt von Aggressivität, Rücksichtslosigkeit,<br />

Besitzenwollen und Selbstüberschätzung. Mir kommt<br />

die Menschheit manchmal vor wie ein riesiges Knäuel von Leibern,<br />

die, bereits von der Klippe gerutscht, noch während des<br />

Sturzes in den Abgrund voll damit beschäftigt sind, sich<br />

gegenseitig in die Rippen zu boxen – ohne den Sturz überhaupt<br />

wahrzunehmen.” Der Physiker macht eine resignierende<br />

Handbewegung. “Das ist wirklich unglaublich!” Er zuckt die<br />

Schultern. Dann sagt er: “Es ist meine feste Überzeugung, daß<br />

diese wildgewordene Variante irdischen Lebens die weitaus<br />

längste Zeit ihrer Existenz hinter sich hat.”<br />

“Verdammt nochmal!”, schreit der Maler wie von Sinnen.<br />

Verzweifelt drohend stößt er den Spazierstock in die Höhe.<br />

“D… da muß man doch was tun können!!”<br />

“Man kann!”, ruft der Physiker, nun ebenfalls seine St<strong>im</strong>me<br />

erhebend. Und wer ihn kennt, der ahnt, daß provozierender<br />

Spott ihn jetzt reitet. “Es gibt eine ebenso einfache und<br />

schnelle wie undurchführbare Lösung.”<br />

“Welche??”<br />

“Wiedereingliederung des Menschen in das System, das ihn<br />

hervorgebracht hat und das ihn trägt.”<br />

“Wie soll das funktionieren? Dazu noch schnell?”<br />

“Man müßte das gesamte Gedächtnis der Menschheit<br />

auslöschen: alle Schriftwerke, alle gespeicherten<br />

Informationen. Was dann …”<br />

“Sie!!”<br />

“Was dann übrig bleibt, das steckt <strong>im</strong> Hirn. Hier sind die<br />

Konflikte zu Hause. Hier wohnen die Probleme. Der Kopf<br />

macht den Menschen zum Menschen – und zum Ungeheuer.<br />

Im Kopf steckt seine Intelligenz, aber auch sein Vernichtungspotential.<br />

Wie bei einer Atomrakete.”<br />

Der Physiker sieht den Maler an, schiebt langsam die Brille<br />

hoch und sagt: “Da das Problem also <strong>im</strong> Kopf liegt, müßte man<br />

alle diejenigen, die mehr als 11 und 15 <strong>im</strong> Kopf<br />

zusammenzählen können, um denselben kürzer machen.”


Ausweg 243<br />

“S … Sie!!!”, kreischt der Maler mit sich überschlagender<br />

St<strong>im</strong>me. “Sie!!” Er ringt nach Luft.<br />

Und dann spielt ihm plötzlich seine Phantasie einen bösen<br />

Streich. Sein inneres Auge sieht, wie er den Physiker anspringt<br />

und umwirft, wie er dem Liegenden nach der Kehle<br />

greift, wie er ihn würgt. Ungeheure Kräfte wachsen ihm zu.<br />

Mit beiden Händen umschließt und preßt er die verhaßte<br />

Kehle. Immer weiter. Bis die Glieder des Gewürgten erschlaffen.<br />

Will er vernichten, was ihn vernichtet? Oder treibt ihn<br />

die Vorstellung einer letzten, unwiderbringlichen Besitzergreifung?<br />

Triumphierend blickt er in das blaß werdende<br />

Gesicht. Aber dann, auf einmal, sprießen aus dem kahlen<br />

Schädel lange rote Haare!!! Da schreit der Maler auf in namenlosem<br />

Entsetzen. Er taumelt und droht zu stürzen.<br />

Schnell springt der Physiker hinzu und greift ihm stützend<br />

unter den Arm. “Was ist Ihnen?!”, ruft er erschrocken.<br />

“Nichts! Gar nichts!! … Ich bin gestolpert.”<br />

Der Maler reißt sich los von der stützenden Hand, schluckt,<br />

räuspert sich, zerrt den Hut in die Stirn. “Um denselben<br />

kürzer machen!”, krächzt er. “Mir ist überhaupt nicht zum<br />

Spaßen zumute!”<br />

“Das ist Galgenhumor.”<br />

Der Zwerg duckt sich. Lauernde, nach rechts oben rollende<br />

Augen funkeln hinauf zu dem Größeren. Er droht ihm mit der<br />

Faust. “Galgenhumor”, krächzt er. “Schöner Galgenhumor!!”<br />

Er schüttelt sich. So heftig, daß der Hut in den Sand fällt.<br />

Stöhnend hebt er ihn auf. Mit dem Ärmel wischt er Schmutz<br />

von der weißen Krempe. Dann steht er mit gerötetem Gesicht<br />

vor dem Physiker. Er starrt ihn an. Plötzlich reißt er den Spazierstock<br />

in die Höhe. Für einen Augenblick sieht es so aus,<br />

als wolle er den Wissenschaftler damit schlagen. Dann aber<br />

sinken Arm und Stock. Mit einer ausholenden Armbewegung<br />

saugt der Künstler röchelnd die Lungen voll Luft. Wie einer,


244 ANSICHTEN<br />

der Kerzen ausbläst, pustet er sie mit geblähten Wangen zischend<br />

wieder hinaus. Dann sackt er stumm in sich zusammen.<br />

Es dauert eine Weile bis der Maler sich wieder gefaßt hat.<br />

Zornig wirft er das Ende des Schals über die Schulter. Dann<br />

sch<strong>im</strong>pft er: “Sie sind ein Provokateur!!”<br />

“Ja. Ich provoziere. Zu viele unserer Denker wandern auf<br />

ausgebauten Wegen. Gefahrlos, bequem, traditionsgefällig.<br />

Mich zwingt etwas, herumzusuchen zwischen und hinter den<br />

Wegen. So wecke ich den Widerspruch der Weg-Gebundenen.<br />

So bin ich vielen unbequem. So muß ich mich besch<strong>im</strong>pfen<br />

lassen.”<br />

Als der Maler nicht reagiert, sagt der Physiker: “Es tut mir<br />

leid, daß ich Sie verletzt habe. Meine Überzeugung ist diese:<br />

Die Lebenszeit der Menschheit wird kürzer sein, als die meisten<br />

von uns annehmen. Sie kann nur voll ausgeschöpft<br />

werden mit der Wissenschaft, mit der Natur, mit Einsicht.<br />

Ohne oder gegen diese drei werden wir alles verlieren, was<br />

heute ein menschenwürdiges Dasein ausmacht.”<br />

“Sie haben das Hirn entwürdigt!”, ruft der Maler. “Das Organ,<br />

das uns zum Menschen macht!”<br />

“Zu viel Respekt vor dem Hirn ist gefährlich.”<br />

“W…wieviel Zeit geben Sie uns noch?”<br />

“Schwer zu sagen. Min<strong>im</strong>al noch einige Jahrzehnte,<br />

max<strong>im</strong>al noch einige Jahrhunderte. Das hängt davon ab, wie<br />

sich die Menschheit verhält. Ob es ihr gelingt, ihr gewaltiges<br />

Vermehrungspotential in den Griff zu bekommen. Ob sie die<br />

Natur wirksam schützen kann. Ob sie ihr globales Wirken<br />

und Wirtschaften zu organisieren vermag in Form eines der<br />

Natur nachempfundenen Kreislaufs von Produktion und Dekomposition,<br />

von Aufbau und Abbau.”<br />

“Da hat die moderne Landwirtschaft, die Grundlage unserer<br />

Nahrungsproduktion, doch schon viel erreicht.”<br />

“Die Produktion von Nahrung für sechs Milliarden Menschen<br />

schädigt die Natur. Mehr als viele andere menschliche<br />

Aktivitäten. Gesunde Nahrung aber braucht eine gesunde


Ausweg 245<br />

Natur. Mehr als vieles andere.”<br />

“Wo liegt der Kern des Problems?”<br />

“Die Kernfrage lautet: Können die Menschen genügend Einsicht<br />

und Disziplin aufbringen, um die natürlichen Bewegungen<br />

von Materie und Energie als etwas für alles Leben auf der<br />

Erde Verbindliches zu begreifen und zu respektieren.”<br />

“Was müssen wir tun?”<br />

“Wir müssen die Fortpflanzungsrate der Menschen radikal<br />

reduzieren. Wir müssen den Einfluß der Menschen auf die<br />

Natur nachhaltig eindämmen. Wir müssen für den menschlichen<br />

Bedarf ein eigenes System rezirkulierender Materie und<br />

durchfließender Energie entwickeln – ein System, das die<br />

Umwelt so wenig wie möglich verformt, belastet oder schädigt.”<br />

“Ist das der Ausweg?”<br />

“Das sind die wichtigsten Möglichkeiten, die Lebensspanne<br />

der Menschheit zu verlängern.”<br />

“Ist das zu schaffen?”<br />

“Im Prinzip schon. So wie ich das sehe, werden die Menschen<br />

das aber nicht tun, jedenfalls nicht in ausreichendem<br />

Maße. Sie werden vielmehr weiteren Schaden anrichten, bevor<br />

sie endgültig von der Erde verschwinden.”<br />

“Aber sehen Sie mal, in Amerika und Europa sind großartige<br />

neue Technologien entwickelt worden für Nahrungsproduktion,<br />

Energiegewinnung und Umweltschutz. Experten<br />

haben errechnet, daß damit die gesamte gegenwärtige<br />

Menschheit langfristig versorgt und erhalten werden könnte.”<br />

“Diese Experten gehen vom gegenwärtigen Lebensstandard<br />

aus.”<br />

“Und? Was ist falsch daran?”<br />

“Daß sie gegenwärtige Mißverhältnisse in der Verteilung<br />

von Resourcen festschreiben. Daß sie soziale Ungerechtigkeit<br />

auch für die Zukunft in Kauf nehmen.”<br />

“Was genau wollen Sie damit sagen?”<br />

“Was glauben Sie, würde geschehen, wenn die gesamte ge-


246 ANSICHTEN<br />

genwärtige Erdbevölkerung den gleichen Lebensstandard<br />

hätte, wie die Amerikaner und Europäer? Den gleichen Nahrungs-,<br />

Material- und Energieverbrauch?”<br />

“Was?”<br />

“Es käme zur Katastrophe!”<br />

“Tabula rasa, wie?”<br />

“Nicht ganz. Manches würde erhalten bleiben. Viele Spuren<br />

des Menschen würden verblassen. Viele große Wunden, die<br />

diese Fehlentwicklung der Schöpfung geschlagen hat, würden<br />

vernarben. Bedenken Sie: Tausende von Jahren der Menschheitsgeschichte<br />

entsprechen einer Sekunde der Erdgeschichte.”<br />

“Sie haben Ihre Langzeitprognose gestellt. Wie …”<br />

“Das ist nicht meine Langzeit-, sondern meine Mittelzeitprognose.<br />

Langfristig wird nicht nur der Mensch sterben,<br />

sondern alle Arten, welche derzeit die Erde bevölkern. Schon<br />

in wenigen Milliarden Jahren wird die Erde kein Leben mehr<br />

tragen – so wenig wie der Mond heute. Und noch einige Milliarden<br />

Jahre später werden auch alle leblosen Strukturen,<br />

welche heute die Erde ausmachen, verschwinden. Sie werden,<br />

wie alles Materielle <strong>im</strong> Universum, wieder zu ihrem Ursprung<br />

zurückkehren: Sie werden wieder zu Energie.”<br />

“Wie groß ist die Chance, daß Ihre Langzeitprognose falsch<br />

ist?”<br />

“Aus meiner Sicht null Prozent.”<br />

Wild gestikulierend schüttelt der Maler heftig den Kopf.<br />

“Ich sage Ihnen, die Kurzfassung der Geschichte des Lebens<br />

auf der Erde wird einmal so lauten: Milliarden Jahre ohne<br />

Mensch, einige hundert Jahre mit dem modernen Menschen,<br />

Milliarden Jahre ohne Mensch. Der moderne Mensch ist ein<br />

sehr gefährlicher, aber eben auch nur ein sehr kurzlebiger<br />

Irrweg der Natur.”<br />

“Verdammt noch mal!”, schreit der Maler. Abermals reißt er<br />

Arm und Stock in die Höhe. Aber, die Unterlippe hochwölbend<br />

und die Achseln hebend, läßt er beide wieder sinken.<br />

Er schluckt. Schließlich sagt er mit heiserer St<strong>im</strong>me: “Und wie


geht’s kurzfristig weiter? Auch da keine Chance? Kein Ausweg?”<br />

“Das will ich so nicht sagen. Das hängt, wie gesagt, davon<br />

ab, ob die Menschen endlich die Einsicht, den Mut und die<br />

Kraft aufbringen können, um sich selbst und die Dinge um sie<br />

herum realistischer zu sehen. Fort mit dem alles verbrämenden<br />

und verzerrenden Aberglauben! Fort mit den Beruhigungs-Märchen!<br />

Fort mit den ungerechtfertigten Eitelkeiten!<br />

Fort mit dem Mensch-Über-Alles-Denken! Ein Ende dem<br />

ständigen Selbstbetrug! Nur aus mehr Wahrhaftigkeit kann<br />

den Menschen mehr Einsicht und Verantwortlichkeit erwachsen.<br />

Und nur mit mehr Einsicht und Verantwortlichkeit könnte<br />

der dringend erforderliche Kurswechsel eingeleitet<br />

werden.”<br />

Paris<br />

Paris 247<br />

Stumm wandern Künstler und Wissenschaftler nebeneinander<br />

her. Lange spricht keiner ein Wort. Dann durchbricht<br />

der Physiker das Schweigen: “Wie war’s in Paris?”<br />

Der Maler hebt den Kopf, hält eingeatmete Luft in geblähten<br />

Wangen zurück und pustet sie dann hörbar hinaus. “Eindrucksvoll!”<br />

Selbstsicherheit kehrt zurück. Und nun leuchtet<br />

auch stilles Vergnügen in den harten Zügen. “Am ersten Tag<br />

habe ich an der Vormittags- und Nachmittagssitzung einer<br />

Jury teilgenommen.”<br />

“Worum ging’s?”<br />

“Wir sollten einen von elf Künstlern auswählen für die Neugestaltung<br />

eines großen Platzes.”<br />

“Woraus bestand die Jury?”<br />

“Aus hochkarätigen Architekten und Künstlern. Alles würdige<br />

Gestalten. Bis auf einen. Der erschien zu beiden Sitzungen<br />

mit bloßem Oberkörper. Er wurde gebracht und abgeholt<br />

von einer Frau. Wir haben gedacht: das muß ein ganz


248 ANSICHTEN<br />

Großer sein, daß der sich so über Normen hinwegzusetzen<br />

vermag. So begegneten wir ihm mit viel Respekt. Die Entscheidung<br />

zog sich länger hin als erwartet. Daher mußte ich<br />

am Spätnachmittag eine Verabredung telephonisch absagen.<br />

Im Vorraum des Sitzungssaals saß die Frau. Ich grüßte sie<br />

höflich.<br />

‘Hola Señior!’, rief sie und fragte auf Spanisch mit<br />

merkwürdigem Akzent: ‘Wie weit seid ihr da drinnen?’<br />

‘Es wird noch etwas dauern.’<br />

‘Ich warte auf meinen Mann.’<br />

‘Ich weiß – warum kommt der mit bloßem Oberkörper?’<br />

‘Weil ich das so will.’<br />

‘Warum wollen Sie das?’<br />

‘Weil ich ihn so besser sauber halten kann!’”<br />

Als das Lachen der beiden verhallt ist, fragt der Physiker:<br />

“Wie ging’s mit der Preisverleihung?”<br />

“Alles verlief in einem großartigen Rahmen. Viele Menschen<br />

haben mich angesprochen auf Cocktailpartys und Empfängen.<br />

Sie waren erstaunlich gut informiert über mein Schaffen.<br />

Auch der Minister hat mich auf zwei meiner neueren Werke<br />

hin angesprochen. Und er hat mich etwas gefragt, das mich an<br />

Sie erinnert hat.”<br />

“An mich?”<br />

“Er hat mich auf deutsch gefragt: ‘Wie machen Sie das?’”<br />

Der Maler grinst. “Da mußte ich sogleich an Ihren Kongreß<br />

denken und an Ihre Rumänin.”<br />

“Das ist ja wirklich eine lustige Koinzidenz!”<br />

“Freilich!”, schuckelt der Zwerg. “Aber ich habe ihm nicht<br />

gesagt, wie ich das wirklich mache.” Lauthals wiehert er.<br />

Nach einer Weile sagt der Maler: “Die Gespräche mit den<br />

anderen beiden Preisträgern waren ein Erlebnis.”<br />

“Was sind das für Menschen?”<br />

“Einer von ihnen ist Schriftsteller. Er hat sich kritisch mit<br />

sozialen Fragen auseinandergesetzt. Seine unbestechlichen<br />

Analysen und vor allem seine mitunter eher aggressiv formu-


lierten Thesen haben ihm nicht nur Zust<strong>im</strong>mung<br />

eingebracht.<br />

Der andere Preisträger ist Bildhauer. Ein unerhört temperamentvoller<br />

Zeitgenosse mit übersprudelndem Ideenreichtum<br />

und unerschöpflicher Kreativität. Mit ihm verbindet<br />

mich vieles. Wir konnten kaum voneinander lassen. Ende des<br />

Jahres will er mich besuchen. Sicher wird das auch für Sie<br />

interessant werden. Ich habe ihm von Ihnen erzählt, von<br />

Ihren Gedanken und Vorstellungen. Er möchte Sie unbedingt<br />

kennenlernen.” Die Augen des Malers versinken fast in den<br />

tiefen Falten seines vor Vorfreude knisternden Gesichts.<br />

“Nur zu!”, ruft der Physiker und lacht. “Das wird ein heißes<br />

Jahresende! Da werden wir drei zusammen mit unseren erhitzten<br />

Köpfen die Temperatur <strong>im</strong> <strong>Park</strong> meßbar in die Höhe<br />

treiben!”<br />

Jetzt lachen sie wieder, die beiden, ausgelassen wie die<br />

Spitzbuben, und sie freuen sich auf das Ende des Jahres.<br />

Nur gut, daß sie nicht wissen, was es ihnen bringen wird.<br />

Daß sie nicht ahnen, welch grausame Überraschungen ihnen<br />

bevorstehen.<br />

Männchen<br />

Männchen 249<br />

Den Kopf geneigt, vor sich hinblickend und ganz in ihre<br />

Gedanken eintauchend, setzen Künstler und Wissenschaftler<br />

ihre Wanderung fort. Der Maler trägt seinen Spazierstock<br />

jetzt zwischen angewinkelten Armen auf dem Rücken. Und<br />

auch der Physiker hat seine Arme hinter sich verschränkt.<br />

Lange gehen sie so.<br />

“Wo waren Sie gestern?”, fragt der Physiker schließlich. “Ich<br />

habe am See vergeblich nach Ihnen Ausschau gehalten.”<br />

“Das tut mir leid. Waren wir verabredet?”<br />

“Nein. Aber ich hatte mich auf Sie gefreut und auf die Fortsetzung<br />

unserer Gespräche.”


250 ANSICHTEN<br />

Noch <strong>im</strong>mer treffen sich die beiden an der weißen Bank auf<br />

dem verwaisten Bootsanleger. Von dort wandern sie umher<br />

auf entlegenen Wegen. So sind sie völlig ungestört und<br />

können sich ganz auf ihre Diskussionen konzentrieren.<br />

“Gestern”, sagt der Maler, “war ich in der Universität. Dort<br />

habe ich einen interessanten Vortrag besucht.”<br />

“Wie lautete das Thema?”<br />

“Unser derzeitiges Wissen über bemannte Ufos.”<br />

“Bemannt mit wem?”<br />

“Mit merkwürdigen, menschenähnlichen Geschöpfen.”<br />

“Kleine grüne Männchen, wie?”, spottet der Physiker. “Wie<br />

können Sie sich nur einen solchen Unfug anhören!”<br />

“Das Thema interessiert mich. Im übrigen sind Sie doch<br />

selber einer von denen, die intelligentes außerirdisches Leben<br />

für möglich halten.”<br />

“Ich halte es nicht nur für möglich, sondern für sehr wahrscheinlich.”<br />

“Na also! Dann können Sie doch auch nicht ausschließen,<br />

daß intelligentes, außerirdisches Leben zu uns kommt.”<br />

“Aber keine menschenähnlichen Geschöpfe.”<br />

“Ach, ja? Wie können Sie das einfach so behaupten?”<br />

“Das sind Ausgeburten des Ich-Welt-Syndroms. Variationen<br />

der Vorstellung vom Menschen als dem Zentrum und Kulminationspunkt<br />

des Schöpfungsvorgangs: Wir sind die Größten,<br />

also muß alles Große menschenähnlich sein: Gott, Teufel,<br />

Außerirdische.”<br />

“In welcher Form sonst?”<br />

“Nicht in Form von organischen Wesen.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil die Bedingungen, unter denen sich organische Wesen<br />

entwickeln, das nicht zulassen.”<br />

“Abermals: warum nicht?”<br />

“Organisches Leben kann sich nur in Ökosystemen entwickeln.<br />

Das haben wir ja bereits erörtert. Das gilt so gut<br />

wie sicher auch für organisches Leben auf fremden Planeten,


Männchen 251<br />

wenn es denn dort so etwas geben sollte. Ein Ökosystem<br />

fesselt seine Mitglieder. Auch der Mensch kann nur<br />

vorübergehend und nur teilweise aus dem ‘Gravitationsfeld’<br />

seines Systems flüchten. Früher oder später wird er wie eine<br />

Rakete mit unzureichender ‘escape velocity’ in das System<br />

zurückstürzen, wird er wieder von mächtigen Kräften des<br />

Systems absorbiert – oder gänzlich vernichtet.”<br />

“Was sind das für Kräfte?”<br />

“Die Natur verfügt über wirkungsstarke Ordnungskräfte.”<br />

“Wie können Sie da so sicher sein?”<br />

“Organische Lebensvielfalt benötigt berechenbare Rahmenbedingungen.<br />

Nur so kann sich über Milliarden von Jahren<br />

vielgestaltiges Leben ausbilden und erhalten. Die Tiere, Pflanzen<br />

und Mikroorganismen, die wir heute vorfinden, sind der<br />

Beweis dafür, daß mächtige Ordnungskräfte über unermeßliche<br />

Zeitspannen angemessene Bedingungen hergestellt haben.”<br />

“Und daraus folgern Sie, daß es keine mit menschenähnlichen<br />

Geschöpfen bemannten Ufos geben kann?”<br />

“Technologische Hochleistungen, wie sie für wirkliche bemannte<br />

Weltraumfahrten, also über Entfernungen von Hunderten,<br />

Tausenden oder Millionen von Lichtjahren, erforderlich<br />

sind, können während einer kurzen, partiellen Flucht aus<br />

den Fesseln eines Ökosystems nicht hervorgebracht und<br />

unterhalten werden. Jedes aus einem Ökosystem<br />

hervorgegangene Geschöpf ist zudem für seine spezifische<br />

Rolle innerhalb des Systems programmiert. Typisch Mensch:<br />

unfähig, sich auf Erden einzurichten, postuliert er, wenn<br />

schon nicht für sich selbst, so doch für ihm ähnliche Wesen die<br />

Fähigkeit, sich <strong>im</strong> Universum einzurichten.”<br />

“Rrmm”, knurrt der Maler und fährt mit dünnen Fingern<br />

über lange Haare. “So gern ich möchte, gegen diese in sich<br />

schlüssige Argumentation kann ich nicht überzeugend opponieren.”<br />

Er hebt den Arm und läßt ihn mit einem Achselzucken<br />

wieder sinken.


252 ANSICHTEN<br />

Leben<br />

Mit halb zugekniffenen Augen blinzelt der Maler über den<br />

See. Augenblendend glitzert dessen weite Wasserfläche <strong>im</strong><br />

Licht der tiefstehenden Sonne. Der Zwerg überlegt. Mehrmals<br />

räuspert er sich. Dann formt er die Lippen zum Trichter.<br />

“Schauen Sie mal”, sagt er schließlich, “ich habe da eine<br />

Frage. Über die habe ich schon oft nachgedacht, aber niemals<br />

eine befriedigende Antwort gefunden.”<br />

“Wie lautet die Frage?”<br />

“Was eigentlich ist das, diese Erscheinung, die wir Leben<br />

nennen?”<br />

“Leben ist <strong>Suchen</strong>. Finden und Lernen. Fehlermachen und<br />

Konfliktaustragen. Probieren und Korrigieren. Leben ist …”<br />

“Korrigieren? Dann bedeutet Leben Probleme lösen?”<br />

“Nein. Leben gebiert mehr Probleme als es löst. Erst <strong>im</strong><br />

Nachhinein versucht es, geborene Probleme zu bewältigen.<br />

Das Wechselspiel zwischen Gebären, Bewältigen und Neugebären<br />

von Problemen, das ist die Triebfeder evolutierenden<br />

Lebens.”<br />

“Ich hatte Sie unterbrochen.”<br />

“Leben ist Verändern, Wagen, Kämpfen, Anpassen. Leben<br />

ist Ausreifen über Milliarden von Jahren.”<br />

“Wie kommt da Stabilität rein?”<br />

“Da ist nichts wirklich stabil. Da herrscht steter Wandel,<br />

ständiges Weiterwandern. Aber insgesamt fördert Ausreifung<br />

Ausgewogenheit.”<br />

“Wie?”<br />

“Durch Schaffung von Verschiedenheit und Spezialisierung.<br />

Die Ausreifung des Lebendigen ist ein faszinierendes Schauspiel,<br />

in dem Einheitliches Unterschiedliches gebiert und in<br />

dem Unterschiedliches Ganzheitliches gestaltet.”<br />

“Was ist innen? Im Grundsätzlichen?”<br />

“Da unterscheidet sich lebende Materie nur in ihrer Anordnung<br />

von lebloser Materie. Alle Bausteine eines lebenden


Leben 253<br />

Wesens sind genauso tot wie die eines Steins.”<br />

“Wodurch unterscheidet sich dann Lebendiges von Totem?”<br />

“Durch ein gesteuertes Fließungleichgewicht von Energie<br />

und Materie. Durch einen in den Naturgesetzen vorgegebenen<br />

Balanceakt, einen Seiltanz, den Energie und Materie aufführen,<br />

sobald best<strong>im</strong>mte Bedingungen sich einstellen. Ebenso,<br />

wie aus flüssigem Wasser Eis entsteht – entstehen muß –<br />

wenn die Temperatur einen best<strong>im</strong>mten Wert erreicht; ebenso,<br />

wie Materie unter best<strong>im</strong>mten Bedingungen Kristallstrukturen<br />

bilden muß, oftmals sehr komplizierte; ebenso zwangsläufig<br />

muß überall dort der Seiltanz des Lebens beginnen, wo<br />

sich entsprechende Konstellationen von Energie und Materie<br />

ausbilden.”<br />

“Lebewesen und Kristalle sind sehr verschiedene Dinge!”<br />

“Nicht so verschieden, wie das auf den ersten Blick erscheinen<br />

mag. In gewissem Sinne kann man lebende Materiestrukturen<br />

als komplexe, dynamische, irreguläre Kristalle<br />

auffassen.”<br />

“Das ist mir neu. Aber es muß doch einen Uranfang für das<br />

Leben auf der Erde gegeben haben. Sehen Sie nirgends einen<br />

Schöpfungsakt?”<br />

“Als an best<strong>im</strong>mten Stellen der Erde alle essentiellen Ingredienzen<br />

beisammen waren, und als die Umweltbedingungen<br />

st<strong>im</strong>mten, da haben möglicherweise kosmische Strahlen als<br />

Initialzündung den Übergang von Totem in Lebendes bewirkt.”<br />

“Strahlung aus dem Universum als Lebensstifter auf der<br />

Erde?”<br />

“So ist es möglicherweise gewesen.”<br />

“Wie konnte die Strahlung Leben schaffen?”<br />

“Indem sie die Energie lieferte für die Zusammenfügung verschiedener<br />

Substanzen, den Anstoß für den Aufbau der ersten<br />

zur Selbstreduplikation befähigten Moleküle. Aber die Energie<br />

könnte auch einen irdischen Ursprung gehabt haben: Vulkanische<br />

Kräfte, Blitze, Hitze, bewegtes Wasser. Als ich zum<br />

erstenmal <strong>im</strong> nordamerikanischen Yellowstone <strong>Park</strong> die bro-


254 ANSICHTEN<br />

delnden geothermischen Quellen und Sümpfe gesehen habe –<br />

diesen heißen, unablässig blubbernden Morast, Schlamm und<br />

Ton, dieses faszinierende Schauspiel tanzender Materie – da<br />

habe ich gedacht: so könnte es gewesen sein.”<br />

“Wo kamen die Substanzen her, aus denen sich das erste<br />

Leben formte?”<br />

“Alles kam aus einer Quelle: der Energieexplosion des Urknalls.<br />

Alles, was wir heute sehen, besteht aus erkalteten<br />

Funken dieses gewaltigen Urfeuers. Und aus Sternenfeldern,<br />

die sich aus den Funken geformt haben, <strong>im</strong> Großen wie <strong>im</strong><br />

Kleinen.”<br />

“Sternenfelder?”<br />

“Kreise, Wirbel, Staub.”<br />

“Staub?”<br />

“Sternenstaub.”<br />

“Leben aus Staub? Das sagt auch die Bibel.”<br />

“Da steht so manche Weisheit drin.”<br />

“Welchen Gesetzen unterliegt das Leben?”<br />

“Den gleichen Gesetzen wie das Nichtlebende.”<br />

“Für mich hat das Leben eine besondere Qualität. Das muß<br />

doch auch in den Gesetzen seine Entsprechung finden, denen<br />

das Leben unterliegt.”<br />

“Die Qualität, die das Leben für einen Menschen hat, muß<br />

nicht aus den Gesetzen ableitbar sein, die das Leben steuern.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil die Qualität, die etwas für einen Menschen hat, und<br />

die Qualität, die etwas für die Natur hat, verschiedene Dinge<br />

sein könnten.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf.<br />

“Materie,” n<strong>im</strong>mt der Physiker seinen Gedankengang wieder<br />

auf, “lebende und tote, ist unablässig in Bewegung, unablässig<br />

auf dem Wege: gefangen in ewigem Kreisen und<br />

Wogen des Welttheaters. Wie die H<strong>im</strong>melskörper in der großen<br />

Welt sich umeinander und miteinander bewegen, so auch<br />

bewegen sich die Materieteilchen in der Welt <strong>im</strong> Kleinen.


Leben 255<br />

Hier aber nehmen die Bewegungen – wo<strong>im</strong>mer die Energiesituation<br />

das erlaubt – gewaltig zu, und sie werden erratischer,<br />

unberechenbarer. Aber letztlich hängt all das<br />

zusammen. All das gebiert, vervollkommnet und erneuert sich<br />

in innerem Zusammenhang.”<br />

“Was verstehen Sie unter Lebendigsein?”<br />

“Lebendigsein ist Leben in dem Augenblick der Ewigkeit,<br />

der jetzt ist.”<br />

“Weiter!”<br />

“Irdisches Leben lebt von Leben – und von Totem. Immerfort<br />

muß es organische und anorganische Umwelt in sich aufnehmen,<br />

daraus körpereigenes Material aufbauen und die für<br />

die Erhaltung seiner Funktionen erforderliche Energie<br />

gewinnen. Und <strong>im</strong>merfort muß es Material und Energie<br />

wieder an die Umwelt abgeben.”<br />

“Mich fasziniert am Leben die Vielheit in der Einheitlichkeit.”<br />

Der Physiker nickt. “Leben kann in sehr unterschiedlichen<br />

Ausprägungen existieren. Aber allen Ausprägungen<br />

gemeinsam sind elektrodynamische Phänomene, gebändigte<br />

Elektron-Quark-Wirbel und gesteuertes Fließen und<br />

Schwingen von Energie.”<br />

“Ich hatte an andere Aspekte der Vielheit und Einheitlichkeit<br />

gedacht. Ich …”<br />

“Auf der Erde hat derartiges Geschehen kohlenstoffhaltige<br />

Komplexe aufgebaut: Eiweißkörper, Kohlehydrate, Fette,<br />

Sterine, Phosphatide, Nukleinsäuren. Dieses organische Konzept<br />

des Lebens hat zu einer unbefriedigenden, man könnte<br />

auch sagen zu einer teuflischen Lösung geführt. Denn, wie<br />

gesagt, organisches Leben muß <strong>im</strong> Rahmen des Ausreifungsgeschehens<br />

Energie, Materie und Entwicklungs<strong>im</strong>pulse gewinnen<br />

aus gegenseitigem Behindern, Beschädigen und Töten. Ein<br />

fortwährendes, sich gegenseitig bedingendes Formen, Verdrängen<br />

und Vernichten.” Er schüttelt sich. “Eine scheußliche<br />

Art, Leben zu organisieren.”


256 ANSICHTEN<br />

‘Das ist mir zu fremd’, denkt der Maler, ‘und wohl auch zu<br />

einseitig gesehen.’ Irritiert fragt er: “Wo steht denn da der<br />

Mensch?”<br />

“Seite an Seite mit anderen Lebensformen, die aus organischem<br />

Material biologisch verwertbare Energie gewinnen<br />

müssen. Wie jene begräbt er in seinem Innern während seines<br />

ganzen Lebens Legionen anderer Kreaturen.”<br />

“Das ganze Leben ein Begräbnis, wie?” Der Maler schüttelt<br />

verständnislos den Kopf.<br />

“Und ein ständiges ‘Wiederauferstehen’”, lächelt der Physiker.<br />

“Denn aus dem Begrabenen entsteht neues Leben.”<br />

“Wodurch werden die Grundeigenschaften des Lebens<br />

hervorgebracht?”<br />

“Durch universumweite Programme und Kräfte – Schwerkraft,<br />

Fliehkraft, chromodynamische Kraft, elektromagnetische<br />

Kraft. Diese Kräfte beeinflussen alles Geschehen, <strong>im</strong><br />

Bereich des Toten und <strong>im</strong> Bereich des Lebenden. Auch die<br />

unterschiedliche Rolle, welche eine Lebensform <strong>im</strong> Schauspiel<br />

der Schöpfung spielt. Bitte bedenken Sie: Universumweites<br />

Geschehen formt letztlich auch den Boden, dem unsere Empfindungen<br />

und unser Bewußtsein entwachsen – unser Fühlen,<br />

Denken, Begreifen und Verhalten.”<br />

Der Künstler hebt abwehrend die Hand. “Universum und<br />

Leben sind grundverschiedene Dinge!”<br />

“In ihren Wurzeln sind sie Gleiches, in ihren Ausformungen<br />

Verwandtes. Überall die gleichen Gesetze, das gleiche Material,<br />

die gleiche Geschichte, die gleiche Zukunft. Überall …”<br />

“Aber …”<br />

“Überall verwandte Strukturen, verwandtes Geschehen.”<br />

“Aber Lebewesen sind doch nun wirklich etwas anderes!”<br />

“Nichts anderes. Wohl aber Differenzierteres. Leben ist ein<br />

Meilenstein am Wege der kosmischen Ausreifung, etwas, das<br />

unter best<strong>im</strong>mten Gegebenheiten entstehen muß – mit der<br />

gleichen Notwendigkeit, mit der ein Stein entsteht. Lebewesen<br />

bilden spezifische, oft komplizierte Bauweisen und


Verhaltensweisen aus. Viele entwickeln Sozialstrukturen.<br />

Manche formen Rangordnungen. Andere etablieren Reviere.<br />

Und…”<br />

Hier versagt die Aufnahmefähigkeit des Zwerges. Das Wort<br />

‘Revier’ löst eine innere Blockade aus. Ihm zittern die Lider.<br />

Immer wieder verunsichert ihn der Physiker! Dessen Art zu<br />

denken verläßt die Pfade des Gewohnten, die dem Menschen<br />

das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bescheren.<br />

Dessen Art, die Welt zu sehen, erfüllt nicht die Hoffnung des<br />

Künstlers auf innere Stabilisierung. Sie stürzt ihn in zusätzliche<br />

Konflikte.<br />

Angst<br />

Angst 257<br />

Und da schwebt sie wieder herbei, die Angst. Wie ein aufgescheuchter<br />

schwarzer Vogel flattert sie umher in der labilen<br />

Künstlerseele. In Abwehr hebt der Zwerg den Arm und beugt<br />

den Kopf. “Angst”, flüstert er. Und dann noch einmal, noch<br />

leiser: “Wieder die Angst.”<br />

“Was meinen Sie?”<br />

Der Maler schreckt aus seinen Vorstellungen. Ihm ist sein<br />

Flüstern peinlich. Hastig sucht er nach einer plausiblen<br />

Erklärung. “I…ich meine … wie eigentlich passen Leben und<br />

Angst zusammen?”<br />

Den Physiker überrascht dieser Gedankensprung und die<br />

Verwirrtheit seines Gefährten. Er überlegt. Nach einer Weile<br />

sagt er: “Leben muß sich schützen und verteidigen vor<br />

Lebensbedrohendem. Angst ist die fundamentale Antriebskraft<br />

für dieses Verhalten.”<br />

“Bei Menschen.”<br />

“In abgewandelter Form ist das, was wir als Angst empfinden,<br />

auch in anderen Lebensformen wirksam, auch in Pflanzen<br />

und Mikroorganismen. Angst mobilisiert lebenserhaltende<br />

Kräfte und beflügelt die Evolution.”


258 ANSICHTEN<br />

“Was geschieht mit der Angst <strong>im</strong> Menschen?”<br />

“Da vervielschichtigt sich die Angst.”<br />

“Wie?”<br />

“Indem sie verschiedene Gewänder anlegt und in vielerlei<br />

Gestalt auftritt. Angst ist ein Meister <strong>im</strong> Kostümieren. So<br />

kann sie auch in Rollen schlüpfen, die mit ihrer ursprünglichen<br />

Funktion wenig zu tun haben.”<br />

“Zum Beispiel?”<br />

“Angst kann losgelöst von einer realen Gefahr auftreten.”<br />

“Wo?”<br />

“Auf der Bühne der Einbildung. Dort kann Angst dominierende<br />

Rollen spielen und große Macht entfalten. In extremen<br />

Fällen kann sie zu einem ernsten psychologischen Problem<br />

werden. Ja, sie kann sogar <strong>im</strong> Gewand einer Krankheit daherkommen.”<br />

“Einer Krankheit?”<br />

“Einer Krankheit der Psyche. Aber auch des Körpers.”<br />

Der Maler spürt plötzlich auf ihn Bezogenes. Ihm dämmert<br />

die Bedeutung der Angst für sein eigenes kompliziertes Wesen.<br />

In ihm ke<strong>im</strong>t Angst vor der Angst.<br />

Da sagt der Physiker: “Be<strong>im</strong> Menschen gibt es von Naturgewolltem<br />

entfremdete Ängste, wie der Mensch sich ja in so<br />

mancher Hinsicht Naturgewolltem entfremdet hat. Da gibt es<br />

Phantomängste, wie es auch Phantomschmerzen gibt. Da kann<br />

Angst zu Verhalten führen, das nicht mehr lebenserhaltend<br />

ist, sondern lebensbedrohend oder gar lebensvernichtend.”<br />

“W…wie?”<br />

“Höhenangst kann lähmenden Schwindel auslösen und den<br />

Betroffenen in die Tiefe stürzen lassen. Berührungsangst<br />

kann zu völliger Isolation und schließlich zur Selbsttötung<br />

führen. Übermäßige Angst kann eine Kurzschlußreaktion<br />

auslösen, die jeder Vernuft entbehrt und sogar zu Mord führen<br />

kann.”<br />

‘Mord!’, schreit eine St<strong>im</strong>me <strong>im</strong> Maler. ‘MORD!!!’ Wie von<br />

einem Dolch fährt ihm ein Stich durchs Herz. Er taumelt.


Angst 259<br />

“Wir sehen also: gewisse angstmotivierte Gefühlszustände<br />

können be<strong>im</strong> Menschen auch negative Wirkungen hervorbringen.”<br />

“J … ja”, stottert der Maler verstört. “Ja. So ist es wohl.”<br />

“Angst in ihren ursprünglichen Formen ist für die Reifung<br />

des Menschen wichtig. Wer Angst verdrängt, der muß am<br />

Ende mit großen Spannungen fertig werden – Spannungen,<br />

die ihn zerreißen können. Erwachsenwerden hat viel zu tun<br />

mit Angstverarbeitung und Leidbewältigung.”<br />

“Was löst Angst aus?”, fragt der Maler, eigentlich mehr um<br />

seine Betroffenheit zu überspielen.<br />

“Die meisten Formen der Angst werden durch Verhalten<br />

und Erlebnisse konstelliert.”<br />

“Die meisten – was ist mit den anderen?”<br />

“Da gibt es vor allem die mit der Menschwerdung entstandene<br />

Urangst. Sie entwächst der Ungewißheit über unser<br />

Schicksal, über den Sinn unseres Seins. Aber mehr noch als alles<br />

andere ist die Urangst ein Kind der Gewißheit unseres<br />

Todes. Wir können versuchen, die Urangst wegzudiskutieren,<br />

wegzubeten oder wegzupredigen. Aber wie der Tod nicht weicht,<br />

wenn man nicht an ihn denkt, so auch nicht die Urangst.”<br />

‘Tod!’, schreit etwas <strong>im</strong> Maler. ‘TOD!!!’ Er zittert. Und dann<br />

denkt er: ‘Er macht mir Angst, der Tod. Aber habe ich ihn<br />

nicht verdient? Und sollte er mir nicht willkommen sein? Nur<br />

er kann mich erlösen.’ Abrupt wendet er sich dem Physiker<br />

zu: “Was kann man tun gegen Angst?”<br />

“Nicht viel.”<br />

“Was?!!”<br />

“Die Wahrheit suchen und ihr offen ins Gesicht sehen.”<br />

Der Maler erbebt. ‘Das gilt mir!’, denkt er. ‘Hier stehe ich.<br />

Hier fließen die Ströme meiner Individualität zusammen: in<br />

der Schuld und in der Angst!’ – “Was noch kann ich … was<br />

können wir tun?”<br />

“Uns bewußt konfrontieren mit angstauslösenden Vorstellungen<br />

und Wirklichkeiten. Wer solche Konfrontationen aus-


260 ANSICHTEN<br />

halten kann, und mehr noch wer daraus Kraft zu gewinnen<br />

vermag, dem wächst Stärke zu, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.<br />

Der fördert seine Reifung. Der darf hoffen.”<br />

“Hoffen? Worauf??”<br />

“Auf Erkenntnis und Einsicht. Wer aber der Angst ausweicht,<br />

wer sie verkleidet oder verleugnet, der bleibt stehen,<br />

der verharrt, der erstarrt.”<br />

Nun nickt der Maler: “Sie und ich, wir erwandern uns <strong>im</strong>mer<br />

wieder neue Ansichten, neue Einsichten, neue Erlebnisse<br />

und neue Wahrheiten. Nichts hat nur eine Seite. Nicht wer<br />

steht, nur wer geht, sieht die ganze Weite.”<br />

Urgesetz<br />

Die beiden Wanderer setzen ihren Rundgang fort. Nach<br />

einer Weile fragt der Maler: “Sind Sie einer von den Physikern,<br />

die nach der Endgültigen Theorie suchen? Nach dem<br />

Urgesetz?”<br />

“Nein.”<br />

“Ich habe gelesen, daß manche Physiker nach der alle Erscheinungen<br />

umfassenden ‘Theory of Everything’ forschen.<br />

Sämtliche bisherigen Erkenntnisse verbindend, wollen sie bis<br />

in das alles Leblose und alles Lebende beherrschende Endgültige<br />

Gesetz vorstoßen.”<br />

“Das ist intellektueller Hochmut.”<br />

“Warum so harte Worte?”<br />

“Bei all ihren Berechnungen und Überlegungen vergessen<br />

diese klugen Köpfe etwas wohl nicht völlig Unwichtiges: Sich<br />

selbst. Sie selbst sind ein Produkt des gesuchten Urgesetzes.<br />

Und sie selbst sind der Beweis dafür, daß sie das Urgesetz niemals<br />

finden können.”<br />

“Sie selbst … der Beweis? Was ist das für ein Beweis?”<br />

“Alles, was sie mit größten geistigen Anstrengungen und<br />

finanziellen Aufwendungen finden könnten, das ist das ‘Ur-


Urgesetz 261<br />

gesetz’, gesehen aus der beschränkten Sicht von Menschen –<br />

erarbeitet mit menschlichen Sinnen, menschlicher Logik und<br />

mit von Menschen konstruierten Apparaten. Das aber kann<br />

niemals das Urgesetz sein.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Ich bin überzeugt davon, daß die Möglichkeiten aller Erdwesen,<br />

die Welt wahrzunehmen, ein Spiegel der artspezifischen<br />

Rolle sind, die ihnen das Drehbuch der Schöpfung vorschreibt.”<br />

“Mich interessiert jetzt nicht Ihre Überzeugung. Mich interessiert<br />

der Beweis. Wie stichhaltig ist er?”<br />

“Er ist unwiderlegbar.”<br />

“Wie lautet der Beweis?”<br />

“Das Leben, das wir auf der Erde vorfinden.”<br />

“Was beweist es?”<br />

“Dieses bunte, vielartige Leben konnte sich nur mit einer<br />

unüberbrückbaren Beschränkung in der Weltwahrnehmung<br />

entwickeln und erhalten. Denn was wäre wohl geschehen <strong>im</strong><br />

Milliarden von Jahren währenden irdischen Lebensvorgang,<br />

wenn auch nur eine einzige der Millionen in gnadenlosem<br />

Wettbewerb miteinander konkurrierenden Lebensformen sich<br />

über eine solche Beschränkung hätte hinwegsetzen können?<br />

Was wäre geschehen, wenn auch nur eine einzige Lebensform<br />

in der Lage gewesen wäre, die wirkliche Welt, das Gesetz<br />

nach dem sie funktioniert, das Urgesetz, zu erkennen? Das<br />

gesamte, vielfach vernetzte System der in sensiblen gegenseitigen<br />

Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen koevolvierenden<br />

Lebensformen wäre zusammengebrochen!”<br />

Der Maler kneift die Lippen aufeinander. “Rrmm”, knurrt er<br />

und nickt. “Verdammt nochmal, das muß ich schlucken.”<br />

“Im Unvermögen irdischer Lebensformen, das Urgesetz zu<br />

erkennen, sehe ich so etwas wie ein Urgesetz. Das einzige, das<br />

wir zu begreifen <strong>im</strong>stande sind.”<br />

“Aber der Mensch hat sich ein Stück aus dem Naturgeschehen<br />

hinausentwickelt.”


262 ANSICHTEN<br />

“Ja. Der moderne Mensch hat seine ursprüngliche Rolle <strong>im</strong><br />

Schauspiel der Schöpfung erweitert. Aber alle seine vor Millionen<br />

von Jahren entstandenen Organe, Eigenschaften und<br />

Verhaltensmuster sind <strong>im</strong> wesentlichen unverändert geblieben.<br />

Nach wie vor n<strong>im</strong>mt der Mensch die Welt wahr mit den in<br />

seiner ursprünglichen Umwelt gewordenen Sinnesorganen und<br />

<strong>Inter</strong>pretationsmöglichkeiten. Nach wie vor ist er fest <strong>im</strong> Griff<br />

der Natur. Schon das bißchen, das er dem Ursprünglichen<br />

hinzugefügt hat, bringt uns alle an den Rand des Abgrunds.<br />

Zu diesem bißchen gehört auch intellektueller Hochmut.”<br />

“Wenn Ihre Vorstellungen aber falsch wären? Wenn der<br />

Mensch eben doch etwas Besonderes wäre?”<br />

“Sie meinen, wenn ein unbeschränktes Erkennen der Naturgesetze<br />

innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten<br />

läge?”<br />

“Ja.”<br />

“Dann würde eine erfolgreiche Ausschöpfung dieser Möglichkeiten<br />

dazu führen, daß die Theorie von Allem, das Urgesetz,<br />

in den Köpfen und Händen des Wesens läge, das ohne<br />

jeden Zweifel schon jetzt die größte Gefahr darstellt für das<br />

Leben auf unserem Planeten!”<br />

Erschrocken nickt der Maler.<br />

“Das Urgesetz in der Verfügungsgewalt dieses Gefährders<br />

der Schöpfung! Ein Horrorszenario ohne Gleichen, eine<br />

Katastrophe allergrößten Ausmaßes!” Der Physiker dreht den<br />

Oberkörper scharf ab. Er schüttelt sich, als wäre ihm plötzlich<br />

sehr kalt geworden. Energisch schiebt er die Brille hoch: “Da<br />

lassen Sie uns doch lieber zurückkehren zu meinen harmloseren<br />

Ideen und Gedankenspielen.”<br />

Augenpaare<br />

“Sieh da, sieh da, der Freizeit-Jäger!” Der Physiker lächelt<br />

und deutet mit dem kahlen Kopf nach rechts.


Augenpaare 263<br />

“Was meinen Sie?”, fragt der Maler unangenehm berührt.<br />

“Da hat sich ein Bekannter von mir in diesen entlegenen<br />

Teil des <strong>Park</strong>s verirrt.”<br />

“Bitte mich nicht vorst...”, weiter kommt der Maler nicht;<br />

denn der MinRat naht mit raschen Schritten.<br />

“Sie haben mir schlaflose Nächte bereitet!”, ruft er dem<br />

Physiker entgegen. Als er vor ihm steht fügt er hinzu: “Unser<br />

Gespräch am Fluß hat mich nicht mehr losgelassen. Es hat<br />

mich in zunehmendem Maße bewegt. Ich...”<br />

Der Physiker stellt den MinRat vor. Zum Maler deutend<br />

sagt er: “Und das ist...” Da boxt ihm sein kleiner Gefährte<br />

versteckt derart ins Kreuz, daß er zu husten beginnt.<br />

Natürlich weiß der Physiker inzwischen, daß der Maler <strong>im</strong><br />

<strong>Park</strong> nicht gern erkannt werden möchte, aber irgendetwas<br />

muß er doch sagen. So beginnt er erneut: “Das ist ...”, wieder<br />

boxt der Maler. Da legt er dem beruhigend die Hand auf den<br />

Arm und sagt – zwischen Husten und unterdrücktem Lachen<br />

– “das ist … auch … ein … <strong>Park</strong> … anbeter.”<br />

Der Maler grinst. Vergnügt zupft er herum am weißen Seidenschal.<br />

Der MinRat macht eine knappe Verbeugung. Ihn bewegen<br />

ganz andere Dinge. Zum Physiker sagt er: “Sie haben mich in<br />

einen harten Gewissenskonflikt gestürzt.”<br />

“Tut mir leid … Ich …” Noch <strong>im</strong>mer ringt der Physiker mit<br />

dem Husten.<br />

“Wie meinen?”<br />

“Ich … hatte gute Absichten.” Der Physiker ist jetzt ganz<br />

ernst geworden. “Haben Sie das Angeln und Schießen inzwischen<br />

aufgeben können?”<br />

Die Lippen des MinRats spreizen und spitzen sich, signalisieren<br />

Anspannung und einen Anflug von Ärger. Er leidet<br />

unter Entzugserscheinungen und Entscheidungsqualen. Der<br />

Kampf seines Verstandes gegen uraltes, durch die Zeit geheiligtes<br />

Verhalten ist schwieriger, als er erwartet hatte. Der Min-<br />

Rat ist ein aufrechter Mann. Er will seinen Konflikt erhobenen


264 ANSICHTEN<br />

Hauptes austragen. Kerzengerade will er da durch. Stundenlang<br />

hatte er nach dem Physiker gesucht. Überall. Er<br />

wünscht eine Vertiefung des Gesprächsthemas. Als er den Physiker<br />

nirgends finden konnte, war er bis zum See gegangen, bis<br />

in dessen entlegenste Uferpartien. Eine erneute Begegnung ist<br />

ihm sehr wichtig. Aber nun stört ihn der Begleiter.<br />

“Zunächst einmal unterbrochen”, antwortet er schließlich.<br />

“Gut”, lächelt der Physiker, “sehr gut.”<br />

Der MinRat findet keinen Gefallen am Gespräch zu dritt.<br />

Mißmutig wendet er sich dem modisch gekleideten kleinen<br />

Mann zu. Sekundenlang stehen sich die beiden gegenüber in<br />

einem stummen Gefecht funkelnder, einander taxierender<br />

Augenpaare. Dem MinRat gefällt der Begleiter des Physikers<br />

nicht – nicht dessen aufgedonnerte Erscheinung und nicht<br />

das, was er da sieht in den Augen unter der gefurchten Stirn.<br />

Seine Geradlinigkeit und seine Korrektheit verleihen ihm<br />

einen unbestechlichen Blick. In den Augen des anderen sieht<br />

er Dunkelheit, Zwielichtigkeit und Triebhaftigkeit.<br />

Noch <strong>im</strong>mer sind die funkelnen Augenpaare fest ineinander<br />

verkeilt. Fenster vor zwei Welten.<br />

Ohne sich große Mühe zu geben, seinen Unmut und seine<br />

Geringschätzung zu verbergen, sagt der MinRat plötzlich –<br />

noch <strong>im</strong>mer ganz <strong>im</strong> Auge des anderen: “Wissen Sie eigentlich,<br />

daß Sie dem berühmten Maler sehr ähnlich sehen, der vor<br />

kurzem in unsere Stadt gezogen ist? Sehr ähnlich sogar.”<br />

Da zuckt der Zwerg zusammen und wendet den Blick ab.<br />

Doch dann reitet ihn der Teufel. Erneut sucht er die Augen<br />

des anderen: “Was Sie nicht sagen. Da muß der ja sehr häßlich<br />

sein!”<br />

Weit davon entfernt, das spaßig zu finden, knickt der Min-<br />

Rat ein zu einer knappen, steifen Verbeugung. “Ich hoffe”,<br />

sagt er zum Physiker, “daß wir uns recht bald wiedersehen!”<br />

Sich dessen Begleiter zuwendend, nickt er kühl: “Herr Anbeter!”<br />

Dann geht er seines Weges.<br />

Über diese Anrede aufs höchste belustigt, eilt der Maler, mit


Mühe lautes Lachen unterdrückend, hinter einen Busch. Dort<br />

steht er nun, etwas nach vorn geneigt, mit verschmitzt blitzenden<br />

Augen und schulterhüpfend stummem Lachen.<br />

Ich-Weltbild<br />

Ich-Weltbild 265<br />

“Was sagen Sie zu dem Weltbild, das die Menschen sich<br />

gemalt haben?”<br />

“Es ist morsch. Und es ist schief.”<br />

“Das sehe ich anders. Ganz anders!” Ärgerlich wirft der Maler<br />

mit der Linken das baumelnde Ende seines Seidenschals<br />

über die Schulter.<br />

“Unser Weltbild ist zurückgeblieben hinter dem heute von<br />

Menschen Erkennbaren, und zwar in gefahrbringendem Ausmaß.<br />

Ein neues Weltbild muß her! Ein neuer Mensch und ein<br />

neuer Gott!”<br />

“Du liebe Güte!”, höhnt der Maler, “ist das nicht ein bißchen<br />

viel auf einmal? Was wollen Sie? Die Welt aus den Angeln heben?”<br />

“Verständnis wecken für die Notwendigkeit einer globalen<br />

Neuorientierung. Dogmen und Normen entlarven, die nicht<br />

mehr in unsere Zeit passen. Die Ausformung eines neuen<br />

Wertesystems anregen.”<br />

“Wir sind nicht schlecht gefahren mit unseren bisherigen<br />

Vorstellungen. Wir ...”<br />

“Wir stehen vor dem Abgrund.”<br />

“Wir haben unser Weltbild vervollkommnet!”<br />

“Unser Weltbild steht auf einem Fundament, das uns heute<br />

nicht mehr trägt. Mit dem darauf Wachsenden marschieren<br />

wir schnurstracks in die Katastrophe.”<br />

“Ach, ja? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!” Zornig knallt<br />

der Maler den Spazierstock neben sich auf die weiße Bank des<br />

alten Anlegers. Protestierend hebt er beide Hände.<br />

“Es ist mein Ernst.”


266 ANSICHTEN<br />

“Ihre Forderungen gehen mir zu weit! Ungezählte Menschen,<br />

darunter unsere besten, haben über Jahrhunderte gerungen<br />

mit sich und anderen, um die Vorstellungen zu erarbeiten,<br />

die wir heute von uns und der Welt haben. Da kann<br />

doch nicht ein einzelner kommen, mag er noch so gescheit<br />

sein, und erklären, das sei alles morsch und schief!”<br />

“Bitte geben Sie mir Gelegenheit, meine Ansicht zu<br />

begründen.”<br />

“Wenn Sie darauf beharren.”<br />

“Bei all seinen Bemühungen, das Weltgeschehen zu begreifen,<br />

sieht sich der Mensch <strong>im</strong> Mittelpunkt.”<br />

“Freilich! Was ist so falsch daran?”<br />

“Die Einseitigkeit. Unser Weltbild ist ein Ich-Weltbild. Dieses<br />

Ich-Weltbild müssen wir erweitern, jedenfalls soweit uns<br />

das möglich ist.”<br />

“Halt!”, ruft der Maler und hebt erneut beide Hände. “Als<br />

Künstler muß ich schon hier aufs Heftigste protestieren. Alles,<br />

was ich male, alles was ich fühle, alles was ich denke, ist<br />

Ausdruck meines Ichs, meiner ganz persönlichen Art, die Welt<br />

zu erleben. Mag das, was ich male, gut sein oder schlecht, es ist<br />

mein Werk, das Werk eines Ichs. Und das ist nicht anders bei<br />

der schöpferischen Leistung, die andere Menschen erbringen.<br />

Im Ich und in den Verschiedenheiten zwischen den Ichs, da<br />

liegt der ganze Reichtum unserer Kultur. Ohne die Farbenpracht<br />

individueller Beiträge wären Kunst und Philosophie<br />

grau. Ja, sie wären gar nicht denkbar. Die Lebenserfahrung<br />

verschiedener Individuen, das Miteinander und Gegeneinander<br />

ihrer Empfindungen, ihres Denkens, Wissens und Wirkens,<br />

das macht unsere Welt aus. Es waren alles Ichs, wenige<br />

genug, die unsere Kultur geprägt haben. Geniale Einmaligkeiten!<br />

Und noch eins: der Begriff Weltbild bedeutet für viele<br />

Menschen ganz bewußt ihr persönliches Weltbild, ihre<br />

individuelle Art, die Welt zu sehen und zu erleben. Das hat<br />

Ihnen die Rumänin in Paris doch sehr überzeugend erläutert<br />

und vorgelebt.”


Ich-Weltbild 267<br />

“Das ist alles völlig richtig. Ich muß mein Anliegen deutlicher<br />

machen. Es geht mir nicht darum, den Wert der Ich-<br />

Perspektive in Frage zu stellen. Wir empfinden und denken<br />

als Individuen.”<br />

“Eben!”<br />

“Aber diese Tatsache bildet für ein modernes Weltverständnis<br />

nur einen Pfeiler.”<br />

“Den Pfeiler!”<br />

“Den wackeligsten Pfeiler.”<br />

“Das sagen Sie!” Im Maler wächst Ärger: ‘Dieser Physiker-<br />

Biologen-Philosoph! Alles stellt der auf den Kopf! Alles mißt<br />

der am eigenen Maß! Wo bleibt da die Stütze, die ich mir von<br />

den Einsichten dieses Mannes erhofft hatte? Ich suche einen<br />

Halt. Eine Bestätigung meines Glaubens. Eine Verklärung<br />

meiner Schuld! Da muß doch mehr drin sein <strong>im</strong> Hirn dieses<br />

Kahlkopfs!!’ Mit bebender Hand wischt er Schweiß von der<br />

Stirn. “Was wollen Sie eigentlich?”, ruft er. “Worum geht es<br />

Ihnen?”<br />

“Um erkenntnistheoretische Probleme.”<br />

“Ach, ja?”<br />

“Unser Weltbild basiert auf den gleichen Prinzipien der<br />

Welterfahrung, die auch anderen Lebensformen eigen sind.<br />

Diese Prinzipien zielen darauf ab, einer Lebensform, gleich<br />

welcher Art, <strong>im</strong>mer nur solche Informationen zugängig zu<br />

machen, die für deren Einordnung in ihre ökologische Nische<br />

erforderlich sind.”<br />

“Die Evolution schafft Neues!”<br />

“Was außerhalb der ökologischen Nische einer Art liegt, hat<br />

für deren Evolution keine unmittelbare Bedeutung.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Ein Maulwurf lebt <strong>im</strong> Erdreich. Nur hier kann er Informationen<br />

gewinnen und auswerten. Für ihn ist die Welt etwas<br />

anderes als für einen Vogel. Eine Kreuzspinne kann <strong>im</strong>mer<br />

nur Informationen und Anregungen gewinnen, die für ihr<br />

Leben als Fallenstellerin Bedeutung haben. Entsprechendes


268 ANSICHTEN<br />

gilt für einen Bandwurm, eine Ameise, einen Fisch und<br />

natürlich auch für einen Menschen. Je nach der Rolle, die eine<br />

Lebensform nach dem Drehbuch der Schöpfung auf der Bühne<br />

des Lebens spielt, sind die Regieanweisungen verschieden.<br />

Und je nach deren Verschiedenheiten wird ein verschiedener<br />

Aspekt der Welt zugänglich. Das Resultat ist <strong>im</strong>mer ein<br />

spezieller und ein beschränkter Einblick in die Welt – ein für<br />

die betroffene Lebensform maßgeschneiderter Ausschnitt, der<br />

von seiner Qualität und Quantität her nicht geeignet sein<br />

kann, an das heranzukommen, was die Welt wirklich ist.”<br />

“Das kann ich in unserem Gesprächszusammenhang nicht<br />

als Argument akzeptieren.”<br />

“Ich will versuchen, meine Sicht der Sache klarer herauszuarbeiten.<br />

Eine Vielfalt koexistierender Lebensformen kann<br />

sich nur dann herausbilden und erhalten, wenn jede einzelne<br />

Lebensform etwas Einmaliges ist. Daher spielt jedes Lebewesen<br />

<strong>im</strong> Theater des Lebendigen seine eigene, unverwechselbare<br />

Rolle. Und es muß diese Rolle einhalten. Nur so kann<br />

das Ganze funktionieren. Jede Lebensform ist ein Unikat mit<br />

speziellen Strukturen und Funktionen, und daher auch mit<br />

speziellen Fähigkeiten, ihr gemäße Auschnitte aus der Welt<br />

wahrzunehmen und auszuwerten.”<br />

“Was bedeutet das für den Menschen?”<br />

“Daß wir an unsere Strukturen und Funktionen gebunden<br />

sind. Daß wir nur auf dem Hintern sitzen können, nicht auf<br />

der Brust. Daß wir eine Faust nur zur Handfläche hin machen<br />

können, nicht aber zum Handrücken hin. Daß wir den größten<br />

Teil des Lichtspektrums nicht sehen, einen großen Teil der<br />

Töne nicht hören können. Daß wir viele Gedanken nicht denken<br />

und viele Vorstellungen nicht haben können.”<br />

Unwillig wiegt der Maler den Kopf.<br />

“Wie ich bereits angedeutet habe, erkenne ich in den Verschiedenartigkeiten<br />

irdischer Gestalten und in den entsprechenden<br />

Beschränkungen ihrer Möglichkeiten, Informationen<br />

zu gewinnen und auszuwerten, ein Naturgesetz. Ich nenne es


Ich-Weltbild 269<br />

das Restriktionsgesetz.”<br />

“Und was bedeutet dieses Gesetz für unseren Gesprächszusammenhang?”<br />

“Für unser Gespräch ist der entscheidende Punkt dieser:<br />

Die moderne Menschheit hat ihr naturgewolltes ökologisches<br />

Artpotential erweitert und damit das Restriktionsgesetz gefahrbringend<br />

strapaziert. Nun muß sie auch ihr Weltverständnis<br />

um ein entsprechendes Stück erweitern und so einen<br />

erneuten Ausgleich herstellen. Sonst kommt sie ins Schleudern.<br />

Sonst verstößt sie in kritischem Ausmaß gegen den Harmoniebedarf<br />

des Systems. Das würde für sie <strong>im</strong> Tod enden.”<br />

“Tod”, ruft der Maler, “Tod! Was heißt das schon? Der Preis<br />

allen Lebens ist der Tod. Leben ist <strong>im</strong>mer tödlich! Was lebt,<br />

das stirbt!”<br />

“Längerfristig jedenfalls”, lächelt der Physiker, aber er läßt<br />

sich nicht abbringen von seinen Gedanken. “Das systemgefährdend<br />

gewachsene ökologische Potential der modernen<br />

Menschheit und ein stehengebliebenes Ich-Weltbild, das paßt<br />

nicht zusammen. Unser Weltverständnis muß mitwachsen<br />

und damit unsere Möglichkeiten zur Wiedereingliederung in<br />

das Theaterspiel der ausreifenden Schöpfung.”<br />

“Weltverständnis … was ist Ihrer Ansicht nach die<br />

wichtigste Voraussetzung für ein neues Weltverständnis?”<br />

“Ein neues Selbstverständnis.”<br />

“Rrmm!” knurrt der Maler. Aber schon ist er wieder ganz<br />

Neugier. ‘Ich will wissen, ganz genau wissen, was der weiß.<br />

Tief da drinnen in dessen Hirn muß es ein Gehe<strong>im</strong>nis geben.<br />

Woher sonst gewinnt der seine Selbstsicherheit, seine Unbeirrbarkeit,<br />

seine Souveränität?’ Gespielt entspannt sagt er:<br />

“Ich beginne zu ahnen, wohin die Reise geht.”<br />

“In den letzten Jahrzehnten haben sich unsere Einwirkungsmöglichkeiten<br />

auf die Natur vervielfacht. Gleichzeitig haben<br />

sich unsere Möglichkeiten, Informationen zu gewinnen und<br />

auszuwerten, erweitert. Wissenschaftler und Technologen<br />

haben neue, künstliche Sinnes- und <strong>Inter</strong>pretationsorgane


270 ANSICHTEN<br />

entwickelt und auf diese Weise unsere Erkenntnismöglichkeiten<br />

vergrößert, deutlich über den uns ursprünglich von der<br />

Natur gesetzten Rahmen hinaus. Aus diesem Zugewinn an<br />

Einwirkungs- und Informationsmöglichkeiten ergibt sich die<br />

Notwendigkeit, ein diese Entwicklungen berücksichtigendes<br />

neues Weltverständnis zu erarbeiten.”<br />

“Freilich!”, ruft der Maler, “jetzt kann ich Ihnen folgen. Hier<br />

liegt ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit!”<br />

“So ist es.”<br />

“Aber ich bin der Meinung, daß unser Denken und Planen<br />

das auch berücksichtigt.”<br />

“Nicht in ausreichendem Maße. Auch heute noch sehen sich<br />

die meisten Menschen als Mittelpunkt der Welt: Ich-Welt, Ich-<br />

Leben, Ich-Kunst, Ich-Gott. Im Prinzip ist das wohl nicht<br />

anders als bei den Tieren. Auch ein Hund, ein Igel, ein Hecht<br />

erlebt sich wahrscheinlich als Mittelpunkt der Welt, als Zentrum<br />

des Geschehens. Tatsächlich aber ist kein Individuum<br />

und keine Art Mittelpunkt. Sie alle sind Teil, Teil der Welt,<br />

Teil der Schöpfung. Aber unsere Philosophie ...”<br />

“Was ist Philosophie für Sie?”<br />

“<strong>Suchen</strong> nach Erkenntnis von innen heraus, vom Kern des<br />

<strong>Suchen</strong>den her.”<br />

“Wo liegt die Stärke, wo die Schwäche?”<br />

“Die Stärke liegt <strong>im</strong> vom strengen Zwang wissenschaftlicher<br />

Methodik befreiten In-Sich-Hinein-Gehen, die Schwäche <strong>im</strong><br />

unzureichenden Messen des innen Gefundenen an der äußeren<br />

Realität.”<br />

“Dann liefert die Naturwissenschaft dauerhaftere Ergebnisse?”<br />

“Sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Philosophie<br />

überdauern Fragen eher als Antworten.”<br />

“Und was folgern Sie aus all dem?”<br />

Der Physiker legt beide Handflächen zusammen und führt<br />

sie so vor den Mund, daß die Zeigefingerspitzen seine Nase<br />

berühren. Die Daumen stützen sein eckiges Kinn. So verharrt


Ich-Weltbild 271<br />

er eine Weile. Schließlich sagt er: “Daraus folgere ich, daß wir<br />

unsere Vorstellung von der Welt ändern müssen. Ebenso wie<br />

wir sie ändern mußten, als wir erkannten, daß die Erde keine<br />

Scheibe ist, sondern ein kugelförmiges Gebilde, daß die Erde<br />

um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, daß die Erde nicht<br />

der Mittelpunkt der Welt ist, sondern ein kleiner Planet in<br />

einer aus Milliarden von H<strong>im</strong>melskörpern bestehenden Spiralgalaxie.<br />

Und daß es von solchen Galaxien Millionen über<br />

Millionen gibt.”<br />

Der Maler saugt Luft tief in sich hinein, hält sie mit geblähten<br />

Wangen zurück. Erstaunlich lange. Und nun läßt er sie<br />

zischend wieder entweichen.<br />

“Bitte denken Sie einen Augenblick darüber nach. Und dann<br />

werfen Sie mal einen Blick auf die Weltliteratur, auf das, was<br />

die Menschheit bisher über sich und die Welt zu Papier<br />

gebracht hat: Überall Ich-Welt-Denken! In westlichen Kulturkreisen<br />

dominiert nach wie vor die religiöse Überzeugung, daß<br />

das ganze Welttheater wegen der Menschen veranstaltet wird.<br />

Das Zentraldogma der christlichen Religion ist die Menschwerdung<br />

Gottes. Welch unfaßbare Selbstüberschätzung!”<br />

“Ist Gott nicht in allem?”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Warum dann nicht <strong>im</strong> Menschen?”<br />

“So ist das von den Religionsführern nicht gemeint.”<br />

“Ach ja?”<br />

“Glauben Sie allen Ernstes, daß die jemals von der Hundwerdung<br />

Gottes sprechen würden? Oder von dessen Mauswerdung?<br />

Oder Graswerdung? Nein, nein! Hier manifestiert<br />

sich die Vorstellung von Gott als einem Übermenschen, der<br />

von seiner Höhe herniederschwebt und sich vorübergehend<br />

und ganz wörtlich in einen Menschen verwandelt. Hier stoßen<br />

wir auf den kindlichen Kern der Choreographie christlicher<br />

Gedankentänze.”<br />

“Rrmm!”<br />

“Die Menschen sagen ‘Leben’ und meinen ihr Leben. Sie sa-


272 ANSICHTEN<br />

gen ‘Umwelt’ und meinen ihre Umwelt. Sie sagen ‘Leben nach<br />

dem Tod’ und meinen ihr eigenes Weiterleben nach dem Tod.<br />

Sie sagen ‘Gott’ und meinen ein ihnen ähnliches Wesen, das<br />

zuständig ist für ihr ganz persönliches Wohlergehen – ein<br />

Wesen, mit dem sie ganz persönlich kommunizieren können.”<br />

Ernergisch schüttelt der Physiker den kahlen Schädel. “Das<br />

ist wirklich unglaublich. Rings um uns herum anthropozentrisches<br />

und geozentrisches Gedankengut!”<br />

“Was müßte sich denn Ihrer Ansicht nach ändern?”<br />

“Wir müssen erkennen, daß derartiges Denken aus heutiger<br />

Sicht und aus heutigen Notwendigkeiten auf falsch verlegten<br />

Schienen daherkommt. Diese Schienen müssen wir verlassen,<br />

wenn wir weiter vordringen wollen in das, was die Welt<br />

wirklich ist. Wenn wir die Kräfte realistischer einschätzen<br />

wollen, welche die Welt hervorgebracht haben und steuern.<br />

Wenn wir unsere <strong>im</strong>mer zahlreicher werdenden und <strong>im</strong>mer<br />

schwererwiegenden Probleme lösen oder doch klarer<br />

erkennen wollen. Wenn wir versuchen wollen, unsere Zukunft<br />

zu planen und zu gestalten.”<br />

“Tiere können auch ohne solche Verrenkungen ihre Zukunft<br />

planen und gestalten. Denken Sie an ein Eichhörnchen, das<br />

sich einen Nahrungsvorrat für den Winter anlegt.”<br />

“Das ist ein Beispiel für eine naturgewollte und daher<br />

angeborene Eigenschaft. Zukunftgestalten auf Grund<br />

individuell gewonnener und gewerteter Erfahrung ist in der<br />

Natur nicht vorgesehen. Die Gestaltung der Zukunft ist die<br />

ureigenste Domäne der Schöpfung selbst.”<br />

“Warum fokussiert die Schöpfung das Verhalten ihrer Kreaturen<br />

so stark auf die Gegenwart?”<br />

“Ich vermute hier ein Programm.”<br />

“Programm? Das macht doch keinen Sinn.”<br />

“Für mich schon. Wer bei seinen Kreaturen das<br />

unmittelbare Wohlergehen in den Vordergrund stellt, behält<br />

die Fäden in der Hand.”<br />

“Was ergibt sich daraus für die Menschen?”


“Nur wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, haben wir<br />

die Chance, unserer Kurzsichtigkeit eine Brille zu verpassen.”<br />

‘Dieser Mann’, denkt der Maler, ‘der durchtränkt alles in<br />

einem Ausmaß mit Rationalität, das mir fremd ist. Aber der<br />

produziert auch Gedanken, die mich anregen, aufregen,<br />

erregen. Der fordert, fesselt und fasziniert mich. Und der reizt<br />

mich zum Widerspruch. Ein belebendes, ein st<strong>im</strong>ulierendes<br />

Wechselbad!’ Gedehnt sagt er: “Das habe ich bisher nicht so<br />

gesehen. Aber”, gibt er zu bedenken, “letztlich bewirkt die<br />

Evolution doch selber eine Entwicklung zum Besseren.”<br />

“Nein. In der Evolution gibt es weder Gutes noch Besseres.<br />

Da gibt es einen Trend zur Ausschöpfung max<strong>im</strong>almöglicher<br />

Diversifikation von Formen und Funktionen, und da gibt es<br />

den alles beherrschenden Ausreifungszwang. – Also noch einmal”,<br />

beharrt der Physiker nach kurzem Schweigen: “Das<br />

Fundament unseres Weltbildes ist morsch, und es ist schief.<br />

Mit unserem alten Werkzeug können wir da nichts reparieren.”<br />

Ich<br />

Ich 273<br />

“Was eigentlich bedeuten die Begriffe ‘Ich’ und ‘Individuum’<br />

für Sie?” fragt der Maler.<br />

“Schwer durchschaubar.”<br />

“Sie sehen wirklich überall Probleme.”<br />

“Nun gut. So gebe ich die Frage an Sie zurück.”<br />

Der Maler denkt nach. Dann sagt er: “‘Ich’, das ist etwas<br />

Einheitliches, etwas von anderem Separiertes, etwas in sich<br />

Beständiges. Es ist die Quelle des Denkens und Wollens, ein<br />

unteilbares Subjekt, das Zentrum des Bewußtseins.”<br />

“Und Individuum?”<br />

“Das Individuum ist eine in sich kontinuierliche, unteilbare,<br />

abgegrenzte Lebenseinheit.”<br />

“Objektiv ist beides unzutreffend. ‘Ich’ und ‘Individuum’, so<br />

wie Sie diese Begriffe definiert haben, existieren nur in der


274 ANSICHTEN<br />

menschlichen Vorstellungswelt.”<br />

“Reicht das nicht?”<br />

“Nicht für den, der hinter die Kulissen kucken will. ‘Ich’ und<br />

‘Individuum’ sind untrennbare Teile größerer Zusammenhänge.<br />

Beide stehen in vielfacher, ununterbrechbarer Wechselwirkung<br />

und in vielschichtigem Zwangsaustausch mit dem<br />

Außen. So wenig ein Fluß etwas Einheitliches, von seiner Umgebung<br />

Separierbares, in sich Beständiges ist, so wenig ist das<br />

ein Ich oder ein Individuum. Und wie ein Fluß an einer best<strong>im</strong>mten<br />

Stelle das Resultat dessen ist, was sich flußaufwärts<br />

ereignet hat, so stehen auch Ich und Individuum <strong>im</strong><br />

Strom der Geschichte.”<br />

“Zum Teufel!! Sie bringen alles durcheinander!”<br />

“Lassen Sie uns das mal durchdenken. Gibt es wirklich ein<br />

einheitliches, abgegrenztes Kontinuum von Eigenschaften eines<br />

Ichs oder eines Individuums? Was eigentlich bleibt über<br />

ein ganzes Menschenleben an Separiertem erhalten? Was ändert<br />

sich, was kommt hinzu, was geht verloren? Bin ich Ich als<br />

Baby?, als Vierzehnjähriger?, Fünfzigjähriger?, Siebzigjähriger?<br />

Was wußte ich denn als Neugeborener? Mein Hirn<br />

war fast so leer wie das eines Hirntoten. Holen wir etwas<br />

weiter aus. Denken Sie mal an eine Libelle. Deren Larve<br />

kriecht, schw<strong>im</strong>mt und jagt <strong>im</strong> Wasser, das erwachsene<br />

Individuum aber fliegt, jagt und paart sich <strong>im</strong> Luftraum. Hier<br />

lebt ein- und dasselbe Individuum nacheinander in zwei<br />

gänzlich verschiedenen Welten, mit gänzlich verschiedenen<br />

Verhaltens- und Perzeptionsprogrammen und mit gänzlich<br />

verschiedenen Organen.”<br />

“Und was folgern Sie daraus?”<br />

“Ich und Individuum sind changierende Größen – variabler<br />

und undurchsichtiger als gemeinhin angenommen.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf.<br />

“Und haben Sie schon mal darüber nachgedacht, daß zu jedem<br />

menschlichen Individuum Millionen anderer Organismen<br />

gehören?”


Ich 275<br />

“Ach, ja?” ruft der Maler amüsiert. “Was soll denn das nun<br />

wieder heißen!”<br />

“Daß jeder Mensch eine Vielfalt fremder Lebensformen mit<br />

sich herumträgt: Viren, Bakterien, Pilze, Protophyten, Protozoen,<br />

Metazoen. Sie sind bei uns zu Hause. Sie leben in Mund,<br />

Magen, Darm, Geschlechtsorganen – praktisch überall. Viele<br />

von ihnen sind auf ein Leben in oder auf uns angewiesen. Für<br />

sie sind wir lebensnotwendige Umwelt. Und für uns sind manche<br />

von ihnen lebensnotwendige Partner. Ohne sie werden wir<br />

krank oder müssen sterben. Bedenken Sie: Jedes menschliche<br />

Individuum ist eine Komposition aus unzähligen verschiedenen<br />

Zellen, eigenen und fremden. Ein Mikro-Ökosystem!”<br />

Der Physiker sieht den Maler an, Aug in Aug. “Und wieviele<br />

Ichs existieren denn in ein und demselben Individuum?<br />

Da gibt es Menschen mit drei, vier oder mehr Ichs. Je nach<br />

St<strong>im</strong>mung, je nach physiologischer Verfassung, je nachdem,<br />

welcher Trieb gerade seinen Tanz aufführt, kann ein ganz anderes<br />

Ich das Individuum repräsentieren.”<br />

Gequält blickt der Maler zu Boden. Es ist ihm, als wüßte der<br />

Physiker um seine Probleme – um seine schöpferische Krise,<br />

um das Bild des Engels, um seine Schuld. Irritiert fährt er<br />

sich über die Stirn, aus der jetzt wieder Schweiß quillt. Nach<br />

kurzem Schweigen sagt er leise: “W … wie … wie soll ich …<br />

wie sollen wir denn da zurechtkommen? Wie sollen wir unser<br />

Leben gestalten? Ohne den Begriff ‘Ich’? … Da kommen wir<br />

doch nicht zurecht.”<br />

“Unser Leben gestalten ist eine Sache, die Dinge gedanklich<br />

zu durchdringen eine andere. Sie haben recht: Wir brauchen<br />

die Begriffe ‘Ich’ und ‘Individuum’ in unserem täglichen Leben,<br />

so wie wir sie <strong>im</strong>mer gebraucht haben. Aber es muß doch<br />

erlaubt sein, darüber nachzudenken, was hinter diesen Begriffen<br />

steckt.”<br />

Der Physiker scheint die inneren Qualen des Gefährten<br />

nicht wahrzunehmen. “Und wo residiert denn unser Ich? Nicht<br />

alle Teile unseres Körpers haben die gleiche Bedeutung für


276 ANSICHTEN<br />

das, was wir jeweils als Ich bezeichnen. Wenn ich mir be<strong>im</strong><br />

Handwerken einen Finger absäge, so bin ich noch <strong>im</strong>mer uneingeschränkt<br />

ich. Wenn mir dabei aber ein Stein auf den<br />

Kopf fällt und ich dadurch einen schweren Gehirnschaden erleide,<br />

durch den alle Erinnerungen ausgelöscht werden,<br />

meine Eigenarten entschwinden oder sich grundlegend<br />

ändern, bin ich dann noch ich?”<br />

“Dann steckt das Ich <strong>im</strong> Kopf?”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Das ist mir zu wenig. Zu meinem Ich gehört doch auch<br />

mein Gesicht, meine Figur, mein Gang.”<br />

“Wenn Sie durch starke Verbrennungen Ihr Gesicht verlieren,<br />

durch Verletzungen die Eigenarten Ihrer Figur oder Ihre<br />

Art zu gehen, so bleibt die Essenz Ihrer Individualität<br />

dennoch erhalten. Niemand würde dann ernsthaft den Fortbestand<br />

Ihrer Identität in Zweifel ziehen.”<br />

“Aber …”<br />

“Machen wir mal ein Gedankenexper<strong>im</strong>ent, ein grausames,<br />

aber eben nur mit der Absicht, uns mehr Klarheit zu verschaffen.<br />

Nehmen wir an, wir haben einen gemeinsamen Freund,<br />

Jürgen. Er wird schwer krank. Aber die großartige Kunst der<br />

Ärzte kann ihn <strong>im</strong>mer wieder am Leben erhalten. Jürgen<br />

verliert Arme und Beine, Augen, Ohren und Nase. Durch Apparate<br />

wird das, was von ihm übrig geblieben ist, versorgt.<br />

Über Elektronik kann es sehen und hören und mit uns<br />

kommunizieren. Erinnerung, Denkfähigkeit und Mitteilungsvermögen<br />

sind unverändert vorhanden und funktionsfähig.<br />

Wir besuchen ihn in der Klinik, ‘unterhalten’ uns mit ihm.<br />

Schließlich bleibt nur sein nacktes Hirn übrig. Es steckt in<br />

einer Art Aquarium mit lebenserhaltenden Flüssigkeiten. Es<br />

wird versorgt durch Schläuche, Pumpen, Filter. Es kann<br />

kommunizieren durch elektronische Einrichtungen. Das<br />

Wesentliche seiner geistigen Individualität ist nach wie vor<br />

erhalten. Wir können Erinnerungen austauschen, über die<br />

neuesten Nachrichten diskutieren und auch darüber, was


jetzt mit seiner Individualität geschehen soll. Jürgen kann<br />

neue Eindrükke aufnehmen und verarbeiten. Er kann ...”<br />

“Au…aufhören!” ruft der Maler. “H … hören Sie sofort auf!<br />

Das ist ja entsetzlich!!”<br />

“Schon gut. Diese Überlegungen – wie auch zahlreiche medizinische<br />

Erfahrungen mit Hirnverletzten – deuten darauf<br />

hin, daß die Essenz dessen, was wir jeweils als Ich empfinden,<br />

<strong>im</strong> Hirn sitzt. Dort wird Erlerntes gespeichert, Erfahrungen,<br />

Erinnerungen. Dort wohnen die Eigenarten <strong>im</strong> Denken, Empfinden<br />

und Fühlen.”<br />

“Dann sind Gehirn und Ich identisch?”<br />

“Was wir jeweils als Ich erleben, das ist die Summe dessen,<br />

was <strong>im</strong> Gehirn gespeichert ist und dort genutzt wird. Letztlich<br />

wird das gewachsene Ich vermutlich durch die Art der Vernetzung<br />

der Hirnzellen best<strong>im</strong>mt. Mal abgesehen von praktischen<br />

Schwierigkeiten, könnte ich mir vorstellen, daß ein Gehirn<br />

oder ein Teil davon ebenso von einem Menschen zum andern<br />

verpflanzbar ist wie ein Herz, eine Leber oder eine Niere.”<br />

“Aber ein Teil der Gehirneigenschaften ist doch erblich<br />

festgelegt.”<br />

“Das trifft auch für Herz, Leber und Niere zu. Ich wollte<br />

nahelegen, daß das, was wir gemeinhin als Ich bezeichnen,<br />

vor allem in der empfindlichen und rasch vergänglichen Software<br />

des Gehirns residiert.”<br />

“Für mich ist das Ich mehr. Für mich strahlt das Ich auch<br />

nach außen.”<br />

Der Physiker nickt. “Erst <strong>im</strong> Du kann das Ich reifen, erst <strong>im</strong><br />

Teilnehmen am Nächsten, <strong>im</strong> Achten der Kreatur.”<br />

Mensch<br />

Mensch 277<br />

Die Beine sind müde geworden. Maler und Physiker setzen<br />

sich auf eine ‘ihrer’ Bänke am See. Erst nach geraumer Zeit<br />

erwacht der Maler aus seinen Gedanken. Er räuspert sich.


278 ANSICHTEN<br />

N<strong>im</strong>mt die Lippen nach innen. Dann sieht er seinen Gefährten<br />

an und fragt: “Wie eigentlich sehen Sie den Menschen …<br />

ich meine, aus naturwissenschaftlich-historischer Sicht?”<br />

“Naturwissenschaftlich-historisch gibt es den Menschen<br />

nicht. Die übliche Vorstellung von einer einzigen Menschenart<br />

ist falsch. Es hat nachweislich mehrere Menschenarten gegeben,<br />

fast so verschieden voneinander wie Schaf und Ziege.<br />

Übrig geblieben, jedenfalls bis auf den heutigen Tag, ist nur<br />

die Art, zu der wir gehören: Homo sapiens, der wissende<br />

Mensch – eine besonders neugierige und aggressive Art.”<br />

“Sie sehen uns zu negativ!”<br />

“Eine Art, die <strong>im</strong> Hinblick auf ihre Verbreitung und Einflußentfaltung<br />

außerordentlich erfolgreich ist. Eine Art, die in<br />

ihrer Ausprägung sehr variabel und in ihren Lebensansprüchen<br />

erstaunlich anpassungsfähig ist. Eine Art aber<br />

auch, deren explodierende Veränderungs- und Vernichtungsmacht<br />

in den letzten Jahrzehnten wie eine Naturkatastrophe<br />

über die Erde gekommen ist.”<br />

“Wo kommen sie her, die Menschen?”<br />

“Aus einem Teil der Erde, den wir heute Afrika nennen.”<br />

“Afrika? Gibt es Beweise?”<br />

“Ja.”<br />

“Was sind das für Beweise?”<br />

“Skelettfunde.”<br />

“Wann sind die ersten Menschen entstanden?”<br />

“Vor zwei bis vier Millionen Jahren.”<br />

“Wie ging das vor sich?”<br />

“Die Menschen entwickelten sich aus Vorfahren, die wir als<br />

Tiere bezeichnen. Innerhalb der Familie der Menschenartigen,<br />

der Hominiden, evolvierte die Gattung Homo, was zu<br />

deutsch Mensch bedeutet. Zu dieser Gattung gehören<br />

mehrere Arten.”<br />

“Wieviele?”<br />

“Das ist noch <strong>im</strong>mer Gegenstand der Forschung.”<br />

“Was ist wissenschaflich gesichert?”


Mensch 279<br />

“Die ersten beiden Lebensformen, welche die Wissenschaft<br />

als Mensch eingestuft hat, sind Homo rudolfensis und Homo<br />

habilis, der zum Werkzeuggebrauch befähigte, der geschickte<br />

Mensch. Weitere Menschenarten sind Homo erectus, der aufrechtgehende<br />

Mensch, Homo neandertalensis, der neandertaler<br />

Mensch, und Homo sapiens, der wissende Mensch. Bis auf<br />

Homo sapiens sind alle Menschenarten längst ausgestorben.<br />

Die überlebende Art, zu der wir gehören, war daran<br />

vermutlich nicht ganz unbeteiligt.”<br />

“Wie steht’s mit dem Schöpfungsakt?”<br />

“Keine der Menschenarten verdankt ihre Entstehung einem<br />

besonderen Schöpfungsakt.”<br />

“Keine klare Grenze zwischen Mensch und Tier?”<br />

“Nein. Jeder menschliche Embryo durchläuft auch heute<br />

noch Stadien tierischer Entwicklung, in gewissem Sinne eine<br />

Kurzfassung der Entstehung des Menschen aus vormenschlicher<br />

Kreatur.”<br />

“Keine grundsätzlichen Besonderheiten?”<br />

“Nein. Die Eigenschaften, die manche als Besonderheiten<br />

ansehen – die Fähigkeiten, in Worten zu denken und zu<br />

sprechen, zu abstrahieren und sich reflektiert zu erleben, sich<br />

sozusagen der Welt gegenüberzustellen – sind auf einem allgemeinen<br />

biologischen Substrat entstanden und gewachsen.”<br />

“Nur Menschen lachen!”<br />

“Nein. Auch Affen. Lachen hat eine uralte soziale Funktion.<br />

Es ist eine akustische Emotionsentladung, vergleichbar mit<br />

Überraschungs-, Schreck- oder Schmerzlauten.”<br />

“Ich habe noch nie einen Sch<strong>im</strong>pansen lachen hören.”<br />

“Sch<strong>im</strong>pansen lachen anders als wir. Unser Lachen ist eine<br />

Ton-Pause-Ton Folge während einer Ausatmungsperiode: ‘Haha-ha’<br />

oder ähnlich. Sch<strong>im</strong>pansen sind kurzatmiger. Sie produzieren<br />

pro Aus- oder Einatmungsperiode nur einen Ton:<br />

‘Ha — ah — ha’.”<br />

“Woher wissen Sie, daß das unserem Lachen entspricht?”<br />

“Wie wir, lachen Sch<strong>im</strong>pansen in Situationen, in denen Wohl-


280 ANSICHTEN<br />

behagen oder Überraschung dominiert. Bei ihnen konzentriert<br />

sich das mehr auf Körperkontakte – Kitzeln, Balgen,<br />

Spielen – bei uns mehr auf Sprach- oder Sehkontakte. Entwicklungsgeschichtlich<br />

ist das Sch<strong>im</strong>pansenlachen vermutlich<br />

die ursprünglichere Lautäußerungsform. In beiden Fällen<br />

enthalten die einsilbigen monotonen Lachlaute Information,<br />

aber keine wortspezifische Bedeutung.”<br />

“Sch<strong>im</strong>pansen können nicht sprechen!”<br />

“Sie können. Nur anders als wir. Sie haben weder die Strukturen<br />

noch den Atemrhythmus, um den Luftstrom so zu modulieren<br />

wie wir. Daher können sie keine Tonfolgen hervorbringen,<br />

die unserem Sprechen gleichen. Wir sprechen wie wir<br />

lachen. Sch<strong>im</strong>pansen sprechen wie sie lachen. Sch<strong>im</strong>pansen<br />

haben weniger Worte als wir. Aber sie können hunderte von<br />

Zeichen lernen und sich damit sehr gut verständlich machen<br />

– ähnlich wie ein taubstummer Mensch.”<br />

Ärgerlich schüttelt der Maler den Kopf. “Sie sind zu sehr bestrebt,<br />

die Unterschiede zu verwischen. Lesen Sie mal in den<br />

Büchern einiger unserer großen Philosophen. Diese Denker<br />

entwickeln ganz andere Vorstellungen. Sie sehen <strong>im</strong> menschlichen<br />

Geist etwas Einmaliges, etwas Großartiges, etwas<br />

Neuartiges, das die Evolution nach Milliarden von Jahren als<br />

Höhepunkt hervorgebracht hat.”<br />

“Diese Denker wissen zu wenig über die Geschichte und<br />

Biologie des Menschen. Sie haben zudem einen Menschen <strong>im</strong><br />

Visier, von dem es nur wenige Exemplare gibt.”<br />

“Was wollen Sie damit sagen?”<br />

“Diese Philosophen verschließen die Augen vor dem Tier in<br />

uns. Sie sind zu sehr absorbiert von theoretisierenden,<br />

veredelnden Überlegungen.”<br />

“Sie verzerren die Realität.”<br />

“Die Realität ist, daß es selbst innerhalb der bis heute<br />

überlebenden Menschenart Homo sapiens sehr große Unterschiede<br />

gibt in Struktur und Verhalten, in Geist und Moral.<br />

Das reicht vom Buschmann zum Nobelpreisträger, vom


Mensch 281<br />

Triebtäter zum Pastor.”<br />

“Und wie sehen Sie den heutigen Menschen?”<br />

“Schwer zu definieren.”<br />

“Warum?”<br />

“Gehen Sie mal durch einige unserer Kliniken. Da gibt es<br />

Geschöpfe, die haben weder in ihrer äußeren Erscheinung<br />

noch in ihrem inneren Wesen Ähnlichkeit mit dem, was wir<br />

gemeinhin als Mensch bezeichnen. Dennoch sind sie Kinder<br />

von Menschen. Und da gibt es Wesen, die äußerlich unserem<br />

Bild vom Menschen entsprechen, deren Gehirnfunktionen<br />

und Verhaltensweisen aber wenig oder gar nichts von dem<br />

aufweisen, was wir ‘menschlich’ nennen. Sind das Menschen?”<br />

“Was macht den Menschen zum Menschen?”<br />

“Im Kern sind das zwei Dinge: die planmäßige Herstellung<br />

von Gegenständen und das Wissen um den eigenen Tod. Anderes<br />

kommt hinzu: die Entwicklung komplexer Sozialgefüge,<br />

die Erschaffung einer komplizierten Eigenwelt, …”<br />

“Ist das alles?”<br />

“… Kunst, Wissenschaft, Religion, Moral – und auch das<br />

Mitleid.”<br />

“Ja, das sind hohe Werte. – Aber Mitleid? Ist das wirklich<br />

ein menschlicher Wert? Im Mitleid schwingt doch oft auch<br />

Genugtuung mit und ein Gefühl der Überlegenheit.”<br />

“Genugtuung? Worüber?”<br />

“Daß es einem selber besser geht.”<br />

“Das wäre schl<strong>im</strong>m. Für mich ist die Fähigkeit zum Mitleiden<br />

etwas sehr Menschliches. Sie ist der Quell, aus dem<br />

Solidarität fließt – mit den Schwachen, Kranken, Armen und<br />

Alten. Solidarität auch mit der Mitkreatur und ihren Lebensgrundlagen.”<br />

“Aber kaum etwas, das jedem Menschen eigen ist.”<br />

“Jedenfalls keinem Unmenschen.”<br />

Gereizt fragt der Maler: “Wo und wann entstand die Kunst?”<br />

“Im Homo sapiens. Der tauchte erstmals vor etwa 200 000<br />

Jahren auf. In ihm entzündete sich das kreative Feuer. Die


282 ANSICHTEN<br />

ersten Produkte, die als Kunst eingestuft werden, brachte er<br />

vor 40 000 bis 50 000 Jahren hervor. Das ging einher mit dem<br />

Wachstum des Gehirns.”<br />

“Was bedingte dessen Wachstum?”<br />

“Vermutlich der aufrechte Gang: Er veränderte die Kopfhaltung<br />

und machte die Hände frei zum Befingern, Greifen und<br />

Arbeiten. Und veränderter, verstärkter Konkurrenzdruck:<br />

Nahrung finden in einer neu erschlossenen Umwelt, auf neue<br />

Feinde reagieren.”<br />

“Das sind …”<br />

“Nahrungssuche, Konkurrenz und Feindkonflikt sind<br />

starke Antriebskräfte. Es galt, <strong>im</strong>mer schneller neue<br />

Überlebensstrategien zu entwickeln. Wer am schnellsten<br />

reagiert ist <strong>im</strong> Vorteil.”<br />

Urahnen<br />

“Was ist der wichtigste Faktor für die Entstehung des Menschen?”<br />

“Sauerstoff.”<br />

“Soll das ein Witz sein?”<br />

“Nein.”<br />

“Dann müsen Sie mir das schon erklären.”<br />

“Die essentielle Gabelung der Evolution ist vier Milliarden<br />

Jahre alt.”<br />

“Essentiell? In welcher Weise?”<br />

“Wie keine andere Erscheinung hat sie das Leben auf der<br />

Erde verändert.”<br />

“Gabelung zwischen was?”<br />

“Zwischen dem frühen Leben ohne Sauerstoff und dem späteren<br />

Leben mit Sauerstoff.”<br />

“Ich denke, alles Leben braucht Sauerstoff.”<br />

“Die ersten Lebewesen – unsere einzelligen Urahnen – lebten<br />

ohne Sauerstoff. Wir nennen sie Prokaryonten, weil sie noch


Urahnen 283<br />

keinen Zellkern besaßen. Der bildete sich erst in ihren Nachfahren,<br />

den Eukaryonten, zu denen auch der Mensch gehört.”<br />

“Warum lebten die ersten Wesen ohne Sauerstoff?”<br />

“Weil die Atmosphäre vor vier Milliarden Jahren praktisch<br />

keinen Sauerstoff enthielt.”<br />

“Wie kam der Sauerstoff in die Atmosphäre?”<br />

“Nach etwa 500 Millionen Jahren Leben ohne Sauerstoff<br />

evolvierten Cyanobakterien. Sie entwickelten ein Verfahren,<br />

mit dem sie aus Sonnenlicht biologisch nutzbare Energie gewinnen<br />

konnten.”<br />

“Diese Bakterien sind die Erfinder der Photosynthese?”<br />

“Ja. Und sie sind die größten Umweltsünder aller Zeiten.”<br />

“Warum?”<br />

“Weil das Abfallprodukt der Photosynthese Sauerstoff ist.”<br />

“Na und?”<br />

“Freier Sauerstoff ist giftig.”<br />

“Giftig? Sauerstoff?” Der Maler schüttelt verwundert den<br />

Kopf. “Dann mußte alles frühe Leben sterben?”<br />

“Das meiste. Aber nicht alles. Einigen Urahnen gelang es,<br />

sich in entlegene, sauerstoffreie Lebensräume zurückzuziehen.<br />

Dort existieren sie noch heute.”<br />

“Und der Mensch?”<br />

“Wie in anderen Eukaryonten, finden sich auch <strong>im</strong> Menschen<br />

Spuren der frühen Existenz des Lebens in sauerstofffreier<br />

Atmosphäre. Auch heute noch ist freier Sauerstoff für<br />

uns giftig. Eukaryonten müssen daher Sauerstoffradikale mit<br />

Hilfe von Enzymen entgiften. Diese Enzyme lassen sich <strong>im</strong><br />

Menschen nachweisen. Unsere Urahnen dagegen können<br />

diese Enzyme nicht bilden. Sie müssen daher bis zum<br />

heutigen Tag die Begegnung mit Sauerstoff meiden.”<br />

“Ursprüngliches Leben ohne Sauerstoff … Vielleicht konnte<br />

Leben überhaupt nur ohne Sauerstoff entstehen?”<br />

“Möglicherweise.” Nach einer Weile sagt der Physiker: “Das<br />

erste Leben formte sich <strong>im</strong> Wasser und war daher geschützt<br />

vor lebensfeindlicher Strahlung.”


284 ANSICHTEN<br />

“Was geschah, als sich die Atmosphäre mit Sauerstoff anfüllte?”<br />

“Der Ausreifungsprozeß erhielt einen gewaltigen Schub.<br />

Das ist offenbar typisch nach Katastrophen, die das Leben<br />

hart begrängen. Der Schub brachte neue Lebensformen<br />

hervor. Die konnten Sauerstoff nicht nur ertragen, sondern<br />

mit seiner Hilfe biologisch nutzbare Energie gewinnen. Die<br />

neue Art der Energienutzung erwies sich als außerordentlich<br />

effizient. Die Veratmung von Sauerstoff wurde entwicklungsdynamisch<br />

ein Riesenerfolg. Eine überwältigende Fülle neuer,<br />

vielzelliger Lebensformen entstand. Das Zeitalter der Sauerstoffatmer<br />

begann. Heute dominieren deren Nachkommen<br />

alles Leben auf der Erde.”<br />

“Eine spannende Geschichte! Wie ging’s weiter?”<br />

“Die meisten Sauerstoffatmer verabschiedeten sich von der<br />

weitgehend friedlichen Koexistenz, die das Leben ohne<br />

Sauerstoff auszeichnete. Mit Hilfe des Sauerstoffs gewannen<br />

viele Energie und Materie aus dem Beschädigen und Töten<br />

ihrer Mitgeschöpfe. So begann der Krieg der Kreatur. Und<br />

auch sie selbst mußten versuchen, sich vor Schaden und Gefressenwerden<br />

zu schützen. So kam die Angst in die Welt.”<br />

“So kam die Angst in die Welt”, wiederholt der Maler wie in<br />

Trance. Bewegt schüttelt er den Kopf. – “Was wäre die Erde<br />

heute ohne Sauerstoff?”<br />

“Sie wäre vermutlich geblieben, was sie war: Ein Planet mit<br />

viel Leblosem und wenig – sehr einfachem aber auch sehr<br />

friedlichem – Leben.”<br />

Unterbrechung<br />

“Wann genau begann der Mensch, Mensch zu sein? Ich<br />

meine, Mensch <strong>im</strong> heutigen Sinne?”<br />

“Der genaue Zeitpunkt ist umstritten – geschichtlich, aber<br />

auch gegenwärtig.”


Unterbrechung 285<br />

“Gegenwärtig? Wie soll ich das verstehen?”<br />

“Nun, ist schon die befruchtete Eizelle ein Mensch, oder erst<br />

ein Embryo? Ein Embryo <strong>im</strong> ersten Monat nach der Befruchtung?<br />

Im zweiten, dritten, oder siebten? Denken Sie an<br />

den Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der Abtreibung.”<br />

“Freilich! Das ist ein hochaktuelles Thema. Daran habe ich<br />

jetzt gar nicht gedacht. Ein Teilaspekt unserer Diskussion!<br />

Wo sehen Sie die Grenze?”<br />

“Mutter, Vater, Ei, Samen, Embryo, Tochter oder Sohn – das<br />

ist ein Kontinuum, ein kohärenter Prozeß des Lebensstromes,<br />

der nicht beliebig unterteilbar ist. In einem befruchteten Ei<br />

sind alle Entwicklungsmöglichkeiten, alle grundsätzlichen<br />

Eigenarten des sich entwickelnden Menschen enthalten.<br />

Schon hier beginnt Individualität.”<br />

“Mediziner sprechen von ‘Abbruch’ oder ‘Unterbrechung’.<br />

Was sagen Sie dazu?”<br />

“Diese Begriffe passen hier nicht. ‘Unterbrechung’ beinhaltet<br />

das zeitlich begrenzte Aussetzen eines Phänomens. Das<br />

Wort deutet an, daß das Ausgesetzte irgendwann weitergeht,<br />

etwa so, wie ein Programm <strong>im</strong> Fernsehen nach einer Unterbrechung<br />

fortgesetzt wird. Die Anwendung dieser Begriffe<br />

in der Abtreibungsdiskussion ist ein Dokument menschlicher<br />

Verlogenheit. Hier wird ja nichts unterbrochen. Hier wird ein<br />

individueller Lebensvorgang unwiderruflich beendet. Die<br />

Begriffe ‘Abtreibung’, ‘Abbruch’ und ‘Unterbrechung’<br />

bezeichnen das gleiche: Töten.”<br />

Der Maler ist nicht einverstanden. Er hebt die Hand. “Ich<br />

denke mir mal, ...”<br />

“Abtreibung”, unterbricht ihn sein Gefährte, “ist <strong>im</strong>mer ein<br />

Tötungsakt. Abtreibung aus unethischen Motiven grenzt an<br />

Mord.”<br />

“Na, na, na! Da muß man doch differenzieren! Die Entwicklungsstufe<br />

des Ke<strong>im</strong>lings, die aus medizinischer Sicht die<br />

eigentliche Menschwerdung einleitet, beginnt doch erst, wenn


286 ANSICHTEN<br />

das Hirn selbständig Atmung, Herzschlag und Kreislauf steuern<br />

kann. Bis dahin aber ist der Ke<strong>im</strong> nichts anderes als ein<br />

Organ der Mutter. Und wenn von diesem Organ Schaden<br />

ausgeht, körperlicher oder seelischer, so hat die Mutter das<br />

Recht, dieses – wie jedes andere ihrer Organe – entfernen zu<br />

lassen. Kein Gesetz hindert sie daran.”<br />

“Der Ke<strong>im</strong>ling ist kein Organ der Mutter.”<br />

“Wieso nicht?”<br />

“Ein Organ erbringt eine best<strong>im</strong>mte, dauerhafte und meist<br />

lebensnotwendige Leistung für die Existenz eines Organismus.<br />

Es gehört zur Grundausstattung des betroffenen Lebewesens.<br />

Das trifft für den Ke<strong>im</strong>ling nicht zu.”<br />

Der Physiker denkt nach. Dann st<strong>im</strong>mt er nickend einem<br />

in ihm entstehenden Gedanken zu: “Auch das Noch-Nicht-<br />

Vorhandensein oder das Noch-Nicht-Funktionieren des Großhirns<br />

darf nicht als Freibrief zum Töten gewertet werden.<br />

Es gibt ja auch bereits geborene Menschen, deren Großhirn –<br />

der Sitz des sich bewußtwerdenden Geistes – nicht voll ausgebildet<br />

oder nicht voll funktionsfähig ist. Deswegen sind<br />

diese Menschen nicht vogelfrei!” Er macht eine protestierende<br />

Gebärde. “Das ist doch schon wieder ein Beispiel von<br />

Unaufrichtigkeit, wenn man be<strong>im</strong> frühen Ke<strong>im</strong>ling von der<br />

Abwesenheit eines funktionierenden Hirns spricht, aber<br />

ganz genau weiß, daß alles, was dieses Hirn entstehen lassen<br />

wird, bereits in vollem Umfang vorhanden ist, bereits<br />

mit größter Intensität und Zielstrebigkeit seine aufbauenden<br />

Kräfte entfaltet. Wenn wir also dem Ke<strong>im</strong> das Recht auf<br />

Leben absprechen, weil er noch nicht die Zeit gehabt hat,<br />

weit genug voranzukommen mit seiner Aufbauarbeit. Können<br />

wir unsere Welt nach Belieben zerstören, nur weil unsere<br />

Kinder, die einmal in dieser Welt leben müssen, noch<br />

nicht da sind? Noch nicht die Zeit gehabt haben, da zu sein?<br />

Überlegen Sie mal, welche Auswirkungen es haben würde,<br />

wenn wir Ereignisse ignorierten, die mit Sicherheit eintreten<br />

werden, nur weil sie noch nicht eingetreten sind! Das ist


Unterbrechung 287<br />

doch alles scheinheilige Augenwischerei. Nichts als Zwecklügen!”<br />

“Aber sehen Sie sich um”, wendet der Maler ein, “in vielen<br />

Kulturen ist Abtreibung erlaubt, legalisiert.”<br />

“Ja. Aber wieviel Töten hat der Mensch nicht schon legalisiert!<br />

Wenn Leben den <strong>Inter</strong>essen der Menschen entgegensteht,<br />

wurde und wird getötet: Menschen, Tiere, Pflanzen,<br />

ganze Lebensgemeinschaften mit allem Drum und Dran. Bei<br />

Kämpfen zwischen verschiedenen Menschengruppen ist<br />

Töten nicht nur erlaubt, es wird befohlen, ja belohnt. Machtausübende,<br />

weltliche und geistliche, haben sich stets das<br />

Recht genommen töten zu lassen, wann <strong>im</strong>mer sie das für<br />

richtig hielten, wann <strong>im</strong>mer Töten nützlich für sie war. Hunderte<br />

von Millionen sind den <strong>Inter</strong>essen von Politik und Religion<br />

geopfert worden. Ganz legal getötet, <strong>im</strong> Einklang mit den<br />

jeweils herrschenden Gesetzen. Und das geht weiter so, <strong>im</strong>mer<br />

weiter!”<br />

“Soldaten sind Mörder.”<br />

“Das ist eine unhaltbare Kollektivbeschuldigung.”<br />

“So?”<br />

“Mord ist Tötung aus niederen Beweggründen. Das trifft für<br />

Soldaten normalerweise nicht zu. Die generelle Beschuldigung<br />

verstößt gegen den Grundsatz ‘<strong>im</strong> Zweifel für den<br />

Angeschuldigten’, und sie verstößt gegen das Ehrengebot.”<br />

“Soldaten sind potentielle Töter.”<br />

“Ja. Aber sind wir das nicht alle?”<br />

Der Maler senkt den Kopf. Sagt nichts mehr.<br />

Da hebt der Physiker den Zeigefinger: “Wenn also Töten Alltag<br />

ist in unserer Welt, wenn das ganze Ordnungsprinzip,<br />

nach dem Leben auf unserem Planeten sich entfaltet und<br />

erhält, auf Töten beruht, so laßt uns doch wenigstens ehrlich<br />

sein miteinander. Laßt uns die Wahrheit sagen! Und laßt uns<br />

in den Spiegel kucken, damit wir uns erkennen. In all unserer<br />

potentiellen Fürchterlichkeit.”<br />

Der Physiker öffnet den obersten Knopf seines Hemdes.


288 ANSICHTEN<br />

Dann sagt er, ruhiger jetzt: “Die Anzahl der Menschen muß<br />

verringert werden, auf höchstens zwei oder drei Milliarden.<br />

Mittel dazu sind Wissen, Einsicht und Geburtenkontrolle. Abtreibung<br />

aber kann damit nicht begründet, nicht entschuldigt<br />

werden.”<br />

“Zuviele Menschen”, nickt der Maler. “Zuviel Produktivität.<br />

Zuviel Konsum.”<br />

“Und so lastet die Schuld auf den Schultern derjenigen, die<br />

sich einer Verringerung dieses Zuviel entgegenstellen, die<br />

keine Geburtenplanung wollen, keine Modernisierung der<br />

Gesellschaft, keine Neuordnung der Wirtschaft.”<br />

Nachdenklich schiebt der Physiker die Brille hoch. Dann<br />

sagt er: “Abtreibung ist eine Konsequenz persönlicher <strong>Inter</strong>essen<br />

oder Nöte. Sie ist aber auch ein Ausdruck des Rechtes<br />

des Stärkeren, der überlegenen Macht von Eltern gegenüber<br />

ihren Kindern. In unserem Land stehen den Eltern Informationen<br />

und Mittel zur Empfängnisverhütung zur Verfügung.<br />

Wenn es zur unerwünschten Befruchtung einer Eizelle<br />

kommt, dann haben die Eltern etwas falsch gemacht. Dafür<br />

müssen die ungeborenen Kinder büßen. So einfach ist das.”<br />

Der Maler hebt die Hand. Er ist nicht einverstanden. Aber<br />

ihm fehlen überzeugende Gegenargumente. Das ärgert ihn.<br />

“Ich befürworte nicht die Bestrafung der Abtreibung”, fährt<br />

der Physiker fort. “Wer abtreibt, der muß das mit seinem Gewissen<br />

ausmachen, der muß das vor sich selbst verantworten.<br />

Für mich ist die Macht des Gewissens stärker als die Macht<br />

des Gesetzes. Man …”<br />

“Das diskutieren Sie mal mit einem Juristen!”<br />

“… man kann nicht mit gutem Gewissen tagsüber gegen das<br />

Töten von Bäumen oder Delphinen demonstrieren und abends<br />

dann eine ‘Pille danach’ schlucken, als wäre das ein Mittel<br />

gegen Kopfschmerzen.”<br />

Der Maler zuckt die Achseln: “Haben Sie nie gegen das verstoßen,<br />

was Sie anderen vorwerfen?”<br />

“Doch, das habe ich.”


“Ach, ja!? Vielleicht haben Sie sogar selbst schon einer Frau<br />

empfohlen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen?”<br />

“Ja, das habe ich.”<br />

“Sie!! Wie können Sie dann so reden? Wie können Sie es<br />

wagen, die Abtreibung so zu diskreditieren??”<br />

“Ich diskreditiere die Abtreibung nicht. Ich versuche nur,<br />

möglichst aufrichtig, auch vor mir selbst, mit diesem Problem<br />

umzugehen. Ich versuche, mir möglichst unvoreingenommen<br />

ein eigenes Urteil zu bilden. Wenn dieses Urteil dann so<br />

ausfällt, daß ich mich selber schuldig gemacht habe, so muß<br />

ich damit leben, so muß ich mich damit auseinandersetzen. So<br />

muß ich das verantworten. Das aber ändert in keiner Weise<br />

etwas an meinem Urteil.”<br />

Nachdenklich sagt der Physiker: “Schwangerschaftsabbruch<br />

tötet und ist daher ein Rechtsbruch. Wer aber richtet, der muß<br />

abwägen zwischen dem Recht des ungeborenen Kindes auf<br />

Leben und dem Recht der Mutter auf Unversehrtheit von<br />

Körper und Geist, und auf eine möglichst freie Entfaltung des<br />

Gewissens. Frauen, die abtreiben, sind meist in schwerer<br />

Bedrängnis, oft in großer Not, nicht selten in einer tragischen,<br />

ausweglosen Situation. Das darf nicht unberücksichtigt bleiben.<br />

Abtreibung hat meist zwei Opfer: Das Kind, das sein<br />

Leben verliert, und die Mutter, die psychischen, nicht selten<br />

auch körperlichen Schaden erleidet.”<br />

Auferstehung<br />

Auferstehung 289<br />

Der Maler lenkt das Gespräch auf eines seiner<br />

unmittelbaren Anliegen: “Seit kurzem beschäftigt mich der<br />

Problemkreis des Weiterlebens der Menschen nach dem Tod.<br />

Wie sehen Sie das?”<br />

“Das Wiederauferstehen, wie das die Führer mancher Religionen<br />

nennen, und dabei den Eindruck zu erwecken suchen,<br />

der Tod eines Individuums sei so etwas wie ein Schlaf, aus


290 ANSICHTEN<br />

dem man nach einer gewissen Zeit wieder erwacht, das ist<br />

Humbug. Eine Auferstehung des Ichs mit all seinen<br />

einmaligen Eigenarten, Erfahrungen, Erinnerungen, seinem<br />

Wissen, Wollen und Denken, das ist eine typische Ausgeburt<br />

des Ich-Welt-Syndroms.”<br />

“Das sehe ich anders!!”<br />

“Ohne Durchblutung sterben Gehirnzellen innerhalb von<br />

Minuten. Bitte bedenken Sie: <strong>im</strong> Kopf des Menschen gibt<br />

es Milliarden von Nervenzellen und um ein Vielfaches mehr<br />

an Verbindungen zwischen ihnen. Das ist ein unglaublich<br />

kompliziertes Netz von Leitungen und Schaltungen, ein vielfach<br />

verwobener, vielschichtig kommunizierender Zellenstaat.<br />

Ich schätze, daß daran eine Milliarde Trillionen<br />

Materieteilchen beteiligt sind. Das entspricht einer 10 mit<br />

27 Nullen! Anordnung und Zusammenwirken der Teilchen<br />

machen das Einmalige eines Menschen aus. Das alles ist sehr<br />

verletzbar. Ein Gehirnschaden kann Teile unserer Persönlichkeit<br />

für <strong>im</strong>mer auslöschen. Ein Unfall, eine kurze ‘Stromunterbrechung’,<br />

und ‘klick’, ist die komplizierte Software dahin.<br />

Wie sollen da Hirnsubstanz und Hirnfunktion eine Verwesung<br />

überdauern?”<br />

“Man kann das auch anders sehen.”<br />

“Wie?”<br />

Der Maler findet keine Antwort.<br />

Da sagt der Physiker: “Bedenken Sie doch, die Energie-<br />

Materie-Konstellationen, die unser Hirn, unser Ich, unsere<br />

Individualität ausmachen, fallen nach unserem Tod<br />

auseinander, werden Teil anderer Lebensformen, auch<br />

anderer Menschen – oder der Erde oder der Luft oder des<br />

Wassers. Verteilt, verweht in alle Winde. Dieses Rezirkulieren<br />

von Materie und dieses Weiterfließen von Energie, das sind<br />

Grundeigenschaften der Natur. Das sind die Voraussetzungen<br />

und Notwendigkeiten für die Entstehung, Entwicklung und<br />

Ausreifung vielartigen organischen Lebens.”<br />

“Ein mir befreundeter Theologe hat behauptet, daß es der


Auferstehung 291<br />

göttlichen Allmacht möglich sei, all das wieder rückgängig zu<br />

machen – alles, was einen Menschen vor Dutzenden, Hunderten<br />

oder Tausenden von Jahren ausgemacht hat, wieder<br />

zusammenzufügen.”<br />

“Ja, ja”, lächelt der Physiker, “die Theologen. Die haben mit<br />

betulicher Pedanterie sogar allen Ernstes die Frage erörtert,<br />

wem das Fleisch gehört, wenn ein Mensch einen anderen aufgefressen<br />

hat.”<br />

Empört ruft der Maler: “Ich mag keine pauschalen Diskr<strong>im</strong>inierungen!”<br />

“Nun gut”, abermals lächelt der Physiker, “ich werde<br />

differenzieren: Augustin kam dabei zu dem Ergebnis, daß das<br />

Fleisch des Gefressenen ihm, nicht aber dem Fresser zuzuteilen<br />

sei.”<br />

Mißmutig n<strong>im</strong>mt der Maler seine Wulstlippen nach innen.<br />

“Und haben Sie schon einmal überlegt, was es bedeuten<br />

würde, wenn alle Menschen, die jemals gelebt haben, wieder<br />

auferstehen würden?”<br />

“Nicht alle. Nur die von Gott Erwählten.”<br />

“Und wo wollen Sie bei denen die zeitliche Grenze ziehen?<br />

Bei Menschen, die bis vor zweitausend Jahren gelebt haben?,<br />

bis vor zehntausend?, bis vor hunterttausend, bis vor<br />

Millionen von Jahren? Soll nur der wissende Mensch, Homo<br />

sapiens, Berücksichtigung finden? Oder auch die anderen<br />

Menschenarten? Der geschickte Mensch? Der aufrechtgehende<br />

Mensch? Der neandertaler Mensch? Wie weit reicht die<br />

Gerechtigkeit Ihres Christengottes? – wie weit sein Wohlwollen<br />

gegenüber der von ihm geschaffenen Kreatur?”<br />

“Sie schweifen ab!” ruft der Maler erregt. “Und Sie vernachlässigen<br />

die vielen beachtlichen Leistungen religiöser Führer.<br />

In den theologischen Fakultäten vieler Universitäten wurden<br />

und werden ganz wesentliche Erkenntnisse gewonnen und<br />

wichtige Pfeiler unserer Kultur erabeitet. Ich kenne religiös<br />

orientierte Universitäten, an denen die Freiheit von Forschung<br />

und Lehre etwas Selbstverständliches ist. Die meisten


292 ANSICHTEN<br />

Universitäten vermitteln Wissen und schulen rationales<br />

Denken. An theologischen Lehrstühlen wird auch über Inhalt<br />

und Ziel rationalen Denkens nachgedacht. Da wird nicht nur<br />

geforscht, da werden auch Sinn und Folgen des Forschens<br />

diskutiert und die Grenzen des Erforschbaren. Wie kaum<br />

sonstwo in der Welt, liegt hier der Wert der Wissenschaft,<br />

dieses Hortes der Sachlichkeit, auf dem Seziertisch. Und der<br />

Sinn unseres Lebens.”<br />

“Diese Leistungen verkenne ich nicht.”<br />

“Dann sollten Sie das auch in Ihre Überlegungen einbeziehen.”<br />

“Das versuche ich.”<br />

“Was also paßt Ihnen nicht?”<br />

“Die theologisch-verschlungenen Pfade zur Realität. Der<br />

verkrampfte Umgang mit der Geschlechtlichkeit. Die undemokratische<br />

Struktur der Kirche. Die ungerechtfertigten Privilegien.<br />

Die …”<br />

“Was für Privilegien?”<br />

“Staatlich eingetriebene Religionssteuern, Beamtenstatus<br />

der Amtsträger, Kirche als Körperschaft des öffentlichen<br />

Rechts … Religionen müssen aus eigener Kraft leben können<br />

– oder sie müssen sterben.”<br />

“Noch was?”<br />

“So manch ein Theologe übt sich nicht nur in philosophischen<br />

Überlegungen, er durchtränkt diese auch mit Elementen<br />

seiner eigenen Weltsicht und seiner eigenen Religion.”<br />

“Das scheint mir eher typisch menschlich zu sein, als spezifisch<br />

theologisch. Tun wir das nicht mehr oder minder alle?”<br />

“Jedenfalls sollten wir uns bemühen, das mit Zurückhaltung<br />

zu tun”, sagt der Physiker. “Und wir sollten, anders<br />

als viele Kirchenführer, das wohlüberlegte Argument des anderen<br />

ernst nehmen.”<br />

“Jeder Theologe steht in seiner Zeit. Sie können seine Aussagen<br />

nicht aus dem historischen Zusammenhang reißen.”<br />

“Gewiß. Aber ich kann nur dann versuchen, den Gang der


Auferstehung 293<br />

Dinge zu bewerten, wenn ich aus meiner heutigen Sicht zurückblicke.”<br />

Nach einer Weile fügt der Physiker hinzu: “Da sind noch<br />

andere Eigenschaften, die bei Religionsführern oftmals überdurchschnittlich<br />

entwickelt sind: Intellektuelle Aggressivität,<br />

ausufernde Polemik, abartige sittliche Forderungen. Und so<br />

manch einer von denen entfaltet eine außergewöhnliche<br />

Phantasie. Mit deren Hilfe löst er die schwierigsten, ja die<br />

irrsinnigsten Probleme – in seinem Kopf!”<br />

“Beispiele!”<br />

“Christliche Religionsführer haben behauptet, daß Menschen,<br />

die mit Krankheiten und Entstellungen behaftet<br />

starben, bei ihrer Auferstehung all ihrer Krankheiten und<br />

Entstellungen ledig sein werden. Daß sie sich bei vollster<br />

Gesundheit <strong>im</strong> blühenden ‘Mannesalter’ – was ist mit den<br />

Frauen? – befinden werden. Daß Kinder bis zu diesem Alter<br />

weiterentwickelt und Greise entsprechend verjüngt werden.<br />

Für diese Leute ist das alles kein Problem!” Wieder lächelt der<br />

Physiker. “Das wirkliche Problem mit diesen Religionsführern<br />

ist, daß sie nur nach innen denken, daß sie ganz und gar in<br />

der von ihnen erdachten Phantasiewelt zuhause sind, daß sie<br />

nur in ihren Köpfen und in ihrem ‘Jenseits’ Probleme zu lösen<br />

vermögen, <strong>im</strong> ‘Diesseits’, in der Realität unserer Welt, jedoch<br />

so gut wie keines. Ich sage Ihnen, für so manchen Religionsführer<br />

wird es eine schl<strong>im</strong>me Überraschung geben, wenn<br />

seine Phantasiewelt zusammenbricht.”<br />

“Denken nicht auch Sie des öfteren nach innen? Lösen nicht<br />

auch Sie so manches Problem nur in Ihrem Kopf?” Der Maler<br />

erhebt den dünnen Zeigefinger: “Und hat nicht so manches<br />

Nach-Innen-Denken auch einen Wert an sich?”<br />

“Gewiß. Aber es gibt da einen Unterschied. Die eine Seite<br />

orientiert ihr Nach-Innen-Denken am Glauben, die andere an<br />

der erkennbaren Wirklichkeit. Die eine Seite erhebt ihr Nach-<br />

Innen-Denken zum Dogma, die andere stellt es zur Diskussion.<br />

Bitte bedenken Sie: Die Theologen sehen in ihren


294 ANSICHTEN<br />

Vorstellungen ohne den leisesten Zweifel die unanfechtbare<br />

Wahrheit!”<br />

“St<strong>im</strong>mt so nicht ganz. Theologen sagen auch: Zweifel ist die<br />

Schwester des Glaubens!”<br />

“Sagen … aber sie zweifeln nicht.”<br />

“Das sagen Sie !”<br />

“Frei von jedem Zweifel inthronisieren diese Leute einen<br />

menschenähnlichen Gott. Frei von jedem Zweifel rankt sich<br />

ihr Denken um ein Menschenopfer. Unbeirrt gründen sie ihre<br />

Lehren auf eine Henkersmentalität. Ist das nicht alles ein<br />

fatales Fundament für eine Religion? Ist das nicht eine Ausgeburt<br />

merkwürdiger Hirne?”<br />

“Sie!! Gott hat seinen Sohn geopfert aus Liebe zu den<br />

Menschen, zu ihrer Läuterung! Gott ist barmherzig und gnädig,<br />

und er ist von großer Güte.”<br />

“Um so weniger kann das Herz der christlichen Religion das<br />

Todesopfer sein.”<br />

“Sondern?”<br />

“Gewaltarme Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Verständnis,<br />

Vergebung.”<br />

“Das sagen auch die Kirchenmänner.”<br />

“Für mich ist wichtiger, was sie tun. Viele von ihnen<br />

praktizieren keine gewaltarme Gerechtigkeit. Viele agieren<br />

nicht bescheiden. Viele üben sich nicht <strong>im</strong> Verständnis<br />

anderer. Die meisten vergeben nur innerhalb der Schranken<br />

ihrer eigenen religiösen Vorstellungen. Und alle erheben ihre<br />

eigenen Vorstellungen mit der größten Selbstverständlichkeit<br />

zu allgemeinverbindlichen Wirklichkeiten. Gleichzeitig aber<br />

bestreiten sie mit derselben Selbstverständlichkeit anderen<br />

Menschen das Recht auf ihre eigene subjektive Weltsicht, auf<br />

ihre eigene Glaubenswelt. Die ist für sie nichts als Verblendung.”<br />

Plötzlich schmunzelt der Maler. Hier entdeckt er gemeinsamen<br />

Grund. Das sieht er ganz ähnlich. “Dem kann ich freilich<br />

zust<strong>im</strong>men. Als Student habe ich das mal so gesagt:


Auferstehung 295<br />

Jeder glaubt von seinem Glauben,<br />

er sei der rechte und der beste.<br />

So laßt ihn nur in diesem Glauben.<br />

Doch wehret jedem Glauber feste,<br />

will er rauben andrer Glauben.<br />

“Vortrefflich!” ruft der Physiker, “da haben Sie eine wichtige<br />

Botschaft in die kürzest mögliche Form gebracht.”<br />

“Aber was ist mit der Seele?”<br />

“Was verstehen Sie darunter?”<br />

“Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit.” Der Maler bleibt<br />

stehen. “Das ist nicht leicht zu definieren.” Er senkt den Kopf.<br />

Zögernd beginnt er: “Die Seele … das ist die Kraft … oder besser<br />

die Summe der Kräfte, die Ganzheit herstellen, die Harmonie<br />

stiften und Sinn … Die Seele ist etwas Immaterielles.<br />

Sie ist metaphysischer Natur, keine unmittelbar erlebbare<br />

Realität. Am ehesten noch ist sie eine Idee.”<br />

“Eine solche Seele ist allem Leben eigen, ja, aller Natur.<br />

Eine solche Seele sehe ich auch in Sternen, <strong>im</strong> Universum.<br />

Eine solche Seele ist der Kern der Schöpfung.”<br />

“Die katholische Kirche lehrt, daß nur ein Mensch eine<br />

Seele hat. Daß jede menschliche Seele eigens von Gott erschaffen<br />

wird. Zusammen mit dem Körper bildet die Seele<br />

einen Menschen. Die Seele repräsentiert die Essenz einer<br />

menschlichen Persönlichkeit, der individuellen Art des<br />

Empfindens, Fühlens, Erfahrens, Denkens und Wollens des<br />

Seelenträgers.”<br />

“Hinter der Idee einer solchen Seele wirkt der Selbsterhaltungstrieb<br />

des Menschen. Da bricht die Hoffnung zutage,<br />

der Unsterblichkeit des Individuums irgendwie eine Lanze<br />

brechen zu können, und wenn auch auf verschlungenen Pfaden.”<br />

“Und die Hoffnungen auf Gerechtigkeit, auf Erlösung, auf<br />

Aufhebung irdischer Maßstäbe und Mißstände! – Was ist die


296 ANSICHTEN<br />

individualisierte Seele für Sie?”<br />

“Die Individualseele? Ein Märchen. Oder ein Loch, das<br />

manche Menschen mit den positiven Seiten ihrer Persönlichkeit<br />

auszufüllen suchen.” Im Physiker formt sich ein<br />

weiterführender Gedanke. Er zieht den Mund in die Breite,<br />

und dann spitzt er die Lippen: “Eines aber”, sagt er und nickt<br />

dabei, “eines aber möchte ich doch zu diesem Thema noch fragen<br />

dürfen: Mit welcher Berechtigung und auf Grund welcher<br />

Argumente postulieren Religionsfunktionäre die Wiedergeburt<br />

einer menschlichen Individualität als Seele, Körper<br />

oder beides? Und warum Wiedergeburt nur für den Menschen?<br />

Warum nicht für den Hund, die Amsel, den Goldfisch,<br />

den Fliegenpilz? Ausgerechnet der Mensch soll nach ihren<br />

Vorstellungen wiedergeboren werden, ausgerechnet dieses<br />

Wesen, das Lebloses und Lebendes auf der Erde in so vielfältiger<br />

Weise schädigt und schändet.”<br />

“Jetzt reden Sie fast so daher wie eine Grüne, die mit mir<br />

über die Rolle des Menschen in der Natur diskutiert hat.<br />

Die behauptete, der Mensch sei das Krebsgeschwür der<br />

Schöpfung!”<br />

Der Physiker wiegt den Kopf.<br />

“Sie verdammen die Grüne nicht?”<br />

“Im Kern hat sie nicht unrecht.”<br />

“Sie! Das Krebsgeschwür kennt keine Moral. Es macht sich<br />

keine Gedanken darüber, was es dem Körper antut.”<br />

“Dennoch gibt es erschreckende Parallelen zwischen Krebs<br />

und Mensch.”<br />

“Welche?”<br />

“Krebszellen entziehen sich der Kontrolle, den harmonisierenden<br />

Kräften des Körpers. Sie wachsen und breiten<br />

sich aus ohne Rücksicht auf das Ganze. Sie schädigen lebenswichtige<br />

Organe, stören Ordnung, zehren aus. So vernichten<br />

sie am Ende den sie tragenden Organismus – und damit auch<br />

sich selbst.”<br />

Der Maler atmet resignierend aus, sackt in sich zusammen.


Auferstehung 297<br />

Lange schweigt er. Dann sagt er: “Freilich, so gesehen haben<br />

Sie nicht unrecht. Auch wir wachsen und zerstören ohne<br />

Rücksicht auf das Ganze.”<br />

“So ist es. Wir leben nicht mehr vom Einkommen, sondern<br />

vom Kapital. Und dabei zerstören wir auch noch dessen Möglichkeiten,<br />

Einkommen zu produzieren: Wir schlachten die<br />

Kuh, deren Milch uns ernähren soll.”<br />

Der Physiker wendet sich dem Gefährten zu. “Warum also<br />

sollte ausgerechnet der Mensch für sich in Anspruch nehmen<br />

dürfen, seine Untaten auch noch nach dem Tod wieder aufzunehmen?”<br />

“Im H<strong>im</strong>mel widerfahren dem Menschen Läuterung und<br />

Wandlung.”<br />

“Wenn dem Menschen <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel Läuterung und<br />

Wandlung widerfahren würden, so müßte das doch bedeuten,<br />

daß er befreit würde von den Eigenschaften, die seine<br />

vielfältigen Probleme verursachen und die ihn zur Gefahr für<br />

die Natur auf Erden machen.”<br />

“Freilich!”<br />

“Wenn der Mensch von diesen Eigenschaften befreit würde,<br />

so wäre er nicht länger ein Mensch! Und warum ihm diese<br />

Eigenschaften dann überhaupt erst verleihen, oder genauer,<br />

aufzwingen?”<br />

“Aufzwingen? Das sehen Sie völlig falsch. Sie ...”<br />

“Und der Gott der Christen? Warum dürfen wir von ihm<br />

erwarten, daß er einen Menschen in seinen H<strong>im</strong>mel aufnehmen<br />

will?” Der Physiker bewegt den Zeigefinger achtungsgebietend<br />

in der Luft herum: “Ich sage Ihnen, wenn es einen<br />

Gott gäbe, welcher den Vorstellungen Christi auch nur ähnlich<br />

ist, er wäre längst aus der Kirche ausgetreten. Und wenn<br />

es einen Gott gäbe, welcher <strong>im</strong> Sinne der meisten Religionen<br />

Herr der Erde wäre – er müßte geschlafen haben. Sehenden<br />

Auges könnte er das, was die Menschen hier auf Erden seinen<br />

Werken antun doch nicht so lange geduldet haben. Wenn er<br />

also aufwacht dieser Gott, was, glauben Sie, würde geschehen?


298 ANSICHTEN<br />

Wenn dieser Gott sieht, wie die Menschen mit dem von ihm<br />

Geschaffenen umgehen, wenn er sieht, was sie auf Erden<br />

anrichten, was die Religionsfürsten aus dem Vermächtnis der<br />

Propheten gemacht haben, was sie sich anmaßen! Er könnte<br />

doch nur eins tun, dieser Gott: dieses so völlig mißratene<br />

Geschöpf, dieses Geschwür an seiner Schöpfung, das sich<br />

Mensch nennt, herausbrennen aus seiner Natur, zerstampfen<br />

und auf ewig vernichten!”<br />

Erkenntnisgewinnung<br />

Die harten Worte des Wissenschaftlers bohren sich tief<br />

in das Herz des Künstlers. Sie schmerzen. ‘Auf ewig vernichten!’,<br />

denkt er. ‘Das Christentum ist eine auf Offenbarungen<br />

basierende Erlösungsreligion! Ohne die Botschaft von der<br />

Erlösung gäbe es gar keinen Christengott, jedenfalls nicht in<br />

den Herzen der Menschen!’ Was der Physiker da alles gesagt<br />

hat, das beginnt am Selbstverständnis des Malers zu nagen.<br />

Das erschüttert seinen Glauben. ‘Warum’, denkt er, ‘mißlang<br />

Gott sein Werk? Warum mißriet ihm die Schöpfung so sehr?’<br />

Und dann denkt er auch: ‘Der Physiker stützt mich nicht. Der<br />

n<strong>im</strong>mt mir Halt. Die Weisheiten dieses Mannes, wo sind sie?<br />

Das, was der da von sich gibt, klingt oft eher extrem als weise.<br />

Dieser Mann ist …’ Die Gedanken des Malers enden abrupt.<br />

Er versinkt in innerer Wortlosigkeit – wie ein Stein in rasch<br />

auflaufender, wellenloser Flut.<br />

Stumm wandern die beiden nebeneinander her bis zum<br />

alten Bootsanleger am See. Dort angekommen, setzen sie sich<br />

auf die weiße Bank.<br />

Nach langem Schweigen beginnt der Physiker aufs neue.<br />

“Unsere tierische Vergangenheit – sie verursacht große<br />

Probleme in einer Welt, die so ganz anders ist als die, in der<br />

sich unsere Organe, unser Verhalten, unsere Instinkte und<br />

Triebe entwickelt haben.”


Erkenntnisgewinnung 299<br />

“Sie können tierische Triebe doch nicht so ohne weiteres<br />

gleichsetzen mit den Gefühlsregungen der Menschen!”<br />

“Unsere Strukturen – Arme, Beine, Herz, Magen – entsprechen<br />

denen höherer Tiere ebenso wie unsere Funktionen<br />

– Stoffwechsel, Gefühle, Triebe. Wo sonst sollten unsere<br />

Verhaltensweisen, Gefühlsregungen, unsere Süchte und<br />

Triebe herkommen, aber auch unser Bewußtsein und das, was<br />

wir als Vernunft, Verstand oder Geist bezeichnen, wenn nicht<br />

aus der Vergangenheit, wenn nicht aus unserer tierischen<br />

Vergangenheit? Daß viele Menschen sich ihrer Vergangenheit<br />

schämen, ist ein Ausdruck unbegründeter Überheblichkeit.<br />

Der Mensch muß seine Vergangenheit erkennen. Und er muß<br />

sich zu ihr bekennen. Instinkte und Triebe sind nützliche und<br />

wichtige Steuerungsmechanismen der Natur, sowohl bei<br />

Tieren als auch bei Menschen. Nicht diese Steuerungsmechanismen<br />

sollten wir beklagen, sondern das, was bei uns<br />

daraus geworden ist. In so manchem Menschen pervertieren<br />

ursprünglich sinnvolle Triebe.”<br />

Diese Worte schleudern den Maler aus der Rolle des Verletzten<br />

in die Rolle des Ertappten. Er duckt sich und preßt die<br />

dicken Lippen aufeinander.<br />

Seinen Gedanken nachhängend fährt der Physiker fort:<br />

“Auch das eingleisige Ursache-Wirkungsdenken ist ein Erbe<br />

unserer tierischen Vergangenheit. Da hatte die Fähigkeit,<br />

Wirkungen mit Ursachen direkt in Beziehung zu setzen, eine<br />

unmittelbar lebenserhaltende Funktion. Da hatte …”<br />

“Heute etwa nicht?”<br />

“Auch heute noch ist diese Fähigkeit wichtig. Wenn ich in<br />

meinem Wohnz<strong>im</strong>mer sitze, und mir tropft Wasser auf den<br />

Kopf, so frage ich: “Wo kommt das her? Was ist die Ursache?”<br />

“Und? Was beanstanden Sie?”<br />

“Daß unsere Philosophie, unsere Religion und unsere Wissenschaft<br />

noch <strong>im</strong>mer auf diesem s<strong>im</strong>plen Reaktionsschema<br />

aufbauen. Lineares Ursache-Wirkungsdenken ist für das Verständnis<br />

komplexer Zusammenhänge ungeeignet.”


300 ANSICHTEN<br />

“Komplexe Zusammenhänge”, ruft der Maler. “Was bedeutet<br />

das? Das ist doch eine Funktion der Eigenart des Betrachters.<br />

Der Leistungsfähigkeit seines Hirns!”<br />

“Gewiß.”<br />

“Schon Kant hat gesagt: ‘Alles Geschehen setzt Ursachen<br />

voraus.’”<br />

“Ich füge dem hinzu: und alle Ursachen setzen Geschehen<br />

voraus.”<br />

“Wie das?”<br />

“Bleiben wir bei dem Beispiel: mir tropft Wasser auf den<br />

Kopf. Was ist die Ursache? Ein undichtes Wasserrohr. Diese<br />

Ursache aber setzt ein Geschehen voraus: die Wasserleitung<br />

ist <strong>im</strong> Laufe der Zeit durchgerostet.”<br />

“Wo ist der Unterschied zwischen Geschehen und Ursache?”<br />

“Das ist eine Frage der Definition, der Perspektive, der Reihenfolge.<br />

In letzter Konsequenz ist alles Geschehen.” Mit steifem<br />

Zeigefinger schiebt der Physiker die Brille hoch. “Geschehen<br />

gebiert Geschehen.”<br />

“Und was ist ein Geschehen?”<br />

“Eine Bewegung von Energie.”<br />

“Zu stark vereinfacht!”<br />

“Nur wo Energie fließt, kann es ein Geschehen geben. Und<br />

nur wo es ein Geschehen gibt, kann es eine Ursache geben.”<br />

“Ist das ein geradliniger Prozeß?”<br />

“Es gibt nichts Geradliniges. Letztlich ist alles ein Kreis.<br />

Das ist den meisten Philosophen offenbar entgangen.”<br />

“Wie formt sich der Kreis?”<br />

“Indem Ursachen auf Geschehen zurückgehen und dieses<br />

auf Ursachen. Das ergibt einen Kreis, viele Kreise, auch sich<br />

selbst steuernde.”<br />

“Kreis!”, ruft der Maler, “<strong>im</strong>mer wieder Kreis! Ich mag keinen<br />

Kreis!!”<br />

“Alles unterliegt der Herrschaft des Kreises. Kreise wirken<br />

überall: in einem Organismus, in der Natur, <strong>im</strong> Universum.<br />

Alles kreist. Und alle Kreise sind auf vielschichtige Weise


Erkenntnisgewinnung 301<br />

miteinander verknüpft, verknotet und verwoben. Da kommt<br />

man mit eingleisigem Ursache-Wirkungs-Denken nicht<br />

weiter. Da geht es nicht um eind<strong>im</strong>ensionale Kausalketten,<br />

sondern um mehrd<strong>im</strong>ensionale Kausalgewebe.”<br />

“Wie ist so ein Kausalgewebe konstruiert?”<br />

“Kompliziert. Wir rechnen heute mit bis zu 26 D<strong>im</strong>ensionen.<br />

Nur 4 davon sind für uns erlebbar.”<br />

“Und die anderen?”<br />

“Sie sind für Menschen unsichtbar.”<br />

“Wo sind sie?”<br />

“Fest eingebunden in Geschehen. Als lägen sie <strong>im</strong> Zentrum<br />

eines erschrockenen, eingerollten Igels. Nur durch ihr Zittern<br />

können wir sie entdecken.”<br />

“Laßt sie zittern, verdammt nochmal! Wen kümmert das?”<br />

“Sie sehen also: das Studium komplexer Objekte bedarf<br />

neuer Methoden des Denkens und der Erkenntnisgewinnung.”<br />

“Erkenntnisgewinnung!”, ruft der Maler wütend. “Immer<br />

wieder sprechen Sie davon. Aber die Welt um uns und die<br />

Bilder von ihr in uns, das ist nicht dasselbe!”<br />

“So ist es.”<br />

“Die Bilder, die wir von der Welt malen und die wir in unseren<br />

Köpfen aufhängen, sie sind weder Originale noch Kopien.<br />

Unsere Sinnesorgane, unser Hirn, unsere Psyche lassen aus<br />

den Informationen, die uns aus der realen Welt erreichen,<br />

Eindrücke entstehen, die eine Welt formen, die anders ist als<br />

die tatsächlich existierende. Das haben Sie selber so erläutert!”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Was wir in unseren Köpfen haben, das ist eine Welt, die wir<br />

für unsere eigenen Belange zurechtgeschustert haben. Eine<br />

Welt, die unseren Bedürfnissen und Eigenarten als biologische<br />

Kreatur entspricht, nicht aber eine Wiedergabe dessen,<br />

was wirklich ist. Das habe ich von Ihnen gelernt!”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Die grüne Farbe der Büsche und Bäume hier”, zürnt der<br />

Maler, “ja die Büsche und Bäume selber, sie existieren so nicht


302 ANSICHTEN<br />

in der Realität. Auch der <strong>Park</strong> existiert nicht so, wie wir ihn<br />

erleben. Unser Bild vom <strong>Park</strong> formt sich erst nach aufwendiger<br />

Übersetzungsarbeit in den <strong>Inter</strong>pretationszentren unseres<br />

Hirns, letztlich in unserer Psyche.” Er zerrt den Hut in<br />

die Stirn. “Zwischen der Quelle der Information und der von<br />

ihr ausgelösten Empfindung in uns besteht keine<br />

unmittelbare Wesensparallelität! Wie, frage ich Sie, können<br />

Sie denn da von Erkenntnisgewinnung sprechen?”<br />

Der Physiker will antworten. Aber der Maler gibt ihm keine<br />

Gelegenheit dazu. “Auch unsere Art zu denken ist nicht dazu<br />

geeignet, ein objektives Bild von der Welt zu entwerfen. Wie<br />

der Bau und die Funktion unseres Körpers, so ist auch unser<br />

Denkapparat und dessen Arbeitsweise das Ergebnis einer<br />

Entwicklung, die zugeschnitten ist auf die Rolle, die der<br />

Mensch in seinem Ökosystem über Hunderttausende von<br />

Jahren gespielt hat, und die er eigentlich auch heute noch<br />

spielen sollte. Haben Sie nicht auch das so gesagt?”<br />

“Ja.”<br />

“Man muß sich das mal vorstellen”, braust der Maler auf:<br />

“Wir haben Augen, Ohren und Hirnwindungen, die sich aus<br />

der ursprünglichen ökologischen Nische des Menschen heraus<br />

entwickelt haben. Und die Natur fesselt uns noch <strong>im</strong>mer an<br />

das mit diesen Strukturen Erkennbare, an das mit ihnen<br />

mögliche Empfinden, Denken und Wissen. Sie zwingt uns,<br />

Archaisches noch <strong>im</strong>mer anzuwenden, und das auch noch auf<br />

vorgegebenen Erlebnisbahnen! Wir sehen, hören, fühlen und<br />

denken auf Schienen! Kein Wunder, daß wir der linearen Ursache-Wirkungs-Philosophie<br />

verhaftet sind, daß wir in einer<br />

drei- oder vierd<strong>im</strong>ensionalen Welt zu Hause sind. Wie können<br />

wir überhaupt erwarten, daß die von uns entwickelte Logik<br />

ihre Entsprechung hat in der Welt um uns? Unser Logikverständnis<br />

ist abhängig von unseren menschenspezifischen<br />

Strukturen und Funktionen, von unserer menschenspezifischen<br />

Weltsicht, von unseren menschenspezifischen<br />

Systemen der Worte, Werte, Begriffe und Denkkategorien.


Erkenntnisgewinnung 303<br />

Auch das haben Sie so gesagt!”<br />

Der Maler macht eine wegwerfende Handbewegung. “Da ist<br />

doch jeder Versuch, Erkenntnis zu gewinnen, Mumpitz.<br />

Nichts als Mumpitz!” Schrill schreit eine St<strong>im</strong>me in ihm:<br />

‘Auch der gottsverdammte Engel – nichts als Mumpitz!’<br />

‘Engel!!’ Wie von Sinnen stößt er den Spazierstock in die Luft,<br />

so hoch, daß ihn der Buckel schmerzt.<br />

Der Künstler starrt den Wissenschaftler an, als wollte er<br />

ihn durchbohren. Einen knisternden Augenblick lang<br />

schweigt er. Dann rammt er den Spazierstock ins morsche<br />

Holz zu seinen Füßen. Seine Augen sprühen Funken. Mit sich<br />

überschlagender St<strong>im</strong>me tobt er: “W…wir sind Angekettete,<br />

wir sind Eingezäunte, wir sind Gefangene!!” Wie ein Wilder<br />

fuchtelt er mit beiden Armen herum, zerhackt die Luft mit<br />

dem Spazierstock. “D…die Ketten, das sind unsere festgezurrten<br />

Denkmuster, unsere progammierten Verhaltensweisen.<br />

Die Zäune, das sind unsere restriktiv konstruierten Sinnesorgane.<br />

Unser Gefängnis, das ist die Natur! Unser Gefängnisdirektor,<br />

das ist Gott!!!”<br />

Die Gefühlswelt des Malers ist explodiert. Sein Gesicht<br />

droht auseinanderzufallen. Er keucht. Es dauert lange, bis er<br />

wieder sprechen kann. “Die Ketten zu sprengen, den Zaun zu<br />

durchbrechen, das ist uns auf ewig verwehrt. Es bedurfte<br />

eines Jahrhundert-Genies, Albert Einstein, um mit Hilfe<br />

mathematischer Denkmuster die Tür zur Realität wenigstens<br />

einen winzigen Spalt breit aufzuzwingen. Aber natürlich war<br />

auch Einstein an die Schienen und Grenzen menschlichen<br />

Erkennens gefesselt. Auch er konnte sich das, was er da<br />

errechnet hatte, nicht wirklich vorstellen. Er hat nur mit<br />

Hilfe seiner Formeln durch den Türspalt geblinzelt.”<br />

Wild mit den Armen herumfuchtelnd, brüllt der Künstler<br />

den Wissenschaftler an: “Ein Narrentanz, das Ganze! Ein<br />

Theaterstück von und mit Beschränkten!! Wie können Sie<br />

denn da von Erkenntnisgewinnung sprechen!?”<br />

Zitternd sitzt er da, vornübergebeugt, ein Gebrochener. Mit


304 ANSICHTEN<br />

hängender Unterlippe flüstert er: “Warum gab uns die Natur<br />

den starken Drang nach Wissen, den hungrigen Blick nach<br />

vorn? Warum schlägt sie uns zugleich mit Blindheit? Warum<br />

tut Gott uns das an?” In Abwehr hebt er die Hand. “Und<br />

warum fordern Sie ein neues Weltverständnis? Warum wollen<br />

Sie eine neue Philosophie, einen neuen Menschen, eine neue<br />

Religion, einen neuen Gott?” Wieder rammt er den Stock ins<br />

morsche Holz. “Wenn es darum geht, tief in die Dinge einzudringen,<br />

etwas Handfestes über real Existierendes, über das,<br />

was wirklich ist, über die Welt, über uns, über Gott in Erfahrung<br />

zu bringen, dann muß das doch in die Hose gehn!!”<br />

Der Physiker bleibt unbeeindruckt. Ruhig sagt er: “Ich<br />

st<strong>im</strong>me Ihnen zu, wenn Sie sagen, daß die reale Welt und das<br />

Bild, das wir von ihr in uns tragen, nicht dasselbe sind. Unsere<br />

Vernunft und Logik, unser Denken und Empfinden spiegeln<br />

nicht die Realität. Sie sind Mittel und Ausdruck unserer besonderen<br />

Eigenart, die Realität wahrzunehmen. Sie sind Teil des<br />

Rollenplans, den die Natur unserer Spezies zuweist. Mit jedem<br />

Versuch, über das Drehbuch der Natur hinauszuwachsen,<br />

kommen wir ins Schleudern, beginnen Begriffe wie Vernunft,<br />

Logik und Wirklichkeit zu verblassen, sich zu entleeren.”<br />

“Eben!”<br />

“Aber die reale Welt und das Bild, das wir von ihr in uns tragen,<br />

sind nicht grundsätzlich verschieden. Was die reale Welt,<br />

uns, und unsere Vorstellung von der realen Welt verbindet,<br />

das ist die gemeinsame Geschichte, das sind die prinzipiell<br />

gleichen Energie-Materie-Konstellationen, das sind die universumweit<br />

wirksamen Ordnungs- und Organisationskräfte.<br />

Als Teil dieser Geschichte, Konstellationen und Kräfte<br />

funktionieren wir nach deren Vorgaben. Und als Teil der<br />

lebenden Natur steuern uns die Gesetze der Entwicklung und<br />

Ausreifung irdischen Lebens. Wir erleben die reale Welt mit<br />

Sinnesorganen, die ein Teil dieser realen Welt sind. Hier<br />

erkenne ich Verbindendes. Hier ist die Brücke!”<br />

“Und? Was wollen Sie damit sagen? Wo bleibt Ihre Extra-


Erkenntnisgewinnung 305<br />

polation ins Grundsätzliche, mit der Sie doch sonst so gerne<br />

aufwarten?”<br />

“Für mich sind die grundsätzlichen Fakten diese: Alles ist<br />

Geschehen. Und alles Geschehen geschieht nach einem Plan.<br />

Weder Wesen noch Ziel des Plans sind für Menschen erkennbar.<br />

Irdisches Leben existiert und evolviert in Ökosystemen.<br />

Die Programme, nach denen Ökosystemmitglieder sich<br />

entwickeln und funktionieren, sind anders, als das für ein<br />

Erkennen der realen Welt erforderlich wäre. Für eine Welterkenntnis<br />

liefert die Natur keiner irdischen Lebensform<br />

die Voraussetzungen – kein Programm, keine Perzeptionsmechanismen,<br />

keine <strong>Inter</strong>pretationsmöglichkeiten. Nur mit<br />

derartigen rollenspezifischen Restriktionen, nur mit der<br />

konsequenten Anwendung des Restriktionsgesetzes, ist<br />

vielartiges organisches Leben möglich, nur so kann es sich<br />

über Milliarden von Jahren in geordneten Bahnen entfalten.”<br />

“Dann können wir also nur sehr wenig wissen?”<br />

“Wissen können wir nur innerhalb des Rahmens, den unsere<br />

Sinne uns setzen. Und selbst da gibt es oftmals nicht erkannte<br />

Rückkopplungen.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Unsere Sinnesausstattung regelt das Erkennen und das<br />

Lösen eines jeden Problems. Unser Hirn formuliert seine<br />

eigenen Fragen. Es gibt seine eigenen Antworten. Und es<br />

gebiert seine eigenen Fehler.”<br />

“Also können wir gar nichts wissen?”<br />

“Wissen können wir nur innerhalb der Grenzen der Menschenwelt.”<br />

“Warum dann unser <strong>Suchen</strong>?”<br />

“Wer nicht nach dem Wesen der Welt sucht, der kann über<br />

sein eigenes Wesen nichts finden. Wer von der Welt nichts<br />

weiß, und nichts von sich, der kann nicht einmal von seinem<br />

eigenen Unwissen wissen. Fehlendes Wissen über das eigene<br />

Unwissen aber ist für uns lebensgefährlich.”<br />

“Was ist an den Grenzen der Menschenwelt?”


306 ANSICHTEN<br />

“An den Grenzen beginnt Vermutung. Darüber hinaus herrscht<br />

eine unserem Geist alles verhüllende Finsterniß.”<br />

“Wie weit sind die Grenzen gesteckt?”<br />

“Ich vermute, eher eng als weit.”<br />

“Was ist außerhalb der Grenzen?”<br />

“Ich weiß es nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es<br />

dort draußen Dinge und Vorgänge gibt, die gänzlich jenseits<br />

unseres Denk- und Vorstellungsvermögens liegen, die soweit<br />

weg sind von unserer Art zu erleben und zu empfinden, daß<br />

wir sie nicht einmal erahnen können – ein Geschehen, das uns<br />

auf ewig verschlossen bleiben wird. Die Frage ist nun, ob das<br />

wirklich Wesentliche, das die Welt ausmacht, eher innerhalb<br />

oder eher außerhalb der Grenzen liegt.”<br />

“Wo liegt es?”<br />

“Ich vermute, eher außerhalb.”<br />

Der Maler ist plötzlich tief ergriffen. “Ja”, sagt er, “ja, die<br />

Grenzen. Da beginnt das Andere, das Unbegreifliche. Das Unbenennbare,<br />

das uns mit Staunen erfüllt und mit Ehrfurcht.<br />

Da beginnt das Reich des Rätselhaften, des Fremden. Das<br />

Reich, für das wir keine Worte haben, keine Begriffe und keine<br />

Vorstellungen.”<br />

Der Physiker nickt. “Eine riesige Welt, die sich für uns der<br />

Anschaulichkeit und Begreifbarkeit entzieht.”<br />

“Warum dann also weitersuchen?”, fragt der Maler, “warum<br />

all dieser Aufwand, all dieses Forschen, wenn wir die Wirklichkeit<br />

doch nicht erkennen können, und wenn uns das Ergebnis<br />

dessen, was wir erforschen, obendrein oftmals noch<br />

Schwierigkeiten bereitet? Das ist doch widersinnig!”<br />

“Für den Menschen bedeutet <strong>Suchen</strong>: Reifen, Erkenntnis<br />

gewinnen, Bewußtsein erweitern. Hier ...”<br />

“Für den Menschen? Erkenntnis gewinnen gibt es nur be<strong>im</strong><br />

Menschen.”<br />

“Nein. Erkenntnisgewinnung ist ein Teil des Ausreifens<br />

aller Arten, ein Ausdruck des sich vollendenden Lebensvorgangs.”


Erkenntnisgewinnung 307<br />

“Der Mensch kann mehr!”<br />

“Im Menschen hat Erkenntnisgewinnung eine verstärkte<br />

Ausprägung erfahren. Das hat unsere Eigenwelt neu<br />

gestaltet, zusätzliche Spielregeln geschaffen und zusätzliche,<br />

intern wirksame Selektionsbedingungen.”<br />

“Wie Sie die Dinge sehen! Wie Sie sie sezieren! Wie Sie<br />

sie s<strong>im</strong>plifizieren! Ihre Sicht ist mir zu analytisch und zu<br />

rational. Es gibt auch Gottvertrauen, Glauben, Geheiligtes.<br />

Müssen wir es nicht vor dem Alles-Wissen-Wollen schützen?”<br />

“Auf Dauer können wir nichts schützen vor dem Wissenwollen.<br />

Auch nicht Dinge, die uns heilig sind.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil der Kern ausreifenden Menschseins die Suche nach<br />

der Wahrheit ist.”<br />

“Menschsein! Dazu gehört auch anderes!”<br />

“Ja. Fürsorge und Rücksichtslosigkeit, Hingabe und Selbstverwirklichung,<br />

Liebe und Haß, Gelehrtheit und Verbohrtheit,<br />

Moral und Verderbtheit. Und wie be<strong>im</strong> Tiersein gibt es<br />

da auch Macht und Ohnmacht, Hunger und Essen, Durst und<br />

Trinken, Trieb und Befriedigung.”<br />

“Sie werfen alles in einen Topf. Da verwischen sich natürlich<br />

die Unterschiede. Die Basis menschlicher Existenz sehe ich<br />

als etwas Separates, als etwas von der übrigen Natur Unterscheidbares.<br />

Als etwas …”<br />

“Die Basis menschlicher Existenz ist nichts Separates. Sie<br />

ist die gleiche wie bei jeder anderen Kreatur. Alles entwächst<br />

dem gleichen Boden. Alles besteht aus dem gleichen Material.<br />

Alles gehorcht den gleichen Gesetzen. Überall herrschen die<br />

gleichen Urantriebe: Selbsterhalt, Vermehrung und Verbreitung;<br />

Aneignung von Energie und Materie; Umwandlung von<br />

Fremdem in Eigenes; Entwicklung und Ausbreitung des Eigenen<br />

zu Lasten des Umgebenden.”<br />

“Ihre Art, zu vereinheitlichen, geht mir zu weit!”<br />

“Im ausreifenden Menschsein werden die Urantriebe zunehmend<br />

individualisiert, intensiviert und kanalisiert – und


308 ANSICHTEN<br />

zwar mit durchschlagender Wirkung. So verzerrt der moderne<br />

Mensch nicht nur das ausbalancierte Zusammenleben<br />

verschiedener Lebensformen, sondern er stört auch die zwischenartliche<br />

Harmonie in der Informationsgewinnung.”<br />

“Sie beschreiben, was Ihrer Ansicht nach geschehen ist und<br />

geschieht. Gründe für die Fortschreibung unserer besonderen<br />

Art der Erkenntnisgewinnung, für unsere Forschungstätigkeit,<br />

liefern Sie nicht!”<br />

“Die Gründe fußen auf unserem Wesen. Wir tun, was wir<br />

nicht lassen können.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Unser wachsender Hunger nach Wissen ist Teil unserer<br />

Evolution. Im tiefsten Grunde ist er nichts anderes als eine<br />

die hypertrophierende Ausbildung unseres Hirns begleitende<br />

Verstärkung des Neugiertriebes. Ja”, nickt der Physiker vor<br />

sich hin, “ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht: In<br />

letzter Konsequenz ist Erkenntnisgewinnung ein Trieb. Und<br />

somit ist das Streben nach Erkenntnis auch ein Ausdruck<br />

unserer Unfreiheit. Wir können nicht anders.”<br />

Irgendetwas <strong>im</strong> Maler grinst: ‘Die hehre Wissenschaft – die<br />

Ausgeburt eines Triebes!’<br />

“Im Umfeld unseres <strong>Suchen</strong>s nach Lebensinhalt, Sinn und<br />

Erkenntnis verselbständigen sich, bis zu einem gewissen<br />

Grad jedenfalls, vielschichtige Antriebskräfte. Sie gestalten<br />

ihre eigene Welt von Kultur, Kunst, Religion und Wissenschaft<br />

– eine Welt subl<strong>im</strong>ierter Bedürfnisbefriedigung. Dabei<br />

bewirkt der vielen Menschen eigene Antriebsüberschuß einen<br />

ständigen Leistungsdruck, ja einen Leistungszwang.”<br />

“Zur Hölle mit dem ganzen Zauber! Was nützt Erkenntnisdrang<br />

uns wirklich? Führt neues Wissen zu neuer Weisheit?”<br />

“Ich hoffe es.”<br />

“Ist das genug?”<br />

“Ohne gezielte, organisierte Erkenntnisgewinnung kann die<br />

moderne Menschheit nicht überleben. Wer nicht erkennen


Erkenntnisgewinnung 309<br />

will, wer die Wirklichkeit nicht erforschen will, wer die<br />

Wahrheit nicht wahrhaben will, dem wird das zum Verhängnis<br />

werden. Nur wenn wir offenen Sinnes von der Natur<br />

lernen, und wenn wir das Erlernte nutzen, um unsere eigene<br />

Welt wieder besser einzugliedern in die Ordnung der<br />

Schöpfung, nur dann haben wir eine Chance, Natur und<br />

Mensch wieder miteinander zu versöhnen.”<br />

“Was nützt das mir? Wie bringt mich das weiter, mich als<br />

Künstler, mich als Sucher nach mir selbst?”<br />

“Nur wer in ständigem Bemühen danach strebt, das Wesen<br />

der Schöpfung zu verstehen, nur der darf hoffen, den<br />

Schlüssel zu finden zum Verständnis seines eigenen Wesens.<br />

Und nur wer sich selbst zu erkennen vermag, der kann seine<br />

Rolle <strong>im</strong> Drehbuch der Natur interpretieren und neu<br />

gestalten.”<br />

“Was also sollen wir tun?”<br />

“Die Forderungen lauten: Erkennen, was erkennbar ist,<br />

und darauf aufbauend unser Leben in Harmonie mit der<br />

Schöpfung neu gestalten. Definieren, was für uns lebensnotwendig<br />

ist, und was getan werden kann, um die Natur vor<br />

uns zu schützen. Revision unseres Weltbildes und Neuordnung<br />

unserer Beziehungen zu Gott.”<br />

“Das also ist des Pudels Kern?”<br />

“Der Kern ist dieser: Unsere Strukturen und Funktionen<br />

sind Teile von Ökosystemen und werden von entsprechenden<br />

Programmen gesteuert. Das Erkennen der realen Welt gehört<br />

nicht zu diesen Programmen. Im Gegenteil, so wie ich das<br />

sehe, will die Natur sich nicht in die Karten kucken lassen.”<br />

“Aber …”<br />

“Die Natur schützt sich vor dem Erkanntwerden, indem sie<br />

ihre Geschöpfe auf dem entsprechenden Auge mit Blindheit<br />

schlägt. Dennoch hat sie zugelassen, jedenfalls bis auf den<br />

heutigen Tag, daß eines ihrer Geschöpfe, der Mensch, damit<br />

begonnen hat, ihr über die Schulter zu sehen. Hier ist ein<br />

Konflikt entbrannt zwischen der Kontrollfunktion der Natur,


310 ERFÜLLUNG<br />

die bestrebt ist, ihr System intakt zu halten, und der Ausbrecherfunktion<br />

des Menschen, der bestrebt ist, sich von den<br />

Fesseln seiner Ökosystembindungen zu befreien.”<br />

“Wie geht der Konflikt aus? Können wir ihn gewinnen?”<br />

“Nicht gewinnen. Nur mit ihm leben.”<br />

“Also zurück zur Steinzeit?”<br />

“Ein Zurück gibt es nicht. Wir müssen fortfahren, der Natur<br />

über die Schulter zu sehen. Wir müssen von ihr lernen. Nur<br />

mit der Natur, nicht gegen sie, können wir leben, können wir<br />

überleben. Nur wenn wir das, was wir mit äußerstem Bemühen<br />

von der Natur lernen können, <strong>im</strong> Einklang mit ihren<br />

Gesetzen und in Achtung vor ihnen umsetzen in ein neues<br />

Weltverständnis, und wenn wir dieses neue Weltverständnis<br />

als Verhaltensanleitung für den neuen Menschen nutzen, nur<br />

dann hätten wir eine Chance, den Konflikt zu bestehen. Jedenfalls<br />

eine Zeit lang.”<br />

3 ERFÜLLUNG<br />

Kirchturmglocke<br />

“Solange ich denken kann,<br />

hat die Glocke meinen Weg<br />

durchs Leben begleitet.”<br />

Lange hatte sie nicht geschlagen, die Kirchturmglocke. Es<br />

fehlte das Geld für eine Reparatur des Uhrwerks und der<br />

Glockenmechanik. Schließlich entschloß sich der Pastor zu<br />

einem für ihn ungewöhnlichen Schritt. Während einer Predigt<br />

fügte er einem Gebet eine persönliche Bitte an. Er bat um<br />

Spenden für die Instandsetzung der Glocke.<br />

Schon nach dem nächsten Gottesdienst fand sich ein großer<br />

weißer Umschlag in der Kollekte. In ihm steckten zehn Tausendmarkscheine.<br />

Mehr als genug für die Reparatur. Der


Kirchturmglocke 311<br />

hochherzige Spender hatte von der Bitte des Pastors gehört<br />

und einen Vertrauten mit dem Umschlag zur Kirche gesandt.<br />

Vater und Tochter dankten ihm in einem Gebet und erbaten<br />

für ihn Gottes Segen. Be<strong>im</strong> darauffolgenden Gottesdienst<br />

gedachte der Pastor des Spenders mit bewegten Worten.<br />

Schon vielen Menschen hatte der hochherzige Spender geholfen.<br />

Immer anonym. Der Maler mag es nicht, wenn man<br />

ihm dankt.<br />

Nun zeigt das weithin sichtbare Zifferblatt der Kirchturmuhr<br />

wieder die Zeit. Nun zählt ihre weithin hörbare Glocke<br />

wieder die Stunden.<br />

Gerade jetzt wieder trifft der große Klöppel den dicken Rand<br />

der alten Glocke. Das verursacht ein kräftiges, mahnendes<br />

Dröhnen. Wie ein Stein, der von einer Klippe in ruhiges Wasser<br />

stürzt, so erzeugt das Dröhnen der Glocke Wellenkreise,<br />

die nach allen Richtungen den Ort ihres Entstehens fliehen,<br />

weit hinein in alle Teile des <strong>Park</strong>s.<br />

Bbuommm, Bbuommm, Bbuommm, …. achtmal dröhnt die<br />

Glocke.<br />

Die Tanzmusik <strong>im</strong> Waldschloß, leise herübergeweht vom<br />

Auf und Ab lauer Abendbrisen in wechselvollem, zarten Crescendo<br />

und Decrescendo, verstummt. Tanzpause. Zwei Enten,<br />

die irgendwas irgendwo am See aufgescheucht hat, und die<br />

jetzt in Panik über den Baumwipfeln ihre Kreise ziehen,<br />

quaken in heller Aufregung. Dann drehen sie ab und fliegen<br />

zurück zum See.<br />

Und nun ist es wieder ganz still <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />

Mitten aus der Andacht dieser Stille springt die helle St<strong>im</strong>me<br />

einer Frau. Laut ruft sie etwas hinaus in die Abendst<strong>im</strong>mung.<br />

Und jetzt lacht sie. Ein perlendes Champagnerlachen.<br />

Vage zuerst, dann deutlicher und lauter, knirschen Schritte<br />

<strong>im</strong> Kies des Hauptwegs. Hand in Hand wandern Inge und<br />

Peter ihrer Bank entgegen, der Bank auf dem Hügel unter der<br />

großen uralten Eiche. Plötzlich rasches Rennen und Hüpfen.


312 ERFÜLLUNG<br />

Den überraschten Peter hinter sich lassend, läuft Inge so<br />

schnell sie nur kann den Hauptweg entlang, über die Brücke,<br />

den Kiesweg hinauf zur Bank. “Erster!”, ruft sie außer Atem<br />

und läßt sich auf die Bank fallen.<br />

“Du bist ja eine tolle Sprinterin!”, pustet der ihr hinterdrein<br />

stürmende Peter. “Da komm ich ja kaum mit!”<br />

“Kein Wunder, nicht mehr der Jüngste und dann auch noch<br />

Raucher!”<br />

Beide lachen. Sie sind ausgelassen und glücklich. Sie<br />

umarmen und küssen einander.<br />

“Vater mag dich”, sprudelt es aus Inge hervor, “er mag dich<br />

sogar sehr! Er hat gesagt: ‘Ich mag deinen Freund. Er ist aufrichtig<br />

und intelligent – und sicher meint er es ehrlich mit dir’.”<br />

“Weiß Gott, das meint er!”<br />

“Ich bin ja so glücklich! Du ahnst gar nicht, was das für mich<br />

bedeutet.” Sie drückt Peter ganz fest den Arm. “Und ich hoffe<br />

von ganzem Herzen, daß auch du Vater magst.”<br />

“Ja, ich mag ihn.”<br />

Mit beiden Armen umschlingt Inge Peters Hals und küßt<br />

ihn auf die Wange. Immer wieder.<br />

Stumm genießen die beiden ihr Glück. Sich umfassend, streicheln<br />

sie einander mit zärtlichen, tastenden Fingern.<br />

Schließlich sagt Peter: “Ich will nicht verschweigen, daß ich<br />

Bedenken hatte. Ein Pastor! Das paßt so gar nicht in die Welt,<br />

in der ich bisher zuhause war. Als Doktorand habe ich mit<br />

Freunden öfters über Wissenschaft und Religion diskutiert.<br />

Dabei sind Pastoren nicht <strong>im</strong>mer gut weggekommen. Aber ich<br />

habe dazugelernt. Das war ein wunderschöner, ein mich tief<br />

bewegender Abend in eurem Haus. Und ein Augenöffner<br />

dazu. So viel Harmonie und Wärme – das hatte ich vorher<br />

noch niemals erlebt. Dein Vater ist voller Güte und<br />

Wohlwollen. Kein Wunder, daß du ihn so sehr liebst.”<br />

Inge umarmt Peter so ungestüm, daß der nach Luft ringt.<br />

‘Mein Gott’, denkt er, ‘mein Gott, was muß die Inge an<br />

Ängsten ausgestanden haben!’


Kirchturmglocke 313<br />

Ganz fest umschlungen sitzen die beiden da auf ihrer Bank,<br />

so als wollten sie einander nie wieder loslassen. Mit weit<br />

geöffneten Herzen erwarten sie die heranschwebende Nacht.<br />

Inges Augen sind voller Tränen. Diesmal sind es Tränen des<br />

Glücks. Lange, sehr lange sitzen sie so. Schweigend. Einander<br />

festhaltend.<br />

Nur langsam, mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen, löst<br />

sich Inge aus der Umarmung. Wieder küßt sie Peter auf die<br />

Wange. Dann sagt sie: “Vater und ich, wir würden uns sehr<br />

freuen, wenn du Samstagabend zu uns kommen könntest.” Als<br />

Peter nicht sogleich antwortet, fügt sie ängstlich hinzu: “Ich<br />

hoffe sehr, daß dir der Termin paßt, daß du kommen kannst.”<br />

“Ich werde gerne kommen. Wieder um die gleiche Zeit?”<br />

“Ja. Ich freue mich! Weißt du, es ist wichtig für uns alle drei,<br />

daß Vater und du euch näher kennenlernt.” Inge hakt sich bei<br />

Peter ein, schmiegt sich an ihn. “Ich möchte so gern, daß du<br />

seine Art zu denken und zu fühlen besser verstehen lernst.<br />

Die Welt, aus der wir kommen, sie ist sehr verschieden von<br />

der Welt, aus der du kommst. Manchmal, wenn wir diskutiert<br />

haben, hatte ich das Gefühl, daß wir zwei verschiedene Sprachen<br />

sprechen. Da können Mißverständnisse viel Schaden<br />

anrichten. Vater kann da helfen. Er versteht es besser als ich,<br />

auch schwierige Dinge so zu formulieren, daß sie ohne<br />

Mißverständnisse vom Gesprächspartner aufgenommen und<br />

oft auch angenommen werden. Auch von jemandem, dem<br />

manches von dem, was uns bewegt, eher fremd ist.”<br />

Inge blickt auf zu Peter. Als der nichts sagt, fährt sie fort:<br />

“Bei unseren Gesprächen fühle ich manchmal, wie das, was<br />

ich sagen will, nicht so richtig ‘rüberkommt. Ich kann das,<br />

was mir am Herzen liegt, nicht <strong>im</strong>mer so auszudrücken, wie<br />

es gemeint ist. Manchmal komme ich mir dann vor, als stünde<br />

ich mit dem Rücken gegen die Wand. Und dann trifft mich die<br />

ganze Wucht deiner Argumente, besser formuliert und schwer<br />

zu widerlegen, obwohl ich manchmal fühle, daß das, was du<br />

sagst, so auch nicht <strong>im</strong>mer ganz richtig ist – nicht ganz richtig


314 ERFÜLLUNG<br />

sein kann. Da bin ich dann eher hilflos.”<br />

“Das klingt ja fast so, als ob ich dir Angst mache. Bin ich<br />

denn wirklich so einer, der seinen Gesprächspartner unerbittlich<br />

in die Enge drängt, der <strong>im</strong>mer recht haben will?”<br />

Inge schüttelt langsam den Kopf. “So scharf würde ich das<br />

nicht formulieren. Aber wenn du so richtig ins Argumentieren<br />

kommst, dann kniest du dich förmlich in die Dinge hinein.<br />

Dann merkt man dir an, wie deine Gedanken dich mit sich<br />

fortreißen. Dann bist du oft am weitesten von mir entfernt –<br />

obwohl wir doch in unseren Gesprächen gerade darum bemüht<br />

sind, einander näher zu kommen.”<br />

Nachdenklich streicht sich Peter mit den Fingerspitzen<br />

über das vorgestreckte Kinn. “Ich versuche, die Wahrheit zu<br />

finden. Nichts sonst. Beides ist oft schmerzlich: die Suche<br />

nach der Wahrheit und die Wahrheit, die ich finde. Auch ich<br />

fühle mich oft an die Wand gedrängt von meinen eigenen<br />

Gedanken, meinen eigenen Erkenntnissen. Oft bin ich<br />

überrascht und nicht selten unglücklich über das, was ich auf<br />

meiner Suche entdecke.” Er wendet den Kopf und blickt Inge<br />

an: “Aber darf ich deshalb aufgeben?”<br />

Da Inge nicht antwortet, sagt er: “Nein, das darf ich nicht.<br />

Ohne Wahrhaftigkeit, ohne Aufrichtigkeit, anderen und mir<br />

selbst gegenüber, würde mein Leben dunkel werden. Ich muß<br />

leben können ohne Scham. Ich will in die Welt hinausschauen<br />

können, ohne die Augen niederschlagen zu müssen und ohne<br />

das, was ich sehe, zu beschönigen, zu verdrehen oder zu<br />

verdrängen.”<br />

Peter streichelt Inges Hand. Die liegt jetzt flach ausgebreitet<br />

neben ihr auf der Bank. “Vielleicht hast du das noch<br />

gar nicht so bemerkt, aber du selbst stellst die schwierigsten<br />

Fragen. Ganz offensichtlich möchtest auch du dir Klarheit<br />

verschaffen, reinen Tisch machen. Wir haben sehr verschiedene<br />

Lebenserfahrungen. Es geht nicht darum, sie zu verwischen<br />

oder zu leugnen. Es geht darum, sie zu erkennen und<br />

anzuerkennen. In gegenseitiger Achtung, <strong>im</strong> Umeinander-


Wissen und <strong>im</strong> Einander-Verstehen können wir dann getrost<br />

ein gemeinsames Leben aufbauen.”<br />

“Ja, Peter, das ist wahr.”<br />

Bbuommm, Bbuommm, Bbuommm, … Es ist neun Uhr.<br />

“Schön, daß sie wieder heil ist, die Kirchturmglocke! Vater<br />

hat sie reparieren lassen. Oben <strong>im</strong> Turm hängt sie. Von meinem<br />

Z<strong>im</strong>mer aus kann ich sie sehen. Durch’s Turmgitter.<br />

Solange ich denken kann, hat die Glocke meinen Weg durchs<br />

Leben begleitet. Ich mag sie nicht missen. Schön, daß sie<br />

wieder heil ist, daß sie mir wieder meine Stunden zählt.”<br />

Lange sitzen die beiden auf ihrer Bank. Stumm. Glücklich.<br />

Brückenvollendung<br />

Brückenvollendung 315<br />

Zärtlich schmiegt Inge sich an ihren Peter. Immer wieder<br />

haucht sie Küsse über sein Gesicht, streichelt seine Wange,<br />

seinen Arm und seine Hände. Alles in ihr ist ganz und gar<br />

Peter zugewandt. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl<br />

durchströmt sie. Ihre große Liebe zu Peter überstrahlt jetzt<br />

alles. Niemals zuvor in ihrem Leben war sie so sehr Frau, so<br />

sehr verlangendes Fühlen.<br />

Peter umarmt und küßt Inge. Wieder und wieder. Ihre Herzen<br />

hämmern in rascher und wilder werdendem Takt. Trieb<br />

erwacht und pulst herauf aus dunklen Tiefen. Atem weht heftiger,<br />

schneller und tiefer.<br />

‘Endlich – endlich!’, denkt Peter, als Inge ihm weich und<br />

warm entgegenschmilzt, als ihr Körper sich ihm verlangend<br />

entgegendrängt. Zwei Liebende finden die Erfüllung ihrer<br />

Sehnsucht, finden endlich ganz zueinander: Herzen, Hände,<br />

Lippen, Körper. Lange lieben sie sich auf ihrer Bank.<br />

All ihre Probleme, all ihre Verschiedenartigkeiten – sie sind<br />

ganz leicht geworden. Alles Trennende entschwebt, löst sich<br />

auf wie Morgennebel in sonnetrinkender Luft. Ihr Glück sorgt<br />

sich nicht. Es fragt nicht. Nicht nach Anfang, nicht nach


316 ERFÜLLUNG<br />

Ende. Es genießt sich selbst.<br />

Solche Vereinigung geschieht in Gott. Sie erhöht das Ich<br />

zum Wir. Sie fügt zwei Teile zum Ganzen.<br />

Die Brücke ist vollendet.<br />

Sie werden wiederkommen, die Probleme. Aber sie werden<br />

keine Gefahr mehr sein für ihre Liebe.<br />

Bbuommm, bbuommm, … Inge lächelt mit geschlossenen<br />

Augen und in tiefem, tiefem Glück. ‘Die Glocke’, denkt sie,<br />

‘zum erstenmal in meinem Leben stört sie mich, zum<br />

erstenmal hätte ich – für ein einziges Mal nur – auf sie<br />

verzichten können. Wieder lächelt sie.<br />

Immer noch eng umschlungen liegen die beiden da. Wie aus<br />

einem wunderschönen Traum erwachend, richten sie sich<br />

langsam auf. Mit großen blanken Augen blicken sie wortlos<br />

in den <strong>Park</strong>, in einen <strong>Park</strong>, der plötzlich ganz anders aussieht,<br />

der auf gehe<strong>im</strong>nisvolle Weise teilgenommen hat an ihrem<br />

Glück. Einen <strong>Park</strong>, dessen Sträucher und Bäume den stillen<br />

Glanz der Erfüllung zu reflektieren scheinen.<br />

Inge ordnet ihre Kleidung. Streicht über ihr Haar und zieht<br />

die schwarze Samtbandschleife fest. Sie küßt Peter. Dann<br />

faltet sie die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />

Tanzen<br />

Sehr lange schweigen Inge und Peter. Ein tiefes, glückliches,<br />

und erlösendes Schweigen. Dann sucht Inge nach einer<br />

Brücke über das Schweigen. Zögernd fragt sie, fast flüsternd:<br />

“Was macht deine Arbeit?”<br />

Peter antwortet nicht. Er muß sich noch zurücktasten aus<br />

seiner Entrückheit. Schließlich räuspert er sich, wischt Haar<br />

aus der Stirn, setzt die Brille wieder auf und zieht die Jacke<br />

wieder an. Umständlich kramt er Tabakbeutel und Pfeife<br />

hervor.


Tanzen 317<br />

“Bist du zufrieden? Kommst du voran?”<br />

Als Peter noch <strong>im</strong>mer nichts sagt, wendet Inge sich ihm zu,<br />

sieht ihn Antwort erbittend an. Aber Peter n<strong>im</strong>mt das gar<br />

nicht wahr. Gebannt starrt er auf den dunklen Boden zu<br />

seinen Füßen. Aus dem Boden scheint etwas zu raunen. Das<br />

Raunen klingt wie die St<strong>im</strong>me seines unglücklichen Vaters.<br />

‘Vergänglich,’ füstert die St<strong>im</strong>me, ‘Glück ist so vergänglich.’<br />

Sacht berührt ihn Inges Hand. “Träumst du?”<br />

Da schreckt er hoch. Blickt in strahlende blaue Augen.<br />

Schließt Inge aufatmend in die Arme. Drückt sie an sich,<br />

ganz, fest.<br />

“Mein geliebter Träumer”. Inge streichelt sein Haar. “So<br />

kenne ich dich noch gar nicht.”<br />

Nach einer Weile sagt sie: “Na, was ist mit deiner Arbeit?”<br />

“Es … es läuft ganz gut. Recht gut sogar. Ich habe allen<br />

Grund, zufrieden zu sein.”<br />

Inge hatte Einzelheiten erwartet, aber Peter ist sehr einsilbig.<br />

Vom Waldschloß her erklingt wieder leise Tanzmusik. Stumm,<br />

einander umarmend, sitzen sie auf ihrer Bank und lauschen.<br />

Die Rhythmen eines Tangos wehen herüber und die hohen<br />

Vibratotöne einer mit Leidenschaft gespielten Geige. Lauter<br />

als sonst können Inge und Peter die Musik hören. Der Wind<br />

hat gedreht. Er kommt jetzt von Süden. Den Tangorhythmus<br />

in sich aufnehmend, wiegt Inge ihren Kopf. Dann auch den<br />

Oberkörper. Der Zopf beginnt sich zu bewegen. Und nun<br />

pendelt er vergnügt hin und her. Sie wiegt sich in den Hüften.<br />

Peter lächelt: “Wir sollten mal wieder Tanzen gehen.”<br />

“Oh ja!” Inge springt auf, stellt sich in Positur, neigt den<br />

Kopf, preßt die Linke auf die schmale Taille und hebt den<br />

rechten Arm drehend und windend in die Höhe. Wie eine heißblütige<br />

Spanierin tänzelt sie mit anmutigen Bewegungen auf<br />

und ab vor der Bank.<br />

“Eine Pr<strong>im</strong>adonna!”, lacht Peter. “Eine ganz besonders schöne.<br />

Und eine sehr temperamentvolle dazu!”<br />

Er steht auf. Steckt Tabakbeutel und Pfeife in die Jacken-


318 ERFÜLLUNG<br />

tasche. Sieht sich um nach Inge. Die tanzt noch <strong>im</strong>mer, mit<br />

erhobenem Arm und windender Hand. Jetzt kommt sie hüftschwingend<br />

auf ihn zu. Die beiden stehen dicht voreinander.<br />

Peter blickt in überglücklich blitzende blaue Augen. Langsam<br />

breitet er die Arme aus. Als Inge ihm entgegengleitet, küßt er<br />

sie lang und innig.<br />

Inge voran, schlendern die beiden den schmalen Kiesweg<br />

hinunter zur Brücke. Einander umfassend beugen sie sich<br />

über das Geländer und blicken in das unter ihnen dahinfließende<br />

Wasser.<br />

“Sieh nur”, ruft Inge, “dort unten. Der große Fisch!”<br />

Peter nickt.<br />

“Was ist das für ein Fisch?”<br />

“Eine Forelle.”<br />

Im Licht des Mondes hebt sich der schmale dunkle Rücken<br />

deutlich ab gegen den hellen Sand des Bachbodens.<br />

Die beiden gehen den Hauptweg entlang in Richtung Waldschloß.<br />

Ganz eng schmiegt Inge sich an ihren Geliebten.<br />

Als Inge und Peter durch einen hohen Torbogen den Restaurantgarten<br />

betreten, empfängt sie pulsierendes Leben. An<br />

Kabeln hängend, rahmen bunte Lampions eine große Tanzfläche<br />

ein und bilden einen Halbkreis um die Terrasse, die als<br />

Bühne für die Musiker dient. In weißem Sommeranzug tänzelt<br />

ein schlanker Geiger temperamentvoll auf und ab vor der<br />

funkelnden Schwärze eines Flügels. So sehr dominiert er die<br />

Bühne, daß man den Bassisten, den Pianisten und den Saxophonisten<br />

zunächst gar nicht wahrn<strong>im</strong>mt.<br />

Auf jedem der zahlreichen Tische brennt eine Kerze in<br />

bauchigem Glas von rötlich-gelber Farbe. “Wie schön das alles<br />

ist!”, sagt Inge. Nach einem Platz Ausschau haltend, stehen<br />

die beiden in der Nähe der Bühne. Der Geiger nickt ihnen zu,<br />

mit hochgezogenen Brauen und umhertaumelnder schwarzer<br />

Stirnlocke.<br />

Inge und Peter wählen einen freien Tisch an einem kleinen<br />

Teich. Dort angekommen, setzen sie sich und studieren die


Tanzen 319<br />

Speisekarte. Dann wandern ihre Augen über das Kerzenmeer.<br />

“Was darf’s sein?”<br />

Ein Kellner ist an ihren Tisch getreten, und nun bestellen<br />

die beiden eine große Käseplatte, einen Apfelsaft und ein Bier.<br />

“Sobald die Getränke da sind, tanzen wir, ja?”<br />

Peter nickt.<br />

Die Musiker haben einen Foxtrott angest<strong>im</strong>mt. Mit verzückten,<br />

ruckartigen Bewegungen stelzt die helle Lichtgestalt des<br />

Geigers vor dem schwarzen Flügel auf und ab. Den Oberköper<br />

drehend und wendend, wirft er Kopf und Geige hin und her,<br />

als wollte er beide unbedingt loswerden. Seine schwarze<br />

Stirnlocke schleudert von einer Seite zur anderen, und fast<br />

<strong>im</strong>mer verdeckt sie eines seiner Augen.<br />

“Der neue Geiger”, sagt Inge, “ist viel besser als der alte.<br />

Gut, daß hier mal eine neue Kapelle Schwung rein bringt.”<br />

Der Kellner serviert den Apfelsaft und das Bier. “Die Käseplatte<br />

kommt gleich.”<br />

“Vielen Dank”, sagt Peter. Die beiden prosten einander zu.<br />

“Auf einen schönen Abend!”<br />

“Ja”, antwortet Inge, “auf einen schönen Abend.”<br />

Kaum haben sie die Gläser abgesetzt, da bittet Peter zum<br />

Tanz. Leicht wie eine Feder folgt Inge jeder seiner Bewegungen.<br />

Wortlos, glücklich, sich ganz einander und der Musik<br />

überlassend, tanzen sie wie <strong>im</strong> Traum. Warm und weich spürt<br />

jeder den Körper des anderen. So tanzen sie lange. Dem<br />

Foxtrott folgt ein slow dance. Noch inniger und vollkommen in<br />

der gegenseitigen Berührung aufgehend, wiegen sie sich <strong>im</strong><br />

Rhythmus der zarten Musik.<br />

Als die Musiker schließlich eine Pause einlegen, umarmt<br />

Peter Inge und küßt sie auf die Wange. Händehaltend gehen<br />

sie zurück an ihren Tisch. Dort machen sie sich mit großem<br />

Appetit über die Käseplatte her.<br />

Inge sieht auf ihre Armbanduhr und erschrickt. “Zeit zum<br />

Aufbruch!” Peter zahlt. Arm in Arm gehen sie zum Hauptweg.<br />

“Was meinst du”, fragt Peter, “wollen wir noch ein bißchen


320 ERFÜLLUNG<br />

spazieren gehen?”<br />

“Ich habe morgen in der Uni eine Diskussionsrunde. Darauf<br />

muß ich mich noch etwas vorbereiten.”<br />

“Worum geht’s denn da?”<br />

“Um Hebbels Tagebücher.”<br />

“Wer ist Hebbel?”<br />

“Friedrich Hebbel, das ist mein Lieblingsautor.”<br />

“Was hat dieser Mann so Herausragendes geleistet, daß<br />

man ihm eine besondere Diskussionsrunde widmet?”<br />

“Hebbel hat bedeutende Dramen geschrieben. Eine seiner<br />

herausragenden Leistungen ist die Art, in der er seine Tragödien<br />

gestaltet hat. Er ist Bewahrer des strengen Stils der<br />

Tragödie, aber auch Pionier sozialer Themen.”<br />

Inge hebt die Arme, streicht ihre Haare zurück und zieht die<br />

Schleife fest. Nachdenklich sagt sie: “Dieser Mann fasziniert<br />

mich.”<br />

“Was fasziniert dich an ihm?”<br />

“Daß er den Tod seines Helden zur Bedingung und Voraussetzung<br />

macht für die Überwindung eines als veraltet erkannten<br />

Weltbildes.” Sie schweigt einen Augenblick. Dann sagt sie:<br />

“Hebbel hat versucht, der unausweichlichen Tragik seines<br />

Helden eine überindividuelle Bedeutung zu verleihen.”<br />

“Hat Hebbel sich auch über Gott geäußert ?”<br />

“Ja. Hebbel hielt es für erforderlich, daß der Mensch die <strong>im</strong><br />

weltlichen Widerspruch gefangene Gottheit erlösen müsse.<br />

Hier aber vermag ich ihm nicht zu folgen.”<br />

Als Peter nichts sagt, fragt Inge: “Rede ich dir zuviel germanistisches<br />

Zeug?”<br />

“Nein, ganz und gar nicht! Ich weiß so wenig über deine<br />

fachlichen <strong>Inter</strong>essen. Ich möchte mehr darüber wissen, mehr<br />

davon lernen. Bitte sprich weiter.”<br />

“Hebbel war nicht nur ein bedeutender Tragiker, er war<br />

auch ein Lyriker, der stilistische Anmut und Gedankenschwere<br />

spannungsreich miteinander zu verbinden wußte. Und er<br />

war ein den Widersprüchen menschlichen Verhaltens mit boh-


endem Intellekt und beißendem Humor nachspürender Erzähler.<br />

In seinen Tagebüchern hat er einen Spiegel der Weltliteratur<br />

seiner Zeit geschaffen.”<br />

“Und über diese Tagebücher werdet ihr morgen diskutieren?”<br />

“Ja. Im germanistischen Seminar.”<br />

“Schon wieder unbekanntes Terrain. Was eigentlich will,<br />

was macht Germanistik?”<br />

“Das kann ich dir jetzt nicht erläutern, wenn ich mich noch<br />

für morgen vorbereiten will. Dazu würde ich die halbe Nacht<br />

benötigen.”<br />

“Vielleicht tut’s auch eine Mini-Kurzfassung?”<br />

“Ich versuch’s mal. Germanistik <strong>im</strong> weiteren Sinne ist die<br />

Wissenschaft von der Lebensart, Religion, Kunst, und Sprache<br />

der Germanen und auch von ihrer Rechtsauffassung. Im<br />

engeren Sinne behandelt sie die deutsche Sprache und die<br />

deutschsprachige Literatur, so wird sie zur Wissenschaft vom<br />

Wesen und geistigen Leben der Deutschen.”<br />

“Dann wird Germanistik nur in Deutschland gelehrt?”<br />

“Nein, auch in anderen Ländern.” Inge knöpft die Bluse zu.<br />

Es ist kühl geworden.<br />

“Macht dir dein Studium Freude?”<br />

“Ja, sehr! Germanistik ist ein hochinteressantes Fach.”<br />

4 GERECHTIGKEIT<br />

Gleichnis<br />

Gleichnis 321<br />

‘Nie wieder!! Niemals!!!’<br />

Auf der Bank am Fluß sitzen Festmacher, Schmied und<br />

Fiedler. Es ist mal wieder nichts los <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />

“Klar”, sagt der Festmacher und rückt die Mütze zurecht,<br />

“klar hab ich den Spannerfilm gesehn. Ich kümmer mich wenig<br />

um Kino. Aber so was muß ‘n Fachmann reinsaugn.” Er


322 GERECHTIGKEIT<br />

nickt. “Nich schlecht. Super Szen’n. Heiße Handlung. Klasse<br />

Kamera. Der Regisseur, der kennt unser Geschäft. Was uns<br />

anmacht? Der weiß das.” Er tickt an den Mützenschirm. Dann<br />

sagt er: “Trotzdem.” Mit Nachdruck schüttelt er den Kopf.<br />

“Trotzdem! Da fehlt was. Das is nur die halbe Sache. Spannern<br />

kommt aus’m Bauch. Da muß Gefahr sein, Jagdst<strong>im</strong>mung,<br />

Prickeln. Erst diese Mischung gibt den großn Kick.” Er nickt.<br />

“Erst das gibt die Melodie, die den Spanner tanzn läßt.”<br />

“Mensch Festmacher, du redest ja auf einman wie so’n<br />

Psychonoge!”<br />

“Was dagegen? Wenn ich will, kann ich eben auch sowas.”<br />

Der Festmacher richtet sich hoch auf. Wie ein Aal, der sich<br />

durch dichtstehende Schilfstengel zwängt, windet er sich hin<br />

und her und sagt dabei gespielt geziert: “Ich kann eben, wenn<br />

ich das für richtig halte, meine Ausdrucksweise und meinen<br />

Sprachstil den Gegebenheiten anpassen.”<br />

Der Schmied brüllt vor Lachen. Er rammt den Ellenbogen in<br />

die Rippen des Fiedlers, daß der zusammenfährt: “Das’n Typ,<br />

wa!?” Immer wieder schlägt er sich mit den mächtigen Pranken<br />

klatschend auf die Schenkel. “Wahnsinn!”<br />

Völlig unbeeindruckt sagt der Festmacher: “Das is genauso<br />

wie mit den Mackern, die mit ‘ner Knarre rumlatschn und<br />

Rehe schießn. Hasn schießn. Entn schießn. Den’n kannst du<br />

noch so’n tolln Film zeign übers Jagn. Deswegn stelln die ihre<br />

Knarre nich auf’n Sperrmüll. Die wolln selber jagn. Selber<br />

schießn.”<br />

“Und senber totmachn!”, ruft der Schmied. “Ohne totmachn<br />

näuft da nix.”<br />

“Ja, Mann. Totmacher sind das. Die habn einfach Spaß am<br />

totmachn.”<br />

“Aber die tun auch was fürs Wind.”<br />

“Tun? Nich viel. Aber redn und schreibn, jede Menge. Von<br />

Wildpflege und Wildhege. Die blasen das auf wie ‘n Luftballon.<br />

Aber n<strong>im</strong>m den’n mal ihr Spielzeug weg. Denn kannst du<br />

was erlebn!” Der Festmacher spuckt. “Klar tun die auch was


Gleichnis 323<br />

fürs Wild. Sonst hättn se ja nix zum Ballern. Den’n geht doch<br />

nur einer ab, wenn se ballern könn’n. Da sind wir Engel gegn!<br />

Wir machn kein’n tot. Wir tun niemand was. Kein’m Reh,<br />

kein’m Hasn, keiner Ente. Niemand!” Er nickt. “Die reinstn<br />

Engel sind wir dagegn!”<br />

“Jäger kümmern sich auch um die Natur!”<br />

“Gut so. Mehr davon!”<br />

“Das’s doch wirknich ‘n Typ, wa? Festmacher for …” Das<br />

Wort bleibt dem Schmied <strong>im</strong> Halse stecken. Im gedämpften<br />

Licht einer <strong>Park</strong>laterne erscheint ein Paar in der Einmündung<br />

des Weges. Die Frau läßt die drei mit ausgestreckten<br />

Beinen auf der Bank sitzenden Männer erstarren und den<br />

Atem anhalten. Eine aufregende Sanduhrfigur schwingt auf<br />

sie zu. Männer verwirrende Brüste tanzen verhalten frei<br />

unter dünnem Tüll. Das hübsche Gesicht umrahmt eine<br />

lange, <strong>im</strong> Laternenlicht leuchtende, blonde Mähne. Inge hat<br />

ihre Haare von der bündelnden Samtbandschleife befreit.<br />

Goldgelb fließen sie herab, weit über ihre Schultern. Der kurze,<br />

be<strong>im</strong> Gehen pendelnde Glockenrock verhüllt nur die<br />

obersten Teile ihrer weißen Schenkel. Lange, schlanke Beine<br />

stelzen anmutig über den Boden. Zum erstenmal in ihrem<br />

Leben trägt Inge Schuhe mit hohen Absätzen. Das gibt ihrem<br />

Gang etwas faszinierend Erotisches, Verzauberndes.<br />

Mit aufgerissenen Augen und hämmernden Herzen saugen<br />

die drei versteinert dasitzenden Spanner die Frau in sich<br />

hinein. Der schlanke Begleiter der jungen Frau blickt abschätzend<br />

auf die drei nachtschwarz gekleideten Gestalten,<br />

zwei mit Schiffermützen, tief in die Stirn gezogen, und einer<br />

mit dunklem Haarschopf. Peter legt den Arm um Inge, so als<br />

wolle er sie beschützen. Der enge Weg am Fluß zwingt das<br />

Paar, dicht an der Bank vorbeizugehen. Inge, der Bank am<br />

nächsten, muß sich sogar in acht nehmen, daß sie den Männern<br />

nicht auf die derben, schwarzen Schuhe tritt. Keiner von<br />

den dreien vermag sich zu bewegen. Fast körperlich spürt<br />

Inge ihr Starren. Das ist ihr sehr unangenehm. Scheu, ver-


324 GERECHTIGKEIT<br />

legen, sagt sie leise: “Guten Abend”, und nickt den Männern<br />

schüchtern zu.<br />

Als die ihre Fassung wieder gewonnen haben – und in der<br />

Lage gewesen wären, den Gruß zu erwidern – ist das Paar<br />

schon hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.<br />

Der Maler hat feuchte Augen. Er beißt sich auf die Unterlippe,<br />

so fest, daß sie zu bluten beginnt.<br />

“Die Königskinder”, sagt der Festmacher.<br />

“Die von Engnand?”<br />

“Nee. Die aus’m Märchn.”<br />

“Was für’n Märchn?”<br />

Als der Festmacher nicht antwortet sagt der Maler: “Da gibt<br />

es ein Märchen von zwei Königskindern. Die konnten<br />

zusammen nicht kommen … das Wasser war zu tief …”<br />

“Seh kein tiefes Wasser.”<br />

“Das ist ein Gleichnis. Die beiden trennen schwer<br />

überbrückbare Unterschiede in ihrer Herkunft, ihren<br />

Erfahrungen und ihrem Denken. Das Leben hat sie ganz<br />

unterschiedlich geprägt.”<br />

“Nu hau doch einer die Naus auf’n Kopp! Jetzt fängt der<br />

Fiedner auch noch an zu spinn’n! Da kriegt man ja Kompnexe!”<br />

Der Schmied schüttelt sich. “Komm mir vor wie ‘ne<br />

Kröte zwischen zwei Genies.”<br />

Der Festmacher rülpst. “Der Quatscher und seine Puppe.”<br />

Erst jetzt entfaltet die Aura des blonden Mädchens ihre<br />

volle Wirksamkeit <strong>im</strong> Maler. Im Leib zuckt es. Er zittert.<br />

Und dann überwältigt ihn wieder diese merkwürdige, diese<br />

besondere St<strong>im</strong>mung. Jetzt, erst jetzt, begreift er, was ihm<br />

da widerfuhr. Wer da an ihm vorbeigeschritten war. Das war<br />

der Engel!! Seit er dieses Mädchen zum erstenmal gesehen<br />

hatte, auf der Bank unter der großen Eiche, in der ersten<br />

Nacht mit dem Festmacher, seitdem hatte er nach ihm gesucht.<br />

Überall. Nirgends hatte er das Mädchen finden<br />

können. Wie von Sinnen springt er auf, will dem Engel<br />

hinterdreinstürmen.


Da packt ihn die Faust an der Jacke und zerrt ihn zurück<br />

auf die Bank. “Du Arsch, du! Reiß dich zusamm’n, Mann! Ich<br />

mag das nich, wenn einer so’ne Rieseneier hat. Du läufst an<br />

meiner Leine oder du gehst über Bord. Is das klar!?”<br />

“J…ja”, stottert der Maler. Ausatmend sackt er in sich zusammen.<br />

“Merk dir das! Du gottsverdammter Zappelfritze!”<br />

“Nu mach den doch nich so pnatt!” Dem Schmied tut der<br />

Fiedler leid.<br />

“Los!”, ruft der Festmacher, “wir wolln mal wieder was zu<br />

sehn kriegn!”<br />

Die drei gehen in die Richtung, die der Festmacher mit einem<br />

kurzen Ruck des Kopfes andeutet. Plötzlich bleibt der<br />

Schmied stehen.<br />

“Was’s los?”<br />

“Komm gneich nach.”<br />

Der Schmied strebt in die Büsche. Heut hat er Papier dabei.<br />

Letztes mal war es schl<strong>im</strong>m gewesen. Wie ein Wiesel hatte er<br />

herumgesucht. Kein Papier zu finden! Buchstäblich in den<br />

letzten Sekunden hatte es dann doch noch geklappt. Links<br />

neben der Bank auf dem Hügel lag ein Papierbogen, sorgfältig<br />

zusammengefaltet unter einem großen Stein. Rasch hatte er<br />

den Stein beiseite gerollt und das Papier an sich gerissen.<br />

Dann war er damit in die Büsche gerannt. Weit genug weg<br />

von der Bank. Festmacher-Gesetz!<br />

Heute läuft alles planmäßig. Schon bald eilt er, erleichtert,<br />

seinen beiden Kumpels hinterher.<br />

Unschuldig<br />

Unschuldig 325<br />

Der Schmied ist ein durch und durch rechtschaffener Mann.<br />

Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß er drei Jahre <strong>im</strong><br />

Zuchthaus gesessen hat.<br />

In einer Schrebergartenanlage hatte der Schmied einen


326 GERECHTIGKEIT<br />

Hilfeschrei gehört. Sofort war er losgerannt. Als er um die<br />

Ecke eines Weges bog, sah er, wie ein Mann eine Frau auf den<br />

Boden drückte. Wie ein Besessener riß er ihre Bluse in Fetzen.<br />

Dann zerrte er in wilder Entschlossenheit an ihrem Rock.<br />

Wieder stöhnte, weinte und schrie die Frau. Da ergriff der<br />

Mann einen großen Stein und schmetterte ihn auf den Kopf<br />

der Frau. Sofort war alles still.<br />

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rannte der Schmied<br />

auf die beiden zu und warf sich mit einem Riesensatz auf den<br />

Mann. Mit all ihrer Kraft kämpften die beiden miteinander.<br />

Schließlich biß der Mann den Schmied so heftig in die Hand,<br />

daß sie vor Schmerz zurückzuckte. Da gewann der andere die<br />

Oberhand. Der Schmied mußte schwere Schläge einstecken.<br />

Dennoch kämpfte er entschlossen weiter. Dann, plötzlich,<br />

raubte ihm ein gewaltiger Faustschlag das Bewußtsein. Wie<br />

eine gefällte Eiche stürzte der Schmied auf die Frau.<br />

Aufgeregte St<strong>im</strong>men näherten sich. Alarmierte Schrebergärtner<br />

rannten herbei. Sie fanden den Schmied auf der Frau<br />

liegend. Für sie war der Fall klar. Wütend schlugen sie auf<br />

ihn ein und verletzten ihn schwer. Sie hätten ihn erschlagen,<br />

wäre nicht die Polizei dazugekommen. “Da ist das Schwein!”,<br />

keuchte einer der Männer. “Schlagt ihn tot!”<br />

Erst vor drei Wochen war hier eine Frau vergewaltigt und so<br />

schwer verletzt worden, daß sie wenig später <strong>im</strong> Krankenhaus<br />

starb. Die Wut der Schrebergärtner war daher verständlich.<br />

Handschellen klickten. Als schwer verletzter Gefangener<br />

taumelte der Schmied zwischen zwei Polizeibeamten denselben<br />

Weg zurück, auf dem er eben noch als mutiger Helfer<br />

herbeigestürmt war.<br />

Der Schmied hörte nicht auf, seine Unschuld zu beteuern.<br />

“Ich hab der Frau helfen wollen!”, stammelte er <strong>im</strong>mer wieder.<br />

“Ich bin unschuldig! Der Täter hat mich niedergeschlagen!”<br />

Niemand glaubte ihm. Staatsanwalt und Richter sahen seine<br />

Schuld als erwiesen an. Und dem Verteidiger fiel nicht viel<br />

ein, das er zugunsten seines Mandanten hätte vorbringen


Unschuldig 327<br />

können. Nach zwei Wochen starb die Frau. Ohne viel Federlesen<br />

wurde der Schmied zu dreißig Jahren Zuchthaus<br />

verurteilt. Eine Berufung, die sein Verteidiger erst auf seine<br />

flehentlichen Bitten hin halbherzig eingereicht hatte, wurde<br />

abgeschmettert.<br />

An diesem Fehlurteil ist der Schmied fast zerbrochen. Immer<br />

wieder hat er gerufen: “Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!!<br />

Ich wollte der Frau doch nur helfn!” Auch des<br />

Nachts, während seine Mitgefangenen in ihren Zellen<br />

schliefen, fing er plötzlich an zu schreien: “Ich will raus hier!<br />

Ich bin unschuldig!!” Aber das brachte ihm nur versteckte<br />

Tritte während des Hofgangs ein. Seine Zellennachbarn waren<br />

es leid, dauernd in ihrer Nachtruhe gestört zu werden.<br />

Der Schmied kann nicht mehr an Gerechtigkeit glauben.<br />

Hoch und heilig hat er sich geschworen, <strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer<br />

wieder: ‘Wenn ich hier rauskomm, und wenn so was nochmal<br />

passiert: Nie, nie wieder werd ich helfn! Ich werd mir die Ohrn<br />

zuhaltn und die Augn. Aber helfn? Nie wieder!! Niemals!!!’<br />

Nur ein einziger Mensch hatte in dieser schweren Zeit zu<br />

ihm gehalten: Seine Verlobte. Ohne jedes Wenn und Aber war<br />

sie von seiner Unschuld überzeugt. Eine Amerikanerin. Er<br />

liebte sie über alles. Zwe<strong>im</strong>al war er schon mit ihr in Amerika<br />

bei ihren Eltern gewesen. Einmal neun Wochen und einmal<br />

sechs Monate. Schon bald hätte die Hochzeit stattfinden<br />

sollen. Seine zukünftigen Schwiegereltern waren reich. Vom<br />

Wesen her Leute seines Schlages: arbeitsam, bescheiden und<br />

aufrichtig. Von ihrem zukünftigen Schwiegersohn waren sie<br />

sehr angetan.<br />

Seine Verlobte hatte den Schmied <strong>im</strong> Zuchthaus besucht, so<br />

oft das die Regeln zuließen. Um möglichst nah bei ihm sein<br />

zu können, hatte sie ihren Job gewechselt und ein neues<br />

Z<strong>im</strong>mer gemietet, nur eine Busstation vom Zuchthaus entfernt.<br />

Immer wieder hatte sie zu ihm gesagt: “I shall wait for<br />

you, even if you have to stay there all those thirty years.”<br />

Als der Schmied Geburtstag hatte, durfte er außer der Reihe


328 GERECHTIGKEIT<br />

Besuch empfangen. Seine Verlobte hatte ihm eine<br />

wunderschöne Armbanduhr gekauft, vergoldet und mit einem<br />

kunstvoll gefertigten Armband.<br />

Voller Vorfreude war sie mit dem Geburtstagsgeschenk<br />

in der Hand aus dem Bus gesprungen und über die Straße<br />

zum Zuchthaus gestürmt. Da hatte sie ein viel zu schnell fahrendes<br />

Auto erfaßt. Sie starb auf dem Weg ins Krankenhaus.<br />

Diesen Schicksalsschlag hat der Schmied nie verwunden.<br />

Nie wieder konnte er eine andere Frau lieben. Die Armbanduhr<br />

trägt er noch heute. Sie ist das Kostbarste, das er besitzt.<br />

Schon bald nach dem Tod seiner Verlobten wurde der<br />

Schmied aus dem Zuchthaus entlassen. Und das kam so:<br />

Nach einer langen Pause hatten zwei Morde in der Schrebergartenanlage<br />

wieder für Schlagzeilen gesorgt. Die gleiche<br />

Methode, die gleiche Brutalität. Endlich wurde der Täter<br />

gefaßt. Unter einer erdrückenden Last erschütternder<br />

Beweise gestand er. Und schließlich gab er auch zu, daß ihn<br />

vor drei Jahren ein Mann daran hindern wollte, eine Frau zu<br />

vergewaltigen. Da sei es zu einer wilden Schlägerei<br />

gekommen. Er habe den Mann k.o. geboxt und ihn bewußtlos<br />

über der Frau liegen lassen.<br />

Die fürchterlichen Geschehnisse von damals, das entsetzliche<br />

Bild des mit einem Stein zuschlagenden Mannes, seine<br />

Verurteilung, der Tod seiner Verlobten – das alles hat für<br />

<strong>im</strong>mer das Leben des Schmieds verändert.<br />

Neun Mark<br />

Jetzt hat der Schmied seine beiden Kumpels eingeholt.<br />

“Was nos?”<br />

“Nee.”<br />

Zu dritt gehen sie weiter. Da fällt dem Schmied etwas Wichtiges<br />

ein. Er stößt den Festmacher in die Seite.<br />

“Was is?”


Neun Mark 329<br />

“Mein Virus!”<br />

“Hast du ihm Zahnpasta zu fressn gegebn?”<br />

“Knar hab ich das! Der wonnte mich grad man wieder ärgern.<br />

Da hab ich gesagt: ‘Du Aas, du! Jetzt krieg ich dich.<br />

Jetzt kommt Festmachers Rezept!’ Da isser schon zusamm’n<br />

gezuckt. Erste Portion Zahnpasta. Föhn. Da zieht der schon<br />

den Schwanz ein. Zweite Portion, da isser schon schwach.<br />

Dritte Portion, da isser hin. Ehrnich, das war echt coon!”<br />

“Was ist das, coon?” fragt der Maler und wundert sich darüber,<br />

daß er das fragt.<br />

“Er meint cool.”<br />

“Sag ich doch, coon.”<br />

“Und was ist cool?”<br />

“Cool is cool.”<br />

“Right!” ruft der Schmied.<br />

Da hält der Festmacher die Hand auf: “Neun Mark.”<br />

“Wwass?”<br />

“Du glaubst doch nich, daß’n Doktor was umsonst macht.<br />

Oder?”<br />

Sich einander zuwendend, heben die beiden den rechten<br />

Arm, sehen sich in die aufblitzenden Augen, lassen die<br />

offenen Handflächen kräftig gegeneinander klatschen und<br />

boxen sich mit der linken Faust in die Rippen. Wieder sehen<br />

sie sich an. Dann prustn sie los. Und nun brüllen sie<br />

berstende Lachsalven in den dunklen <strong>Park</strong>. Und auch der<br />

Maler lacht ein wenig mit.<br />

“Wir wolln mal ausfächern”, sagt der Festmacher. “Schmied,<br />

du gehst so rum, Fiedler du gehst so rum.” Mit knappen<br />

Handzeichen gibt er die Richtungen an. Wir treffen uns wieder<br />

am Spielplatz. In ‘ner halben Stunde. Vielleicht hat dann<br />

ja einer was gesehn.”<br />

“Annes knar.”<br />

Nach zwanzig Minuten trifft der Festmacher auf den<br />

Schmied.<br />

“Was machst du hier?”


330 GERECHTIGKEIT<br />

“Hatte was anne Angen. Auf’e Bank anne Weide. Is aber nix<br />

gewordn. Da wonnte ich ‘n Abkürzer machn.”<br />

“Okay.”<br />

Beide gehen weiter, in Richtung Spielplatz. Auf dem Weg<br />

dorthin sehen sie ein Paar auf der Wiese liegen. Rein in die<br />

Büsche! Vorsichtig pirschen sie sich an ihr Wild. ‘Nich<br />

schlecht’, denkt der Festmacher. Gespannt beobachten sie das<br />

Geschehen. ‘Gar nich schlecht.’ Aber dann, auf einmal, schreit<br />

eine schrille St<strong>im</strong>me: “Laß das! Ich hab dir schon mal gesagt,<br />

du sollst mich da nicht anfassen!” Wie von der Tarantel<br />

gebissen springt das Mädchen auf und rennt weg. Der Mann<br />

läuft ihr nach.<br />

“So ‘ne Zicke”, zischt der Festmacher.<br />

Durch ein Beet frisch gewässerter junger Ligusterbüsche<br />

stapfen die beiden zurück zum Weg.<br />

“Wie kommst du mit dem neuen Fiedner knar?”<br />

Der Festmacher wiegt den Kopf. “Bescheidn. Gibt sich Mühe.<br />

Muß noch ‘ne Menge lern’. Aber spitz! Ich sag dir, der is<br />

spitz. Wie so’n Karnickelbock. Und scharf is der, wie so’ne Rasierklinge!”<br />

“Trotzdem. So nangsam mag ich den, jedenfanns ‘n bischn.”<br />

Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken über den Mund.<br />

“Aber gestern, hab ich da so’n großes Bind gesehn.”<br />

“Wo?”<br />

“Anne Nitfaßsäune.”<br />

“Und?”<br />

“Da war so’n Macker drauf. Ganz in weiß. Ganz enegant.<br />

Aber ‘n Gesicht wie unser Fiedner. Da hab ich so bei mir gedacht<br />

…”<br />

“Quatsch!”, sagt der Festmacher. “Das Bild hab ich auch gesehn.<br />

Aber der is ‘n berühmter Maler und unsrer is ‘n unberühmter<br />

Fiedler. Der is stinkreich und unsrer is ‘n armer<br />

Sack. Der is ganz vornehm und unsrer is ‘n ordinärer geiler<br />

Bock. Und”, der Festmacher grinst, “der hat kein’ Höcker,<br />

aber an unserm kannst du dein’ Hut aufhängn.”


Neun Mark 331<br />

Der Schmied pendelt mit dem Oberkörper hin und her. “Ich<br />

weiß nich. Ich weiß wirknich nich. Manchman hab ich da so’n<br />

komisches Gefühn. Ich …”<br />

“Quatsch!”, ruft der Festmacher. “Reiner Quatsch!!” Dann<br />

grinst er wieder: “Da war noch so’n großes Bild.”<br />

“Wo?”<br />

“Aufe andre Seite vonne Litfaßsäule.”<br />

“Was für’n Bind?”<br />

“Werbung von Golden-Sarg-Johnny.”<br />

“Wofür wirbt der?”<br />

Der Festmacher feixt.<br />

“Na, was schreibt der?”<br />

“Warum leben Sie noch, wenn wir Sie sooo schön begraben<br />

können!”<br />

“Quatsch”, rümpft der Schmied die runde Nase. “Jetz sag<br />

ich Quatsch!”<br />

“Werbung is stark, Mann. Die dreht dir alles an. Auch<br />

Sachn, die dir schadn.”<br />

“Und Johnny?”<br />

“Der is der Stärkste! Der will dir beibringn, daß du dich umbringst.”<br />

“Warum?”<br />

“Mann, Mann, Mann!! Damit du schneller in sein’m golden’n<br />

Sarg liegn kannst!”<br />

Als sie einige Zeit später am Spielplatz eintreffen, hockt da<br />

ein einsamer kleiner Mann. Gedankenverloren starrt er auf<br />

seine verdreckten schwarzen Schuhe. Er denkt an St. Petersburg.<br />

Dort wird er in der nächsten Woche, als Höhepunkt<br />

einer großen Veranstaltung der Akademie der Künste, einen<br />

Lichtbildervortrag halten mit dem Thema: ‘Die ethischen<br />

Komponenten meines Schaffens’.<br />

“Nu seh sich einer den an!”, sagt der Festmacher.<br />

Der Maler zuckt zusammen.<br />

“Sitzt da rum und vertreibt unsere Kundschaft!”


332 GERECHTIGKEIT<br />

“Was’s nos, Fiedner?”<br />

“Ich … ich hatte grad ‘ne kurze Nummer”, lügt der Maler.<br />

“Die sind grade weggegangen … Wollte mir nur mal die<br />

Schnürsenkel nachziehen.”<br />

“Was? Noch ‘ne Nummer auf’n Spienpnatz?”, staunt der<br />

Schmied. “Geschäft bnüht, wa?”<br />

Benommen sagt der Maler, mehr zu sich selbst, “nächste<br />

Woche kann ich nicht.”<br />

“Mußt die ganze Nacht durchfiedenn, wa?”<br />

Der Maler nickt.<br />

“Nich schlecht”, sagt der Festmacher.<br />

“Du bist auf’e Matte!”, bekräftigt der Schmied. “Mittn<br />

drauf!” Er legt dem Kumpel die Hand auf die Schulter. “Die<br />

begreifn endnich, was se habn an der Vertretung!”<br />

“ –– ?”<br />

“Du bist best<strong>im</strong>mt vien besser ans der ante Fiedner vom<br />

Wandschnoß.”<br />

“Der Neue fiedelt ‘ne Ecke bunter”, sagt der Festmacher.<br />

“Richtig Putz hat der da reingebracht. Wenn die so weitermachn,<br />

geh ich da auch noch mal hin und schwing das Tanzbein.”<br />

“Paß auf bei Damenwahn!”<br />

“Warum?”<br />

“Daß dich die Puppn nich kaputtquetschn.”<br />

“Wieso?”<br />

“Wenn die an dein’n Tisch stürm’n. So’n Mann ham die doch<br />

noch nie gesehn, wa!”<br />

Beide schuckeln.<br />

Der Maler ist zurückgekehrt aus der anderen Welt. Er ist<br />

jetzt wieder hier. Im <strong>Park</strong>. Er grinst.<br />

Die drei gehen weiter.<br />

“Was is mit deiner Werft?”<br />

“Was sonn schon sein damit?”<br />

“Gestern hab ich da was gehört. Die Werft hat finanzielle<br />

Probleme.”


Neun Mark 333<br />

“St<strong>im</strong>mt nich. Mein Chef ist schwer reich. Der hat zwanzig<br />

Minnionen auf’e Kante.”<br />

“Da bin ich reicher.”<br />

“Wass? Du hast doch gar nix!”<br />

“St<strong>im</strong>mt. Aber dein Chef hat fünfundzwanzig Million’n<br />

Schuldn. Also bin fünf Million’n reicher.”<br />

Der Schmied lehnt den Kopf in den Nacken. Aber diesmal<br />

lacht er nicht. Er sagt nur: “Du bist wirknich ‘n Typ!”<br />

Der Festmacher macht eine Bewegung mit dem Kopf:<br />

“Los, laßt uns noch ‘ne Runde dreh’n!” Und so gehen sie in die<br />

von ihm angegebene Richtung, steuern auf das Pastorenhaus<br />

zu.<br />

Zwölfmal dröhnt die Kirchturmglocke. Ganz nah. Ganz laut.<br />

Als der zwölfte Schlag verhallt ist, sagt der Festmacher:<br />

“Macht ‘n bösn Krach, der Apparat da obn. Ohne Bommel war<br />

mir das lieber.”<br />

Sie stehen vor dem Garten des Pastorenhauses. “Neunich”,<br />

erinnert sich der Schmied, “da war was nos bei Pastors. Kerzennicht,<br />

Musik …”<br />

“Vielleicht hattn die ‘ne Party da drin.”<br />

“You never know”, quakt der Schmied. “Vienneicht könn’n<br />

Pastors auch ganz schön ein’n drauf machn. You never know!”<br />

Vor dem Gartenzaun stehend, muß der Maler an seine verunglückte<br />

Expedition denken. Das ist ihm sehr unangenehm.<br />

Er lüftet die Schiffermütze, kratzt mit dünnem Mittelfinger<br />

zwischen Haarnadeln herum, drückt die Mütze wieder ins<br />

Haar und tastet über das Holzschnittgesicht. Dann zerrt er<br />

den Mützenschirm tief vor die Augen. Energisch versucht er,<br />

die Erinnerung wegzuwischen. Da haben es andere Gedanken<br />

leicht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gedanken, die von<br />

weither kommen, die Erinnerungen wieder aufleben lassen,<br />

die auch nach vielen Jahren nichts eingebüßt haben von ihrer<br />

bunten Farbkraft: Erinnerungen an eine Party in einem<br />

früheren Pastorenhaus. Eine Teufelsparty. Und Erinnerungen<br />

an ein Gedicht, das er aus Anlaß dieser Party verfaßt hatte.


334 GERECHTIGKEIT<br />

“Da gibt es ein Gedicht”, sagt er halblaut vor sich hin, ohne<br />

daß er das eigentlich hätte sagen wollen.<br />

“Was für’n Gedicht?”<br />

“… Über ein Pastorenhaus.”<br />

“Naß hörn, Fiedner!”<br />

“Ich glaube nicht, daß ich das noch zusammenkriege.”<br />

“Keine Ausredn! Los, das Gedicht!!”<br />

Der Maler rückt die Schiffermütze zurecht. Das macht er<br />

nun schon fast so gekonnt wie der Festmacher. Er rekapituliert.<br />

Dann hebt er den Kopf und sagt: “Also. Das ging so.<br />

Die Ratte rast, es motzt die Maus.<br />

Geschlürf schleicht zum Pastorenhaus.<br />

Verloren ist’s! Seit Zetiers Zeit<br />

kommt Teufelspack, zum Tanz bereit.<br />

Kichernd kriecht’s aus finsterm Spalt.<br />

Lüstern flüstern Jung und Alt.<br />

Hexen hocken auf den Besen.<br />

Zaubrer zocken mit Gekrösen.<br />

Auf Teufeln, tr<strong>im</strong>mgezurrt mit Gurten,<br />

sieht man nackte Nymphlein spurten.<br />

Und be<strong>im</strong> wilden Walz der Wächte<br />

bubbern Böcken die Gemächte.<br />

Weine wogen aus den Kannen.<br />

Steifes Fleisch läßt Linnen spannen.<br />

Ausgequetscht wie Kirschenkerne<br />

kegeln Knöpfe kreuz und querne.<br />

Fluchen, Keuchen, Rammeln, Stöhnen.<br />

Leiber pumpen, klatschen, dröhnen.<br />

Hähne krähn mit kruder Macht.<br />

Zuende geht die geile Nacht.


Und schon der Sonne erste Strahlen<br />

wandeln Lust in lauter Qualen.<br />

Die Ratte ranzt, es mampft die Maus.<br />

Rasch raus aus dem Pastorenhaus!”<br />

Der Festmacher schuckelt. “Nich schlecht!”<br />

“Bravo!”, ruft der Schmied und klatscht begeistert in die<br />

Hände. “Absonuter Wahnsinn!” Dröhnend bricht sein Beifall<br />

stille Finsternis. Glucksend ruft er: “N reifer Vers!” Dann<br />

rammt er dem Festmacher den Ellenbogen in die Rippen,<br />

kneift ein Auge zu und quakt: “Frei nach Goethe, wa?”<br />

5 BEKENNTNISSE<br />

Machttrieb<br />

Machttrieb 335<br />

“Im Unerfüllbaren hockt der Teufel”<br />

Ein Tablett vor sich hertragend tritt der Gärtner an den<br />

Mahagonitisch. Er serviert die zweite Runde Manhattan,<br />

einen für den MinRat, einen für sich. Dann n<strong>im</strong>mt er Platz.<br />

Seine Augen suchen und finden die des Gastes. Ein kurzes<br />

Nicken. Der andere hält dem Blick stand, erwidert das<br />

Nicken. Beide führen ihre Gläser zum Mund. Trinken.<br />

Abermals finden sich die Augen. Ein kurzes erneutes<br />

Anheben der Gläser, dann stellen sie ihre Drinks ab. Die<br />

Außenseiten der Gläser beschlagen. Dahinter funkelt der<br />

kalte rote Vermouth <strong>im</strong> Widerschein der Deckenstrahler.<br />

Der Gärtner lehnt sich zurück in seinen Sessel. Schließt die<br />

Augen. Streicht mit vorgestrecktem Kinn gedankenverloren<br />

über den Bart. Blickt tief in sich hinein. Und dann beginnt er.<br />

“Mein früheres Leben – das ist die Geschichte eines Erfolgsbesessenen,<br />

eines Meisters der Selbstverwirklichung und des


336 BEKENNTNISSE<br />

Selbstbetrugs. Eines Mannes, der dem Machttrieb erlegen<br />

war. Ich will es kurz machen.” Er nickt. “So kurz wie möglich.”<br />

“Großvater und Vater waren tüchtige Geschäftsmänner. Sie<br />

haben den ursprünglichen Familienbetrieb zu einem großen<br />

Unternehmen ausgebaut. So war mein Lebensweg vorbest<strong>im</strong>mt.<br />

Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften<br />

habe ich promoviert.”<br />

“Sie sind ein Herr Doktor!” ruft der MinRat außer sich.<br />

“War.”<br />

“Wie meinen? Wer in aller Welt kann Ihnen den Doktortitel<br />

wieder aberkennen?”<br />

“Ich habe darauf verzichtet. Noch ganz genau erinnere<br />

ich mich an die komplizierte Problematik meiner Doktorarbeit:<br />

‘Die Ermittlung des Firmenwertes konzerneigener<br />

Tochterunternehmen in Übersee.’ Das war ein Schlüsselerlebnis.<br />

Plötzlich erschienen mir die Wirtschaftswissenschaften<br />

in einem anderen Licht. Plötzlich machte mir die Sache<br />

Spaß.”<br />

“Aber was, in aller Welt, hat Sie dazu veranlaßt, auf Ihren<br />

akademischen Titel zu verzichten?”<br />

Der Gärtner holt eine Schale mit Salzstangen und Nüssen<br />

herbei. “Ein Lernprozeß. Ich war erfolgreich als Wirtschaftswissenschaftler<br />

und später auch als Firmenchef. Zu erfolgreich.<br />

Mein Beruf hat mich aufgefressen. Ich wollte <strong>im</strong>mer<br />

mehr: Größere Erfolge, mehr Einfluß, mehr Macht. Das steigerte<br />

sich zu einer Art Sucht. Wenn ich abends todmüde ins<br />

Bett sank, mußte ich mir vor dem Einschlafen <strong>im</strong>mer erst<br />

aufzählen können, was ich wieder alles vollbracht hatte.<br />

Wenn ich da nicht eine Latte zusammenbringen konnte, war<br />

ich unzufrieden, konnte schlecht schlafen.<br />

Das blieb nicht ohne Folgen. Ich wurde anderen gegenüber<br />

schnell ungeduldig, ihren Sorgen und Nöten gegenüber gleichgültig,<br />

ja kaltherzig. Ausflüge, gemütliche Abende <strong>im</strong> Kreise<br />

meiner Familie am Kamin, solche Ereignisse wurden <strong>im</strong>mer<br />

seltener, wurden <strong>im</strong>mer mehr zu Dingen, die ich als Störung


Machttrieb 337<br />

empfand, als Zeitverschwendung, als Hindernisse auf dem<br />

Weg zu noch größeren Erfolgen, zu noch mehr Macht.”<br />

Der Gärtner nickt vor sich hin. “Es gibt viele Arten von<br />

Sucht und viele Arten von Trieb, aber die Sucht nach Erfolg<br />

und der Trieb nach Macht – wenn sie denn erst einmal eine<br />

solche D<strong>im</strong>ension erreicht haben, wie das bei mir der Fall war<br />

– das sind besonders gefährliche Varianten menschlicher Irrwege.”<br />

“Warum besonders gefährlich?”<br />

“Weil es für den Machttrieb keine erlösende Befriedigung<br />

gibt. Er setzt sich <strong>im</strong>mer wieder neue Ziele. So steigert er sich<br />

ins Unerfüllbare. Und <strong>im</strong> Unerfüllbaren hockt der Teufel. Verlangen<br />

gebiert Verlangen.”<br />

“Aber man kann den Machttrieb doch bekämpfen.”<br />

“Der Machttrieb ist sehr schwer zu bekämpfen. Er ist sehr<br />

alt. Er wurzelt sehr tief. Viele Menschen bewundern die<br />

Mächtigen, werfen sich ihnen zu Füßen. Ihre Autoritätsgläubigkeit<br />

und ihr Wille zur Unterwerfung machen den Machthungrigen<br />

nicht selten zum Ungeheuer.”<br />

“Wie ging es weiter?”<br />

“Ich verlor meine Frau. Sie hatte es satt, tagaus, tagein bis<br />

in die Nacht auf mich zu warten, um dann schließlich ihrem<br />

schon be<strong>im</strong> Essen einschlafenden Mann ins Bett zu helfen.<br />

Immer wieder hatte sie mich gebeten, ja angefleht: ‘Bitte tritt<br />

kürzer. Du bist erfolgreicher als dein Großvater und erfolgreicher<br />

als dein Vater, und du bist erfolgreicher als viele deiner<br />

Konkurrenten. Wann endlich wirst du vernünftig? Wann<br />

endlich wirst du wieder der, den ich geheiratet habe, den ich<br />

geliebt habe?’”<br />

Der Gärtner nickt. “Sie hat gesagt ‘geliebt habe’ … Aber das<br />

habe ich überhört, genauer gesagt, verdrängt. Ich war zu<br />

stark vom Vater geprägt.” Er nippt an seinem Manhattan.<br />

“Erfolg und Macht: das war mein Leben. Das waren meine<br />

Drogen. Ich kam von ihnen nicht mehr los. Selbst dann nicht,<br />

als meine Frau mich schließlich verließ. Sie hatte einen Lie-


338 BEKENNTNISSE<br />

benswerteren gefunden – nicht so reich wie ich, aber ein<br />

Mensch. Wie habe ich den später beneidet! Aber da war es<br />

schon zu spät. Viel zu spät.”<br />

Langsam fährt sich der Gärtner mit rauher Hand über Gesicht<br />

und Bart. “Es gibt viele Drogen in unserem Leben. Nicht<br />

nur Alkohol, Nikotin, Rauschgift, Ideologie und religiöse<br />

Hingabe – auch Macht kann süchtig machen, den Blick für<br />

Realität trüben, Entzugserscheinungen auslösen.”<br />

“Ja”, sagt der MinRat. “Viele Menschen sind süchtig. Ohne<br />

es zu wissen. Nach Selbstüberhöhung, nach dem Ungewöhnlichen,<br />

nach Gehe<strong>im</strong>nisvollem, nach Stars …”<br />

“Meine Frau und ich wurden geschieden. Als unsere Tochter<br />

und unser Sohn wieder einmal bei mir zu Besuch waren,<br />

nahm ich mir viel Zeit für sie. Ich versuchte, den beiden zu erklären,<br />

warum ich so war wie ich war. Und ich hatte den<br />

Eindruck, daß sie mich – wenigstens ein bißchen – verstehen<br />

konnten. Wir sind zusammen in einen Zoo gegangen und in<br />

einen Zirkus. Wir haben eine lange Kahnfahrt gemacht und<br />

uns an einer lustigen Theatervorstellung erfreut. Als die Besuchstage<br />

zu Ende waren, sind wir in guter St<strong>im</strong>mung zum<br />

Flugplatz gefahren. Wir haben uns umarmt und geküßt. Und<br />

wir haben einander lange zugewinkt. – Ich habe meine Kinder<br />

nie wieder gesehen. Auf dem Rückflug zur Mutter ist das<br />

Flugzeug abgestürzt. Beide waren sofort tot.”<br />

Der Gärtner schweigt. Lange. Seine Augen werden feucht.<br />

Er ringt um Fassung. Das Leben hat ihn auf weißglühendem<br />

Feuer geschmiedet. Er ist ein harter Mann geworden. Hart<br />

vor allem gegen sich selbst. Aber er ist ein Mann geblieben,<br />

der weinen kann. Niemals aus Verzweiflung oder Furcht,<br />

wohl aber aus Trauer.<br />

Schließlich sagt er, Tränen wegwischend: “Sie werden es<br />

nicht für möglich halten – und auch ich kann das heute<br />

überhaupt nicht mehr begreifen – der Verlust meiner Frau<br />

und der Tod meiner Kinder waren noch <strong>im</strong>mer nicht genug,<br />

um die Kraft zu gewinnen, die erforderlich war, um meinem


Machttrieb 339<br />

Leben einen neuen Sinn und einen neuen Inhalt zu geben.<br />

Der Schmerz über den Tod meiner Kinder, die tiefe Trauer:<br />

nur wenige Wochen hielten sie mich ab von meiner Arbeit.<br />

Dann kehrte der Alltag zurück. Ich nahm die Zügel wieder in<br />

die Hand. Zögernd zuerst und geschwächt von durchwachten<br />

Nächten voller Tränen und Vorwürfe. Aber dann wurde die<br />

Arbeit auch noch zum Narkotikum.”<br />

Der Gärtner schüttelt den Kopf. “Meine Firma wuchs. Die<br />

Produktion verdoppelte sich. Und damit wuchs, zunächst unbemerkt,<br />

auch die Vergiftung der Umwelt. In einem Randbezirk<br />

meiner He<strong>im</strong>atstadt klagten <strong>im</strong>mer mehr Menschen<br />

über Gebrechen. Aber es dauerte lange, bis ein wissenschaftlich<br />

fundierter Zusammenhang nachgewiesen werden konnte<br />

zwischen unseren Abgasen und den Erkrankungen. Da habe<br />

ich erhebliche Mittel bereitgestellt für die Verringerung der<br />

Umweltbelastung. Natürlich mußte das <strong>im</strong> finanziell<br />

vertretbaren Rahmen bleiben. Ich war ja nicht nur für die<br />

Vergiftung der Umwelt verantwortlich, sondern auch für die<br />

Erhaltung von Arbeitsplätzen. Und – ich wollte meine<br />

geschäftlichen Erfolge nicht schmälern, meine Erfolge, die<br />

mich ja nicht nur unerhört viel Arbeit, sondern auch meine<br />

ganze Familie gekostet hatten.<br />

Wieder gelang es mir, vieles von dem, was mich inzwischen<br />

<strong>im</strong>mer stärker bewegte, zu verdrängen. So liefen die Dinge<br />

weiter, <strong>im</strong>mer weiter. Bis … bis ich an einem Sonntagnachmittag<br />

bei einem kurzen Spaziergang in der Nähe meiner<br />

Firma zwei Kindern begegnete. Einem Mädchen und einem<br />

Jungen. In dem Alter, in dem meine beiden Kinder waren, als<br />

sie starben. Erschrocken blieb ich stehen. Die Kinder sahen<br />

sehr krank aus. Ich bin mit ihnen zu ihren Eltern gegangen.<br />

Da hörte ich, daß sie an Leukämie erkrankt waren. Nächtelang<br />

habe ich am Krankenbett der Kinder gesessen. Ich habe<br />

die besten Ärzte engagiert. Ich habe die Kinder leiden sehen.<br />

Tag um Tag. Nacht um Nacht. Diese Opfer meiner Selbstverwirklichung!<br />

Ich habe gesehen, wie sie <strong>im</strong>mer weniger


340 BEKENNTNISSE<br />

wurden, wie sie sich ans Leben klammerten, wie sie sich<br />

selbst <strong>im</strong>mer wieder Mut machten. Ein Kind starb nach drei,<br />

das andere nach vier Wochen. Da endlich sah ich die andere<br />

Seite meines Lebens!”<br />

Langsam senkt der Gärtner den Kopf. “Jetzt, erst jetzt, war<br />

der Kelch des Leidens voll. Erst jetzt war mir die Kraft erwachsen,<br />

um mein Leben zu ändern. Überdeutlich wurde mir<br />

klar, daß dem Vorwärtsstürmen Grenzen gesetzt sind. Auf<br />

einem Planeten mit begrenzten D<strong>im</strong>ensionen, begrenzten<br />

Ressourcen und begrenzter Belastbarkeit kann die Menschheit<br />

nicht unbegrenzt wachsen.”<br />

Der MinRat nickt.<br />

“Ich begriff, daß vieles von dem, was ich an der Universität<br />

und später als Wirtschaftswissenschaftler und Firmenchef<br />

gelernt hatte, falsch ist. Daß die pr<strong>im</strong>är auf Wachstum<br />

ausgerichtete Wirtschaft und die von ihr lebende, ständig in<br />

Zahl und Anspruch wachsende Menschheit falsch programmiert<br />

sind. Daß wir eine andere Art von Wirtschaft und eine<br />

andere Art von Gesellschaft entwickeln müssen. Daß offene,<br />

stoffentwertende und Energie verschwendende Wirtschaftssysteme<br />

durch geschlossene, stoffrezirkulierende Systeme abgelöst<br />

werden müssen. Daß wir Sonne, Wind und Wasser viel<br />

mehr als bisher als Energiequelle nutzen müssen. Daß wir<br />

nach alternativen Möglichkeiten suchen müssen, um Menschen<br />

in Arbeit und Brot zu halten. Und derer gibt es viele.”<br />

“Ja”, sagt der MinRat, “unsere Politiker und Wirtschaftsführer<br />

machen, wenn ich das mal so sagen darf, Rechenfehler.<br />

Sie fördern das Wachstum der Menschheit. Sie feiern jeden<br />

Anstieg <strong>im</strong> Bruttosozialprodukt. Aber sie vernachlässigen die<br />

Neben- und Folgekosten.”<br />

Der Gärtner nickt. “Sie starren auf betriebswirtschaftliche<br />

Erfolge, aber sie verschließen die Augen vor den volkswirtschaftlichen<br />

Konsequenzen. Die Wahrheit ist doch, daß die<br />

gegenwärtige Industriegesellschaft Leben zerstört, Umwelt<br />

deformiert, Resourcen vergeudet und Arbeitsplätze vernich-


Machttrieb 341<br />

tet. Früher oder später muß das in einer Katastrophe enden.<br />

Vielleicht werden die Überlebenden dann die Achtung und<br />

Erhaltung der Natur zum herausragenden Verfassungsziel<br />

erklären. Vielleicht werden sie aus großem Leid die Kraft<br />

gewinnen für eine neue Moral. Vielleicht … wenn es dann<br />

nicht schon viel zu spät ist.”<br />

“Was müßte geschehen?”<br />

“Viel: Anzahl der Menschen verringern. Verkrustetes Denken<br />

und Handeln entschlacken. Ansprüche einschränken.<br />

Sehkraft schärfen. Kompaßrichtung ändern.”<br />

“Radikaler Kurswechsel?”<br />

“Nicht radikal. Grundlegend, aber wohlüberlegt. Gegenwärtig<br />

werden Wenige <strong>im</strong>mer reicher und Viele <strong>im</strong>mer ärmer. Das<br />

muß nicht so sein.”<br />

“Wie würden Sie das ändern?”<br />

“Neue Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen, vor allem<br />

in den Bereichen Kl<strong>im</strong>a- und Umweltschutz, Forschung und<br />

Technologie, Dienstleistung, Haushaltshilfen und Betreuung,<br />

Kultur, Unterhaltung und Freizeitgestaltung. Neue Produkte<br />

entwickeln, Innovation fördern. Leistungswillen und Kreativität<br />

belohnen und angemessene Gewinne ermöglichen. Nur<br />

Unternehmen, die Gewinne machen, können sichere Arbeitsplätze<br />

schaffen, nur sie können investieren. Und nur so<br />

können soziale Aufgaben finanziert werden.”<br />

“Es mag aus dem Munde eines Verwaltungsbeamten<br />

merkwürdig klingen”, sagt der MinRat, “aber wir müssen<br />

auch den Staatsapparat verkleinern, die Bürokratie<br />

verschlanken und die Gesetzesfülle durchforsten.”<br />

“Richtig. Die Wirtschaft muß schneller und dynamischer<br />

reagieren können. Die Freiräume der Unternehmen müssen<br />

größer, die Belastungen kleiner und die Organisation von<br />

Arbeit flexibler werden. Subventionen und Steuern runter!”<br />

“Wer soll das alles umsetzen?”<br />

“Fachleute, Forschungsinstitutionen und Politiker, die<br />

Sachfragen in den Vordergrund stellen, und für die soziale


342 BEKENNTNISSE<br />

Ausgewogenheit und Pluralismus gewachsener Kulturwerte<br />

keine Fremdwörter sind.”<br />

Der Gärtner geht zum Fenster und kuckt in den dunklen<br />

<strong>Park</strong>. “Ich verkaufte meine Firma und machte die Auflage,<br />

Umweltschutzmaßnahmen durchzuführen. Die Mittel dafür<br />

stellte ich aus meinem Verkaufserlös zur Verfügung. Ich errichtete<br />

eine Stiftung für die ärztliche Versorgung der durch<br />

meine Firma krank gewordenen Menschen und eine zweite<br />

für die Altersversorgung meiner langjährigen Mitarbeiter.” Er<br />

dreht sich um und macht eine ausladende Handbewegung:<br />

“Was Sie hier sehen, das sind einige mir besonders ans Herz<br />

gewachsene Überreste aus dem Haushalt meiner Familie.”<br />

“Haben Sie Ihre Entscheidung niemals bereut?”<br />

Der Gärtner setzt sich wieder. “Nein. Ich habe endlich begriffen,<br />

daß ich ein Teil der Schöpfung bin. So fühle ich mich<br />

aufgerufen, Natur und Leben zu achten und zu schützen.”<br />

‘Das’, denkt der MinRat, ‘ist auch die Lösung für meine<br />

eigenen Probleme!’<br />

“Sehen Sie sich die sogenannten Spitzen der Gesellschaft an.<br />

Da gibt es nicht nur Tüchtige, Kluge und Liebenswerte, sondern<br />

auch Erfolgs- und Machthungrige. Und da gibt es Eitle, in<br />

sich selbst Verliebte. Ständig starren sie in den Spiegel. Einige<br />

helfen auch schon mal ein bißchen nach, wenn es darum geht,<br />

ihre Verdienste ins rechte Licht zu rücken oder rücken zu<br />

lassen. Manch einer versucht gar, mit allen Mitteln, auch<br />

unlauteren, ins Buch der Geschichte aufgenommen zu werden.<br />

Sehen Sie sich die zahlreichen Autobiographien an. Viele davon<br />

sind zu Papier gebrachte Eitelkeiten, Sammlungen von Ichbezogenen<br />

und Ich-belobigenden Halbwahrheiten, Verdrehungen,<br />

nicht selten Lügen. Ich mag sie nicht, diese Leute, die<br />

ständig ihr buntes Gefieder spreizen. Und ich …”<br />

“Aber ist das nicht etwas sehr Menschliches?”<br />

“Ja. Mir geht es um Übertreibungen. Und ich mag sie nicht,<br />

diese professionellen Nichtstuer, diese Leute, deren einzige<br />

‘Leistung’ darin besteht, ein hübsches Sümmchen geerbt zu


haben. Viele von denen geben ihrem Leben weder Sinn noch<br />

Inhalt – ein Lamettaklub von Zeittotschlagern, Langweilern,<br />

Hohlköpfen und Partylöwen.”<br />

Der MinRat lacht: “Ich mag Löwen. Aber bei solchen Löwen<br />

würde auch ich mich nicht wohlfühlen.”<br />

“Und dann gibt es noch eine andere Gruppe von Leitfiguren,<br />

eine Gruppe, der ich selber angehörte: Menschen, die überfordert<br />

sind oder sich selber überfordern, die ihre körperlichen,<br />

seelischen und sozialen Probleme <strong>im</strong>mer wieder selbst<br />

produzieren – Magengeschwüre, Herzinfarkte, Seelenwunden.<br />

Menschen, die die Zeit in kleine Stücke hacken: Termine,<br />

Pflichten, Pläne. Menschen auch, die zufälliges Talent zum<br />

Verdienst hochjubeln und daraus emsig Privilegien stricken.”<br />

Der MinRat nickt vor sich hin. ‘Leid hat diesen Mann geläutert’,<br />

denkt er. ‘Es hat ihm Kraft gegeben. So konnte er sich<br />

von seinen Fesseln befreien. So gebar Leid Kostbares.’<br />

Selbstbescheidung<br />

Selbstbescheidung 343<br />

“Und heute fordern Sie nichts mehr von sich?”<br />

“Da ist ein Rest geblieben: der <strong>Park</strong>, die Aquarien, das<br />

Haus. Da will ich noch <strong>im</strong>mer alles so gut wie möglich richten.<br />

Noch <strong>im</strong>mer bin ich bemüht, keinen Tag zu vergeuden. Noch<br />

<strong>im</strong>mer ist da die Furcht, auch nur einen einzigen Tag nicht<br />

wirklich gelebt zu haben. Stumpfe Selbstzufriedenheit ist mir<br />

zuwider.”<br />

“Ist das nicht auch ein Ausdruck von Existenzangst? Eine<br />

Konsequenz der Furcht vor dem Altern, vor Verfall und Tod?<br />

Vor dem unwiderbringlichen Verschwinden von der Erde, bevor<br />

wir uns ausreichend an ihr erfreuen konnten?”<br />

“Ja. Solche Ängste können zu einer mächtigen Kraft werden.<br />

Wir müssen lernen, besser mit dem Wandel umzugehen.<br />

Altern ist nicht nur naturgewollte Rückbildung. Nicht nur<br />

Verfall. Altern ist auch Reifung und Gewinn. Alter kann ern-


344 BEKENNTNISSE<br />

ten: Einsicht, Freude, Gelassenheit. Alter kann befreien: von<br />

der magnetischen Anziehungskraft triebgefärbter Bilder.<br />

Alter kann die Sicht und den Weg fre<strong>im</strong>achen für den Genuß<br />

höherer Schönheit. Es schenkt mehr Abstand zu den Dingen<br />

und zu uns selbst. Es dämpft und mildert die Süchte und<br />

Triebe, die das Junge oft zu bizarren Tänzen treibt. Jugend<br />

segelt ja nicht nur in der Sonne, badet nicht nur in Lebensfreude.<br />

Jugend zittert auch unter den Peitschenhieben innerer<br />

Zwänge, unter der Wucht ungestümer Antriebe. Da<br />

wird der Lebenstanz leicht zu Verrenkungen, zu Zuckungen<br />

und zum kopflosen Flattern. Triebe bringen nicht nur Lust.<br />

Triebe tyrannisieren auch. Manche Menschen drängeln sie<br />

ins Lächerliche, andere in ethische Abgründe, einige in die<br />

Kr<strong>im</strong>inalität.”<br />

“Haben Sie”, fragt der MinRat, “niemals Angst gehabt, als<br />

Chef einer großen Firma Ziel terroristischer Attentate zu<br />

werden?”<br />

“Doch, das habe ich. Aber die Schutzmöglichkeiten sind begrenzt,<br />

und sie engen den eigenen Freiraum ein. Da muß man<br />

Kompromisse schließen, und man muß akzeptieren, daß ein<br />

Restrisiko nicht zu vermeiden ist.”<br />

“Bei all Ihrer damaligen beruflichen Beanspruchung muß<br />

das doch eine große zusätzliche Belastung gewesen sein.”<br />

“War es.”<br />

“Was halten Sie von der Kritik mancher junger Leute am<br />

Machtmonopol des Staates? Darin sehe ich den Funken <strong>im</strong><br />

Pulverfaß, wenn ich das mal so sagen darf, der manch einen<br />

zum Terroristen werden läßt.”<br />

“Damals habe ich intensiv darüber nachgedacht. Heute ist<br />

da nur noch ein Erinnerungsrest.” Der Gärtner massiert sein<br />

bärtiges Kinn. “Nichts in unserer Welt kann existieren ohne<br />

Ordnung und Gesetz. Und diese beiden nicht ohne kontrollierende<br />

Macht. Ordnung, Gesetz und Macht ermöglichen Zusammenhalt<br />

und Zusammenwirken naturgemäß unterschiedlicher,<br />

auseinanderstrebender oder gegeneinander wirkender


Selbstbescheidung 345<br />

Teile eines Systems. Bei meinen damaligen Überlegungen<br />

habe ich drei prinzipielle Arten von Macht unterschieden:<br />

Grundmacht, Integrationsmacht und Ideenmacht.<br />

Die Grundmacht repräsentiert die Naturgesetze. Sie sind<br />

unerbittlich. Früher oder später wird jeder Verstoß gegen sie<br />

geahndet. Die Grundmacht liegt außerhalb menschlicher Beeinflussungsmöglichkeiten.<br />

Die Integrationsmacht harmonisiert Strukturen und Funktionen<br />

innerhalb von Systemen. Sie besteht aus Beharrungsmacht<br />

und Veränderungsmacht. Das System benötigt beide<br />

für eine langfristige Existenz. Beharrungsmacht strebt nach<br />

Erhalt des Bewährten, Veränderungsmacht nach Neuem. Um<br />

ihre Ziele zu erreichen, muß sie sich gegen die Beharrungsmacht<br />

durchsetzen. Der daraus entstehende Konflikt zwischen<br />

Beharren und Verändern ist naturgewollt, in seinem<br />

Kern ist er ein Teil der Grundmacht. Bei Einhaltung der<br />

Spielregeln führt der Konflikt zwischen Beharren und Verändern<br />

zu einer dem System förderlichen Weiterentwicklung.<br />

Die Ideenmacht produziert Perspektiven. Sie kann die Notwendigkeit<br />

von Beharren oder Verändern bewußt machen. Sie<br />

kann kreative Kräfte und ethische Energien freisetzen – aber<br />

auch gefährliche Auswüchse verbohrter Köpfe. Ihre Felder<br />

liegen in Politik, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion<br />

und in den Medien. Ideenmacht kann den Menschen Freiheiten<br />

geben und nehmen.”<br />

“Wo steht die Wiege des Terrorismus?”<br />

“Dort, wo der Konflikt zwischen Erhalten und Verändern<br />

entartet. Und wo starke Emotionen oder ideologische Verbohrtheit<br />

die Köpfe verdrehen.”<br />

“Und das Gewaltmonopol des Staates?”<br />

“Das ist eine Grundvoraussetzung für geregeltes und sozial<br />

ausgewogenes Zusammenleben. Insofern ist diese Art der<br />

Machtausübung legit<strong>im</strong> und dementsprechend ja auch auf<br />

breiter Basis institutionalisiert. Aber, und das ist ein wesentlicher<br />

Punkt, das Kräftespiel von Beharren und Verändern


346 BEKENNTNISSE<br />

kann sich nur dann normal entfalten, wenn das Gewaltmonopol<br />

des Staates genügend Spielraum läßt für die Veränderung<br />

anstrebenden Kräfte. Ihnen müssen Möglichkeiten eröffnet<br />

werden, sich zu artikulieren, ihre Vorstellungen bekannt zu<br />

machen und in eine faire, kritische Diskussion mit den Beharrungskräften<br />

einzutreten. Eine Gesellschaft, die das nicht<br />

zuläßt, die dieses Überdruckventil verschließt, darf sich nicht<br />

wundern, wenn es zu einer Explosion kommt.”<br />

“Verändern und Entwickeln sind doch eigentlich sehr<br />

positive Dinge.”<br />

“Ja. Aus Drängeln, Ungeduld, Kritik und Ideen der Veränderer<br />

können wichtige Antriebskräfte für den Entwicklungsprozeß<br />

hervorgehen. Unkontrollierte Macht oder Macht, die<br />

sich selbst kontrolliert, rutscht rasch ab in Ineffizienz und<br />

Korruption.”<br />

Der MinRat nickt.<br />

“In dem Konflikt zwischen Beharren und Verändern sind die<br />

Beharrungskräfte meist <strong>im</strong> Vorteil. Sie kontrollieren die für<br />

die Machtausübung wichtigen Institutionen und Produktionsmittel.<br />

Aus diesem Grunde sollten sich diese Kräfte,<br />

mehr als das bisher der Fall war, <strong>im</strong> kritischen Zuhören üben<br />

und in der Selbstbescheidung.”<br />

“Und sie sollten die Veränderer stärker an ihren Überlegungen<br />

für die Gestaltung der Zukunft beteiligen.”<br />

“Richtig”, st<strong>im</strong>mt der Gärtner zu.<br />

“Wo aber die Veränderer keine überzeugenden Argumente<br />

vorweisen können, wo sie mit ideologisch verbrämter Spinnerei<br />

aufwarten, wo sie mit Gewalt gegen Sachen und Menschen<br />

agieren, da muß die Macht des Staates wirksam werden, da<br />

muß der Schutz der Gesellschaft <strong>im</strong> Vordergrund stehen.”<br />

“Das sehe ich genauso”, sagt der Gärtner. “Ideologie ist ein<br />

schlechter Ratgeber. Weg mit den Leithammeln, die mit ideologischem<br />

Schienendenken verheiratet sind! Das gilt gleichermaßen<br />

für soziale, politische und religiöse Führungskräfte.<br />

Weg mit der für Sachentscheidungen wenig nützlichen Rechts-


Links-Polarisierung! Wir brauchen problemorientierte, sachkundige<br />

Köpfe mit Ideen und Sinn für ein menschenwürdiges<br />

Leben in gesunder Natur – Köpfe, die vom frischen Wind der<br />

Realität getragen sind, Köpfe, die einen gangbaren Weg in die<br />

Zukunft suchen.”<br />

“Zukunft ist keine geradlinig weiterwachsende Vergangenheit.”<br />

“Aber nur aus der Vergangenheit und in der Gegenwart<br />

können wir Erfahrungen sammeln. Der Blick zurück hilft, den<br />

Weg voraus zu finden.”<br />

Der MinRat bewundert den Gärtner: Dessen weise Selbstbescheidung,<br />

dieses gelassene Willkommenheißen des Lebensherbstes.<br />

Fast andächtig blickt er zu ihm hinüber.<br />

Testament<br />

Testament 347<br />

Der Gärtner steht auf, geht durchs Wohnz<strong>im</strong>mer und öffnet<br />

den Lüftungsschlitz über dem Panoramafenster. Wieder in<br />

seinem Sessel sitzend, nippt er am Manhattan und löffelt sich<br />

ein paar Nüsse auf den Teller. Dann vollendet er seine Lebensbekenntnisse.<br />

“Das Leben, in dem ich früher zu Hause<br />

war – es ist heute weit entfernt von mir. Es war ein Leben<br />

voller Rennen, Hetzen und Jagen, ein Leben <strong>im</strong>merfort nur auf<br />

der Überholspur. In meinem unruhigen, der Erfüllung<br />

hinterherhetzenden Herzen brannte ein wildes Feuer. Geld<br />

war mir unwichtig, Besitz langweilig. Was zählte waren Erfolg<br />

und Macht, vor allem das prickelnde Erlebnis eines schwer<br />

errungenen Erfolges. Danach war ich süchtig. Der Genuß war<br />

um so größer, der Triumph um so beglückender, je schwieriger<br />

es war, mein jeweiliges Ziel zu erreichen. Mich faszinierte die<br />

Gratwanderung zwischen Gewinnen und Verlieren.”<br />

Der Gärtner betrachtet die Schwielen und Risse an seinen<br />

Händen. “Ich beantragte und erhielt einen neuen Namen,<br />

verlegte meinen Wohnsitz und ließ mir einen Bart und lange


348 BEKENNTNISSE<br />

Haare wachsen. Dann begann ich ein neues Leben. Von der<br />

Pike auf erlernte ich das Handwerk des Gärtners.”<br />

“Das war doch sicher nicht einfach.”<br />

“Nein. Ich war kein Sechzehnjähriger mehr. In den<br />

besonderen Schwierigkeiten und Entbehrungen, die das neue<br />

Leben anfangs mit sich brachte, habe ich so etwas wie eine<br />

selbstauferlegte Buße gesehen.”<br />

“Und wie ging es weiter?”<br />

“Noch vor meinen Kollegen, die mit mir zusammen die Gärtnerlehre<br />

angefangen hatten, wurde ich Geselle, und schon<br />

bald danach machte ich außer der Reihe meinen Meister.<br />

Dann habe ich mich erfolgreich um die Stelle des leitenden<br />

Gärtners hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong> beworben.”<br />

“Und dann begann ein neuer Abschnitt, auch in der Geschichte<br />

des <strong>Park</strong>s.”<br />

“Ja. Der <strong>Park</strong> wurde mein Leben.”<br />

“Sie haben vieles verändert, verbessert.”<br />

“Das Rathaus ließ mir zunächst weitgehend freie Hand.<br />

Erst in jüngster Zeit gibt es hier und da Probleme mit dem<br />

Gartenbauamt. Aber auch als Firmenchef hatte ich meine<br />

Probleme mit dem Amtssch<strong>im</strong>mel – damals mit einigen Beamten<br />

des Wirtschaftsministeriums. So ist mir an den entsprechenden<br />

Stellen Hornhaut gewachsen.”<br />

“Merkwürdig”, sagt der MinRat, “ich kann das gut verstehen,<br />

obwohl ich ja selber aus der Verwaltung komme. Offenbar<br />

haben Sie mit Amtsstuben nicht <strong>im</strong>mer gute Erfahrungen<br />

gemacht.”<br />

“Nein.”<br />

“Das muß doch sehr schwierig sein, wenn so ein Verwaltungsmensch<br />

aus dem Rathaus dazwischenfunkt.”<br />

“Ist es.”<br />

Der MinRat sieht sich erneut um <strong>im</strong> Wohnz<strong>im</strong>mer. “Wenn<br />

ich das alles hier so sehe, ein so erlesenes He<strong>im</strong> – was machen<br />

Sie, wenn es mal einen handfesten Krach gibt mit dem Gartenbauamt<br />

oder den leitenden Herrren <strong>im</strong> Rathaus?”


Testament 349<br />

Der Gärtner zuckt die Schultern, zieht die Mundwinkel<br />

nach unten. Schweigt.<br />

“Ich meine”, der MinRat zögert – “ich meine, wenn die Ihnen<br />

kündigen?”<br />

Der Gärtner trinkt ungerührt einen Schluck Manhattan.<br />

“Dann müssen Sie raus aus Ihrem schönen Haus.”<br />

“Muß ich nicht.”<br />

“Wie meinen? Wieso nicht?”<br />

“Das Haus gehört mir.”<br />

“Was?? Wie ist so etwas möglich? Ein Privathaus <strong>im</strong> <strong>Park</strong>!”<br />

“Früher lag dieses Grundstück außerhalb des <strong>Park</strong>s. Dennoch,<br />

als ich über meinen Freund, den Physiker, das Haus<br />

kaufen wollte – ich hatte durch den Verkauf meines Privatbesitzes<br />

noch genügend Mittel zur Verfügung – stellte sich das<br />

Rathaus quer. Aber dieses alte Haus war abbruchreif, und die<br />

Stadt hatte kein Geld, es wieder instand zu setzen. Als wir<br />

dann den doppelten Preis dessen boten, was Haus und Grundstück<br />

wert waren, lenkten die Herren ein. Die Stadtverwaltung<br />

benötigte das Geld dringend für die Vollendung einer<br />

Schw<strong>im</strong>mhalle, deren Baukosten sich auf unerklärliche Weise<br />

dauernd erhöht hatten. Diese Angelegenheit war inzwischen<br />

zu einem Politikum geworden, und die nächste Wahl stand<br />

vor der Tür. So ging plötzlich alles, was vorher nicht gegangen<br />

war.”<br />

“Und dann?”<br />

“Im letzten Augenblick funkte ein hoher Beamter aus der<br />

Landesregierung dazwischen.” Der Gärtner schmunzelt, “ein<br />

Ministerialrat.”<br />

“Sowas!”<br />

“Der Herr Ministerialrat hatte bereits eine Erweiterung des<br />

<strong>Park</strong>s in Aussicht genommen und wollte partout keinen Privatmann<br />

dazwischen haben. Durchaus verständlich.”<br />

“Das ist ja eine spannende Geschichte!”<br />

“Die Eigentumsverhältnisse des Grundstücks, das für die<br />

<strong>Park</strong>erweiterug vorgesehen war, erwiesen sich als ungeklärt.


350 BEKENNTNISSE<br />

Die Grundbuchauszüge waren bei Kriegsende verloren gegangen.”<br />

“Und dann?”<br />

“Plötzlich fanden sich beglaubigte Kopien, an deren Echtheit<br />

nicht zu zweifeln war. Und wem gehörte das Grundstück?<br />

Meiner Familie.”<br />

“Das gibt’s ja nicht! Das gibt’s ja wirklich nicht! Das ist ja …”<br />

“Es gab keinen Zweifel: ich war Eigentümer des Grundstücks.<br />

Nun mußte der Herr Ministerialrat den früheren<br />

Firmenchef anschreiben und versuchen, mit ihm ins Geschäft<br />

zu kommen, wenn er denn seine Pläne verwirklichen wollte.<br />

Das tat er auch, mit einem Schreiben voller verdrehter Unterwürfigkeits-<br />

und Höflichkeitsfloskeln. Das hat mir Spaß gemacht.<br />

Über den Physiker ließ ich ihn wissen, daß das Grundstück<br />

dem Gärtner übereignet worden ist. Sie können sich das<br />

nicht vorstellen!” Der Gärtner lacht. Noch heute bereitet ihm<br />

das großes Vergnügen. “Der Ministerialrat war wie ausgewechselt!<br />

Postwendend hat er mir geschrieben. Er wollte gern<br />

sofort zu einem Gespräch ‘unter vier Augen’ in die Gärtnerei<br />

kommen. Natürlich hatte ich keinerlei <strong>Inter</strong>esse daran.<br />

Um abermals eine lange Geschichte kurz zu machen: Auch<br />

dieses Haus gehörte bereits mir. Die Summe, die ich der Stadt<br />

als Kaufpreis überwiesen hatte, war von den Herren sofort in<br />

die Schw<strong>im</strong>mhalle gesteckt worden. Eine Katastrophe! Und<br />

das so kurz vor der Wahl! Die haben gezittert. Ein Skandal<br />

schien unabwendbar.”<br />

“Ja und dann?” Der MinRat ist auf die äußerste Kante seines<br />

Sessels gerückt. Da hockt er nun. Steif aufgerichtet. Mit<br />

hüpfendem Adamsapfel.<br />

“Unter strikter Vertraulichkeit habe ich einen Vertrag<br />

ausgehandelt, der eine Enteignung von Haus und Grundstück<br />

zu meinen Lebzeiten ausschließt. Die leitenden Herren der<br />

Bezirksregierung haben gern unterschrieben, und auch der<br />

Herr Ministerialrat hat mitgezeichnet. Dann habe ich denen<br />

das Geld geschenkt.”


“Und was ist mit dem anderen Grundstück geworden?”<br />

“Dieser Teil des <strong>Park</strong>s gehört mir.”<br />

“Das ist ja unglaublich!”<br />

“Aber ich habe ein Testament gemacht, in dem festgelegt ist,<br />

daß mein gesamter Besitz nach meinem Tode der Stadt<br />

gehören und dem <strong>Park</strong> zugute kommen soll. Davon weiß offiziell<br />

nur ein Jurist der Landesregierung. Und der, beziehungsweise<br />

dessen Nachfolger, ist verpflichtet, darüber zu<br />

schweigen.”<br />

Der Gärtner senkt den Kopf und nickt vor sich hin. Dann<br />

sagt er: “So, lieber Aquarienfreund, nun kennen sie mein Gehe<strong>im</strong>nis.<br />

Ich weiß, daß es bei Ihnen gut aufgehoben ist.”<br />

“Das ist es!”<br />

“Und Sie wissen nun auch, daß ich mir keine Sorgen zu<br />

machen brauche wegen einer Kündigung.”<br />

6 EINSICHTEN<br />

Fünf-Sterne-Kaffee 351<br />

“Hat nicht die Wissenschaft die ganze<br />

Menschheit entwurzelt? Stürzt sie nicht<br />

uns alle in einen Strudel von Zerstörung<br />

und Verderben?”<br />

Fünf-Sterne-Kaffee<br />

Schon mehrfach ist Peter nun Gast gewesen <strong>im</strong> Pastorenhaus.<br />

Heute wird er über Nacht bleiben. Das erste Mal. Darauf<br />

freut er sich. Seit seine Eltern gestorben sind – der Vater<br />

unmittelbar nach der Mutter – hat ihm ein Zuhause gefehlt.<br />

Das ist ihm erst jetzt so richtig bewußt geworden, jetzt, da er<br />

diese wunderbare Atmosphäre <strong>im</strong> Pastorenhaus<br />

kennenlernen durfte.<br />

Vor drei Tagen hat Peter einen wichtigen Entschluß gefaßt.<br />

Er will Inge bitten, seine Frau zu werden. Peter hofft, daß es


352 EINSICHTEN<br />

möglich sein wird, sich mit Inge’s Vater zu arrangieren. Er<br />

achtet, ja er verehrt den Pastor. Vater und Tochter – beide<br />

sind sie ungewöhnlich gut und liebenswert. Vieles erleben und<br />

empfinden sie zwar anders als er, aber das kann die Einseitigkeit<br />

mildern helfen, mit der er bisher die Welt gesehen<br />

hat.<br />

Auch der heutige Abend <strong>im</strong> Pastorenhaus wird für Peter ein<br />

Erlebnis. Wieder umfängt ihn nie zuvor gekannte menschliche<br />

Wärme. Wieder genießt er Inges Kochkunst und erfreut<br />

sich ihrer sorgfältigen Aufmerksamkeit als Hausfrau. Und<br />

wieder wird bei Kerzenlicht musiziert. Diesmal Schubert.<br />

‘Wie wunderbar wäre es’, denkt Peter, ‘wenn wir drei eine<br />

Grundlage finden könnten für ein gemeinsames Leben.’<br />

Auch der Pastor hat über ein Leben zu dritt nachgedacht. Er<br />

mag den Peter. Er sucht nach einem Weg zu ihm.<br />

Doch jetzt fordert erst einmal die Müdigkeit ihr Recht. Der<br />

Pastor hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Zudem beginnt<br />

der schwere Rotwein, der allen Dreien so vortrefflich<br />

gemundet hat, seine Wirkung zu entfalten. Mit einer kleinen<br />

Verbeugung und einem freundlichen “Gute Nacht, ihr beiden”,<br />

verabschiedet er sich.” Inge führt Peter ins Gästez<strong>im</strong>mer,<br />

erläutert einige Einzelheiten, umarmt und küßt ihn und zieht<br />

sich zurück in ihr Z<strong>im</strong>mer.<br />

In nahezu jeder Nacht ihres Lebens hat dieses Z<strong>im</strong>mer<br />

ihren Schlaf behütet, war es eine Schutzburg für ihre Gedanken,<br />

Gefühle und Träume. In diesem Augenblick dröhnt auch<br />

wieder, ganz nah und ganz laut, die alte Kirchturmglocke, die<br />

vertraute, verläßliche Begleiterin ihres Lebens. Bbuomm,<br />

bbuommm, bbuommm, … Elfmal.<br />

Peter macht es sich bequem in dem großen Bett des Gästez<strong>im</strong>mers.<br />

Er sucht Schreibmaterial hervor aus seiner<br />

Gepäcktasche, richtet die Nachttischlampe und bringt noch<br />

ein paar Gedanken zu Papier, die ihm am Herzen liegen.<br />

Dann löscht er das Licht. Und schon sinkt er in einen tiefen<br />

Schlaf.


Fünf-Sterne-Kaffee 353<br />

Am nächsten Morgen klopft Inge an die Tür des Gästez<strong>im</strong>mers.<br />

“Aufsteh’n, Frühstück ist fertig!” Erschrocken fährt<br />

Peter hoch: “Guten Morgen! Ich komme so schnell wie möglich<br />

runter.” Er reibt sich die Augen, reckt die Arme in die Höhe<br />

und gähnt. Schlaftrunken wankt er zum Waschbecken, blickt<br />

in den Spiegel, lacht vergnügt sein Spiegelbild an und kneift<br />

ein Auge zu. Er freut sich auf Inge und auf ihren Vater. Und<br />

er freut sich auf’s Frühstück.<br />

Mit strahlendem Gesicht betritt er bald darauf das Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />

“Guten Morgen!”, ruft der Pastor. “Wie haben Sie geschlafen?”<br />

“Ich weiß es nicht. Ich habe das Licht gelöscht, und dann hat<br />

Inge gerufen: ‘Aufstehn, Frühstück ist fertig’. An mehr kann<br />

ich mich nicht erinnern.”<br />

“Das läßt auf einen Tiefschlaf schließen”, lacht der Pastor.<br />

“Offenbar. Es kommt bei mir sehr selten vor, daß ich so fest<br />

schlafen kann. Meistens schlafe ich mit wissenschaftlichen<br />

Problemen ein und wache mit meinen für den Tag geplanten<br />

Exper<strong>im</strong>enten wieder auf.”<br />

“Das hört sich ja schl<strong>im</strong>m an”, sagt Inge, “nur gut, daß dein<br />

Kopf mal eine Pause einlegen konnte.”<br />

Um den Frühstückstisch <strong>im</strong> Wintergarten stehen drei alte<br />

Korbsessel. Eine rote Decke verbirgt die zerschrammte Tischoberfläche.<br />

Das Rot kontrastiert mit weißen Servietten,<br />

hellblauem Geschirr und drei gelben Vasen, in denen blaue<br />

und weiße Sommerastern leuchten. Der Tisch steht zwischen<br />

einer Palme und einem großen Gummibaum, der sich<br />

anschickt, das Glasdach in die Höhe zu stemmen. Duftender<br />

Kaffee, Brötchen, Butter, Honig, Eier.<br />

“Ganz toll hast du das wieder gemacht”, sagt Peter und legt<br />

den Arm um Inges Taille.<br />

“Findest du?”<br />

“Ja. Für mich ist das alles wie ein wunderschöner Traum.”<br />

Dieses besondere Frühstück, das erste zu dritt, hatte den<br />

Pastor veranlaßt, auf den untersten Ast des Pflaumenbaums


354 EINSICHTEN<br />

zu klettern und die ersten reifen Früchte einzusammeln.<br />

Samten-dunkelblau sch<strong>im</strong>mern sie nun auf weißem Teller.<br />

Vater und Tochter beten. Dann schenkt Inge Kaffee ein und<br />

reicht die warmen, knusprigen Brötchen herum. Neben jedes<br />

Gedeck hat sie ein Glas mit frisch ausgepreßtem Apfelsinensaft<br />

gestellt. Jetzt erhebt sie ihr Glas und sagt mit<br />

strahlenden Augen: “Zum Wohl die Herren!”<br />

“Zum Wohl”, antworten Pastor und Peter.<br />

“Im Radio wurde eben herrliches Wetter prophezeit”, sagt<br />

der Pastor. “Wie wär’s mit einer Bootsfahrt? Vielleicht heut<br />

nachmittag?” Er sieht Peter fragend an. Der gibt die Frage<br />

weiter an Inge: “Was meinst du?”<br />

“Dich hat Vater gefragt, also mußt du auch antworten.”<br />

“Ich finde die Idee ganz pr<strong>im</strong>a! Tretboot oder Ruderboot?”<br />

“Ruderboot!”, ruft Inge. “Und du ruderst!”<br />

“Wenn ihr euch meiner Navigationskunst anvertrauen<br />

wollt.”<br />

“Wir können ja Schw<strong>im</strong>mwesten mitnehmen. Wer weiß, was<br />

so ein Botaniker alles anstellt.” Inge knufft Peter in die Seite<br />

und lacht übermütig.<br />

“Der Kaffee schmeckt pr<strong>im</strong>a”, sagt Peter. “Wie machst du<br />

den?”<br />

“Das sag ich nicht!”<br />

Inge rutscht hin und her auf ihrem Korbsessel. Dann wiegt<br />

sie gehe<strong>im</strong>nistuerisch den Kopf. Sie ist unglaublich glücklich.<br />

Und da erwacht dann auch wieder das lustige Mädchen in ihr,<br />

das sie früher einmal war. Früher, da war sie voller liebenswerter<br />

Späße, ein richtiger kleiner Schelm.<br />

Als Peter sie noch <strong>im</strong>mer fragend ansieht, ruft Inge: “Soweit<br />

kommt das noch, daß ich dir mein Gehe<strong>im</strong>nis verrate! Dann<br />

machst du dir selber so einen Fünf-Sterne-Kaffee und kommst<br />

nicht wieder.”<br />

“Mich wirst du hier so schnell nicht wieder los. Und schon<br />

gar nicht so einfach.”<br />

Inge wiegt den Kopf, daß der Zopf pendelt. “Was meinen Sie,


Fünf-Sterne-Kaffee 355<br />

Herr Pastor, können wir dem Botaniker ein so wichtiges Gehe<strong>im</strong>nis<br />

anvertrauen?”<br />

“Ich denke schon, vorausgesetzt natürlich, daß er vernünftig<br />

rudern kann.”<br />

“Das kann er”, sagt Peter. “Allerdings vermag ich nicht so<br />

ohne weiteres Entwarnung zu geben für das Mitnehmen von<br />

Schw<strong>im</strong>mwesten.”<br />

“Sehen Sie, Herr Pastor, da haben wir’s. Gehe<strong>im</strong>nisse aus<br />

mir rausquetschen, aber nicht mal sicher rudern können.”<br />

Peter droht mit dem Zeigefinger. Lacht. “Ich rudre sicher.<br />

Aber vielleicht schaffst du es ja trotzdem, über Bord zu fallen.”<br />

“Ich weiß nicht!”, ruft Inge. “Ich weiß wirklich nicht, ob wir<br />

dem da mit Bart und Brille trauen können.”<br />

Peter holt tief Luft. Dann läßt er mit gespielter Traurigkeit<br />

den Kopf hängen.<br />

“Na ja”, m<strong>im</strong>t Inge die Großzügige, “mit einem gewissen<br />

Risiko müssen wir wohl leben. Also, das Gehe<strong>im</strong>nis ist …” Sie<br />

macht eine spannungserhöhende Pause. Dann ruft sie: “Sehen<br />

Sie nur, Herr Pastor, wie neugierig der Botaniker ist! Das<br />

ganze Gesicht ist ein Fragezeichen.”<br />

“Nun spann den armen Jungen nicht noch länger auf die<br />

Folter. Versprochen ist versprochen.”<br />

“Gar nichts hab ich ihm versprochen. Aber ich sehe ein, daß<br />

das Leiden ein Ende haben muß. Also: ich füge ein bißchen<br />

Kakao dazu und eine Prise Salz.”<br />

“Das ist alles?”<br />

“Das ist alles.”<br />

“Ab sofort gibt’s jetzt auch bei mir zu Hause Fünf-Sterne<br />

Kaffee.”<br />

Inge steht auf und schaltet das Radio ein. Sie möchte gern<br />

wissen, mit welcher Temperatur sie heute nachmittag<br />

rechnen kann. Auf dem See ist es <strong>im</strong>mer etwas kühler. Da<br />

muß man sich entsprechend anziehen. Aber so sehr sie auch<br />

herumsucht, nacheinander alle möglichen Sender einstellt, es<br />

kommt einfach keine Nachricht über das Wetter. Statt dessen


356 EINSICHTEN<br />

werden aus Afrika neue Kämpfe gemeldet zwischen Schwarzen<br />

und Weißen.<br />

Der Pastor schüttelt den Kopf: “Schwarze, Weiße, Gelbe,<br />

Rote – sie sind doch alle Gottes Kinder. Warum nur dieser<br />

Haß gegen das Fremde, diese Intoleranz gegenüber Andersartigem?<br />

Es scheint wirklich sehr schwer zu sein, Lehren aus<br />

Vergangenem zu ziehen. Haß auf Fremdes, ob <strong>im</strong> Aussehen,<br />

Verhalten oder in der Gedankenwelt – das ist eine<br />

verhängnisvolle Eigenart der Menschen. Sie hat schon viel<br />

Leid hervorgebracht.”<br />

Als weder Inge noch Peter daraufhin etwas sagen, fragt der<br />

Pastor: “Was sagt der Ökologe dazu?”<br />

Peter wollte sich eigentlich an diesem schönen Morgen auf<br />

keine Diskussion einlassen. Nun aber sagt er: “Abweichungen<br />

von der Norm abzulehnen, das ist eine uralte Reaktion. Bei<br />

den meisten Tieren wird Fremdes, zumal wenn es nicht<br />

kooperiert, unnachgiebig bekämpft. Diese Reaktion, das<br />

Abstandhalten von Anderem, dient der Arterhaltung.”<br />

“Das”, entgegnet der Pastor, “sollte aber doch kein Grund<br />

sein dafür, daß wir Menschen dieses Verhalten unkorrigiert in<br />

uns fortwirken lassen.”<br />

“Der Ansicht bin ich auch. Aber Korrekturen sind nicht<br />

leicht. Hier stehen alte Triebe gegen neue Einsichten. Über<br />

viele Hunderttausende von Jahre haben die Menschen in kleinen<br />

Gruppen gelebt, in denen jeder jeden kannte. Aus dieser<br />

Zeit stammt die Ablehnung des Fremden. Wir müssen endlich<br />

begreifen, daß dieses Urverhalten nicht mehr in unsere heutige<br />

Zeit paßt.” Peter n<strong>im</strong>mt einen Schluck Kaffee zu sich.<br />

“Hmm”, macht er, sieht Inge an und kneift ein Auge zu. Dann<br />

fährt er fort: “Problematisch wird das allerdings, wenn Fremdes<br />

in Zahl und Einfluß eigene Traditionen zu verdrängen<br />

droht. Dann muß man nach Abhilfe suchen.”<br />

“Das sehe ich genauso”, sagt der Pastor. “Eigene Traditionen,<br />

eigene Wertvorstellungen und eigene Sitten verleihen<br />

einem Volk seine Identität. Im Ausgleich, <strong>im</strong> Neben- und


Fünf-Sterne-Kaffee 357<br />

Miteinander verschiedener Traditionen und <strong>im</strong> gemeinsamen<br />

Teilhaben an neuen Entwicklungen, da liegt die Chance zur<br />

Bewältigung der Zukunft.”<br />

“Leider gibt es viele Menschen, die vom Verstand her wenig<br />

auszurichten vermögen.”<br />

Der Pastor nickt.<br />

“Bei so manchem wird das Verhalten von St<strong>im</strong>mungen oder<br />

Trieben beherrscht, denen nicht in ausreichendem Maße<br />

kontrollierende Willenskräfte gegenüberstehen.”<br />

“Solche Menschen tun mir leid”, sagt Inge.<br />

“Mir auch”, nickt Peter. “Sie sind Sklaven ihrer St<strong>im</strong>mungen<br />

und Triebe. Sie verdienen unser Mitgefühl. Sie sind nie gefragt<br />

worden: ‘Wie willst du sein?’ Sie sind, wie wir alle, das<br />

Ergebnis eines Zeugungsaktes, bei dem Erbgut in einer Weise<br />

verteilt wurde, auf die kein Mensch Einfluß nehmen konnte.”<br />

Inge ist in die Küche gegangen. Dort bereitet sie eine neue<br />

Portion Kaffee zu.<br />

“Verstehe ich das richtig”, fragt der Pastor, “daß es Ihrer Ansicht<br />

nach bei diesen Menschen so etwas wie Schuld gar nicht<br />

geben kann?”<br />

“Schuldig kann doch nur jemand werden, der eine Wahl<br />

hatte, anders zu werden, als er geworden ist. Aus einem Zeugungsakt<br />

eines Katzenpaares kann nur eine Katze<br />

hervorgehen. Wer darf die gezeugte Katze schuldig sprechen,<br />

weil sie kein Hund geworden ist? Oder weil sie sich nicht wie<br />

ein Hund verhält?”<br />

“Die Bibel sagt: Ein jeglicher hat seine Gabe von Gott, einer<br />

so, der andere so. Aber sie lehrt auch, daß man seine Gaben<br />

entwickeln kann.”<br />

“Auch das Entwickeln von Gaben ist eine Gabe.”<br />

Durch die halboffene Küchentür hat Inge die letzten, etwas<br />

lauter gesprochenen Sätze mitgehört. ‘Oh Gott’, denkt sie,<br />

‘hoffentlich beginnt der Peter keinen Streit!’<br />

Und der Pastor denkt: ‘wo bleiben da Sünde und Sühne, wo<br />

Böses und Buße, wo Schuld und Strafe? Der Peter sieht man-


358 EINSICHTEN<br />

ches zu einseitig. Sind Strafe und Belohnung nicht die wirkungsvollsten<br />

Mittel zur Einpassung des Einzelnen in die<br />

Gemeinschaft? Strafe soll helfen. Strafe soll vor weiterer<br />

Schuld schützen! Strafe kann Schuld tilgen. Sie ist die<br />

Voraussetzung für die Wiederaufnahme eines Übeltäters in<br />

die Gesellschaft. Inges Freund gefällt sich offenbar darin,<br />

vieles umzukrempeln.’ Er sieht den jungen Wissenschaftler<br />

prüfend an. Aber er sagt nichts.<br />

So wird ein Streit vermieden. Doch der Sreit wird nur<br />

hinausgeschoben. Noch heute wird sich das Gewitter<br />

entladen. Es geht nicht anders.<br />

Aus der Küche zurückkehrend, sagt Inge: “Nur wer den<br />

anderen zu achten vermag, kann Toleranz üben.” Zu Peter<br />

gewandt fügt sie hinzu: “Du bist doch auch für Toleranz.” So<br />

hofft sie, das Gespräch wieder in ruhigere Bahnen lenken zu<br />

können.<br />

“Ja, das bin ich. Wir sollten einen Menschen nicht beurteilen<br />

nach seiner Hautfarbe, Herkunft, Rasse oder Religion,<br />

sondern danach, was er tut oder nicht tut. Ich freue mich über<br />

Vielfalt. Auch sie ist ein Naturgesetz. Und ich übe mich in<br />

aktiver Toleranz nach dem Motto: Schön, daß es Weiße gibt,<br />

Schwarze, Gelbe und Rote, schade, daß es keine Blauen gibt<br />

und Grüne. Vielfalt bringt Farbe ins Bild. Mangel an Toleranz<br />

ist Mangel an Kultur. Intoleranz ist die Schwester der Dummheit.”<br />

“Wahrlich, so ist es”, st<strong>im</strong>mt der Pastor zu.<br />

Und nun kehrt wieder Ruhe ein in der Frühstücksrunde<br />

und Vorfreude auf die Bootsfahrt.<br />

An der Haustür klopft es. Inge öffnet. Ein Mann steht vor<br />

der Tür. Er möchte den Pastor sprechen. Der Pastor begrüßt<br />

ihn herzlich und geht mit ihm in einen Nebenraum.<br />

In den Wintergarten zurückkehrend sagt Inge: “Ein Gemeindemitglied.<br />

Er sucht Vater’s Rat und Trost. Er ist ein<br />

Pechvogel. Vater muß ihn wieder aufrichten.”<br />

Peter nickt.


Fünf-Sterne-Kaffee 359<br />

Nachdem die beiden ihren Kaffee ausgetrunken haben,<br />

fragt Inge: “Hast du Lust, mit mir in den Garten zu gehen bis<br />

Vater zurückkommt?”<br />

“Gern.”<br />

Inge zeigt Peter den Garten und erklärt ihm einige Einzelheiten.<br />

Schließlich öffnet sie eine enge Tür. Die führt auf einen<br />

kleinen Friedhof. Ehrfurchtsvoll gehen sie an einer Reihe von<br />

Gräbern vorbei. Dann stehen sie vor einem besonders schön<br />

hergerichteten Grab. “Hier ruht meine Mutter.” Inge faltet die<br />

Hände, hebt sie vor die Brust und betet.<br />

Nach einer Weile geht sie zwei Schritte weiter: “Hier wird<br />

einmal mein Vater liegen. Und daneben ich.”<br />

“Hallo, ihr beiden!”, ruft der Pastor. “Ich habe euch gesucht.”<br />

Er geht auf Inge und Peter zu. Bleibt vor dem Grab seiner<br />

Frau stehen, senkt den Kopf und betet. Wie zuvor Inge, faltet<br />

er dabei die Hände und hebt sie vor die Brust. Nach einem<br />

Augenblick des Schweigens hakt er sich bei Inge ein und führt<br />

sie zurück in’s Haus. Auf dem Wege dorthin fragt er: “Hast du<br />

gesehen, wie sehr der Pflaumenbaum gewachsen ist? Er<br />

hängt voller Früchte. Unser kleiner Garten”, wendet er sich<br />

Peter zu, “das ist mein Hobby. Es ist ein wunderschönes<br />

Erlebnis, zu säen, zu pflanzen, zu pflegen und zu ernten. Und<br />

es ist eine große Freude, miterleben zu dürfen, wie alles wächst<br />

und blüht, gedeiht und reift.”<br />

“Das kann ich gut nachempfinden. Daran hätte auch ich<br />

großen Spaß.”<br />

“Na sehen Sie, da haben wir ja etwas Wichtiges gemeinsam.<br />

Sicher kann ich da von Ihnen noch so manches lernen.<br />

Ein Botaniker weiß best<strong>im</strong>mt mehr über den Garten als ein<br />

Pastor.”<br />

“Meine Kenntnisse zielen in eine andere Richtung. Und mir<br />

fehlt es an praktischer Erfahrung. Ich glaube daher, daß ich<br />

eher von Ihnen lernen kann.”<br />

“Na, vielleicht werden wir das ja bald einmal herausfinden.”


360 EINSICHTEN<br />

Lebensfreude<br />

Kaum sind die drei wieder <strong>im</strong> Wintergarten angelangt, da<br />

läßt sie ein Paukenschlag zusammenfahren. Weitere Paukenschläge<br />

folgen, dann rasselnde Trommelwirbel und lautes<br />

Pfeifen.<br />

“Das ist unsere Feuerwehrkapelle!”, schreit Inge gegen den<br />

Lärm an. “Sie gibt ein Konzert.” Dröhnende Marschmusik<br />

setzt ein mit Trompeten und Posaunen und mit klingendem<br />

Schellenbaum. Dicht am Pastorenhaus vorbei marschieren die<br />

Feuerwehrleute. Sie pauken, trommeln und blasen, was das<br />

Zeug hält. Als die Kapelle sich entfernt und die Lautstärke<br />

nachläßt, sagt Inge: “Unsere Feuerwehr ist Spitze.” Sie tanzt<br />

<strong>im</strong> Rhythmus der Musik. “Los, ihr beiden! Auf zum Spielplatz!”<br />

Sie wirft eine weiße Jacke über ihre Schultern. “Los, los, ihr<br />

müden Geister! Auf zum Morgenkonzert!” Die Männer lachen.<br />

Der Pastor holt seinen schwarzen Hut mit der breiten Krempe<br />

und drückt ihn in die weißen Locken. Peter greift nach seinem<br />

leichten Sommerpullover. Und auf geht’s!<br />

Auf dem Spielplatz erwartet sie ein farbenfrohes Bild. Beleuchtet<br />

von schräg einfallender Morgensonne formen die Musiker<br />

einen Halbkreis vor dem dunklen Grün der hohen Eiben.<br />

Auf dem Blau und Rot ihrer Uniformen blitzen goldene<br />

Knöpfe. Weiße Mützen zieren goldgerahmte blaue Schirme.<br />

Rote W<strong>im</strong>pel winken. Gelbe Fahnen flattern. Und über all<br />

dem schweben bunte Luftballons an langen Leinen.<br />

Mitreißende Marschmusik erfüllt den <strong>Park</strong>. Im blankgeputzten<br />

Messing der Blasinstrumente funkelt und zerfließt<br />

Sonne.<br />

Die Feuerwehrmänner dirigiert ein kräftiger, hochgewachsener<br />

Kapellmeister. Von dessen kordeligen Schulterepauletten<br />

baumeln Bögen silberner Schnüre. So energisch fährt<br />

sein Taktstock in der Luft herum, daß bei jedem Abwärtsstoß<br />

der ganze Körper bebt.<br />

Viele Menschen sind gekommen. Einige schunkeln und


Lebensfreude 361<br />

wippen <strong>im</strong> Takt der Musik. Ein hübsches junges Paar tanzt<br />

auf einer Bank in der Nähe des Sandkastens.<br />

Im hinteren Teil des Spielplatzes und auf dem ersten<br />

Abschnitt des Weges zum Waldschloß stehen Würstchenbuden<br />

und geschmückte Wagen, einige mit Bierausschank,<br />

andere mit Fruchtsäften, Milchshakes, Eis und Gebäck.<br />

Kinder drängeln schreiend und hüpfend vor Tischen mit Schokolade,<br />

Zuckerstangen und Lakritzen. Einige kreischen vor<br />

Vergnügen. Inge tänzelt hüfteschwingend zwischen Vater und<br />

Peter. Ihr Zopf wippt und wedelt – auf und ab und hin und<br />

her. Und jetzt st<strong>im</strong>mt sie aus vollem Halse ein in das Lied, das<br />

die Kapelle gerade anst<strong>im</strong>mt, das Herrmann Löns Lied von<br />

der Lüneburger Heide.<br />

“Wie schön das alles ist!”, ruft Peter. Und er denkt: ‘Ich habe<br />

mich zu sehr mit meiner Wissenschaft verheiratet. Inge und<br />

ihr Vater zeigen mir die andere Seite des Lebens. Ich muß<br />

noch viel von ihnen lernen.’<br />

Noch eine Zeitlang schunkeln Inge, Pastor und Peter. Dann<br />

schlendern sie Arm in Arm scherzend und lachend zurück zum<br />

Pastorenhaus. Dort packen sie den Picknickkorb. Die drei<br />

wollen ihre Mittagsmahlzeit <strong>im</strong> Ruderboot auf dem See einnehmen.<br />

Inge stellt Speisen und Getränke zusammen, Pastor<br />

und Peter packen ein. Dabei haben sie eine Menge Spaß.<br />

“Wie bringen wir den Korb zum See?”, fragt Peter.<br />

“Mit dem Rad, vorausgesetzt natürlich, du kannst radfahren.”<br />

“Ich kann.”<br />

“Nun seh’n Sie mal, Herr Pastor! Ist das nicht ein toller<br />

Hecht? Rudern kann der und Pfeife rauchen. Und nun auch<br />

noch radfahren!”<br />

Peter droht mit dem Zeigefinger, und dann n<strong>im</strong>mt er Inge in<br />

den Arm. “Habt ihr denn drei Fahrräder?”<br />

“Haben wir”, antwortet der Pastor schmunzelnd.<br />

Inge versucht abermals, <strong>im</strong> Radio etwas über das Wetter in<br />

Erfahrung zu bringen. Diesmal hat sie Glück. Das Meteoro-


362 EINSICHTEN<br />

logische Institut prophezeit Sonnenschein und Temperaturen<br />

bis zu sechsundzwanzig Grad. “Pr<strong>im</strong>a!” da kann ich ja mein<br />

schickes neues Sommerkleid anziehen.” Immer zwei Stufen<br />

auf einmal nehmend, stürmt sie die Treppe hinauf und<br />

verschwindet in ihrem Z<strong>im</strong>mer. Auch Pastor und Peter gehen<br />

in ihre Z<strong>im</strong>mer. Der Pastor wählt ein buntes Hemd und eine<br />

helle Mütze. Peter rollt seine dünne Windjacke zusammen. Er<br />

wird sie <strong>im</strong> Picknickkorb verstauen. Man weiß ja nie, ob man<br />

den Meteorologen trauen kann!<br />

Der Radweg ist gepflegt und eben. So macht das Radeln<br />

richtig Spaß. Vögel zwitschern, Schmetterlinge taumeln<br />

durch die Luft. Es duftet nach frisch geschnittenem Gras.<br />

Links und rechts des Weges eröffnen sich bezaubernde Blicke<br />

über Wiesen, Buschgruppen und Bäume. Am See<br />

angekommen, stellen sie ihre Räder ab in einem überdachten<br />

Fahrradstand. Dann gehen sie zurück zum Weg. Peter trägt<br />

den Picknickkorb.<br />

Jenseits einer kleinen Rasenfläche bleibt ein sorgfältig gekleideter<br />

Herr stehen. Er zieht den Hut, schwenkt ihn durch<br />

die Luft. “Ich hab’s geschafft!”, ruft er dem Pastor zu. “Ich<br />

hab’s gemacht!”<br />

Der Pastor winkt zurück. “Herzlichen Glückwunsch!”<br />

Nach einigen Schritten fragt Inge leise. “Darf man fragen,<br />

was der Herr gemacht hat?”<br />

“Er hat seine Sportausrüstung zerschlagen.”<br />

“Was? Ist das nicht eher ungewöhnlich?”<br />

“Leider.”<br />

“Was war denn das für eine Sportausrüstung?”, fragt Peter.<br />

“Angelruten und ein Jagdgewehr.”<br />

Vom Anleger her winkt der Chef der Bootsvermietung.<br />

Freudig-überrascht eilt er herbei und begrüßt die drei. Er<br />

verehrt den Pastor. Dessen Tochter kennt er, seit sie laufen<br />

kann. Oft ist sie mit ihren Freundinnen hier am See gewesen.<br />

Aber jetzt ist der Chef doch sprachlos über soviel Schönheit<br />

and Anmut. Einen Augenblick lang ist er ganz verwirrt und


Lebensfreude 363<br />

übersieht die Hand, die Peter ihm entgegenstreckt. Dann aber<br />

ergreift er die Hand und schüttelt sie mit Kraft und Herzlichkeit.<br />

Völlig außer sich ist der Chef über diesen unerwarteten<br />

Besuch. Wie ein Wiesel läuft er umher, wählt ein besonders<br />

schönes Boot aus, zieht es an der Leine an einen Platz,<br />

von dem aus das Einsteigen leicht bewerkstelligt werden<br />

kann, bringt Kissen herbei und schafft den Picknickkorb ins<br />

Boot. Schließlich fragt er, ob alles so in Ordnung sei. Als der<br />

Pastor bejaht und sich bedankt, hockt sich der Chef nieder<br />

und hält mit beiden Händen das Boot, bis alle drei<br />

eingestiegen sind und Platz genommen haben, Inge auf der<br />

Bank <strong>im</strong> Bug, der Pastor <strong>im</strong> Heck und Peter auf der Bank in<br />

der Mitte.<br />

“Ablegen!”, kommandiert Inge.<br />

Ein Schubs. Ein Wurf der Bootsleine. “Gute Fahrt!”, ruft der<br />

Chef und winkt. Und nun beginnt die Ruderpartie.<br />

Peter legt sich in die Riemen.<br />

“Nun seh’n Sie mal, Herr Pastor, der Botaniker kann<br />

tatsächlich rudern. Nicht berauschend, aber für den Anfang<br />

mag’s reichen. Ein bißchen mehr nach links, Herr Doktor!”,<br />

ruft Inge übermütig. “Noch mehr! So ist’s recht. Sie machen<br />

Fortschritte!”<br />

Natürlich weiß Peter, worauf sie da anspielt. “Paß du ja<br />

auf!”, sagt er und gibt sich Mühe, damit das wie eine Drohung<br />

klingt. “Paß nur auf, bis wir wieder an Land sind!” So kennt<br />

er Inge überhaupt nicht. ‘Sie muß sehr glücklich sein’, denkt<br />

er und freut sich darüber.<br />

Am Ufer, hinter einem Busch, hockt ein kleiner, untersetzter<br />

Mann. Den lauernd vorgestreckten Kopf aufgeregt hin- und<br />

herwendend, starrt er durch Äste und Blätter. Voller Ungeduld<br />

zerrt er ein kleines Fernglas aus der Jackentasche und hebt es<br />

mit zitternden Händen vor die Augen. Eine riesige braune<br />

Sportmütze mit mächtigem Schirm umschließt wie ein Ballon<br />

den Kopf. Die weite Windjacke vermag den Höcker hinter den


364 EINSICHTEN<br />

Schultern nicht völlig zu verbergen. Dünne Beine stecken in<br />

engen, dunkelblauen Jeans, große Füße in derben schwarzen<br />

Schuhen. Mit hämmerndem Herzen hatte der Maler die drei<br />

verfolgt. Geduckt war er von Busch zu Busch getrippelt. Sein<br />

Engel ist <strong>im</strong> Boot!!<br />

“Vorsicht Inge!”, ruft der Pastor, “lehn dich nicht zu weit<br />

über Bord!”<br />

“Ich kann schw<strong>im</strong>men! Allerdings weiß ich nicht, ob der<br />

Botaniker schw<strong>im</strong>men kann.”<br />

Peter läßt ein Ruder los und droht mit dem Finger. Hoppla!<br />

Um ein Haar wäre ihm das Ruder entglitten.<br />

“Also so was! Haben Sie das gesehen Herr Pastor? So eine<br />

Leichtsinnigkeit! Ich weiß nicht”, Inge schüttelt den Kopf, daß<br />

der Zopf von Schulter zu Schulter pendelt, “früher war das<br />

Bootspersonal hier zuverlässiger.”<br />

Peter schluckt. Ihm fehlen die Worte.<br />

“Dieses Boot ist glücklicherweise stabil”, wendet sich der<br />

Pastor an Peter. “Eine Zeitlang gab es keinen<br />

funktionstüchtigen Anleger am See. Der verlassene alte<br />

Anleger da hinten”, er zeigt auf eine ferne Uferpartie mit<br />

einer Holzkonstruktion, auf der eine in fl<strong>im</strong>mernder Luft<br />

zitternde weiße Bank zu erkennen ist, “entsprach nicht mehr<br />

in vollem Umfang den Vorschriften für einen Schiffsbetrieb.<br />

Und für die Bootsvermietung stand er wohl auch in zu tiefem<br />

Wasser. Entscheidend aber war, daß dieser Teil des <strong>Park</strong>s zum<br />

naturgeschützten Bereich erklärt wurde.”<br />

“Zur Wildnis”, sagt Inge.<br />

“Neue Anleger gab es noch nicht. In dieser Zeit lieh sich der<br />

Chef der Bootsvermietung ganz leichte Boote. Halb <strong>im</strong> Wasser<br />

und halb auf dem Ufer liegend, wurden sie trockenen Fußes<br />

von den Benutzern betreten und verlassen. Gestiefelt bis zu<br />

den Hüften, haben die Helfer des Chefs die Boote mitsamt der<br />

Benutzer ins Wasser geschoben und später wieder herausgezogen.<br />

Aber diese Boote kenterten leicht. Damit habe ich


Lebensfreude 365<br />

schon schlechte Erfahrungen machen müssen.”<br />

“Das kann man wohl sagen,” erinnert sich Inge. “Ich wollte<br />

Vater abholen. Schon von weitem erkannte ich, daß ein<br />

Boot gekentert war. Dann sah ich, daß Vater und die beiden<br />

Pastoren der Nachbargemeinden uferwärts schwammen.<br />

Voller Angst rannte ich an Bäumen und Büschen vorbei zu der<br />

Stelle, an der sie das Ufer erreichen mußten. Als ich dort<br />

ankam krochen die drei gerade an Land. Das war ein Bild!<br />

Ihre Haare hingen ins Gesicht und die dünnen schwarzen<br />

Sommeranzüge klebten am Körper. Drei schwarze Hüte<br />

dümpelten verlassen auf dem See. Viele Menschen hatten sich<br />

versammelt. Einige lachten schadenfroh. Aber die meisten<br />

klatschten den tüchtigen Schw<strong>im</strong>mern Beifall.”<br />

Die Sonne strahlt. Die Luft ist mild und klar, und sie riecht<br />

wunderbar frisch. Die weite Wasserfläche ist ganz glatt. Wie<br />

ein riesiger Spiegel liegt sie unter dem Boot. Kein Laut ist zu<br />

hören außer dem leisen Platschen und Knarren der Ruder,<br />

das jetzt verstummt. Mit der noch von den letzten Ruderschlägen<br />

in ihm wirksamen Energie treibt das Boot auf dem<br />

Wasser dahin. In sich gekehrt, mit entspannten Sinnen, erfreuen<br />

sich Inge, Pastor und Peter des herrlichen Sees.<br />

“Da!”, durchbricht Inges Flüstern träumendes Schweigen.<br />

Mit der ausgestreckten Rechten weist sie nach vorn und<br />

zur Seite. “Da!! Riesige Fische. Direkt unter der Wasseroberfläche.”<br />

Langsam treibt das Boot auf den linken Teil der Fischversammlung<br />

zu.<br />

Platschen, Spritzen, Gurgeln! Als wäre ein Ungeheuer in den<br />

See gesprungen: Wasserkaskaden, erpeitscht und in die Höhe<br />

geschleudert von den kräftigen Schwanzflossen der in ihrer<br />

Ruhe gestörten und in Panik wegtauchenden Seebewohner.<br />

Inge erstarrt. Und auch die Männer sind erschrocken. Allen<br />

dreien rinnt Wasser über Gesicht und Kleidung. Noch <strong>im</strong>mer<br />

wirbelt, wallt und schäumt es. Wellen breiten sich aus,<br />

verwandeln die Seeoberfläche in eine bewegte Wasserland-


366 EINSICHTEN<br />

schaft, in der reflektierende Sonnenstrahlen zu funkelnden<br />

Lichtblitzen werden.<br />

“Mein Gott!”, ruft Inge, als sie sich vom ersten Schreck erholt<br />

hat. “Sowas hab ich hier noch nie erlebt.”<br />

“Wissen Sie, was das für Fische sind?” fragt der Pastor den<br />

Ökologen.<br />

“Das sind Graskarpfen.”<br />

“Kann man die essen?”<br />

“Ja.”<br />

“Also eine Bereicherung unserer Speisekarte.”<br />

“Auch. Aber sie sind vor allem nützliche Vertilger von Unterwasserpflanzen<br />

und Schilf.”<br />

“Ich hatte mich schon darüber gewundert, daß die Gärtner<br />

nicht mehr wie früher das Schilf mähen.”<br />

“Die Arbeit erledigen jetzt diese Fische.”<br />

“Warum heißen sie Graskarpfen?”, fragt Inge.<br />

Peter greift zu Pfeife und Tabakbeutel. “Nachts, wenn alles<br />

schläft, kriechen sie auf die Wiese und fressen Gras.”<br />

“Waass??”<br />

“Wenn du nicht aufpaßt, werden sie sich auch noch an deine<br />

Erdbeeren ‘ranmachen.” Peter zwinkert dem Pastor zu. Der<br />

schmunzelt vor sich hin.<br />

“Diese Botaniker!”, ruft Inge, “die kohlen sich ganz schön<br />

was zusammen!”<br />

Peter schiebt das Mundstück seiner Pfeife zwischen die Zähne,<br />

ergreift die Ruder und treibt das Boot voran. Nach einer<br />

Weile entzündet er paffend den Tabak. Dann rudert er wieder<br />

weiter.<br />

“Wenn die Graskarpfen sich vermehren”, überlegt der Pastor,<br />

“besteht da nicht die Gefahr, daß sie allmählich alles<br />

kahl fressen <strong>im</strong> See?”<br />

“Die können sich bei uns nicht vermehren.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil ihr Fortpflanzungstrieb durch Umweltbedingungen<br />

angeregt wird, die es bei uns nicht gibt.”


Lebensfreude 367<br />

“Dann muß jeder Graskarpfen zu uns eingeflogen werden?”<br />

“Nein. Man kann erwachsene Fische künstlich in Fortpflanzungsst<strong>im</strong>mung<br />

versetzen.”<br />

“Künstlich?” Der Pastor schüttelt den Kopf. “Wie soll das<br />

funktionieren?”<br />

“Man spritzt ihnen Hormone.”<br />

“Das ist mir aber ein komisches Liebesleben!”<br />

“Im Prinzip nicht anders als bei Menschen. Auch bei uns<br />

wird Fortpflanzung durch Hormone geregelt.”<br />

Wieder schüttelt der Pastor den Kopf.<br />

“Und warum heißen sie Graskarpfen?”, beharrt Inge auf der<br />

Beantwortung ihrer Frage. Sie sieht Peter in die Augen. Als<br />

dort abermals Schalk aufblitzt, sagt sie: “Keine Märchen! Ich<br />

hab dir auch mein Gehe<strong>im</strong>nis anvertraut.”<br />

“Was für ein Gehe<strong>im</strong>nis?”<br />

“Nun hör sich das einer an! Hast du das schon vergessen?<br />

Das mit dem Fünf-Sterne-Kaffee?”<br />

“Wie könnte ich das vergessen!” Peter lacht. “Also, diese<br />

Fische nennt man Graskarpfen, weil sie tatsächlich Gras fressen.<br />

Wo sie am Ufer Gras erreichen können, wird es<br />

abgeweidet. Manchmal schieben sie sich dabei sogar mit dem<br />

Vorderkörper ein Stück aus dem Wasser.”<br />

“Ich hab Hunger”, sagt Inge.<br />

Der Pastor schmunzelt. “Auch ich würde mich nicht ungebührlich<br />

gegen ein Picknick sträuben. Was meinen Sie,<br />

Peter?”<br />

“Gern.”<br />

Inge setzt sich zu ihrem Vater auf die Bank <strong>im</strong> Heck, Peter<br />

wechselt zum Bug. Die mittlere Bank dient als Tisch, den Inge<br />

jetzt mit einem Papiertuch bedeckt. Darauf plaziert der Pastor<br />

Pappteller und Pappbecher. Inge packt belegte Brote aus,<br />

Äpfel, gekochte Eier und für jeden eine reife Pflaume.<br />

Der bucklige Zwerg ist seinem Engel gefolgt. Verbissen hat<br />

er sich durch Büsche gedrängelt, <strong>im</strong>mer am Ufer entlang, als


368 EINSICHTEN<br />

sei er durch eine unsichtbare Leine mit dem Boot verbunden.<br />

Nun klettert er auf eine Erle. Getarnt von dichtstehenden<br />

Blättern hockt er auf einem Ast wie ein riesengroßer böser<br />

Vogel. Unablässig starrt er zum Boot, mit zitterndem Herzen<br />

und zuckendem Gesicht.<br />

Aus der Thermosflasche füllt der Pastor die Becher mit Apfelsaft.<br />

“Hier ist Pfeffer und Salz.” Mit der Hand wirft Inge ihren<br />

Zopf in den Nacken. “Der Nachtisch ist noch <strong>im</strong> Korb. Den<br />

gibt’s aber nur für ganz artige Jungen.”<br />

“Oho!”, protestiert der Pastor, “wir sind <strong>im</strong>mer artig!”<br />

“Na ich weiß nicht”, Inge wiegt den Kopf, “der da mit Bart<br />

und Brille …”<br />

“Das ist denn doch die Höhe! Jetzt hab ich die ganze Zeit<br />

gerudert wie ein Galeerenknecht und dann so was!” Peter<br />

m<strong>im</strong>t den Gekränkten, macht ein trauriges Gesicht.<br />

Als Inge das sieht, lacht sie aus vollem Halse. Ihr Herz<br />

springt vor Vergnügen, und ihr helles Lachen perlt weit über<br />

den See. “Armer Junge”, sagt sie, “sei nicht traurig, du kriegst<br />

auch was ab.”<br />

Schmunzelnd erhebt der Pastor seinen Pappbecher: “Prost<br />

ihr beiden!”<br />

“Prost!”<br />

Enten fliegen vorbei, kommen zurück, kreisen und sausen auf<br />

das Boot zu. Mit starren Flügeln die Balance haltend, nähern<br />

sie sich der Wasseroberfläche. Beine nach vorn, Schw<strong>im</strong>mfüße<br />

gespreizt, zischen sie ins Wasser. Rasch sinken sie in<br />

Schw<strong>im</strong>mposition, schütteln das Gefieder, wackeln mit den<br />

Schwanzdecken, nicken nach Entenart, quaken und schnattern.<br />

Schnabel senkend nehmen sie Wasser auf, heben den Kopf<br />

und lassen das Wasser den langen Hals hinunterrinnen. Ein<br />

paar abwägende Blicke mit schräg gestelltem Kopf, und schon<br />

kommen sie herangepaddelt, schw<strong>im</strong>men um das Boot herum<br />

und betteln um ihren Anteil am Mittagessen.


Lebensfreude 369<br />

“Kommt nur näher”, ruft Inge und wirft den Enten ein<br />

Stückchen Brot zu. Auf dieses Signal haben die gewartet.<br />

Flügelschlagend und Beine tretend stürzen sie herbei. Auch<br />

Pastor und Peter beteiligen sich an der Fütterung. Gierig versuchen<br />

die Enten, sich gegenseitig an Geschwindigkeit und<br />

Geschicklichkeit zu übertreffen. Sie haben alle Scheu verloren.<br />

“Du hast schon am meisten gekriegt”, ermahnt Inge einen<br />

besonders aggressiven Enterich, “nun laß auch mal die<br />

anderen ran!” Dann sagt sie zu ihrem Vater, “füttere du den<br />

Lümmel mal. Lenk ihn ab, dann kann ich den dreien dort<br />

hinten auch mal was zukommen lassen.”<br />

“Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?”, fragt der Pastor.<br />

“Oh, ja”, juchzt Inge “und einen leckeren Kuchen!”<br />

“Klingt gut”, sagt Peter. “Im See-Café?”<br />

“Ja.”<br />

Peter wendet das Boot und n<strong>im</strong>mt Kurs. “Bitte gib mir<br />

Richtungsanweisungen. Ich habe hinten leider keine Augen.”<br />

“Mit dem größten Vergnügen. Dir wollte ich schon <strong>im</strong>mer<br />

gerne mal Richtungsanweisungen geben!”<br />

Während der Rückfahrt herrscht Schweigen. Inge gibt ihre<br />

Anweisungen per Hand. Alle drei genießen den Frieden und<br />

die Stille. Vor dem Boot schw<strong>im</strong>mt ein Tauchvogel. Plötzlich<br />

schwuppst er nach vorn und verschwindet unter der Wasseroberfläche.<br />

In der Ferne winken Segel, weiße, schwarze, gelbe,<br />

rote. Nur das rhythmische Klatschen und Knarren der Ruder<br />

ist zu hören.<br />

Erst als sie dem Anleger schon recht nahe sind, kommen andere<br />

Geräusche hinzu. Aus der Geräuschkulisse löst sich Gesang.<br />

Händehaltend tanzen Kinder <strong>im</strong> Kreis, wie sich später<br />

herausstellt, um einen Topf mit frisch geernteten Möhren.<br />

Jetzt kann man auch die Worte verstehen, die die hellen<br />

St<strong>im</strong>men hinausschmettern:<br />

… Eure Fehler, Euer Borgen,<br />

die drücken uns noch morgen.


370 EINSICHTEN<br />

Ihr meckert an uns rum<br />

und haltet uns für dumm.<br />

Doch macht Ihr uns nicht bang.<br />

Was Ihr könnt, könn’n wir lang.”<br />

Kinder sind wir heut,<br />

doch bald schon sind wir Leut.<br />

Eure Fehler, Euer Borgen,<br />

die drücken uns noch morgen.<br />

Was wollt Ihr uns denn lehren?<br />

Zwar könn’ wir uns nicht wehren,<br />

doch was wir von Euch sehen,<br />

läßt uns die Lust vergehen,<br />

auf Euch noch lang zu hören.<br />

Wir sind’s, die sich empören!<br />

Und dann ruft ein großes Mädchen noch: “Wir sind die neuen<br />

Gören, wir haben’s satt auf euch zu hören, – da ess’n wir<br />

lieber Möhren!” Alles lacht und schreit durcheinander. Dann<br />

löst sich der Kreis auf.<br />

“Wahrlich”, sagt der Pastor leise, “die Kinder haben recht.”<br />

“Was meinst du?”<br />

“Ich meine das, was die Kinder da gesungen haben. Ihre<br />

Vorwürfe sind berechtigt. Wir zerstören ihre Lebensgrundlagen.<br />

Wir machen Schulden, für die sie ihr ganzes Leben<br />

werden zahlen müssen. Eines Tages werden die Macht und<br />

das Recht in ihren Händen liegen. Eines Tages werden sie<br />

über uns richten.”<br />

Da kommt der Chef herbeigelaufen. Er winkt mit beiden<br />

Armen und dirigiert Peter in eine <strong>Park</strong>bucht. Noch bevor das<br />

Boot die Holzbalken des Anlegers erreicht, packt er den Bug,<br />

zieht ihn zu sich heran, übern<strong>im</strong>mt die Leine und befestigt sie<br />

an einem Anlegerpfahl. Dann hockt er sich nieder wie vorhin,<br />

hält das Boot fest und sichert so das Aussteigen. Er sammelt<br />

Picknickkorb, Kissen und die Reste der Mahlzeit ein. “Wie


Lebensfreude 371<br />

war’s, Herr Pastor? Hatten Sie eine gute Ruderpartie? War<br />

alles in Ordnung?”<br />

“Es war alles perfekt. Herzlichen Dank!” Der Pastor zückt<br />

seinen Geldbeutel. Doch der Chef wehrt heftig ab. “Nein, Herr<br />

Pastor, auf keinen Fall. Sie und Ihre Familie sind meine Gäste.”<br />

Aber der Pastor n<strong>im</strong>mt das nicht an. Er bedankt sich nochmals,<br />

legt dem Chef eine Hand auf die Schulter, schmunzelt,<br />

und dann steckt er ihm mit der anderen Hand einen Geldschein<br />

in die Jackentasche.<br />

Der Chef macht eine tiefe Verbeugung. Er ist ein eher ekkiger<br />

und ausdrucksarmer Mann, aber den Pastor verehrt er<br />

wie keinen anderen Menschen auf der Welt.<br />

Das nahe See-Café liegt auf einer winzigen Insel. An deren<br />

Zuwegung angekommen, parken Inge, Pastor und Peter ihre<br />

Räder. Die Insel selbst ist nur über eine schmale Fußgängerbrücke<br />

zu erreichen. Dabei muß man zwei vom Pächter<br />

konstruierte Türschleusen passieren. Sie verhindern ein Entkommen<br />

seiner frei umherlaufenden Tiere: Perlhühner,<br />

Meerschweinchen und Affen. Das Gebäude ist ein Schmuckstück<br />

aus weißem Klinker, dunkelbraunen Sprossenfenstern<br />

vor weißen Tüllgardinen und einem weit hinunterreichenden<br />

Reetdach. Im Gänsemarsch, Inge voran, steigen sie Stufen<br />

empor und betreten nun eine Terrasse, auf der in riesigen<br />

Holzkübeln große Bäume wachsen.<br />

Der Pastor wählt einen Tisch direkt am Wasser. Lächelnd<br />

einander zunickend, rücken sie ihre Stühle zurecht und<br />

nehmen Platz. Der weite See, über dem die Sonne jetzt schon<br />

tief steht, wirkt beruhigend und erfrischend zugleich. In<br />

Sonnenstrahlen aufleuchtend, winkt aus der Ferne die weiße<br />

Bank auf dem verwaisten Anleger zu ihnen herüber. Und<br />

rechts, noch weiter weg, verschw<strong>im</strong>men die riesigen Baumveteranen<br />

der Wildnis in Dunst und Weite. Eine entspannte,<br />

zufriedene Nachdenklichkeit breitet sich aus.<br />

Auf Inges Zopf, dessen Ende jetzt vorn über ihrer linken


372 EINSICHTEN<br />

Schulter liegt, landet ein großer schwarzer Käfer. Vielleicht<br />

will er sich dort nach langem Flug über das Wasser ausruhen.<br />

Als Inge ihn mit angezogenem Kinn fixiert, verhakt er sich in<br />

ihren Haaren. Er verliert den Halt und beginnt zu strampeln.<br />

Inge greift nach ihm mit langen, zarten Fingern. “Hab keine<br />

Angst, du”, sagt sie leise. “Ich will dir helfen. Bei mir findest<br />

du ohnehin nichts zu fressen.” Jetzt hat sie den Käfer befreit<br />

und läßt ihn an ihrem senkrecht emporgestreckten Zeigefinger<br />

hochkriechen. “Flieg, Käfer, flieg!”, singt sie. “Glück für<br />

Dich! Und bring auch du mir Glück!” Da pumpt der Käfer ein<br />

paarmal, entfaltet seine Flügel und surrt davon.<br />

Inge blickt ihm nach. In seichtem Auf und Ab und sachtem<br />

Hin und Her zieht er seine Bahn. “Ein schöner Käfer”, sagt<br />

sie. “Sicher wird er mir Glück bringen.”<br />

‘Wenn er es könnte’, denkt Peter, ‘ich bin gewiß, er würde es<br />

tun.’ Die beiden sehen einander an, Aug in Aug: “Ja, ich hoffe<br />

er bringt dir Glück!”<br />

Der Pächter kommt. “Dre<strong>im</strong>al Kaffee und dre<strong>im</strong>al Apfelkuchen<br />

mit Sahne”, sagt der Pastor.<br />

Peter hängt seinen Gedanken nach. “Glück”, sagt er<br />

versonnen. Abermals treffen sich zwei Augenpaare. “Was ist<br />

das für dich?”<br />

“Das, was ich <strong>im</strong> Augenblick empfinde. Ich bin sehr<br />

glücklich.”<br />

Wer wollte ihr widersprechen? Dieser schönen jungen Frau<br />

mit den strahlenden blauen Augen, dem zauberhaften Lächeln,<br />

den schneeweißen, von vollen roten Lippen umrahmten<br />

Zähnen, den in der Sonne leuchtenden, langen blonden Haaren?<br />

Ein Maler, der das Glück in einem Bild festhalten wollte<br />

– wie könnte er ein eindrucksvolleres Motiv, wie ein geeigneteres<br />

Modell finden?<br />

Als die beiden Männer nichts sagen, ruft Inge: “Meint ihr<br />

nicht, daß ich glücklich bin?” Mit einer kecken Bewegung<br />

ihres Kopfes schwingt sie den Zopf auf die andere Schulter.<br />

Dann sieht sie mit blitzenden Augen die beiden Männer an,


Lebensfreude 373<br />

einen nach dem anderen – die beiden Männer, die ihr alles<br />

bedeuten, die ihr ganzes Leben ausmachen, und die jetzt so<br />

friedlich vereint neben ihr sitzen.<br />

“Ja doch”, sagt der Pastor, “ja. Wir alle drei haben viel<br />

Grund, glücklich zu sein – und dankbar.”<br />

“Ich hoffe, ich wünsche mir so sehr, daß dieses Glück ewig<br />

währt.”<br />

Peters Blick wandert über den See, dann über die Büsche<br />

und Bäume am Ufer. “Das kann es leider nicht”, sagt er.<br />

“Glück ist vergänglich, wie alles auf der Welt. Ein Glück, das<br />

dauert, hört auf, ein Glück zu sein.” Er sieht Inge in die Augen:<br />

“Wer sich zu sehr nach dem Glück sehnt, dem wird nicht<br />

selten Unglück aus dem Glück.”<br />

Inge legt die Hand auf den Arm ihres Vaters: “Herr Pastor,<br />

bitte sagen Sie dem jungen Mann da, daß er unrecht hat.”<br />

“Der Peter hat nicht unrecht.” Mit der freien Hand zieht der<br />

Pastor die Sportmütze tiefer ins Gesicht. “Es kommt aber<br />

<strong>im</strong>mer darauf an, was man unter Glück versteht und wie man<br />

damit umgeht.”<br />

Peter holt seinen Tabakbeutel hervor und seine Pfeife. Beides<br />

legt er vor sich auf den Tisch. Dann beginnt er damit, sich ein<br />

Pfeifchen zu stopfen. “Glück”, sagt er dabei, “das ist ein vorübergehender<br />

Zustand. Du kannst hier nicht einen ganzen Tag<br />

lang sitzen und erwarten, daß das Glücksgefühl, das du in<br />

diesem Augenblick empfindest, die ganze Zeit über anhält.”<br />

“Mußt du denn <strong>im</strong>mer alles zerreden? Ich bin ganz einfach<br />

glücklich. Sehr glücklich sogar. Und ich habe gerade jetzt das<br />

Gefühl, daß das auch so bleibt.”<br />

Irgendetwas irritiert sie plötzlich. Langsam hebt sie den<br />

Kopf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Terrasse sitzt ein<br />

kleiner, merkwürdiger Mann. Er trägt eine sehr große Sportmütze<br />

und eine Sonnenbrille, deren riesige schwarze Gläser<br />

sein Gesicht bis auf den Wulstlippenmund nahezu vollständig<br />

verdecken. Die schwarzen Gläser sind auf sie gerichtet. Als


374 EINSICHTEN<br />

ihr Blick die Gläser trifft, zuckt der Mann zusammen und<br />

wendet den Kopf zur Seite. – Es war schwierig für den Maler,<br />

den dreien zu folgen. Außer sich war er vor Wut, als sie plötzlich<br />

vom Bootsanleger wegradelten. Aber er hatte ihr Ziel<br />

erahnt. Im See-Cafe hat er das Ebenbild des Engels tief in<br />

sich hineingesogen. Minutenlang. Diese Vollkommenheit,<br />

dieses Meisterwerk der Natur, vor dem selbst seine besten<br />

Bilder nicht bestehen können. Diese Unschuld. Dieser Wisser<br />

um seine Schuld. Verflucht sei diese Kreatur! Wieder zuckt er<br />

zusammen. Angst flammt auf. Und dann, ganz plötzlich,<br />

glaubt er, <strong>im</strong> Engel seinen Richter zu erkennen. Er preßt die<br />

Lippen aufeinander, so fest, daß alles Blut aus ihnen weicht.<br />

‘Ich muß den Engel loswerden!’<br />

“Der Peter hat recht”, sagt der Pastor. “Leider. Aber in dem,<br />

was er sagt, liegt doch auch Trost. So haben auch die weniger<br />

glücklichen Zeiten, ja, sogar die traurigen, eine wichtige<br />

Funktion. Trauer bereitet den Weg zu neuem Glück.” Er<br />

schweigt. Dann sagt er: “Dafür gibt es ein eindrucksvolles<br />

Beispiel aus meinem Leben.”<br />

Inge weiß, wovon er redet. Sie schmiegt sich an ihren Vater<br />

und streichelt dessen Hände. Die liegen gefaltet vor ihm auf<br />

rot-weiß kariertem Tuch. Ihr Blick wandert noch einmal hinüber<br />

zu dem Tisch, an dem der seltsame Mann gesessen hatte.<br />

Der Tisch ist leer. Sie sieht sich um. Der Mann ist spurlos<br />

verschwunden.<br />

Ganz gegen seine Gewohnheit ist es nun der Pastor, der<br />

noch einmal zurückfindet in das Thema, das eigentlich schon<br />

ausdiskutiert war. “Wie relativ Glück sein kann”, sagt er, “das<br />

geht auch aus einer Geschichte hervor, die mir ein Freund<br />

erzählt hat.<br />

Der Zweite Weltkrieg ging zuende. Während eines Lehrgangs<br />

teilte der Freund ein Kasernenz<strong>im</strong>mer mit einem Offizierskameraden.<br />

Seit Wochen hatte es nur sehr wenig und gar<br />

nichts Vernünftiges zu essen gegeben. Die beiden waren total


Lebensfreude 375<br />

ausgehungert. Als sie eines Tages in ihr Z<strong>im</strong>mer kamen, lag<br />

da ein Paket auf einem kleinen Tisch. Das abgegriffene<br />

braune Packpapier war verschnürt mit altem, auffaserndem<br />

Bindfaden. ‘Das Paket kam von meiner Mutter’, erzählte mir<br />

der Freund, ‘zu meinem Geburtstag. Den hatte ich<br />

vollkommen vergessen. Mein Kamerad machte sofort kehrt<br />

und war bereits dabei, das Z<strong>im</strong>mer wieder zu verlassen. Er<br />

ahnte wohl, daß etwas Eßbares in dem Paket war. Ich lief ihm<br />

nach und hielt ihn am Arm zurück. Dann verschloß ich die<br />

Tür. Wie zwei Verschwörer hockten wir einander gegenüber<br />

an dem Tisch. Ich öffnete das Paket. Darin war ein Kuchen.<br />

Unansehnlich und ganz trocken. Den teilen wir uns, sagte ich.<br />

Mein Kamerad, ein harter Soldat, der schon viel Schl<strong>im</strong>mes<br />

<strong>im</strong> Krieg erlebt hatte, schluchzte: Das werde ich dir nie vergessen!<br />

Über den Tisch hinweg ergriff er meine Hand und<br />

schüttelte sie lange. Gemeinsam verschlangen wir den Kuchen.<br />

Er war sehr glücklich. Und ich war es auch.’<br />

So einen Kuchen”, fährt der Pastor fort, “den würden wir<br />

heute mit Empörung zurückweisen.” Er nickt. “Ein und<br />

derselbe Kuchen kann großes Glück bedeuten, aber auch ein<br />

großes Ärgernis. Das hängt ganz davon ab, was man vorher<br />

erlebt hat.”<br />

“Siehst du”, sagt Peter, “Glück ist …” Er schweigt. Dann<br />

sagt er: “Wir Menschen sind merkwürdige Wesen. Wir denken<br />

und empfinden in Gegensätzen: Schwarz-Weiß, Kalt-<br />

Heiß, Gut-Böse, Glück-Unglück. Und wir merken nicht e<strong>im</strong>al,<br />

daß diese Begriffspaare nichts anderes sind als jeweils<br />

entgegengesetzte Enden ein und derselben Meßlatte.”<br />

“Wichtiger als die Suche nach dem eigenen Glück”, sagt der<br />

Pastor, “sind der Wille und die Fähigkeit, das Leid anderer zu<br />

lindern.”<br />

Mit weißem Spitzenhäubchen auf schwarzem Haar tänzelt,<br />

erhobenen Armes ein Tablett balancierend, eine Kellnerin<br />

herbei. Auf dem Tablett dampfen drei Tassen duftenden Kaffees.<br />

Und unter üppigen Sahnehauben locken frischgebak-


376 EINSICHTEN<br />

kene Apfelkuchen.<br />

“Ohh!”, ruft Inge, “das sieht ja lecker aus!”<br />

Die Kellnerin serviert. Sie lächelt den Pastor an. Der nickt<br />

ihr zu. “Prost Kaffee!”, ruft er. Strahlend erheben Inge und<br />

Peter ihre Tassen.<br />

“Hmm”, macht Peter, “schmeckt pr<strong>im</strong>a.” Er legt seinen Arm<br />

um Inges Taille. “Aber bei weitem nicht so gut wie dein Fünf-<br />

Sterne-Kaffee.”<br />

Inge und Peter sehen einander in die Augen. Ein Blick<br />

voller Liebe. Zärtlich zieht Peter seine Freundin an sich.<br />

Dann streichelt er über ihren Scheitel.<br />

Mit großem Vergnügen machen die drei sich über die Apfelkuchen<br />

her. Kaum hat Inge den ersten Bissen hinuntergeschluckt,<br />

da sagt sie: “Aber sieh mal, Vater, du und ich, wir<br />

beide leben doch schon seit vielen Jahren <strong>im</strong> Glück<br />

miteinander. Oder etwa nicht?”<br />

“Ja, Inge, und dem Herrn sei Dank dafür.”<br />

“Warum muß sich das ändern?”<br />

“Es muß sich nicht ändern. Unser Glück beruht auf einer<br />

besonderen Konstellation. Wir beide geben uns unablässig<br />

Mühe <strong>im</strong> Umgang miteinander. Wir stellen keine großen Ansprüche.<br />

Unsere Welt wird nicht von Fordern und Habenwollen<br />

beherrscht, sondern von Geben und Dankbarsein.<br />

Hinzu kommt, daß wir beide durch den Verlust deiner Mutter<br />

so unendlich viel Leid erfahren haben, daß uns dadurch ein<br />

Fundament gewachsen ist, das auch unendlich viel Glück zu<br />

tragen vermag. Und du und ich, wir leben in Gott.”<br />

“Ja”, sagt Inge und legt ihrem Vater beide Hände auf den<br />

Arm.<br />

Peter ist wiederum bewegt von dieser besonderen Beziehung<br />

zwischen Vater und Tochter. Verstohlen blickt er von<br />

seinem Apfelkuchen auf und zu den beiden hinüber.<br />

Noch <strong>im</strong>mer ruhen Inges Hände auf dem Arm des Pastors.<br />

Dessen freie Hand legt sich jetzt langsam, wie schützend,<br />

über die zarten Finger. Inges Augen suchen und finden die


Lebensfreude 377<br />

ihres Vaters: “Und was ist mit dem h<strong>im</strong>mlischen Glück? Verheißt<br />

nicht die Bibel guten Menschen ewiges Glück <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel?”<br />

Peter will antworten. Aber er schweigt. Und er denkt: ‘Wo<br />

ist der H<strong>im</strong>mel? Wo sind sie, die guten Menschen? Ist der<br />

Mensch nicht beides, gut und böse? Und wurde die Bibel nicht<br />

von Menschen geschrieben? Und ist sie nicht voll von unglaubwürdigen<br />

Verheißungen, die Bibel?’ Mit gesenktem Kopf<br />

blickt er stumm vor sich hin.<br />

Und der Pastor? Ganz unerwartet wird er der Notwendigkeit<br />

enthoben, auf eine so schwierige Frage zu antworten.<br />

Und das kommt so: Einer der Affen des Café-Pächters saß <strong>im</strong><br />

Baum. Direkt über dem Tisch der drei. Lungernd hatte er<br />

auf seinen Lieblingskuchen gestarrt. Immer näher hatte es<br />

ihn gedrängt an diese Köstlichkeit. Gierig hatte er den Arm<br />

weit vorgestreckt und mit Fingern und Zehen einen daumendicken,<br />

morschen Ast umklammert. Immer weiter hatte er<br />

sich vorgewagt. Plötzlich war der Ast gebrochen – mit lautem,<br />

berstenden Knacken!! Wild mit Armen und Beinen in der Luft<br />

herumrudernd stürzt er auf den mit Sahne bedeckten Apfelkuchen<br />

vor dem Pastor. Der Affe kreischt, stößt Inges Kaffeetasse<br />

um und rennt, noch <strong>im</strong>mer kreischend, davon.<br />

Da sitzt er nun, der Herr Pastor. Gesicht, Hemd und Hose<br />

sind über und über mit Sahnespritzern und Kuchenstückchen<br />

bekleckert. Aber nach dem ersten Schreck schmunzelt das<br />

sonnengebräunte Gesicht. Und nun lacht es gar. Und Inge<br />

und Peter und auch die Gäste am Nachbartisch, sie alle<br />

lachen mit.<br />

Der Pächter stürzt herbei und auch die Kellnerin. Sie hat<br />

ein Tuch in der Hand. Beide entschuldigen sich. Eifrig beginnt<br />

die Kellnerin damit, den Pastor zu säubern. Der nickt ihr<br />

freundlich zu, n<strong>im</strong>mt ihr das Tuch aus der Hand, steht auf<br />

und vollendet das Säuberungswerk. “So ein Kerl”, sagt er<br />

dabei, “so ein Kerl! Aber ich glaube, der hat sich noch mehr erschrocken<br />

als ich.”


378 EINSICHTEN<br />

Die Kellnerin bringt einen neuen Apfelkuchen mit einem<br />

riesigen Sahneberg darauf. Und Inge bekommt eine frische<br />

Tasse Kaffee.<br />

Als die drei auf dem Weg zu ihren Rädern die schmale<br />

Brücke hinter sich lassen, sieht Inge, wie sich die Äste eines<br />

Busches bewegen. Und dann erkennt sie, für eine Sekunde<br />

nur, den kleinen Mann mit der großen Sonnenbrille. Hastig<br />

drängelt er durch Blätterwerk.<br />

Tagelang hatte der Maler keine Ruhe finden können. Das<br />

Bild des Engels hatte ihn verfolgt, pausenlos, erbarmungslos.<br />

Selbst nachts, wenn er sich eingeschlossen hatte in seinem<br />

großen Schlafz<strong>im</strong>mer, konnte er dem Engel nicht entkommen.<br />

Er war einem Nervenzusammenbruch nahe. Da war er zum<br />

<strong>Park</strong> gefahren und hatte sich <strong>im</strong> Wagen verkleidet. ‘Ich muß<br />

den Engel suchen. Ich muß ihn finden. Im <strong>Park</strong>. In seinem<br />

Haus, seinem Z<strong>im</strong>mer, seinem Bett! Dieser verfluchte Engel!<br />

Ich muß ihn loswerden!!’<br />

Streitgespräch<br />

Die letzten goldroten Strahlen der Abendsonne sind hinter<br />

den Baumkronen versunken. Der H<strong>im</strong>mel wird fahl. Dämmerung<br />

kriecht in den <strong>Park</strong>. In der Küche des Pastorenhauses<br />

flammt Licht auf. Im Wohnz<strong>im</strong>mer kniet Peter vor dem<br />

Kamin. Er schiebt Zeitungspapier unter Zweige. Dann entzündet<br />

er es. Flammen züngeln. Es knistert und knackt.<br />

Flackernder Feuerschein belebt das dunkle Z<strong>im</strong>mer.<br />

Weinflaschen in den Armen, kommt der Pastor zurück aus<br />

dem Keller. Mit dem Ellenbogen schließt er die Tür. Er setzt<br />

die Flaschen ab auf dem Eichentisch, schaltet das Licht ein<br />

und sucht eine Flasche aus. Schmunzelnd wendet er sich der<br />

Schublade zu und entn<strong>im</strong>mt ihr einen Korkenzieher. Sorgfältig<br />

dreht er ihn ein und klemmt die Flasche zwischen die


Streitgespräch 379<br />

Schenkel. Dann beginnt er damit, den Korken zu ziehen. Der<br />

sitzt erstaunlich fest. Mit hochrotem Gesicht kämpft der<br />

Pastor mit dem störrischen Korken. Als Peter das sieht,<br />

springt er hinzu. Doch jetzt kommt der Korken in Bewegung.<br />

Mit einem empörten ‘Propp’ verläßt er widerwillig, aber mit<br />

großem Schwung den Ort, an dem er so lange geruht hatte.<br />

Der Pastor prüft Korken und Wein. Dann schenkt er ein, zuerst<br />

Peter, dann sich.<br />

Inge bereitet in der Küche das Abendessen zu.<br />

“Zum Wohl!”, nickt der Pastor, mit noch <strong>im</strong>mer gerötetem<br />

Gesicht.<br />

“Zum Wohl.”<br />

Voller Behagen genießt der Hausherr den ersten Schluck<br />

seines Lieblingsweines. Dann läßt er sich mit einem<br />

fröhlichen Seufzer in den Sessel fallen. “Das war ein<br />

herrlicher Ausflug in Gottes Natur”, sagt er und n<strong>im</strong>mt sich<br />

seinen Zigarrenkasten vor.<br />

“Mir hat das auch große Freude bereitet.” Peter holt Tabakbeutel<br />

und Pfeifchen hervor.<br />

“Das Feuer tut gut”, sagt der Pastor. “Der Herbst kündigt<br />

sich an.” Er beschneidet, befeuchtet und entzündet seine Zigarre.<br />

Ihm ist so richtig wohl zumute. Und er ist seinem<br />

Herrn unendlich dankbar dafür, daß Inges Freund ein so<br />

guter Kerl ist. Immer wieder hatte ihn die Furcht geplagt, daß<br />

seine Tochter eines Tages einen Mann ins Haus bringen könnte,<br />

der so gar nicht zu ihnen paßt, der diese einmalige Beziehung,<br />

die ihn mit seiner Tochter verbindet, nachhaltig<br />

stören könnte. Als er dann hörte, daß Inge einen Wissenschaftler<br />

kennengelernt hatte, und als sie ihm von ihren ersten<br />

Gesprächen berichtete, da schienen sich seine schl<strong>im</strong>msten<br />

Befürchtungen zu bewahrheiten. Niemals hätte er sich Inge<br />

in den Weg gestellt. Niemals aber auch hätte er nach dem Tod<br />

seiner Frau einen Bruch mit seiner Tochter ertragen können.<br />

Eine Trennung von Inge hätte er nicht überlebt.<br />

Hausherr und Gast paffen vergnügt vor sich hin. Da klingelt


380 EINSICHTEN<br />

das Telephon. Als der Pastor gerade dabei ist, sich zu erheben,<br />

kommt Inge aus der Küche gelaufen. Sie winkt ihrem Vater,<br />

wieder Platz zu nehmen, und n<strong>im</strong>mt den Hörer ab.<br />

Eine Weile horcht sie mit zunehmend besorgtem Gesicht.<br />

Dann schüttelt sie energisch den Kopf und ruft in den Hörer:<br />

“Nein … Nein! Tu das bitte nicht … auf gar keinen Fall! Bitte<br />

warte auf mich … Ja … Ich komme sofort!” Sie wendet sich<br />

den beiden Männern zu: “Meine Freundin ist in großen<br />

Schwierigkeiten. Ich muß sofort zu ihr. Bitte habt Verständnis.<br />

Sie braucht dringend Hilfe und Beistand.”<br />

“Ich komme mit”, ruft der Pastor und springt aus seinem<br />

Sessel.<br />

“Nein! Das ist eine reine Frauenangelegenheit. Ich komme<br />

so schnell wie möglich zurück.” Und schon ist Inge in der<br />

Küche verschwunden. Kurz darauf rennt sie aus dem Haus.<br />

Die beiden Männer sehen sich ratlos an.<br />

Der Pastor zieht an seiner Zigarre und nickt vor sich hin.<br />

‘Frauenangelegenheiten’, denkt er. ‘Ja, die Frauen. Sie erleben<br />

manches anders als wir Männer. Sie haben ihre eigenen<br />

Angelegenheiten. Und sie haben ihre eigenen Erlebnisformen.<br />

Zum Feinen wie zum Groben, zum Milden wie zum Wilden,<br />

zum Lieben wie zum Hassen.’<br />

“Kennen Sie die Freundin?”<br />

“Inge hat mehrere Freundinnen. Ich habe keine Ahnung,<br />

wer da angerufen hat oder um was es sich handeln könnte.”<br />

Der Pastor zuckt die Schultern. “Aber ich bin mir sicher, Inge<br />

wird das Richtige tun.”<br />

Als Inge den kleinen Wagen eilig durch die Straßen lenkt,<br />

schon mitten auf dem Wege ist zu ihrer Freundin, da wird ihr<br />

erst so richtig klar: Vater und Peter sind zum erstenmal allein<br />

<strong>im</strong> Haus! Diese beiden so verschiedenen Männer, mit so verschiedenen<br />

Lebenserfahrungen, mit einer so verschiedenen<br />

Art zu denken, zu fühlen, die Welt zu sehen. Es muß, es wird<br />

ein Gewitter geben! Aber, denkt sie weiter, das kann ich auf


Streitgespräch 381<br />

die Dauer ohnehin nicht verhindern. Ich kann nur hoffen und<br />

beten, daß es nach dem Gewitter weitergeht, daß das Gewitter<br />

die Luft reinigt, Klarheit schafft, aber nichts unwiederbringlich<br />

zerstört. Es muß sich zeigen, wie das ausgeht.<br />

Was aber, wenn es schief geht? Mit Peter könnte ich ohne<br />

Vater nicht leben. Aber auch ohne Peter möchte ich jetzt nicht<br />

mehr sein. Sie schüttelt den Kopf. Auch ohne Peter könnte ich<br />

nicht leben. Sie hält Zwiesprache mit ihrem Gott. Bittet ihn,<br />

fleht ihn an, ihr beizustehen, ihr zu helfen. Ihrem Vater und<br />

ihrem Peter zu helfen.<br />

Der Pastor hat nachgeschenkt. Die Männer prosten<br />

einander zu. Jeder denkt dabei an Inge, aber keiner sagt es.<br />

Beide lieben Inge, jeder auf seine Weise. Beide wissen, daß sie<br />

ohne diesen Engel nicht leben können. Und sie wissen auch,<br />

daß Inge sie beide braucht. Was für eine Situation! Bei der<br />

Verschiedenheit dieser beiden Männer!!<br />

Aber Hoffnung ist geke<strong>im</strong>t und gewachsen. Hoffnung auf<br />

ein Arrangement, auf einen Kompromiß. Beide suchen<br />

danach. In zunehmendem Maße haben sie einander schätzen<br />

und die Aufrichtigkeit des anderen respektieren gelernt. Hier<br />

kann der Schlüssel liegen für die Vermeidung einer<br />

Katastrophe, für die Gestaltung der Zukunft: Wahrhaftigkeit<br />

und gegenseitige Achtung in Kenntnis und Anerkenntnis<br />

unüberbrückbarer Unterschiede.<br />

So tasten sich Pastor und Peter mit großer Vorsicht an die<br />

Diskussion heran, die nun unvermeidbar geworden ist, an die<br />

geistige Auseinandersetzung, die sie führen müssen, ganz<br />

gleich, ob jetzt oder später, an das Streitgespräch, das über<br />

das Schicksal von drei Menschen entscheiden wird. So wie sie<br />

beschaffen sind, müssen sie diese Auseinandersetzung mit<br />

offenem Visier austragen.<br />

‘So sei es denn’, denkt der Pastor und zieht an seiner Zigarre.<br />

Er bläst den Rauch zur Decke, etwas kräftiger und energischer<br />

als sonst. Dann beginnt er mit einem Thema, zu dem sich


382 EINSICHTEN<br />

Peter bereits in einer Weise geäußert hatte, die darauf<br />

schließen läßt, daß hier noch am ehesten gemeinsamer Grund<br />

gefunden werden kann. “Sie haben sich”, sagt er mit ruhiger<br />

St<strong>im</strong>me, “zum Thema Toleranz geäußert. Ich würde gern mehr<br />

darüber wissen, wie Sie <strong>im</strong> Einzelnen dazu stehen.”<br />

“Toleranz ist Duldsamkeit gegenüber anderen – ihren<br />

Überzeugungen, Anschauungen und Verhaltensweisen. Nur<br />

auf ihrem Acker können Güte und Weisheit gedeihen.”<br />

Als Peter nicht weiterspricht, sagt der Pastor: “Das sehe ich<br />

genauso. Für mich gehört zur Toleranz darüber hinaus Verstehenkönnen<br />

und Helfenwollen. Und auch Wissen um die eigene<br />

Verlorenheit ohne die anderen.”<br />

“Toleranz”, fährt Peter fort, “ist Voraussetzung für Fairneß<br />

und Einsicht. Und nur wo diese beiden zu Hause sind, kann<br />

es Wahrhaftigkeit geben.” Er wiegt den Kopf. “Bei so manchem<br />

allerdings ist Toleranz nichts anderes als eine Form von<br />

Gleichgültigkeit.” Er pafft. “Für mich hat neben der passiven<br />

Toleranz, dem wohlwollenden Erdulden von Andersartigem,<br />

die aktive Toleranz, die Freude an der Vielfalt, am Anderssein,<br />

einen hohen Stellenwert.”<br />

“Ist die Wissenschaft tolerant?”<br />

“Die Wissenschaft ist intoleranter als sie gemeinhin zugibt<br />

und als es ihrer Sache dienlich wäre. Das mag verständlich<br />

sein, entschuldbar ist es nicht. Verständlich wird es, wenn<br />

man bedenkt, wie schwierig es oft ist, neue Erkenntnisse zu<br />

gewinnen, und zwar mit Methoden, die den strengen Maßstäben<br />

der Naturwissenschaft gerecht werden. Oft ist es<br />

mühsam, neu gewonnene Erkenntnisse in ein Gedankengebäude<br />

einzubauen, das in sich widerspruchsfrei ist. Erst<br />

wenn das gelungen ist, sprechen wir von ‘Wahrheit’. Eine<br />

solche Wahrheit kann einem lieb werden, und sie kann den<br />

eigenen Konzeptionen in einem so starken Maße<br />

zugrundeliegen, daß es schmerzlich wird, sie aufzugeben. So<br />

hängen manche Wissenschaftler mehr an einer solchen<br />

‘Wahrheit’, als sie es nach dem neuesten Stand der


Streitgespräch 383<br />

Erkenntnis tun sollten. Und dann werden sie den Verkündern<br />

neuer Ideen gegenüber schnell intolerant.”<br />

Peter pafft und schüttelt dabei den Kopf. “Diese Leute vergessen<br />

ganz einfach oder wollen nicht wahrhaben, daß so<br />

manche große Idee oder Entdeckung zunächst als falsch<br />

angesehen, später aber als richtig erkannt wurde. Und sie<br />

vergessen, daß sich viele ‘Wahrheiten’ <strong>im</strong> Laufe der Zeit als<br />

revisionsbedürftig oder gar als falsch erwiesen haben. Wissenschaftlich<br />

erarbeitete Wahrheiten sind <strong>im</strong>mer vorläufige<br />

Wahrheiten. Sie stehen ständig unter dem Vorbehalt der Bewährung.”<br />

“Sie sind also nicht nur anderen geistigen Bereichen gegenüber<br />

sehr kritisch, sondern auch gegenüber der eigenen<br />

Domäne.”<br />

“Ja. Ich übe überall Kritik, wo ich erkenne, daß die Wahrheitsfindung<br />

beeinträchtigt wird. Da nehme ich mir nahestehende<br />

Bereiche keineswegs aus, ebensowenig wie mich<br />

selber.”<br />

“Das ist lobenswert.” Die Zigarre zwischen Zeige- und<br />

Mittelfinger haltend, macht der Pastor mit dem Arm einen<br />

Bogen durch die Luft. “Aber laufen Sie dabei nicht Gefahr, bei<br />

der Wahrheitssuche in der Methodenwahl einseitig zu<br />

werden?”<br />

“Wie darf ich das verstehen?”<br />

“Ich meine, daß es verschiedene Wahrheiten gibt, und daß<br />

nicht alle Wahrheiten mit den Methoden der Wissenschaft<br />

erkennbar und überprüfbar sind.”<br />

“Gewiß. Aber für mich müssen die Methoden der Wahrheitsfindung<br />

schlüssig sein, in sich logisch und überprüfbar.”<br />

“Damit schränken Sie aber die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung<br />

erheblich, um nicht zu sagen unzulässig, ein.”<br />

Der Pastor steht auf, legt Holz nach <strong>im</strong> Kamin und füllt die<br />

Gläser.<br />

“Auch dem kann ich zust<strong>im</strong>men. Aber solange ich keine<br />

anderen, keine besseren Methoden zu Gebote habe, muß ich


384 EINSICHTEN<br />

mit denen arbeiten, die mir zur Verfügung stehen.”<br />

“Selbst auf die Gefahr hin, daß das Bild, das Sie auf diese<br />

Weise von uns und von der Welt konstruieren, schief ist?”<br />

“Ja. Mir ist da ein schiefes Bild, das in seiner Schiefheit<br />

überprüfbar ist, lieber als ein gerades Bild, das nur scheinbar<br />

gerade ist, bei dem der Wunsch nach Geradheit zum Maßstab<br />

gemacht wurde.” Peter pafft. Mit zusammengezogenen Brauen<br />

und gerunzelter Stirn sieht er den Rauchwolken nach.<br />

“Das ist mir eher ein – verzeihen Sie – verlogenes Bild. Damit<br />

könnte ich nicht einverstanden sein. Aber ich gebe gerne zu,<br />

daß zu einem besser ausgewogenen Bild, als es die Wissenschaft<br />

zu erstellen vermag, auch andere Bereiche menschlichen<br />

Erlebens gehören. Die Malerei etwa und die Musik. Sie<br />

glauben gar nicht, Herr Pastor, was für wunderbare Gefühle<br />

in mir entstanden sind dadurch, daß Sie und Inge hier<br />

musiziert haben! Die St<strong>im</strong>mung, die wundervolle Harmonie,<br />

die in Ihrem Hause herrscht – so etwas hatte ich noch niemals<br />

zuvor erlebt. Das hat mich tief bewegt. Das hat mir ganz neue<br />

Erlebnisqualitäten erschlossen. Dafür bin ich Ihnen und Ihrer<br />

Tochter sehr dankbar.”<br />

“Darauf lassen Sie uns anstoßen.”<br />

“Gern.”<br />

Die beiden Männer erheben ihr Glas, schauen einander in<br />

die Augen. Lang, ernst.<br />

“Zum Wohl.”<br />

“Zum Wohl.”<br />

“Die Harmonie, die Sie in diesem Hause empfinden”, sagt<br />

der Pastor, nachdem er sein Glas abgesetzt hat, “sie hat auch<br />

etwas zu tun mit dem Geist, der dieses Haus erfüllt. Inge und<br />

ich sind gläubige Christen.” Langsam führt er die Zigarre zum<br />

Mund, zieht mehrmals und entläßt aus gespitzten Lippen<br />

einen feinen Rauchstrahl. In ernster Nachdenklichkeit fährt<br />

er mit gewölbter Hand über weiße Locken. “Ich meine, daß<br />

das Christentum für die Menschheit viel getan hat, tun kann<br />

und tun wird.”


Streitgespräch 385<br />

Peter schweigt. In Gedanken ermahnt er sich zur Zurückhaltung.<br />

Erst als der Pastor nicht weiter spricht, sagt er: “Ich<br />

glaube Ihnen, daß das Christentum für Sie und für Inge viel<br />

getan hat, tut und tun wird.” Er überlegt. “Ich glaube auch,<br />

daß das Wort des Christengottes eine Stütze für Sie ist und<br />

eine Richtschnur – daß Sie daran Halt und Zuversicht finden.”<br />

“Gottes Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf<br />

meinem Wege.”<br />

“Und weil dem so ist, und weil ich Sie und ihre Welt achte,<br />

möchte ich lieber nicht weiter über das Christentum sprechen.”<br />

“Warum nicht?”<br />

“Weil mein Wesen und meine Erfahrung mich dazu<br />

zwingen, diese Dinge anders zu sehen als Sie.”<br />

“Ich würde Ihre Art, die Dinge zu sehen, gerne kennenlernen.”<br />

“Ich sehe die Dinge sehr viel anders.”<br />

“Ich respektiere das.” Der Pastor nippt am Wein. “Ich kann<br />

sachliche Kritik ertragen.” Er bläst Rauch zur Z<strong>im</strong>merdecke.<br />

“Ich will versuchen, Ihnen geduldig zuzuhören – auch wenn<br />

das schwierig sein sollte – solange ihre Kritik an meiner<br />

Religion der ernsthaften Suche nach der Wahrheit entspringt,<br />

die ich an Ihnen kennengelernt habe, und die ich zu würdigen<br />

weiß.”<br />

‘Jetzt passiert es doch noch’, denkt Peter. ‘Wie aber sollte,<br />

wie könnte ich das verhindern. Ich kann mich einfach nicht<br />

verstellen’. Nervös fahren seine Finger herum <strong>im</strong> Bart. Ganz<br />

fest n<strong>im</strong>mt er sich vor, einer harten Konfrontation aus dem<br />

Wege zu gehen: “Sehen Sie, Herr Pastor, “ich liebe Ihre Tochter<br />

über alles, und ich empfinde große Achtung vor Ihnen, ja,<br />

respektvolle Freundschaft – wenn ich das als der Jüngere so<br />

offen sagen darf.”<br />

Der Pastor nickt. Mehrmals. In seinem Gesicht leuchten Zust<strong>im</strong>mung<br />

und Herzlichkeit.<br />

“Sie und Ihre Tochter verbindet eine ganz einzigartige, eine<br />

ganz wunderbare Beziehung. Ich will diese Beziehung auf kei-


386 EINSICHTEN<br />

nen Fall belasten, sie nicht stören, nicht zerstören.”<br />

“Das werden Sie nicht, solange Sie wahrhaftig sind.” Der<br />

Pastor blickt zur Z<strong>im</strong>merdecke. Er atmet tief. Und jetzt sieht<br />

er Peter in die Augen: “Sie und ich, wir haben keine andere<br />

Wahl. Wir sind sehr verschieden. Wir können und wollen uns<br />

nicht verleugnen. Was wir aber tun können, ja, was wir tun<br />

müssen, wenn unsere Beziehung Bestand haben soll, das ist,<br />

diese Verschiedenartigkeit offen darzulegen, sie genauer<br />

kennenzulernen. Und sie dann, soweit das irgend möglich ist,<br />

zu akzeptieren.”<br />

“Sie haben recht. So ist es.”<br />

“Inge hat mir gesagt, daß Sie aus der Kirche ausgetreten<br />

sind.”<br />

“Ja.”<br />

“Warum?”<br />

“Nicht, um die Kirchensteuer zu sparen.” Peter ist innerlich<br />

sehr erregt. Aber er bringt es fertig, zu schmunzeln.<br />

“Das glaube ich Ihnen gern.” Auch der Pastor schmunzelt.<br />

“Ich muß Ihnen weh tun, Herr Pastor, wie ich auch schon<br />

Inge weh getan habe. Ich wünschte, ich könnte das<br />

vermeiden, aber bei einer ehrlichen Antwort auf Ihre Frage<br />

kann ich das nicht.”<br />

“Nur zu!”<br />

“Das Christentum”, sagt Peter, sich vorsichtig vorantastend,<br />

“fußt auf Überlieferungen über Leben, Lehren und Tod des<br />

Jeschua aus Galiläa, später Jesus Christus genannt. Das<br />

Überlieferte ist erst 50 bis 150 Jahre nach seinem Tod niedergeschrieben<br />

worden. Nachforschungen haben ergeben, daß die<br />

Schreiber nicht mit historischer Objektivität berichteten, sondern<br />

in der Absicht, den christlichen Glauben zu begründen.<br />

So haben sie ausgewählt, gewichtet, ausgeschmückt und wohl<br />

auch verdreht. Bis auf den heutigen Tag haben die Kirchenoberen<br />

das Auswählen und Umauswählen, das Übersetzen<br />

und Umübersetzen, das Ausdeuten und Umausdeuten weitergeführt.<br />

Es gibt daher viele Auslegungen, viele Kirchen


Streitgespräch 387<br />

und viele Bibeln. Ich glaube, daß Jesus sich außerordentlich<br />

wundern würde, wenn er erleben könnte, was die Kirchenoberen<br />

aus seinen Lehren gemacht haben.”<br />

“Das Alte Testament”, antwortet der Pastor mit fester, tiefer<br />

St<strong>im</strong>me, “ist für Juden und Christen eine Offenbarungsurkunde.<br />

Das, was Gott durch Menschen sprach, hat später seinen<br />

Niederschlag in verschiedenen Büchern gefunden. Durch<br />

Auswahl, Neuordnung und Neufassung der Texte dieser<br />

Bücher blieb die Bibel lebendig. Die verschiedenen Bibelausgaben<br />

sind ein zeitgesegnetes Dokument des ernsthaften<br />

Bemühens vieler Generationen von Gottesmännern. Wahrlich,<br />

sie sind ein lebendiges Zeugnis der Worte und Weisheit<br />

Gottes. Und des <strong>Suchen</strong>s der Menschen nach sich selbst und<br />

nach dem Herrn.”<br />

Peter schweigt.<br />

“Die Bücher des Alten Testamentes”, fährt der Pastor fort,<br />

“sind in einem Überlieferungsprozeß entstanden. Gott hat zu<br />

den Gottesmännern in Gleichnissen gesprochen. Im Verlaufe<br />

des Zeitgeschehens bedürfen Gleichnisse der Aktualisierung.”<br />

Als Peter weiterhin schweigt, sagt der Pastor: “Nur zu mit<br />

ihrer Kritik!”<br />

Peter räuspert sich. Dann sagt er: “Jesus beschränkte seine<br />

Lehren auf die Juden. Es ging ihm nicht darum, eine neue<br />

Religion zu stiften. Er wollte den jüdischen Glauben reformieren<br />

und auf diese Weise sein Volk vorbereiten auf das<br />

Reich Gottes. Andere Völker waren ihm Feindbilder oder<br />

gleichgültig. Jesus sah sich als Retter und Heilbringer des<br />

jüdischen Vokes, als den Messias, den Gott <strong>im</strong> Alten Testament<br />

verheißen hatte. Mit jeder Faser seines Herzens wurzelte<br />

er <strong>im</strong> jüdischen Glauben. Jesus war <strong>im</strong>mer ein Jude, nie<br />

ein Christ.” Peter pafft. “Das ist der Boden, auf dem das Christentum<br />

gewachsen ist.”<br />

“Sie haben sich mit Jesus und dem Christentum offenbar<br />

sehr intensiv beschäftigt.”<br />

“Ja. Ich habe viel gelesen und viel mit einem befreundeten


388 EINSICHTEN<br />

jungen Doktor der Theologie diskutiert. Mir liegt sehr daran,<br />

Ihre und Inges Welt besser zu verstehen.”<br />

“Darüber freue ich mich.”<br />

“Ich versuche <strong>im</strong>mer”, setzt Peter ermutigt seinen Gedankengang<br />

fort, “zu unterscheiden zwischen dem, was Jesus<br />

offenbar gewollt hat und dem, was die Chronisten und Kirchenoberen<br />

daraus gemacht haben.”<br />

“Und was haben die Ihrer Ansicht nach daraus gemacht?”<br />

“Etwas, das unerhört viel Unglück über die Erde gebracht<br />

hat und auch heute noch viel Unglück verursacht.” Peter<br />

schweigt. Dann pafft er wieder. “Aus meiner Sicht hindert das<br />

Christentum die Menschen daran, zu sich selber zu finden.<br />

Unter dem Einfluß des Christentums können die Menschen<br />

nicht die Augen öffnen, nicht die Verantwortung auf sich<br />

nehmen für das, was sie auf der Erde anrichten. Das Christentum<br />

läßt die Menschheit verblendet und geblendet in den<br />

Abgrund stürzen.”<br />

Der Pastor bleibt ruhig. Ernst sagt er: “Das müssen Sie mir<br />

bitte begründen.”<br />

“Das fängt schon an mit der Art, in der das Christentum<br />

Toleranz praktiziert. Die kirchlichen Amtsträger sind unduldsam<br />

gegen jeden ‘Irrtum’, der – wie sie das sehen – Gott die<br />

Ehre und den Menschen das Heil entzieht. Die Bibel gebietet:<br />

‘du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’. Um aber der<br />

geschichtlichen Wahrheit gerecht zu werden, müßte dieser<br />

Satz fortgeführt werden: Und wenn du das nicht glaubst,<br />

dann schlag ich dir den Schädel ein! Siehe die Inquisition.<br />

Siehe die Religionskriege. Siehe die furchtbaren Wunden, die<br />

die Missionare zusammen mit Siedlern und Politikern zum<br />

Beispiel in Afrika und in Amerika den dort lebenden Menschen<br />

und der Natur geschlagen haben. Überall in der Welt<br />

hat das Christentum Menschen entwurzelt, sie rücksichtslos<br />

ihrer eigenen Religion beraubt, ihre Kultur zerstört. Viele<br />

dieser Menschen sind bis heute entwurzelt. Sie haben ihre<br />

Identität nicht wieder finden können. Ganze Kulturkreise


Streitgespräch 389<br />

sind durch das Christentum unwiderbringlich vernichtet<br />

worden. Keine andere Religionsgemeinschaft hat soviele<br />

Glaubenskriege geführt, soviel unterdrückt, gefoltert und<br />

getötet wie das Christentum.”<br />

Peter sieht den Pastor an. Als der nichts sagt, fährt er fort:<br />

“Und was hatten die Missionare den Missionierten denn<br />

anzubieten? Ist nicht unsere eigene Welt kaputt? Zeigt es sich<br />

nicht heute, daß die Indianer, um nur ein Beispiel zu nennen,<br />

eine normalere, eine natürlichere Beziehung zu ihren Göttern<br />

und deren Schöpfung hatten als die Christen zu ihrem Gott<br />

und dessen Schöpfung? Welch unglaubliches Leid hat die<br />

christliche Botschaft ‘Seid fruchtbar und mehret euch und<br />

füllet die Erde und macht sie euch untertan’ verursacht! Denken<br />

Sie an die geschändete Umwelt, an die Ausbeutung von<br />

Boden, Tier und Pflanze! Die Verbindung von europäischem<br />

Tatendrang und Besitzhunger mit christlicher Arroganz und<br />

Besessenheit hat auf allen Kontinenten eine blühende Buntheit<br />

andersartiger Kulturen und Glaubensrichtungen mit unvorstellbarer<br />

Brutalität nach eigenen Vorstellungen umgestaltet<br />

oder ausgerottet. Geblieben sind allenfalls Kulturtrümmer<br />

– Zeugen des größten Völkermordes und der größten<br />

Kulturvernichtung aller Zeiten, Reste einer auf <strong>im</strong>mer<br />

verlorenen menschlichen Vielfalt und Lebensfülle.”<br />

“Ja”, sagt der Pastor ernst, “ja, wir haben viele Fehler gemacht.<br />

Wir haben die Botschaften unseres Herrn nicht <strong>im</strong>mer<br />

in seinem Sinne ausgelegt. Wir haben viel gesündigt am<br />

Menschen und an der Natur. Ich wünschte, ich könnte Ihnen<br />

widersprechen. Ich kann es nicht. – Aber ich bin sicher: Die<br />

Missionare waren guten Willens. Sie waren zutiefst überzeugt<br />

von dem Guten, das sie den Menschen bringen wollten.”<br />

“Das glaube auch ich. Die Verantwortung tragen die Kirchenoberen.<br />

Angeblich <strong>im</strong> Namen Christi, aber vor allem in<br />

Wahrnehmung ihrer eigenen <strong>Inter</strong>essen, haben sie zielstrebig<br />

und rücksichtslos ihre Macht ausgebaut. Ein sehr wirksames<br />

Instrument war dabei ihre Kunst, die Menschen <strong>im</strong>mer wie-


390 EINSICHTEN<br />

der in Schuldgefühle zu verstricken, ihnen <strong>im</strong>mer wieder<br />

Schuld einzureden, einzupredigen. Erst auf dem Boden der<br />

Schuld der Menschen und ihrer Ängste konnte sich die Macht<br />

der christlichen Kirche voll entfalten. Mit dem Einreden von<br />

Schuld, dem Inaussichtstellen von Vergebung und dem<br />

Versprechen eines Weiterlebens nach dem Tode <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel<br />

für diejenigen, die sich kirchenkonform verhalten, hat das<br />

Christentum seinen weltweiten Siegeszug angetreten. Hier<br />

liegen dessen Erfolge, nicht in der ethischen Weiterentwicklung<br />

der Menschen. Die hat unter einer fast zweitausendjährigen<br />

Herrschaft des Christentums nicht stattgefunden.”<br />

Der Pastor schweigt.<br />

“Unter der Herrschaft des Christentums können die Menschen<br />

sich nicht in ausreichendem Maße bewußt werden, daß<br />

sie für all das, was sie hier auf Erden anrichten, selber die<br />

Verantwortung tragen. Sie können nicht in Gedankenfreiheit<br />

ihren Kopf erheben. Sie können nicht versuchen, ihr Schicksal<br />

in die eigene Hand zu nehmen. Sie können nicht endlich<br />

begreifen, daß da niemand ist, der ihnen vergeben kann oder<br />

will. Niemand, der sie beschützen kann oder will. Genau<br />

daran krankt unsere Welt!”<br />

Noch <strong>im</strong>mer schweigt der Pastor.<br />

“Die Christenoberen haben die Lehren Christi, das, was dieser<br />

gute Mensch offenbar wirklich gewollt hat, zu oft den<br />

eigenen <strong>Inter</strong>essen gemäß zurechtgebogen.”<br />

“Das ist schl<strong>im</strong>m, was Sie da sagen. Sehr schl<strong>im</strong>m. Aus<br />

Ihren Worten klingt Verbitterung. Es muß schwer sein, mit<br />

solchen Gedanken und Vorstellungen zu leben.”<br />

“Was sagen Sie zu meiner Kritik?”<br />

Der Pastor wiegt den Kopf. Seufzt. Mit dem Zeigefinger<br />

klopft er weiße Asche von der Zigarre. “Auch ich bin über so<br />

manches in der Art, wie Christentum praktiziert wird, nicht<br />

eben glücklich. Manches, zu vieles von dem, was Sie voller<br />

Bitterkeit gesagt haben, muß ich mir einfach anhören, kann


Streitgespräch 391<br />

ich nicht guten Gewissens zurückweisen.” Er sieht Peter in<br />

die Augen: “Aber hat das Christentum den Menschen nicht<br />

auch unendlich viel Gutes gebracht? Hat es nicht unzähligen<br />

Menschen Halt gegeben? Ja! Das Leben und Sterben Christi<br />

hat Millionen und Abermillionen Trost gespendet und ein<br />

Vorbild geliefert. Es hat ihrem Leben Anleitung, Sinn und<br />

Inhalt gegeben.”<br />

“Warum mußte Jesus sterben? Weil ihm Gott eingeredet<br />

hatte, daß er sein Sohn ist? Weil der Vater den Sohn <strong>im</strong> Stich<br />

gelassen hat? Weil dem Vater bei der Erschaffung des Menschen<br />

Fehler unterlaufen sind? Und wie kann der ans Kreuz<br />

genagelte, sterbende Christus Trost und Vorbild sein? Muß<br />

ein so schrecklich Gemarterter nicht eher Angst einflößen?<br />

Angst vor einem Gott, der seinen Sohn solchen Fürchterlichkeiten<br />

aussetzt?”<br />

“Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen<br />

Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren<br />

werden, sondern das ewige Leben haben.”<br />

“Alle, die an ihn glauben? Ist das genug? Viele Juden sehen<br />

<strong>im</strong> Christentum einen ‘billigen’ Glauben. Und darin wiederum<br />

erkennen sie den Grund dafür, daß das Christentum das ältere<br />

Judentum <strong>im</strong> Römischen Reich so leicht beiseite drängen<br />

konnte.”<br />

“Billiger Glauben?”<br />

“Die christliche Religion gewährt das ewige Leben schon<br />

allen, die glauben. Die jüdische Religion erst allen, die das Gesetz,<br />

die Thora, befolgen.”<br />

“Sie verstehen die große Bedeutung falsch, die dem Leiden<br />

und Sterben Christi zukommt.”<br />

“Warum hat dann das Leiden und Sterben Christi – der<br />

große Erlöserversuch des Christengottes – die Angst und das<br />

Leid nicht weggenommen von den Gläubigen?”<br />

Der Pastor sieht Peter an mit Augen, in denen der versinkt.<br />

“Weil Angst und Leid zu Läuterung führen können.”<br />

Der Pastor senkt den Kopf und schweigt. Nach einer ganzen


392 EINSICHTEN<br />

Weile sagt er: “Das Christentum hat sehr viel für die Menschen<br />

getan. Es hat Millionen und Abermillionen auf einen<br />

besseren Weg geführt. Ohne das Christentum wäre vieles<br />

Schl<strong>im</strong>me noch viel schl<strong>im</strong>mer. Ohne Christentum wäre dem<br />

Bösen <strong>im</strong> Menschen Tür und Tor geöffnet worden, wäre unsere<br />

Welt schlechter, als sie es ohnehin schon ist. Das Christentum<br />

hat, <strong>im</strong> Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,<br />

Angst nicht geschürt, sondern verringert. Es hat vielen geholfen,<br />

ihr Leid leichter zu ertragen. Es hat Schmerzen gelindert,<br />

Kranken in ihrer Not beigestanden, Verzweifelnden<br />

neue Hoffnung gegeben, Sterbenden das Abschiednehmen<br />

erleichtert.”<br />

Peter nickt. “Sicher haben Sie auch selber während Ihres<br />

langjährigen Dienstes am Menschen viel Gutes getan, viel<br />

Not und Leid gelindert. Vielen Menschen geholfen, sich wieder<br />

aufzurichten, wieder zu hoffen, vielen Menschen das Sterben<br />

erleichtert und vielen Überlebenden ermöglicht, ihren<br />

Verlust leichter zu ertragen.”<br />

“Ich habe das versucht.”<br />

“Vielleicht”, sagt Peter plötzlich mit ganz anderer St<strong>im</strong>me,<br />

“vielleicht wäre mein Vater nicht so früh gestorben, … vielleicht<br />

wäre er noch heute am Leben …, wenn … wenn er<br />

einem Pastor begegnet wäre. Wenn er Ihnen begegnet wäre.”<br />

“Woran ist Ihr Vater gestorben?”<br />

“Am Tod meiner Mutter. Er verfiel in eine tiefe Depression.<br />

Er …” Peters St<strong>im</strong>me versagt. Er schluckt und ringt um Fassung.<br />

“Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr.”<br />

Der Pastor ist erschüttert. Er senkt den Kopf. Mit leiser,<br />

zitternder St<strong>im</strong>me sagt er: “Das wäre auch mit mir passiert –<br />

wenn es Inge nicht gegeben hätte.”<br />

Lange schweigen die beiden, gefangen in Gedanken, die einander<br />

ähnlicher nicht sein könnten.<br />

“Der Dienst am Menschen”, sagt Peter schließlich, “ist etwas<br />

sehr Gutes, etwas, das ich sehr hoch einschätze.” Nach einer<br />

Pause fügt er hinzu: “Es ist etwas, das ich am Christentum be-


Streitgespräch 393<br />

wundere. Und es ist etwas, das vielleicht auf eine andere Weise<br />

nur weniger wirksam erreicht werden kann.”<br />

“Richtig! Das, was Sie zuletzt gesagt haben, berührt einen<br />

ganz wichtigen Aspekt: Religionsausübung hat <strong>im</strong>mer auch<br />

eine Qualität des Zu-sich-selber-Findens, des Meditierens.<br />

Hier stehen subjektive Empfindungen <strong>im</strong> Vordergrund. Hier<br />

wird das Innerste des Menschen angesprochen – und spricht<br />

zurück. Dieser Aspekt des Glaubens, diese Erfahrung am ureigensten<br />

Ich, sie ist auf andere Weise nicht erreichbar. Und<br />

sie ist nur sehr bedingt, wenn überhaupt, der wissenschaftlichen<br />

Analyse zugänglich. Hier zählt nur, oder doch ganz pr<strong>im</strong>är,<br />

die Wirkung. Das ist so ein bißchen wie in der Medizin.<br />

Wenn ein Mittel einem Kranken hilft, dann ist es das richtige.<br />

Auch dann, wenn die Wirkungszusammenhänge nicht bekannt<br />

sind, ja, sogar dann, wenn alle Logik, wenn all unser<br />

gegenwärtiges Wissen gegen eine Heilwirkung spricht. Wer<br />

heilt hat recht.”<br />

Peter nickt.<br />

“Und wenn das Gespräch mit dem Pastor oder der Gottesdienst<br />

oder der Glaube es vermögen, zu helfen und zu heilen,<br />

einem Trauernden Trost zu spenden, einem Verzweifelten<br />

neue Hoffnung zu geben, einem in sich Zerrissenen erneut<br />

innere Harmonie zu bescheren, warum nehmen wir das nicht<br />

an, sind ganz einfach dankbar dafür? Das ‘Warum, Wieso,<br />

Wodurch’ ist zweitrangig. Die Heilwirkung ist da. Sie ist<br />

unbestreitbar.”<br />

Wieder nickt Peter.<br />

“Wahrlich, unsere Welt ist voller Schrecken, voller Haß,<br />

voller Bösem. Warum sollten wir nicht jede Möglichkeit ergreifen,<br />

um mit Hilfe des Christentums eine bessere Welt, ein<br />

besseres Ich anzustreben? Warum sollten wir uns die göttliche<br />

Gabe versagen, uns am Glauben aufzurichten, zu stärken?<br />

Der Gottesdienst, das Ritual, die Atmosphäre, die eine Kirche<br />

austrahlt, das gemeinsame Singen, das gemeinsame Beten –<br />

all das gibt dem Menschen neue Kraft, gibt dem Beladenen


394 EINSICHTEN<br />

neue Zuversicht. Ohne diesen Rahmen und ohne den Glauben<br />

fehlt der Quell, der den Dürstenden laben kann. Hier durchbricht<br />

der Mensch mit seinem Gebet Grenzen. Hier kommt es<br />

zu einer Auflösung der Einsamkeit, zu einer Wegnahme der<br />

Angst, zu einer Verklärung des Menschseins. Und es kommt<br />

zu einer Vergeistigung seiner Sorgen, Hoffnungen und Wünsche.<br />

Hier entgrenzt sich die Tagesbeschränkung des Menschen<br />

ins Ewige.”<br />

“Den meditativen Aspekt habe ich in meinen Überlegungen<br />

zu wenig berücksichtigt.”<br />

“Dieses <strong>Suchen</strong>, dieses Eintreten in die große Halle<br />

wunderbarer Stille, es gleicht einem Hineinschweben in das<br />

Zentrum des Universums, einem Teilhaben am Herzschlag<br />

Gottes.”<br />

“Aber Meditieren ist nicht nur an Religion gebunden und<br />

schon gar nicht nur an das Christentum. Meditieren, dieses<br />

tiefe Sich-Besinnen, In-Sich-Hineinhören, dieses Sich-Sammeln<br />

und Entspannen, dieses Erleben mystischer,<br />

transzendentaler Kräfte und ihrer Wirkungen – und auch das<br />

Herbeiführen außergewöhnlicher seelischer und körperlicher<br />

Zustände und die Nutzung der Kräfte, die dadurch aktiviert<br />

werden – all das kann durch eine Reihe von Vorstellungen,<br />

Ritualen und Beschwörungen erreicht werden.”<br />

Der Pastor wiegt den Kopf. Er ist mit dem, was Peter da gesagt<br />

hat, nicht voll einverstanden. Aber er verzichtet darauf,<br />

diesen Diskussionspunkt weiter zu vertiefen. Nun spitzt er<br />

die Lippen, hebt den Zeigefinger: “Und vergessen wir die<br />

Liebe nicht! Diese höchste Gnadengabe des Herrn, die nur<br />

den Menschen zuteil geworden ist.” Mit dem ihm eigenen tiefdringenden<br />

Blick sieht er Peter in die Augen. “Wahrlich, die<br />

Liebe ist etwas Großes, etwas, um das sich unser Menschsein<br />

rankt wie um einen unsichtbaren Pfeiler. Seit Menschengedenken<br />

hat sie Dichter und Denker in ihren Bann gezwungen.<br />

Was wäre ein Goethe ohne die Liebe? Sie ist <strong>im</strong> wahrsten<br />

Sinne des Wortes etwas Einmaliges – die Liebe zwischen


Mann und Frau, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die<br />

Liebe der Kinder zu ihren Eltern, ja, die Liebe zwischen<br />

Menschen überhaupt. Und natürlich die Liebe zum Herrn.”<br />

“Ja”, sagt Peter und denkt an Inge, “die Liebe ist etwas<br />

Wunderschönes.” Mit feinfühlenden Fingerspitzen streicht er<br />

sacht über den Bart. “Wirklich ganz wunderschön”, sagt er<br />

noch einmal und senkt den Blick. Dann jedoch meldet sich<br />

wieder sein kritischer Verstand zu Wort: “Die Liebe hat viele<br />

Gesichter. Auch sie speist sich aus dunklen Quellen – Quellen,<br />

aus denen Sinnliches und Triebhaftes quillt. An den<br />

verschiedenen Gesichtern der Liebe sind sehr unterschiedliche<br />

Kräfte und Gefühle beteiligt. Neben dem Sehnen nach Glück,<br />

Partnerschaft und Selbstbestätigung, neben dem Wunder der<br />

Erfüllung gibt es da auch Süchte und Böses. Denken Sie nur<br />

einmal an die aus Liebe geborene Eifersucht, an die Macht der<br />

Eigenliebe. Hier kommen Gesichter der Liebe zum Vorschein,<br />

die in unserem Nachdenken über sie oft ein eher verstecktes<br />

Dasein führen: das Bestreben, etwas für sich allein in Anspruch<br />

zu nehmen, Besitzergreifung des Gegenstandes der<br />

Liebe und körperliche Befriedigung.”<br />

Der Pastor will etwas einwenden. Aber Peter bemerkt das<br />

gar nicht. Als sei er plötzlich ganz allein flüstert er vor sich<br />

hin. “Das alles sagt auch ein bewegendes Gedicht:<br />

“Wie sehr wir doch die Liebe lieben!<br />

Besingen, preisen, golden schmieden!<br />

Liebe ist Wunder, zeugt Leben<br />

Liebe ist Glück, bringt Segen,<br />

Liebe ist Erfüllung, wärmt Seelen<br />

Liebe kann zum H<strong>im</strong>mel heben<br />

Wie sehr wir doch uns selbst belügen!<br />

Wie erbaulich wir die Welt verbiegen!<br />

Streitgespräch 395


396 EINSICHTEN<br />

Liebe ist auch Neid, Begehren<br />

Liebe ist auch Angst, Entbehren,<br />

Liebe ist auch Sucht und Selbstverehren<br />

Liebe kann auch Gut in Bös verkehren<br />

Wir lieben nicht nur die Liebe!<br />

Wir lieben auch die eig´nen Siege!<br />

Nur wem das Du so nah ist wie das Ich<br />

Nur wer vergeben kann, versteh´n, verzichten<br />

Nur der liebt den anderen wahrlich und wirklich<br />

Nur der darf der Liebe ein Denkmal errichten”<br />

“Auch die Liebe unterliegt dem alles regierenden Gesetz von<br />

Anziehung und Abstoßung. Nicht selten erweisen sich Liebe,<br />

narzißtische Schwärmerei, Egoismus und Sucht als<br />

Verwandte.”<br />

Mit seiner tiefen Baritonst<strong>im</strong>me sagt der Pastor ruhig:<br />

“‘Seid niemand nichts schuldig’, so steht es in der Bibel, ‘denn<br />

daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den anderen liebet,<br />

der hat das Gesetz erfüllt’. Liebe”, fährt er fort, “ist auch<br />

die gute, die hilfreiche Tat. Liebe ist Zuwendung.”<br />

“Liebe”, entgegnet Peter, “gibt es nicht nur bei Menschen.<br />

Ich sehe der menschlichen Mutterliebe Vergleichbares auch<br />

bei Tieren, zum Beispiel bei Affen, Hunden und Katzen.” Er<br />

pafft. Dann nickt er mehrmals, ganz leicht nur, aber mit Best<strong>im</strong>mtheit.<br />

Er pflichtet einem in ihm aufflackernden Gedanken<br />

bei, bevor er diesen noch formuliert und ausgesprochen<br />

hat: “Nur den Menschen zuteil geworden”, sagt er schließlich,<br />

“ist etwas anderes. Mehr als alle seine Mitgeschöpfe ist der<br />

Mensch dazu fähig, den Gegenstand seiner Liebe zu quälen,<br />

ja, zu töten.”<br />

Der Hausherr erhebt sich, geht zum Kamin, schiebt Asche<br />

beiseite, legt Holz nach, richtet Scheite. “Müssen wir denn<br />

<strong>im</strong>mer alles nur mit dem Verstand erfassen wollen?”, fragt er


Streitgespräch 397<br />

über die Schulter, “alles bis ins Kleinste analysieren? Alles in<br />

Erfahrung bringen, was in Erfahrung zu bringen ist?”<br />

Er kommt zurück, gießt Wein nach und setzt sich wieder.<br />

“Die Bibel sagt: ‘Verlaß dich auf den Herrn von ganzem<br />

Herzen, und verlaß dich nicht auf deinen Verstand, sondern<br />

gedenke an Ihn in allen deinen Wegen, so wird Er dich recht<br />

führen.’” Der Pastor n<strong>im</strong>mt einen Schluck Wein zu sich. “Sie<br />

wissen es selber, Peter: Der forschende Verstand beschert uns<br />

täglich neue Erkenntnisse. Aber die Wissenschaft stellt uns<br />

täglich auch vor neue Probleme. Die Wissenschaftler errichten<br />

Gedankengebäude, auf deren Zinnen uns schwindelig<br />

wird. Sie stellen uns vor Abgründe, vor denen uns schaudert.<br />

Aber sie geben uns keinen Halt, keine Stütze. Sie lassen<br />

uns in der Kälte stehen, in der Kälte der Einsamkeit, des<br />

Alleinseins auf Erden, in der Eiseskälte des leeren Weltraums.”<br />

Der Pastor senkt den Kopf. Nachdenklich betrachtet er<br />

seine Hände. Diese Hände, die so viel gesegnet, so viel berührt,<br />

so viel getröstet haben. Dann fährt er fort: “Wahrlich,<br />

ich sage Ihnen, wir sind nicht umgeben von Leere und Kälte.<br />

Wir sind umgeben von einem Universum voller Liebe und<br />

voller Harmonie. Und wo diese Liebe und diese Harmonie sich<br />

in den Menschen verbinden zu einem mächtigen Strom des<br />

Glaubens, da wächst die Hoffnung, da erblüht die Zuversicht.<br />

Da wird uns die Gewißheit der Gnade und Barmherzigkeit<br />

Gottes.”<br />

“Ich wünschte mir, ich könnte das so sehen wie Sie. Ich<br />

wünschte mir, ich könnte daran glauben.”<br />

“Viele Menschen frieren in der Rationalität der Wissenschaft.<br />

Sie sehnen sich nach Wärme, Gemeinsamkeit, Harmonie<br />

und Orientierung. Nicht von ungefähr gibt es <strong>im</strong> Menschen<br />

ein starkes Bedürfnis nach Religion. Ich rechne die<br />

Religion zu den Grundbedürfnissen der Menschheit. Was <strong>im</strong>mer<br />

die Wissenschaft zu leisten vermag, ethische Orientierung<br />

und moralische Führung kann sie uns nicht geben.”


398 EINSICHTEN<br />

Der Pastor nippt an seinem Weinglas. “Und welcher Art<br />

sind sie denn, die Erkenntnisse der Wissenschaft? Bringen sie<br />

den Menschen wirklich etwas – etwas außer Schwindelgefühl,<br />

Schaudern vor Abgründen und Zittern vor Kälte? Viele Erkenntnisse<br />

der Wissenschaft bringen den Menschen Not und<br />

Tod, und das in der vielfältigsten Weise. Fast alle großen<br />

Probleme, vor denen wir heute stehen, sind in letzter Konsequenz<br />

Auswirkungen der Wissenschaft: Umweltzerstörung,<br />

Vernichtung ganzer Tier- und Planzenarten, Hunger, Verkrüppelung<br />

und Hinschlachten von Millionen unschuldiger<br />

Menschen. Beflügelt von Wissenschaft und Technologie haben<br />

sich die Menschen in den Industrienationen auf Kosten der<br />

Armen in den sogenannten Entwicklungsländern und auf<br />

Kosten der Umwelt rücksichtslos bereichert. Und denken Sie<br />

einmal an die furchtbaren modernen Massenvernichtungswaffen!”<br />

Der Pastor entzündet seine Zigarre. “Die Wissenschaft<br />

hat nicht nur Augen zum Sehen und Ohren zum Hören,<br />

sie hat auch Fäuste zum Schlagen. Atombomben, Wasserstoffbomben,<br />

Neutronenbomben, Chemiewaffen, biologische Waffen,<br />

all diese entsetzlichen Massenvernichtungstechnologien,<br />

die heute den Menschen – selbst irrsinnigen Potentaten – zur<br />

Verfügung stehen, sie sind die Früchte der Wissenschaft. Wo<br />

soll sie hinführen, diese sich ständig selbst verstärkende und<br />

beschleunigende wissenschaftlich-technologische Entwicklung?<br />

Wo sollen sie enden, diese Wahnvorstellungen vom<br />

Alles-Wissenwollen, vom rücksichtslosen Sich-Selbst-Verwirklichen?<br />

Was soll er uns bescheren, dieser wildgewordene<br />

Reigen von Trieb, Genußsucht, Aggression, Machtstreben, Erkenntnisgewinnung<br />

und genialischem Wahn?<br />

Sie haben gesagt”, fährt der Pastor fort, “das Christentum<br />

habe die Ur-Völker in Amerika, in Afrika und sonstwo ihrer<br />

kulturellen und religiösen Wurzeln beraubt. Hat nicht die<br />

Wissenschaft die ganze Menschheit entwurzelt? Stürzt sie<br />

nicht uns alle in einen Strudel von Zerstörung und Verderben?<br />

Ja, die Wissenschaft ist die Wurzel vielen Übels. Sie ist der


Streitgespräch 399<br />

Motor, der die Selbstvernichtung der Menschheit in Gang<br />

gesetzt hat, der diesen fürchterlichen Prozeß ständig anheizt<br />

und beschleunigt. Wo bleiben da die Besonnenen, die In-sich-<br />

Gekehrten, die Gläubigen? Wahrlich, es werden ihrer <strong>im</strong>mer<br />

weniger.”<br />

Peter nickt. Was der Pastor da gesagt hat, berührt ihn tief.<br />

“In vielem”, sagt er bedrückt, “was Sie da gesagt haben, muß<br />

ich Ihnen zust<strong>im</strong>men. Die Wissenschaft ist Erkenntnisquelle<br />

und Vernichtungsquelle in einem. Sie trägt das Licht ins<br />

Dunkel, so können wir sehen. Aber das Licht der Wissenschaft<br />

ist kein kaltes Licht. Es ist das Licht des Feuers. Wissenschaft<br />

erhellt und erleuchtet nicht nur, sie setzt auch in Brand,<br />

entzündet und zerstört. Die Feuergefährlichkeit der Wissenschaft<br />

ist <strong>im</strong> Taumel der Erkenntnisfreude unterschätzt<br />

worden.”<br />

“Wahrlich, das ist sie.” Der Pastor betrachtet seine Zigarre<br />

und pafft einige Rauchwölkchen vor sich hin. “Ganz gewiß.”<br />

“Aber”, entgegnet Peter, “können wir auf das Feuer<br />

verzichten, weil es nicht nur wärmt, leuchtet und für uns<br />

arbeitet, sondern auch vernichtet, sich gegen uns richten<br />

kann? Wie das Feuer, so sind doch auch die Wissenschaft und<br />

die von ihr erarbeiteten Erkenntnisse weder gut noch böse.<br />

Die Menschheit entscheidet darüber, was sie damit macht.”<br />

“Da gibt es Grenzen. Die Bibel gebietet: ‘Bis hierher sollst<br />

du kommen und nicht weiter’.”<br />

“Für Auseinandersetzungen zwischen Menschen”, fährt<br />

Peter fort, “liefert die Wissenschaft Methoden, nicht aber Motive.<br />

Ich kenne keinen Krieg, den Wissenschaftler begonnen<br />

hätten, und keinen, der für die Durchsetzung wissenschaftlicher<br />

Ideen geführt worden wäre, schon gar nicht für die<br />

Erweiterung wissenschaftlicher Macht.” Seine Pfeife beiseitelegend,<br />

schüttelt er den Kopf: “Wir dürfen das Feuer des<br />

Wissenwollens nicht löschen, nur weil wir uns daran<br />

verbrennen können oder weil wir uns fürchten vor dem, was<br />

uns sein Schein enthüllen mag. Wenn wir vor uns selbst


400 EINSICHTEN<br />

bestehen wollen, wenn wir uns neu einrichten wollen in dieser<br />

sich wandelnden Welt, dann müssen wir den Mut aufbringen,<br />

Licht zu machen und uns umzusehen. Nur wenn wir sehen,<br />

wo wir stehen, nur wenn wir erkennen, was uns umgibt, nur<br />

wenn wir uns bemühen zu begreifen, woher wir kommen, wer<br />

wir wirklich sind – nur dann können wir zu uns selber finden,<br />

Mensch sein, Mensch werden. Nur dann können wir angemessen<br />

reagieren.”<br />

“Angemessen reagieren, ja, aber was bedeutet das? Letztlich<br />

ist doch entscheidend, was das Reagieren bewirkt, wohin es<br />

führt. Und da stellt sich mir die Frage: Was bekommt dem<br />

Menschen langfristig besser – religiöse Unterwerfung unter<br />

Gott oder intellektuelle Auslieferung an die Wissenschaft?”<br />

“Keine Auslieferung! Mit der Wissenschaft leben, sie uns<br />

nutzbar machen, aus ihr Wahrheit gewinnen, Einsicht und<br />

Weisheit.”<br />

“Woher kommt die Weisheit? Und wo ist die Stätte der<br />

Einsicht? Die Weisheit ist verhüllt vor den Augen aller Lebendigen.<br />

Gott allein weiß den Weg zu ihr. Er allein kennt<br />

ihre Stätte. Ich sage Ihnen, Peter, alles <strong>Suchen</strong> des Menschen<br />

nach Wissen und Weisheit mündet am Ende <strong>im</strong> Religiösen.”<br />

Mit gefurchter Stirn sieht der Pastor hinüber ins Feuer des<br />

Kamins. Dann sagt er: “Wir werden hier keine vollständige<br />

Übereinst<strong>im</strong>mung in unseren Ansichten und Überzeugungen<br />

erzielen. Aber das haben wir ja auch nicht erwartet. Oder?”<br />

“Nein, das haben wir nicht.” Peter fährt mit unruhigen Fingern<br />

in seinem Bart herum. “Aber ich möchte doch noch etwas<br />

hinzufügen dürfen. Das Leben, das wir Menschen heute führen,<br />

ist ohne Wissenschaft nicht möglich. Ohne Wissenschaft<br />

könnten wir weder unseren Lebensstandard halten, noch könnten<br />

wir Milliarden von Menschen ernähren, noch uns ihrer<br />

Krankheiten annehmen, noch unsere Zukunft planen. Ein<br />

Zurück gibt es nicht, es sei denn, wir akzeptieren den Weg in<br />

die Katastrophe.”<br />

“Ja”, sagt der Pastor mit einem Anflug von Bitterkeit, “so-


Streitgespräch 401<br />

weit haben sich die Dinge schon entwickelt. Soweit haben wir<br />

es schon gebracht.”<br />

“Die Wissenschaft”, gibt Peter zu bedenken, “ist nicht nur<br />

Erkenntnisquelle für den Neugierigen, sie ist auch die wichtigste<br />

Investition der Menschheit in die Sicherung ihrer Existenzgrundlagen<br />

und in die Gestaltung ihrer Zukunft.”<br />

“Auch ich hoffe”, entgegnet der Pastor, “daß der große Aufwand<br />

an finanziellen Mitteln und geistigem Bemühen vieler<br />

unserer besten Köpfe nicht nur Bewährtes in Frage stellt,<br />

nicht nur Unsicherheit verursacht und Zerstörung, sondern<br />

auch konstruktive Hilfe leistet für die Gestaltung unseres Lebens<br />

und des Lebens unserer Kinder. Vor allem darin sehe ich<br />

als Geistlicher die Berechtigung wissenschaftlicher Forschung.”<br />

Der Pastor erhebt sich und schenkt Wein nach. Dann sagt<br />

er: “Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich bin<br />

gleich zurück.” Er verläßt das Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />

Allein, fährt sich Peter, den letzten Gedankenaustausch rekapitulierend,<br />

mit Zeige- und Mittelfinger durch den Bart. Er<br />

überlegt, ob er zu weit gegangen ist in seinen Äußerungen.<br />

‘Nein’, sagt er sich schließlich, ‘nein, das bin ich nicht. Ich<br />

meine sogar, daß das Gespräch bisher ganz gut verlaufen ist.<br />

Besser jedenfalls, als ich befürchtet hatte.’ Er greift zum Glas.<br />

‘Der Wein schmeckt wirklich gut.’<br />

Der Pastor kommt zurück. Besorgt blickt er auf seine Armbanduhr:<br />

“Wo nur die Inge bleibt! Ich hoffe, sie hat ihrer<br />

Freundin helfen können und wird bald zurück sein!” Mit einem<br />

leisen Seufzer n<strong>im</strong>mt er wieder in seinem Sessel Platz<br />

und greift zur Zigarre. “Noch ein Wort zur Ethik. Die biblischen<br />

Zehn Gebote präzisieren die ethischen Richtlinien des<br />

Christentums. Sie formen die Grundlage für menschliches<br />

Miteinander. Die Verkündigung dieser göttlichen Gebote und<br />

die ständige Ermahnung der Kirche, diese auch einzuhalten,<br />

das sind Grundpfeiler unserer Kultur.”<br />

“Wohl wahr. Aber so manche Forderungen der christlichen


402 EINSICHTEN<br />

Ethik schießen auch über das Ziel hinaus. Sie haben keine<br />

Basis in der Natur. Die Konsequenz utopischer Christenethik<br />

ist ein zunehmendes Auseinanderfallen von Glauben und<br />

Wissen, von Sollen und Handeln. Im übrigen ist die Essenz<br />

der Zehn Gebote Bestandteil fast jeder Religion und Kultur.<br />

Diese Richtlinien können nicht als etwas spezifisch Christliches<br />

in Anspruch genommen werden. Sie sind grundsätzliche<br />

Anleitungen für menschliches Verhalten und haben dementsprechend<br />

ihren Niederschlag auch in weltlichen Gesetzbüchern<br />

gefunden. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten,<br />

daß diese Richtlinien an sich mit Religion wenig zu<br />

tun haben. Das, was den Kern der Religion ausmacht, das ist<br />

der ausschmückende, historische, mystische und rituelle Rahmen,<br />

in dem diese ethischen Forderungen jeweils angeboten<br />

werden. Und auch da habe ich be<strong>im</strong> Christentum Kritik anzumelden.”<br />

“Soo??” Der Tonfall des Pastors hat sich geändert.<br />

Peter spürt, daß er sich einer Grenze nähert. Er wird unsicher.<br />

Er schweigt. Und er ermahnt sich abermals zur Zurückhaltung.<br />

Dann aber sagt er: “Mir ist da vor kurzem ein<br />

Buch in die Hände geraten. Es trägt den Titel: “Die Fünf Weltreligionen.”<br />

*<br />

“Der Autor, Professor für Indologie und vergleichende Religionswissenschaften,<br />

schreibt über Brahmanismus, Buddhismus,<br />

Chinesischen Universismus, Christentum und Islam.<br />

Seine Darstellungen, Analysen und Synthesen bestechen<br />

durch Sachkenntnis und Sorgfalt. Unter anderem kommt er<br />

zu dem Schluß, daß es nicht nur christliche, sondern auch<br />

außerchristliche Zeugnisse gibt für eine historische Existenz<br />

Jesu.”<br />

“Wahrlich, derer gibt es viele.”<br />

“Als historischer Kern ergibt sich seiner Ansicht nach etwa<br />

folgendes Bild. Jesus war der älteste Sohn des Joseph und der<br />

* H. von Glasenapp, 1982, Eugen Diederichs Verlag, Köln


Streitgespräch 403<br />

Maria. Er hatte noch mehrere Schwestern und vier Brüder,<br />

Jakobus, Joses, Judas und S<strong>im</strong>on. Jesus war ungefähr dreißig<br />

Jahre alt, als er mit seiner öffentlichen Tätigkeit begann.<br />

Diese hat insgesamt offenbar nur ein einziges Jahr oder wenig<br />

länger gedauert. Eine außerordentlich kurze Zeitspanne, gemessen<br />

an den jetzt schon fast zweitausend Jahre währenden<br />

<strong>im</strong>mensen Wirkungen, die seine Tätigkeit verursacht hat.<br />

Jesus verkündete Lehren, die vor ihm bestanden hatten, vor<br />

allem Lehren des Judentums. Seine originäre Leistung bestand<br />

nicht darin, daß er – wie dies später der eher fanatisch<br />

missionierende Paulus getan hat – ein neues theologisches<br />

System schuf, sondern daß er überkommenen Lehren eine<br />

besondere Ausschmückung und einen besonderen Charakter<br />

gab. Durch wundervolle, gefangennehmende Gleichnisse, die<br />

seiner Welt als Bauhandwerker entlehnt waren, und durch<br />

kernige Formulierungen verlieh er dem Überkommenen eine<br />

starke Ausstrahlungskraft.”<br />

Der Pastor nickt.<br />

“Unsere Welt aber war Jesus völlig fremd. In dem Maße, in<br />

dem sein Wirken unter den Menschen seiner Zeit ein Echo<br />

fand, fühlte er sich – wie viele andere Menschen vor und nach<br />

ihm – als göttlicher Verkünder und Erlöser. Seine Muttersprache<br />

war aramäisch. Die Rekonstruktion dessen, was er<br />

gesagt hatte, wurde durch große Lücken in der Dokumentation<br />

erschwert und durch absichtsvolles Um- und Ausdeuten der<br />

Chronisten in vielfältiger und meist undurchschaubarer Weise<br />

abgewandelt und ergänzt. So weichen die Texte seiner Predigten<br />

in der Literatur oftmals erheblich voneinander ab. Auch<br />

der mir befreundete junge Doktor der Theologie kam bei seinen<br />

Nachforschungen zu dem Schluß, daß in den Evangelien<br />

Wortwendungen überliefert sind, die nicht auf Jesus<br />

zurückgeführt werden können. Sie sind Jesus erst lange nach<br />

seinem Tod zugeschrieben worden. Zeit verändert. Zeit<br />

verfremdet. Wo keine historische Kontinuität besteht, wird<br />

Erinnerung rasch lücken- und fehlerhaft. Offenbar waren die


404 EINSICHTEN<br />

Evangelisten bestrebt, das schändliche Scheitern ihres Messias<br />

<strong>im</strong> Nachhinein umzudeuten in einen gottgewollten Plan und in<br />

einen glorreichen Sieg.”<br />

Da der Pastor nichts sagt, fragt Peter: “Wer war Jesus wirklich?<br />

Was ist der Kern der heute erkennbaren historischen<br />

Wahrheit? Jesus war ein israelitischer Prophet von hoher Sensibilität<br />

und Impulsivität. Aus sorgfältigen Literaturstudien<br />

hat mein theologischer Freund den Schluß gezogen, daß Eltern<br />

und Geschwister Jesus für radikal, ja, zeitweise für verrückt<br />

gehalten haben. Jesus konnte sanft sein aber auch grob,<br />

anziehend aber auch abstoßend, extrem in der Forderung nach<br />

Einhaltung von Gesetzen, aber auch grundlos großzügig <strong>im</strong><br />

Vergeben. Es gibt viele verschiedene Vorstellungen über diesen<br />

Messias. Nach den meisten Chronisten war Jesus ein<br />

aufrechter, einfacher Mann. Immer wieder hat er vergeblich<br />

gehofft, daß Gott sich zu ihm bekennen möge. Vermutlich hat<br />

er sehr darunter gelitten, daß dies niemals geschehen ist.”<br />

Peter schweigt eine Weile. Dann fährt er fort: “Für Jesus<br />

war ein direkter Weg zu Gott das Gebet. Dabei entriet er aber<br />

der Zurschaustellung. Und ein Gebet sollte nichts enthalten,<br />

das Gottes Wesen widerspricht, auch nichts, das anderen<br />

Menschen Nachteil bringt. Also darf man <strong>im</strong> Krieg nicht um<br />

den eigenen Sieg bitten. Das ‘Vaterunser’ ist nicht seine<br />

Schöpfung. Alle Bitten in diesem Gebet fußen auf jüdischen<br />

Vorbildern. Das Judentum, eine Hochreligion, die aber den<br />

nationalen Bereich nicht überschritten hat, ist die geschichtliche<br />

Voraussetzung für das Wirken und Wollen Christi.”<br />

Peter überlegt, ob er weiterreden soll. Aber dann sagt er<br />

sich, ‘es muß sein, es muß jetzt alles auf den Tisch.’ “Das Symbol<br />

des Christentums ist das Kreuz. Aber so mancher Chronist<br />

bezweifelt, ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben ist. Keiner<br />

seiner Jünger, keiner der Überlieferer dessen, was damals<br />

geschah, war dabei als Jesus starb.”<br />

“Das Todesurteil”, sagt der Pastor, “wurde von einem römischen<br />

Gericht gefällt. Die Kreuzigung ist eine römische Hin-


Streitgespräch 405<br />

richtungsart, keine jüdische.”<br />

“Ja”, nickt Peter, “die Römer verurteilten zu dieser ihrer<br />

furchtbarsten Strafe desertierte Soldaten, Aufständische und<br />

entlaufene Sklaven. Der Verurteilte starb unter entsetzlichen<br />

Qualen. Meist dauerte das länger als einen Tag. Nach der<br />

Überlieferung war für Jesus schon nach sechs Stunden alles<br />

vorüber. Dann erbat und erhielt ein angesehener Bürger aus<br />

Jerusalem den vom Kreuz Genommenen und bestattete ihn<br />

<strong>im</strong> eigenen Familiengrab. Alle Jünger waren geflohen. Eine<br />

totale Niederlage ohne jede Größe.”<br />

Peter sieht den Pastor an. Der blickt vor sich hin. “Die Wende<br />

kam erst später, vor allem mit Paulus. Der hatte Jesus nie<br />

gekannt Aus dem Tod Jesu entwickelte er ein Gedankengebäude,<br />

das viele Menschen gefangen nahm. Paulus erfand den<br />

Mythos der Auferstehung. Er machte aus der Auferstehung<br />

die göttliche Bestätigung des Messias, die es tatsächlich niemals<br />

gegeben hat.”<br />

“Paulus …”<br />

“Paulus war der erste Theologe. Er erschuf nicht nur den<br />

Sohn, sondern auch den Vater: den Gott der Theologen. Paulus<br />

pervertierte das Lebensbejahende des Jesus in eine naturfremde<br />

Lebensverneinung. Der Gott des Paulus und der Gott<br />

der Theologen ist nicht der Gott des Jesus.”<br />

Peter pafft. Dann sagt er: “Das Christentum lehrt Barmherzigkeit,<br />

aber es ruft auch auf zu erbarmungslosem Kampf<br />

gegen Andersgläubige. Es verschreibt sich der Nächstenliebe,<br />

aber es verkündet auch ein Heil, das aus einem Menschenopfer<br />

kommt. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Vergebung<br />

und Verdammung, aus Liebe und Drohung.”<br />

“Wie meinen Sie das, Drohung?”<br />

“Ist das keine Drohung, wenn es in der Bibel heißt: ‘Wer da<br />

glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht<br />

glaubt, der wird verdammt werden’? Ist das Jüngste Gericht<br />

keine Drohung? Sollen da nicht alle guten und alle bösen<br />

Taten eines jeden Menschen erbarmungslos gegeneinander


406 EINSICHTEN<br />

aufgerechnet werden?”<br />

“Die Bibel sagt: ‘Seid barmherzig, wie auch euer Vater<br />

barmherzig ist.’”<br />

“Wie kann der Christengott beides sein, barmherziger<br />

Schöpfer und unbarmherziger Richter? Wie paßt denn das zusammen?<br />

Und wenn dieser Gott die Menschen erschaffen<br />

hätte, so würde er doch am Ende zu Gericht sitzen über seine<br />

eigenen Taten. Be<strong>im</strong> Jüngsten Gericht würde er sich selber<br />

Noten geben, nichts sonst.”<br />

Peter klopft seine Pfeife aus <strong>im</strong> Aschenbecher. “Und was eigentlich<br />

bedeutet Bestrafung durch den Christengott? Ich<br />

sehe nur Willkür. Die trifft den Guten wie den Bösen. Warum<br />

Strafe und Leid auch für streng Gläubige? Es gibt da keinerlei<br />

erkennbare Kausalität.”<br />

“Kausalität! Das <strong>Suchen</strong> nach einem Grund führt meist<br />

nicht weit. Die Bibel sagt: ‘Einen andern Grund kann niemand<br />

legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christ’.”<br />

“Die Kirchenoberen machen aus so manchem Göttliches.<br />

Und sie behaupten zu wissen, was dem Menschen zusteht.<br />

Was aber steht ihm zu?” Peter schüttelt den Kopf. Dann sagt<br />

er: “Mich hat noch etwas anderes nachdenklich gest<strong>im</strong>mt.”<br />

“Was?”<br />

“Warum hat Jesus gesagt, ‘ich bin nicht gekommen, Frieden<br />

zu bringen, sondern das Schwert’?”<br />

“Jesus ging es vor allem um Frieden innerhalb eines Volkes,<br />

nicht zwischen Völkern. Dennoch, <strong>im</strong> Kern heißt die Botschaft:<br />

‘Friede auf Erden’.”<br />

“Das ist auch wieder so eine Botschaft, über die offenbar<br />

kaum jemand wirklich nachgedacht hat.”<br />

“Wie können Sie so etwas behaupten?!”<br />

“Bitte lassen Sie uns das einmal durchdenken.”<br />

Widerstrebend willigt der Pastor ein.<br />

“Frieden ist für mich Zusammenleben von Individuen oder<br />

Gruppen ohne beschädigende Gewalt, geregelt durch einvernehmliche<br />

Ausarbeitung, Anerkennung und Anwendung von


Streitgespräch 407<br />

Ordnung mit dem Ziel einer Entschärfung von Gegensätzen<br />

durch Kompromisse.” Er sieht fragend zum Pastor hinüber.<br />

Der nickt.<br />

“Frieden beinhaltet Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung<br />

eigener Ziele sowie die Befolgung konfliktbegrenzender Vereinbarungen.<br />

Frieden ist also mehr als die Abwesenheit von<br />

Krieg.”<br />

“Einverstanden.”<br />

“Können wir uns dann auf die Kurzformel einigen: Frieden<br />

ist ein Zustand sich fortschreibender, gewaltfreier oder doch<br />

einvernehmlich gewalteinschränkender Koexistenz?”<br />

“Ja.”<br />

“Das ist ein Zustand, der <strong>im</strong> Programm der Entstehung und<br />

Entfaltung irdischen Lebens nicht vorgesehen ist. Das ist etwas<br />

von der Schöpfung nicht Gewolltes. Die Natur zwingt alle<br />

ihre Geschöpfe, auch den Menschen, unerbittlich zu fortgesetzter<br />

Gewaltanwendung, und zwar insgesamt in unerhörtem<br />

Ausmaß. Dieser unbestreitbare Sachverhalt widerspricht<br />

zugleich auch anderen christlichen Geboten, so dem Gebot ‘Du<br />

sollst nicht töten’. Wir müssen töten um zu leben. Jeden Tag.<br />

Jeder Bissen unserer Nahrung enthält Teile anderer Lebensformen,<br />

die wir vorher töten mußten oder die wir töten, indem<br />

wir sie verzehren. Das ist die Realität. Wer das nicht sieht, ist<br />

blind!”<br />

“Sie sehen manches zu einseitig. Jesus hat auch gesagt:<br />

‘Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet’.<br />

Hier, in den beiden Worten ‘in mir’, liegt der Kern der<br />

christlichen Botschaft. Wer gerecht geworden ist durch den<br />

Glauben, der hat Frieden in und mit Gott durch unsern Herrn<br />

Jesum Christ.”<br />

Jedes Wort abwägend, setzt Peter seinen Gedanken fort:<br />

“Welche Kraft, mit welcher Botschaft auch <strong>im</strong>mer, diese auf<br />

Konflikt, Gewaltanwendung und Töten beruhende irdische<br />

Ordnung geschaffen hat, sie kann unmöglich gleichzeitig die<br />

Forderung erheben: ‘Friede auf Erden!’ Das wäre blanker


408 EINSICHTEN<br />

Hohn. Aus meiner Sicht stammt die Gott in den Mund gelegte<br />

Forderung ‘Friede auf Erden’ von Menschen, von solchen, die<br />

es nicht besser wußten, oder von solchen, die es besser wußten<br />

und daher gelogen haben. Wie viele andere Forderungen der<br />

Bibel, so ist auch diese Forderung bestenfalls Wunschdenken.<br />

Den Christengott als Schöpfer irdischen Lebens zu sehen und<br />

ihm gleichzeitig die Botschaft vom Frieden und das Gebot ‘Du<br />

sollst nicht töten’ zuzuschreiben, das paßt nicht zusammen.”<br />

Den Pastor beginnen diese so rücksichtslos dahin geschleuderten<br />

Angriffe auf seine Religion zu schmerzen. Seine Geduld<br />

wird auf eine harte Probe gestellt. Natürlich weiß er, was<br />

ein Bruch zwischen ihm und Peter für seine Tochter bedeuten<br />

würde. Seine tiefe Liebe zu Inge gibt ihm die große Kraft, die<br />

er jetzt braucht, um dieses Streitgespräch durchzustehen, um<br />

die harte Kritik des jungen Wissenschaftlers an seiner Religion,<br />

an seinem Herrn, zu ertragen. Leise sagt er: “Ich liege<br />

und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir,<br />

daß ich sicher wohne.”<br />

“Kein Wunder also”, fährt Peter hartnäckig fort, “daß der<br />

Mensch als Produkt der Natur so große Schwierigkeiten hat<br />

mit der Herstellung und Bewahrung von Frieden. Aber mit<br />

ihrer gewaltigen Veränderungs- und Vernichtungsmaschinerie<br />

können die Menschen ohne Frieden nicht überleben. Sie<br />

müssen daher lernen, Frieden zu organisieren, groteskerweise<br />

notfalls mit Gewalt. Die Natur hilft ihnen da nicht weiter,<br />

die Schöpfung läßt sie da <strong>im</strong> Stich. Die Fähigkeit zum<br />

Frieden müssen wir uns selbst mühsam erarbeiten. Niemand<br />

und nichts bringt oder schenkt uns Frieden. Wir selbst müssen<br />

ihn erringen. Das ist die Botschaft!”<br />

Der Pastor wiegt den Kopf. Er hat seine Fassung<br />

zurückgewonnen.<br />

“Frieden auf Erden”, fährt Peter fort, “kann es niemals<br />

geben, Frieden unter Menschen nur, wenn wir die uns von der<br />

Natur verliehenen Eigenschaften zu ändern oder doch zu<br />

kontrollieren vermögen.”


Streitgespräch 409<br />

“Voraussetzungen für Frieden”, entgegnet der Pastor “sind<br />

Bescheidenheit, Achtung der Menschenwürde und eine als<br />

gerecht empfindbare soziale Weltordnung. Hinzu kommt die<br />

höchste Tugend der Politik: Mut zum Ausgleich. Ich sehe<br />

manches anders als Sie. Aber Ihre Sicht hat ihr eigenes Gewicht.<br />

Frieden ist ein hohes Ziel, dem wir uns ständig neu verpflichten<br />

müssen. Gewalt hat viele Gesichter und viele Masken.<br />

Was wir lernen müssen, das ist die Anwendung von<br />

Gewalt innerhalb anerkannter Regeln und Gesetze, und zwar<br />

<strong>im</strong> weltweiten Maßstab.” Nach einer Pause fügt er hinzu: “Im<br />

christlichen Glauben hat der größte Teil der Menschheit seit<br />

zweitausend Jahren gelebt und überlebt. In ihm wurzeln die<br />

geistigen Vorstellungen der meisten Menschen auch noch<br />

heute.”<br />

Peter nickt. “Im Grunde zwei nicht unähnliche Perspektiven.”<br />

“Zwei ähnliche Perspektiven”, sagt der Pastor. “Und wir<br />

sollten daher auch gemeinsam versuchen, zurückzufinden zu<br />

den Wurzeln dessen, was Jesus wirklich gewollt hat. Die<br />

Essenz der Lehren Jesu hat in zweitausend Jahren nichts von<br />

ihrer Bedeutung für den Menschen verloren, und sie hat<br />

nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Kern der Lehren<br />

Jesu liegt die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. In<br />

Seinen Lehren schlummern die Kräfte, denen der Mensch<br />

nicht entsagen darf, wenn er die Herausforderungen unserer<br />

Zeit bestehen will.”<br />

Peter fingert in seinem Bart. Er nickt. ‘Der Pastor hat da<br />

nicht unrecht’, denkt er. Und er denkt auch, ‘der Mann fordert<br />

mir Respekt ab.’ Aber dann führt ihn plötzlich ein neuer<br />

Gedanke zurück zu seiner Argumentation von vorhin: “Noch<br />

etwas anderes, das Jesus laut Bibel gesagt hat, habe ich mir<br />

eingeprägt. Er hat gesagt: ‘Ich bin gekommen, den Menschen<br />

zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre<br />

Mutter.” Und dann hat er noch gesagt: ‘Wer Vater oder Mutter<br />

oder Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner


410 EINSICHTEN<br />

nicht wert.’”<br />

Das trifft den Pastor mitten ins Herz. Auch er kennt<br />

natürlich Bibelstellen, die ihm Schmerzen bereiten. Die so gar<br />

nicht in das Bild passen, das er von seinem Herrn und von<br />

dessen Lehren in sich trägt. Aber diese Bibeltexte sind in<br />

einem solchen Ausmaß in der Minderheit, und ihr Sinn läßt so<br />

manche Deutungsmöglichkeit zu, daß er sie <strong>im</strong>mer wieder<br />

zugedeckt hat, daß er sie überdeckt hat mit all dem Schönen,<br />

all dem Großartigen, das da geschrieben steht in der Bibel. Er<br />

verfügt über sehr viel Wohlwollen, und er kann sehr viel Kritik<br />

ertragen. Aber diese Hartnäckigkeit des jungen Wissenschaftlers,<br />

diese Rücksichtslosigkeit, mit der er argumentiert,<br />

das geht ihm allmählich doch zu weit. Inges Freund kann<br />

wirklich sehr aggressiv sein. Ist er zu unerbittlich? Kann man<br />

das alles nicht auch anders sagen? Oder ist er einfach zu<br />

offen? Gilt ihm die Suche nach der Wahrheit mehr als alles<br />

andere?<br />

Der Pastor gibt sich große Mühe, gerecht zu bleiben, seine<br />

Zusage einzuhalten. Hatte er Peter nicht aufgefordert, offen<br />

seine Meinung zu sagen? Und hatte er ihm nicht auch<br />

zugesagt, sich seine Kritik anzuhören? So sagt er jetzt: “Das<br />

ist mir alles zu pointiert vorgetragen und zu einseitig<br />

herausgesucht aus einer Fülle sehr positiver Lehrinhalte und<br />

wundervoller Offenbarungen. Auf diese Weise muß natürlich<br />

ein verzerrtes Bild entstehen.”<br />

Der Pastor erhebt sich und sieht nach dem Feuer. Zurückkommend<br />

läßt er sich schwer in den Sessel fallen. Er n<strong>im</strong>mt<br />

einen Schluck Wein zu sich. Dann wendet er sich Peter zu:<br />

“Ich hatte Ihnen gesagt, daß ich versuchen will, Ihnen geduldig<br />

zuzuhören. Also, bitte, machen Sie weiter, vollenden<br />

Sie Ihre Kritik.”<br />

Peter ist abermals <strong>im</strong> Zweifel, ob er fortfahren soll. Er sieht<br />

hinüber zum Pastor. Seine Augen versinken in dessen ernstem,<br />

tiefdringendem Blick. Einen Augenblick lang wagt er nicht zu<br />

sprechen. Erst als der Pastor aufmunternd nickt, findet er zu


Streitgespräch 411<br />

sich zurück: “Was haben die Kirchenoberen aus den Lehren<br />

Christi gemacht? So manche Vertreter der heutigen Kirche<br />

wollen nicht drängelnde Denker, sie wollen duckende Diener.<br />

Sie wollen nicht Aufrechte, sie wollen Gebeugte. Nur wer den<br />

Kopf senkt, nur wer mitläuft, kommt weiter.”<br />

“Selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum<br />

widersetze dich nicht der Zucht des Allmächtigen.”<br />

“Leben heißt voranschreiten, sich korrigieren, sich weiterentwickeln.<br />

Das alles suchen diese Leute verbissen zu verhindern.<br />

Gezielt verhüllen oder verbrämen sie die Ergebnisse<br />

kritischer Religionsforschung. Diese Leute sind Meister geworden<br />

<strong>im</strong> Konservieren. Sie machen die Kirche zur Mumie!”<br />

Als der Pastor nicht antwortet, fährt Peter fort: “Im letzten<br />

Jahr war ich <strong>im</strong> Krankenhaus. Dort wurden mir die Mandeln<br />

entfernt. Leider hatte ich vergessen, mir etwas zu lesen mitzunehmen.<br />

Da fand ich ein Exemplar der Bibel in der Schublade<br />

meines Nachttisches. Ich war <strong>im</strong>mer der Ansicht gewesen,<br />

die Bibel sei ein gutes Buch. So habe ich darin gelesen.<br />

Immer wieder. Ich habe verschiedene Texte miteinander<br />

verglichen, habe versucht, Zusammenhänge herzustellen, in<br />

das einzudringen, was da wirklich geschrieben steht. Ich habe<br />

nicht einen Vers gelesen und dann darüber meditiert, sondern<br />

ich habe versucht, mit kritischem Abstand mir eine Übersicht<br />

über das zu verschaffen, was da eigentlich drin steht in<br />

diesem Buch. Das hat mich so aufgeregt, daß ich die ganze<br />

Nacht kein Auge schließen konnte. Das Alte Testament strotzt<br />

vor bitter-süßen Geschichten, vor…”<br />

“Das Alte Testament reicht weit zurück, in die Zeit, als das<br />

Volk Israel aus der Wüste in das verheißene Land zog.”<br />

“… vor Betrügereien und Unsittlichkeiten, vor Greueltaten<br />

und Morden, vor Unfug und …”<br />

“Herr Doktor!!!”<br />

Mit lautem Aufprall fällt das Gartentor ins Schloß, hallt<br />

Laufschritt herüber aus dem Garten. Die Haustür wird aufgerissen<br />

und dann die Tür zum Wohnz<strong>im</strong>mer.


412 EINSICHTEN<br />

Da steht sie nun, zu Tode erschrocken und weiß wie Kreide.<br />

Sofort erkennt Inge: Das Gewitter hat stattgefunden. Mit vor<br />

Furcht bebenden Lippen fragt sie: “Habt ihr euch gestritten?”<br />

“Sei unbesorgt”, sagt der Pastor, scheinbar völlig ruhig. Er<br />

steht auf, geht hinüber zu seiner Tochter und n<strong>im</strong>mt sie in<br />

den Arm. Aber Inge spürt, daß er zittert. “Nun erzähl uns erst<br />

einmal, wie es bei dir, bei deiner Freundin, gegangen ist. Danach<br />

werden wir dann über unser Gespräch berichten.”<br />

Inge schluckt. Sie braucht einen Augenblick, um sich zu<br />

sammeln. Unsicher beginnt sie zu erzählen, stockend zuerst,<br />

dann in zunehmendem Maße voller Mitleid und Sorge. Sie<br />

setzt sich in den dritten Sessel. Nur das Wichtigste erzählt<br />

sie. Dabei blickt sie <strong>im</strong>mer wieder von dem einen zum anderen.<br />

Peter hält den Blick meist gesenkt. Der Pastor ist voller<br />

Anteilnahme. Er fragt, ob er helfen kann.<br />

“Nein. Was überhaupt an Hilfe und Trost möglich war, das<br />

habe ich getan. Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu ihr<br />

fahren.” Wieder blickt Inge voller Angst auf die beiden Männer.<br />

Hin und her irrt ihr Blick. Von einem zum anderen. “Und<br />

wie ist es bei euch gegangen?”<br />

Mit einer Handbewegung lädt der Pastor Peter ein, auf<br />

diese Frage zu antworten. Der aber schüttelt abwehrend den<br />

Kopf und sagt: “Herr Pastor, Sie sind der Ältere und der<br />

Erfahrenere … und auch der Bessere, um unsere Diskussion<br />

für Inge zusammenzufassen.”<br />

Der Pastor schmunzelt: “Nicht ungeschickt.” Er erhebt sich,<br />

holt ein drittes Glas. “Laßt uns zunächst einmal anstoßen,<br />

alle drei.” Mit zitternder Hand füllt er die Gläser.<br />

Dann sagt er mit seiner tiefen Baritonst<strong>im</strong>me ganz ruhig:<br />

“Zum Wohl, ihr beiden.”<br />

“Zum Wohl”, antwortet Peter mit trockener Kehle.<br />

Die drei trinken.<br />

Das alles gibt dem Pastor Gelegenheit, die Fassung wieder<br />

zu erlangen, zu überlegen, was er sagen wird.<br />

Als sie getrunken haben, sagt Inge: “Es war sehr leicht-


Streitgespräch 413<br />

sinnig von mir, euch beide ohne Aufsicht so lange allein zu<br />

lassen.”<br />

Die beiden Männer lächeln gequält. Peter schämt sich des<br />

von ihm verursachten Streites.<br />

Abermals n<strong>im</strong>mt der Pastor einen kleinen Schluck Wein zu<br />

sich. Und dann formuliert er seine Antwort auf Inges Frage.<br />

Langsam, jedes Wort sorgfältig abwägend, beginnt er: “Unser<br />

Gespräch war offen und schon aus diesem Grunde ein gutes<br />

Gespräch.” Er blickt hinüber zu Peter. Als der nickt, fährt er<br />

fort: “Wir sind sehr verschieden in unseren Erfahrungen,<br />

Ansichten und Überzeugungen. So haben wir auch aus<br />

unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und argumentiert.<br />

Das hat auch zu – Kontroversen geführt. Ich kann keineswegs<br />

alles akzeptieren, was Peter gesagt hat. Und ihm wird es mit<br />

meinen Entgegnungen nicht anders gehen. Aber wir<br />

respektieren unsere Verschiedenartigkeiten.” Erneut sieht er<br />

Peter an. Der nickt jetzt heftig. “Keiner hat versucht, den<br />

anderen über den Tisch zu ziehen, wie man so sagt. Daher<br />

sind die Unterschiede auch bestehen geblieben. Wir haben<br />

viel übereinander in Erfahrung gebracht. Ich für meinen Teil<br />

meine, daß dieses Gespräch nicht nur notwendig war, sondern<br />

auch nützlich.” Wieder nickt Peter. “Dieses Streitgespräch<br />

mußte geführt werden, früher oder später. Das Bekenntnis zu<br />

unseren Übereinst<strong>im</strong>mungen, aber auch zu den zum Teil unüberbrückbaren<br />

Unterschieden hat die Funktion eines reinigenden<br />

Gewitters gehabt. Und es hat, glaube ich, auch eine<br />

Grundlage geschaffen, auf der wir langfristig miteinander<br />

leben, ja gute Freunde werden können.”<br />

“All dem kann ich voll und ganz zust<strong>im</strong>men.” Peter sieht<br />

den Pastor an mit einem Blick voller Bewunderung und tiefer<br />

Dankbarkeit. “Das haben Sie wunderbar gesagt, Herr Pastor.”<br />

Und dann sagt er: “Es war gut, daß ich Ihnen den Vortritt<br />

gelassen habe. So korrekt und so fair hätte ich das nicht sagen<br />

können. Auch ich bin sehr froh darüber, daß wir mit diesem<br />

Gespräch eine Grundlage geschaffen haben, an der sich zu-


414 EINSICHTEN<br />

künftige, auch kontroverse Diskussionen werden messen lassen<br />

müssen. Ein Pastor und ein Wissenschaftler, das ist eine<br />

brisante Mischung. Da muß man vorsichtig umgehen mit dem<br />

Feuer.”<br />

“Ja”, sagt der Pastor, “besonders, wenn man Raucher ist.”<br />

Und nun lachen alle drei.<br />

Peter steht auf, geht auf den Pastor zu. Der erhebt sich<br />

ebenfalls. Sie reichen einander die Hand, schütteln sie ganz<br />

fest, nähern sich einander, deuten gar eine Umarmung an.<br />

Dann nehmen sie wieder Platz.<br />

Abseitsstehend holt Inge tief Luft. Die Hand streicht über<br />

tränenfeuchte Augen. Sie läßt die Schultern sinken und entläßt<br />

einen für die Männer unhörbaren Seufzer. Rasch dreht<br />

sie sich um und geht in die Küche. Dort holt sie ihr geblümtes<br />

Taschentuch hervor, trocknet Tränen und schneuzt sich. Dann<br />

faltet sie die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />

“Danke”, sagt sie am Schluß laut, “danke, lieber Gott!”<br />

Die Männer erheben ihre Gläser und prosten einander zu.<br />

Sie sind sehr ernst, aber auch sehr erleichtert.<br />

Peter steht erneut auf und geht hinüber zum Pastor. Auch<br />

der erhebt sich.<br />

“Herr Pastor, ich danke Ihnen aus vollem Herzen. Und ich<br />

entschuldige mich für meine Hitzköpfigkeit.”<br />

“Danke.”<br />

“Es ist zum Verzweifeln mit mir. Ich hatte mir so fest vorgenommen,<br />

mich in meinen Äußerungen zurückzuhalten. Aber<br />

wenn eine Diskussion so richtig heiß wird, brennt bei mir<br />

<strong>im</strong>mer wieder die Sicherung durch. Und dann sage ich auch<br />

Dinge, die ich so nicht hatte sagen wollen … und so auch nicht<br />

hätte sagen dürfen. Nochmals: ich entschuldige mich. Es tut<br />

mir leid.”<br />

“Schon gut, Peter. Schon gut. Aber in der Sache, <strong>im</strong> Prinzip,<br />

wollen Sie sicher nichts zurücknehmen von dem, was Sie gesagt<br />

haben.”<br />

“Nein”, sagt Peter, “das will ich nicht.” Er sieht dem Pastor


Streitgespräch 415<br />

offen in die Augen. “Aber ich habe viel gelernt. Sie und Inge<br />

haben mir Seiten des Christentums vorgelebt, die ich vorher<br />

nicht kannte.” Er nickt. “Seiten, mit denen ich gut leben kann.<br />

Und Seiten auch, die ich bewundere.”<br />

Abermals reichen die beiden Männer sich die Hand. Und<br />

dann kommt es tatsächlich zu einer Umarmung.<br />

Als Inge in diesem Augenblick die Küchentür öffnet und die<br />

sich umarmenden Männer sieht, schießen ihr die Tränen in<br />

die Augen. Ganz schnell und ganz leise schließt sie die Tür<br />

wieder.<br />

Gedankenverloren geht der Pastor langsam in den Teil des<br />

Wohnz<strong>im</strong>mers, in dem das Klavier steht. Vor dem Bild seiner<br />

Frau bleibt er stehen. Dann setzt er sich und bedeutet Peter,<br />

zu ihm zu kommen und auf dem Stuhl neben ihm Platz zu<br />

nehmen.<br />

“Ich möchte Ihnen etwas sagen, Peter”, beginnt er mit<br />

ernster St<strong>im</strong>me. “Sie haben sich mir vorbehaltlos und ganz geöffnet.<br />

Da will ich nicht zurückstehen. Neben Kritik haben Sie<br />

Zweifel geäußert an den historischen Wurzeln meines Glaubens.<br />

Ich habe da meine eigenen Nachforschungen betrieben.<br />

Und ich sage Ihnen jetzt etwas, das ich noch keinem lebenden<br />

Menschen gesagt habe.” Er schiebt die Unterlippe vor und<br />

nickt stumm vor sich hin. “Etwas, das bisher stillen Gesprächen<br />

mit meinem Gott und mit meiner verstorbenen Frau<br />

vorbehalten war.”<br />

Überrascht wendet sich Peter dem Pastor zu. Der hat den<br />

Blick auf das Bild seiner Frau gerichtet. Erst nach einer Weile<br />

spricht er weiter: “Ich habe die Quellen studiert, aus denen<br />

unser Wissen über die Entstehung des Christentums fließt.<br />

Vor allem unser Wissen über die Kreuzigung und die Auferstehung.<br />

Das sind zwei tragende Säulen meines Glaubens.<br />

Ich bin auf Lücken gestoßen, auf Ausschmückungen und auf<br />

Ungere<strong>im</strong>tes. Es gibt keine Berichte von Augenzeugen. Und<br />

das, was die Überlieferer geschrieben haben, widerspricht<br />

sich in so manchem. Kein Richter dürfte solchen Zeugen


416 EINSICHTEN<br />

Glauben schenken. Ich kann nicht ausschließen, daß die<br />

historische Wahrheit anders ausgesehen hat, als es in den<br />

Schriften der Apostel zu lesen ist.”<br />

Peter blickt stumm auf seine Knie. Er kann gar nicht<br />

fassen, was der Pastor da sagt.<br />

“Die Auferstehung Jesu”, fährt der Pastor fort, “ist das Herz<br />

des Christentums. Aber wir wissen nichts darüber. Die fünf<br />

Zeugnisse der Auferstehung stammen von Paulus, Markus,<br />

Matthäus, Lukas und Johannes. Sie berichten über Erzählungen,<br />

die in der Urgemeinde die Runde machten. Da kursierten<br />

recht unterschiedliche Geschichten. Eine kritische<br />

Überprüfung der Texte der fünf Apostel deckt Widersprüche<br />

auf. Im übrigen wurden früher von vielen großen Männern<br />

Geschichten über deren Auferstehung erzählt. So mußte ich<br />

mir schließlich eingestehen, daß es eine Auferstehung möglicherweise<br />

gar nicht gegeben hat.”<br />

Peter schluckt. “Und dennoch sind Sie ein tiefgläubiger<br />

Christ.”<br />

“Ja.”<br />

“Wenn die historischen Säulen nicht tragen, worauf gründet<br />

sich dann Ihre Gläubigkeit?”<br />

“Auf den Geist, der Jesus Christus, seine Jünger und seine<br />

Gemeinde erfüllte. Und der uns Gläubige noch heute erfüllt.<br />

Dieser Geist hat in den Herzen ungezählter Menschen ein<br />

riesiges Feuer entfacht. Aus diesem Feuer sind Gedanken, Gefühle<br />

und Gewißheiten gereift. Aus ihnen erwuchs Lebendiges:<br />

Ein gewaltiger Baum des Glaubens, dessen mächtige Äste und<br />

Zweige haben die Säulen umrankt. Wahrlich, das Gewachsene<br />

ist <strong>im</strong> Laufe der Zeit so stark geworden, so mächtig und auch<br />

so real, daß es der historischen Einzelheiten nicht mehr so<br />

sehr bedarf. Im Verlaufe von zwei Millennien ist hier<br />

Großartiges entstanden, etwas, das sich selber trägt.”<br />

“Haben Sie nie mit Inge über die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen<br />

gesprochen?”<br />

“Nein.”


“Bitte sprechen Sie mit ihr! Ihre Einsichten werden für Inge<br />

nützlich sein. Sie werden ihr ermöglichen, ihr bedingungsloses<br />

Gottvertrauen zu relativieren und in stärkerem Maße<br />

eigene Verantwortung zu entwickeln. So könnte sie ihr Leben<br />

freier gestalten und sich selber besser schützen.”<br />

“Ich werde mit Inge sprechen.”<br />

“Danke!”<br />

Peter schweigt. Und er denkt: ‘Hoffentlich tut der Pastor<br />

das bald.’<br />

Abschied<br />

Abschied 417<br />

Auch heute schmeckt das Essen vorzüglich. Peter genießt<br />

Inges Kochkunst. Gelegentlich nicken sie einander zu.<br />

Ansonsten herrscht Schweigen.<br />

Nach dem Dankgebet falten sie ihre Servietten zusammen<br />

und reichen einander die Hand. Mit freundlichen Worten und<br />

einem Wangenkuß bedankt sich Peter bei der Hausfrau. Die<br />

lächelt: “Es freut mich, daß es dir geschmeckt hat.”<br />

Inge ist unendlich glücklich darüber, daß die beiden Männer<br />

die kritische Probe in ihrer Beziehung bestanden haben.<br />

Der Pastor sieht Inge an und dann Peter. In seinen Augen<br />

leuchtet Wärme auf. Er erhebt sein Glas und sagt: “Dem<br />

Herrn sei Dank! Er hat uns beigestanden.” Er wendet sich seiner<br />

Tochter zu: “Und offenbar auch deiner Freundin.”<br />

“Ja”, sagt Inge.<br />

Entspanntes Schweigen.<br />

Plötzlich steht Peter auf, stellt sich hinter seinen Stuhl, legt<br />

beide Hände auf dessen Rückenlehne und räuspert sich. Er<br />

sieht den Pastor an und danach Inge. Einen Augenblick lang<br />

bleibt er stumm. Vater und Tochter wenden sich ihm zu, mit<br />

einem Ausdruck von Überraschung und mit erwartungsvollem<br />

<strong>Inter</strong>esse.<br />

Peter räuspert sich noch einmal. Dann beginnt er: “Sehr


418 EINSICHTEN<br />

verehrter Herr Pastor.” Er macht eine Verbeugung zum<br />

Pastor hin. Dann wendet er sich zur Seite und sagt, etwas<br />

leiser, “meine geliebte Inge.” Erneut dem Pastor zugewandt,<br />

fährt er fort: “Es mag unmodern geworden sein, es mag auch<br />

nicht formgerecht sein – wie auch <strong>im</strong>mer – hiermit halte ich<br />

an um die Hand Ihrer Tochter. Ich verspreche Ihnen, ich<br />

werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Inge<br />

glücklich zu machen. Und ich verspreche Ihnen ebenso, daß<br />

ich alles tun will, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen,<br />

daß wir drei gut miteinander auskommen können,” abermals<br />

räuspert er sich, “daß wir in Harmonie und in Freundschaft<br />

miteinander leben können.”<br />

Der Pastor steht auf, geht zu Peter hinüber und umarmt<br />

ihn. Er ist tief bewegt. Ohnehin hatte ihn das Streitgespräch<br />

stärker erschüttert, als er sich hatte anmerken lassen. So<br />

manches von dem, was der Peter ihm da so ungestüm vor die<br />

Füße geschleudert hatte, zerrte nicht zum erstenmal an<br />

seinem Herzen. Seine Augen werden feucht. “Eigentlich”, sagt<br />

er mit trockenem Mund und schwerer Zunge, “eigentlich<br />

müßte ich jetzt etwas sagen, eine kleine Rede halten … Aber<br />

ich kann das jetzt nicht.” Er unterdrückt Schluchzen. “Ich bin<br />

sehr glücklich.” Er atmet tief und versucht, Tränen<br />

zurückzuhalten. Doch das gelingt ihm nicht ganz. Am<br />

äußeren Rand der Augenlider glitzert es: Tränen von der Art,<br />

wie sie verstohlen aus den Tiefen des Herzens hochzuquellen<br />

scheinen. Er schluckt. “Ich … ich bin sehr dankbar … für<br />

einen solchen Schwiegersohn.”<br />

“Oh, Peter, mein geliebter Peter!” Inge fliegt in ausgebreitete<br />

Arme. “Ich will dir eine gute Frau sein!!”<br />

Am nächsten Morgen steht Inge in aller Frühe auf und fährt<br />

zu ihrer Freundin. Gott sei Dank geht es ihr besser. Das<br />

Schl<strong>im</strong>mste scheint überwunden zu sein. So fährt sie, so<br />

schnell ihr das möglich ist, zurück und bereitet das Frühstück<br />

zu.


Abschied 419<br />

Inge, Peter und Pastor sind sehr glücklich über die schwer<br />

errungene Voraussetzung für ein Leben zu dritt. Am Frühstückstisch<br />

umarmen sie einander und sprechen<br />

händehaltend gemeinsam das Morgengebet. Für Peter ist dies<br />

der schönste Tag in seinem Leben. Er hat eine wundervolle<br />

Frau gefunden. Er hat wieder eine Familie!<br />

Be<strong>im</strong> Frühstück wird heute mehr geredet als sonst. Hin und<br />

her fliegen die Worte. Die drei sprechen über Peters bevorstehende<br />

Reise nach Amerika. Vor kurzem hatte er eine ehrenvolle<br />

Einladung erhalten. An der Universität von Kalifornien<br />

in Los Angeles wird er einen Vortrag halten und anschließend<br />

drei Wochen in einem dortigen Institut mit amerikanischen<br />

Kollegen wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente durchführen. Sobald<br />

er zurück ist, soll die Hochzeit stattfinden. Darüber machen<br />

sie jetzt voll aufgeregter Vorfreude ihre Pläne.<br />

Schließlich erheben sich die drei und sprechen das Dankgebet.<br />

Der Pastor n<strong>im</strong>mt Abschied. “Ich muß zu einer schwerkranken<br />

Frau. Sie bedarf meines Zuspruchs. Auf Wiedersehen,<br />

mein lieber Peter! Alles, alles Gute!” Er umarmt seinen<br />

Schwiegersohn mit großer Herzlichkeit. “Komm gesund zurück!<br />

Ich freue mich auf das Wiedersehen mit dir.”<br />

“Auf Wiedersehen! Drei Wochen, das ist keine lange Zeit. Sie<br />

werden wie <strong>im</strong> Flug vergehen.”<br />

Peter fährt zurück in seine Wohnung und packt die Koffer.<br />

Um 17:45 Uhr fliegt seine Maschine. Zuerst geht es nach London,<br />

dann nach Los Angeles. Inge wird ihn um 15:00 Uhr<br />

abholen.<br />

Auf der Fahrt zum Flugplatz geraten Inge und Peter in einen<br />

Stau. Langsam und mit vielen Stops schleicht die Wagenkolonne<br />

dahin.<br />

“Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!”, ruft Inge und<br />

trommelt mit ungeduldigen Fingern auf dem Lenkrad herum.


420 EINSICHTEN<br />

“Ich mache mir Sorgen!”<br />

Auch Peter wird nervös. Aber er sagt: “Überlassen wir das<br />

mal dem Schicksal. Es gibt Leute, die sind zu spät zum Flugplatz<br />

gekommen und verdanken diesem Umstand ihr Leben.”<br />

Der Stau löst sich auf. Nun geht es zügig voran.<br />

Am Flugplatz findet Inge sofort einen <strong>Park</strong>platz. “Glück<br />

muß man haben!”, strahlt sie und springt aus dem Wagen.<br />

Das Abfertigungspersonal treibt winkend zur Eile. So schnell<br />

das die Koffer zulassen, eilen sie zum Schalter.<br />

Nur wenig später stehen sie vor der Flugscheinkontrolle.<br />

Mit laut hallender Aufdringlichkeit werden die letzten Passagiere<br />

aufgefordert, sich an Bord zu begeben.<br />

Plötzlich erfaßt Inge Angst. Tränen überfluten die Augen.<br />

Ungestüm schlingt sie die Arme um Peters Hals. Mit<br />

bebender St<strong>im</strong>me flüstert sie: “Ich liebe dich von ganzem<br />

Herzen. Ich kann es gar nicht erwarten, bis du zurück bist.<br />

Bis wir Mann und Frau sind. Bis wir auf ewig vereint sind.”<br />

Große Liebe will Ewigkeit. Sie will nichts wissen von Anfang,<br />

nichts von Ende. Und doch ist ihr das Ende <strong>im</strong>mer nah.<br />

Inge und Peter umarmen einander ganz, ganz fest, so als<br />

wollten sie sich nie wieder loslassen. Sie küssen sich mit<br />

großer Inbrunst. Dann reißt Peter sich los, greift nach seiner<br />

Tasche und läuft zur Kontrolle. Rasch zeigt er Ausweis und<br />

Flugschein vor. Ein kurzes Winken. Und dann rennt er davon.<br />

Ein Abschied auf ewig.


1 BRÜDER<br />

Rollenwechsler<br />

IM HERBST<br />

“Das’n Hammer.<br />

‘N riesn Rudi!”<br />

Wenn es darum geht, die Welt um uns herum unmittelbar<br />

wahrzunehmen, dann ist das Auge das effektivste Sinnesorgan.<br />

Die s<strong>im</strong>ultane Punkt-für-Punkt-Wiedergabe dessen,<br />

was uns umgibt, das blitzschnelle Erfassen von Gestalten, D<strong>im</strong>ensionen,<br />

Farben und Perspektiven, all dies kann nur das<br />

Auge leisten. Kein Wunder also, daß das zuschauende, das<br />

beobachtende, das aufdeckende Sehen – der Voyeurismus – <strong>im</strong><br />

Leben des Malers schon <strong>im</strong>mer eine große Rolle gespielt hat.<br />

Das Auge eines Malers, zumal eines genialen, ist sein zentrales<br />

Erlebnisorgan.<br />

Aber mit dem voyeuristischen Jagen <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong><br />

hat das leidenschaftliche Leben und Wirken des Malers eine<br />

neue, eine prickelnde D<strong>im</strong>ension hinzugewonnen. Die bis zum<br />

Bersten mit Spannung, Lust und Angst aufgeladene Atmosphäre<br />

während der Jagd auf Liebespaare ist zu einer zusätzlichen,<br />

schillernden Facette geworden in seinem an Sinnesnahrung<br />

reichen Leben. Hier kann er sich verlustieren, ohne<br />

sich zu verantworten. Hier fließt eine besondere Art von Erregung<br />

aus der gefahrvollen Überschreitung von Grenzen, aus<br />

dem Eindringen in Verbotenes. Und hier genießt er das Erlebnis,<br />

durch unerlaubte Zeugenschaft Frauen zu erniedrigen.<br />

Auf seinen <strong>im</strong>mer häufiger werdenden Jagdzügen hat sich<br />

das Verhältnis des Malers zum Festmacher und zum Schmied<br />

verändert. Aus Abscheu ist Achtung geworden. Zuerst hatte<br />

sich alles in ihm gesträubt gegen diese Barbaren. Erst als er


422 BRÜDER<br />

sie näher kennenlernen konnte, wurde ihm erkennbar, daß sie<br />

in ihrer herben Einfachheit Eigenschaften offenbaren, mit denen<br />

er sich nicht messen kann: ‘Wahrhaftig sind sie und<br />

schnörkellos, meine beiden Brüder der Nacht, derb und verwegen,<br />

aber kreuzehrlich. Auf sie ist Verlaß. Trifft das auch<br />

auf mich zu? Und auf welchen meiner Freunde? Festmacher und<br />

Schmied sind aus einem Guß, in sich ganz. In mir aber wohnt<br />

viel Halbes und viel Doppeltes. Und vieles, das miteinander<br />

nicht auskommt.’<br />

Seine beiden Jagdgefährten sind zu Stützen geworden bei<br />

seinem Streben nach mehr Wahrhaftigkeit und zu Vorbildern<br />

bei seinem Ringen um mehr Ehrlichkeit gegen sich selbst.<br />

Endlich gesteht er sich ein, daß seine Eskapaden <strong>im</strong> <strong>Park</strong> ihm<br />

nicht nur Antriebe liefern für seine Kreativität, sondern daß<br />

die Mischung aus Sex, Jagdfieber und Angst ihm auch einen<br />

großen Lustgewinn verschafft.<br />

Anders hat sich das Verhältnis des Malers zum Physiker<br />

entwickelt. Dessen Fachwissen, philosophische Einsichten und<br />

faszinierende Visionen haben ihm zwar tiefe, nie zuvor erahnte<br />

Einblicke in Naturgeschehen beschert, sein Weltverständnis<br />

in unerwartetem Ausmaß verändert und bereichert und<br />

ihn zutiefst bewegt. Aber sie haben ihm auch Hoffnung und<br />

Halt genommen. Sie haben ihm den Glauben geraubt: den<br />

Glauben an sich und seinen Gott – zwei Säulen, ohne die das<br />

gebrechliche Haus seines Wesens keinem Sturm mehr standhalten<br />

kann.<br />

Was ist am Ende herausgekommen? Letztlich doch vor allem<br />

Verzweiflung und Haß. Verzweiflung über das eigene<br />

Schicksal. Haß auf den Gott, dem sein Werk so völlig mißlang,<br />

und Haß auf den Engel, der ihn so unbarmherzig verfolgt.<br />

Der Maler sucht jetzt nicht mehr Vergebung. Er sinnt auf<br />

Rache. ‘Wer hat mich gemacht, so wie ich bin? Was ist mir ein<br />

Gott, der sich hinter seinem Werk versteckt? Was soll mir ein<br />

göttlicher Richter, der mir weder vergeben kann, noch mich<br />

strafen?’ Wem es nicht gelingt, starke Schuldgefühle zu mei-


Rollenwechsler 423<br />

stern, den können sie bis in den Irrsinn treiben. Hier triumphiert<br />

die Tragödie, die aus seinem kranken Körper kommt.<br />

Hier vollendet sich der Fluch, der auf seiner zerrissenen Seele<br />

lastet.<br />

Die Vorbereitungen zur Jagd verlaufen nach einem eingefahrenen<br />

Ritual. Bevor der Maler aus der Garage fährt, bedeckt<br />

er die Hintersitze mit einer Folie und plaziert darauf<br />

Jagdkleidung, Seil und Schiffermütze. Die groben schwarzen<br />

Schuhe schiebt er unter den Beifahrersitz. Das Fernglas, die<br />

Taschenlampe, das Taschenmesser und den Beutel mit Haarnadeln<br />

legt er ins Handschuhfach. Alles auf den Hintersitzen<br />

Liegende wird mit einer schwarzen, zum Leder des Wagens<br />

passenden Decke überzogen. Zurückgekehrt ins Haus legt er<br />

die Ringe ab. An jedem Mittwoch abend holt er den Geigenkasten<br />

aus dem großen Tresor, schiebt ihn auf die Decke <strong>im</strong><br />

Fond und befestigt ihn mit eigens dafür installierten Gurten.<br />

Nach dem Musizieren hüllt er sein kostbares Instrument in<br />

Daunendecken, die <strong>im</strong> Kofferraum bereitliegen.<br />

Den Maler betreut eine vornehme ältere Dame. Ihr obliegt<br />

auch die Aufsicht über das Hauspersonal. Natürlich weiß sie<br />

inzwischen, daß der Hausherr gern auf Jagd geht. Immer<br />

nachts. Ohne Gewehr. Keiner Fliege kann er ein Leid zufügen.<br />

Er will nur beobachten, nur mit den Augen jagen.<br />

Auch heute chauffiert der Maler seinen Wagen auf Umwegen<br />

in eine wenig benutzte Nebenstraße, die direkt am<br />

<strong>Park</strong> gelegen ist. Der dünne Zeigefinger berührt einen<br />

Knopf, und schon versiegeln elektrische Jalousien die Fenster.<br />

Abgeschirmt von der Außenwelt und innerlich bereits<br />

bebend, schlüpft der Bucklige aus der Rolle des genialen<br />

Künstlers in die Rolle des geilen Fiedlers. Etliche Stunden<br />

später kehrt der Zwerg dann in umgekehrter Reihenfolge<br />

zurück in seine Malerwelt.<br />

Der Rollenwechsel bereitet großes Vergnügen. Nach dem<br />

Umkleiden verbirgt der Maler die Tageskleidung unter der


424 BRÜDER<br />

Decke <strong>im</strong> Fond. Voller Ungeduld stülpt er die große Schiffermütze<br />

über die hochgesteckten Haare, stopft die Leine in die<br />

Jackentasche und steckt das Fernglas ein. Dann biegt er mit<br />

tastenden Fingern Jalousienlamellen nach unten. Geduckt,<br />

Wulstlippen klaffend und Brauen hochgezogen, prüft er, ob<br />

die Straße überall ganz frei ist. Ein dünner Streifen<br />

nächtlichen Straßenlichts läßt das Weiß seiner Augen<br />

aufglitzern. Eine bebende Hand öffnet die Tür.<br />

Gebückt, mit eingezogenem Kopf und lauernden Augen<br />

schlüpft der Zwerg aus seinem Wagen. Er legt die Tür ins<br />

Schloß und wartet, bis sie sich leise elektrisch zugezogen hat.<br />

Dann betätigt er die Zentralverriegelung, aktiviert damit auch<br />

die Alarmanlage und versteckt schließlich den Autoschlüssel <strong>im</strong><br />

gefütterten Brustbeutel. Einen kurzen Augenblick lang verharrt<br />

er hinter einem Baum. Sich vorsichtig vorneigend prüft<br />

er nochmals, ob die Straße ganz frei ist. Licht teilt das Holzschnittgesicht<br />

in einen weißen und einen schwarzen Teil.<br />

Dann machen federnde Füße ein paar Schritte. Ausgestreckte<br />

Arme und gespreitzte Finger biegen Zweige beiseite. Witternd<br />

und kopfwendend schlüpft eine große brünstige Ratte in eine<br />

andere Welt.<br />

Auch heute verläuft der Auftritt auf der anderen Bühne<br />

ohne Zwischenfälle. Geduckt <strong>im</strong> Gebüsch lauernd, fühlt der<br />

Bucklige, wie der Pulsschlag in die Höhe schnellt, wie der<br />

Atem schneller und tiefer wird, wie sich wieder diese merkwürdige,<br />

aufstachelnde Gefühlsqualität einstellt – diese<br />

Mischung aus einem Anflug von Schwerelosigkeit, lustvoller<br />

Erwartung und Furcht. Unaufhaltsam drängt es ihn vorwärts,<br />

durch dunkle Büsche, über Wege und Wiesen, an<br />

leeren Bänken vorbei und wieder durch dichtes Blättermeer.<br />

Mit aufgischender Gier verschlingt er die Fülle der auf ihn<br />

einstürmenden Sinneseindrücke. Wieder betören ihn die<br />

Bilder, Geräusche und Gerüche des nächtlichen <strong>Park</strong>s. Und<br />

wieder löst all das einen wilden Tanz aus in seinen Emotionen.<br />

‘Schon diese Ouvertüre’, denkt er, ‘ist ein eindringliches,


Rollenwechsler 425<br />

ein wundersames Erlebnis. Darauf möchte ich nicht mehr<br />

verzichten.’<br />

Seine Sinnlichkeit wird nicht vom Eros geadelt. Im finsteren<br />

<strong>Park</strong> entledigt sich wogende Wollust jedweder Scham. Frech<br />

fließt sie nach außen. Ungehemmt ergießt sie ihre zitternde<br />

Zähflüssigkeit über den zündelnden Zauber der nächtlichen<br />

Szene. Und dann stürzt sich der Bucklige tief hinab in die<br />

schwarzen Höhlen seines Leibes. Dort kann er alles bis zur<br />

Neige auskosten. Dort kann das wilde Tier in ihm ungezügelt<br />

herumtoben.<br />

Er genießt das mit allen Fasern seines gespaltenen<br />

Herzens. Wie manch anderer ständig von Trieben Getriebene,<br />

so hat auch er eine besondere, auf die eigenen Bedürfnisse<br />

ausgerichtete Unruhedynamik entwickelt. Die aus innersten<br />

Urtiefen fortwährend unter Erlebniszwang Gestellten mögen<br />

reich sein an Sinnesnahrung, sie sind arm an disponierbaren<br />

Freiräumen. So ein bißchen leben sie wie Ameisen, die, erbarmungslos<br />

angetrieben von unerbittlichen inneren Kräften<br />

und von außen aufheizender Sonnenenergie, <strong>im</strong>merfort rennen,<br />

schuften und schleppen, <strong>im</strong>mer weiter, bis sie tot sind.<br />

Welch wunderbares Geschenk ist es doch, das von Gott Gegebene<br />

ausschöpfen zu können, ohne dazu außergewöhnlicher<br />

Anregungen zu bedürfen, seine Gaben entfalten, sein Leben<br />

genießen zu können in reiner, natürlicher Sinnlichkeit, durch<br />

Tore gehen zu können ohne Schlüssel!<br />

Jetzt betritt der Bucklige einen Weg, an dem mehrere neue<br />

Bänke aufgestellt worden sind. Auf diesem Weg begegnet er<br />

dem Schmied.<br />

“Hanno!”<br />

“Hallo!”<br />

“Was gehabt?”<br />

“Nein. Nichts los.”<br />

Gemeinsam beginnen sie, eine Runde zu drehen. Aber so


426 BRÜDER<br />

sehr sie auch suchen, es ist kein Jagdobjekt zu sehen. So gehen<br />

sie zurück zum Hauptweg. Da drängelt sich dem Schmied<br />

eine Frage auf die geschundene Zunge. Eine Frage, die er <strong>im</strong>mer<br />

schon einmal stellen wollte: “Wo fiedenst du eigentnich?”<br />

Seit langem hat der Maler diese Frage befürchtet. Dennoch<br />

verweigern sich jetzt die Wulstlippen dem Reden. Geduckt<br />

schielt er hinüber zum Schmied. Zuckungen in der harten Gesichtslandschaft<br />

verraten Verunsicherung.<br />

“Der Festmacher sagt, du fiedenst in so’m Knub.”<br />

Zögernd nickt der Zwerg.<br />

“Was für’n Knub?”<br />

‘Verdammt noch mal! Was soll ich sagen? Wir sind jetzt gute<br />

Freunde. Aber lügen muß ich. Sonst ist der Teufel los!’ Der<br />

Maler beschließt: So wenig lügen wie möglich, so wenig sprechen<br />

wie nötig. Und keine Einzelheiten!<br />

Da stellt der Schmied auch schon die nächste Frage: “Wo ist<br />

der? Muß ich mir man ansehn.”<br />

“Oohh! … Das ist nicht so einfach … Verdammt teuer.”<br />

“Hab ich mir schon gedacht! Nur für ganz feine Pinken, wa?”<br />

“Ja.”<br />

“Fühnst du dich denn da wohn? Ich mein … du bis doch ‘n<br />

ganz armer Sack.”<br />

Wieder weiß der Maler nicht, was er sagen soll.<br />

Der Schmied mißdeutet sein Schweigen. Er bleibt stehen.<br />

“Mit armer Sack”, sagt er schließlich, “das hab ich nicht so<br />

gemeint.” Er zögert. “Ich wonnte dich nicht kränken. Ich mein<br />

nur …” Langsam fährt sein Handrücken über den breiten<br />

Mund. Dann fällt die Pranke auf die Schulter des kleinen<br />

Kumpels: “Nix für ungut, Fiedner. Du bis ‘n Guter.”<br />

Sie gehen wieder weiter. Der Schmied überlegt. Ihn beschäftigt<br />

das alles sehr. “Der Festmacher sagt, du machst da nur<br />

man Vertretung, wenn einer von der Band nich kann.”<br />

Der Maler nickt.<br />

“Ganz schön gewitzt, der Festmacher! Der weiß <strong>im</strong>mer wo’s<br />

nang geht.”


Der Schmied entscheidet sich, nach links abzubiegen. Der<br />

Weg wird schmaler, versinkt <strong>im</strong> tiefen Dunkel hoher Kiefern.<br />

Keine Menschenseele weit und breit. Sie wenden sich nach<br />

rechts. Im Halbbogen erreichen sie einen größeren Weg und<br />

inspizieren dort die Bänke. Nichts. Gar nichts. Ungeduldig<br />

flüstert der Maler: “Noch <strong>im</strong>mer nichts los.”<br />

“Nee.”<br />

“Die Leute bumsen nicht mehr wie früher.”<br />

“St<strong>im</strong>mt nicht!” Mit einem Ruck hebt der Schmied den Kopf,<br />

holt tief Luft, sieht seinen Kumpel an und zieht die Augenbrauen<br />

hoch. Er ahmt den Gesichtsausdruck nach, den der<br />

Festmacher aufzusetzen pflegt, wenn er eine seiner Verkündigungen<br />

von sich gibt: “Die fickn anne”, sagt er, “anne. Man<br />

muß bnoß Gnück habn, daß man da auch was von sieht.”<br />

Feine Dame<br />

Feine Dame 427<br />

Und dann meint der Schmied, seinem Kumpel so einiges<br />

klarmachen zu müssen. “Hunde, Vögen, Menschn – anne<br />

bumsn. Ganz reine Sache. Knar wie ‘n Gebirgsbach. Schmutzig<br />

wird das erst bei vienen ganz fein’n Neutn. Die ziehn da<br />

ein’n ab! Ich sag dir, das is’n Hammer. Die markiern ‘n Heinigen.<br />

Jedenfanns nach außn. Aber inn’n – trüb sag ich dir.<br />

Und schmutzig. Die tun so, ans wenn das was Schnechtes<br />

wär. Knaun, betrügn, bumsn, die tun so, ans wenn das annes<br />

dassenbe wär. Wenn die da so genehrt rumredn, ich sag dir,<br />

annes neere Nuft. Die tanzn da rum ums Fickn wie ums<br />

Fegefeuer. Aber die sagn nicht die Wahrheit. Die nügen, daß<br />

die Bankn biegn. Die machn vien kaputt. Auch so’ne schöne<br />

Sache wie das Bumsn. Warum? Ich sag dir warum: wein se<br />

senber kaputt sind. Viene von den ganz fein’n Neutn sind so<br />

kaputt, die kön’n nicht man mehr gradeaus red’n. Fickn,<br />

Bumsn – Gott bewahre, das ist nicht schicknich. Weißt du wie<br />

die das nenn’n? Ge-schnechts-ver-kehr! Was für’n Wort! Ver-


428 BRÜDER<br />

kehr! Fehnt nur der Führerschein und Verkehrsregenn. Niemans<br />

bei rot, wa?” Der Schmied lehnt den Kopf zurück und<br />

lacht lauthals.<br />

Der Maler grinst verschmitzt und schuckelt mit den Schultern.<br />

“Früher, da war ich bei ein’m Knempnermeister angestennt.<br />

Da war mir noch kein Kessen um die Ohr’n gefnogen.<br />

Da hatt ich noch nicht diesn bnödn Sprachfehner. Und da<br />

sah ich auch noch ganz gut aus. Da mußte ich manchman<br />

Nachtdienst machn. Einman”, grient er vergnügt, “einman<br />

mußte ich in so ‘ne große weiße Vinna. Riesn Ding. Ich kningen.<br />

Die Tür geht auf. Da steht eine ganz feine Dame. Hübsch.<br />

Jung. Rote Haare. Morgenmanten aus Seide. Ganz hohe Absätze.”<br />

Sie passieren eine Bank. Der Fiedler macht eine fragende<br />

Kopfbewegung. “Jupp”, macht der Schmied. So setzen sie sich.<br />

“Die feine Dame, die strahnt mich an. Sie sagt, nee, sie fnötet”<br />

– der Schmied spricht jetzt in ganz hohen, singenden<br />

Tönen – “ ‘Grüß Gott, Herr Knempner! Wie schön, daß Sie gekommen<br />

sind. Und noch so spät am Abend. Bitte, kommen Sie<br />

herein.’<br />

Das war wirknich eine ganz feine Dame. Die ist nich gegangn,<br />

die ist geschwebt.” Der Schmied steht auf. Ein Schwung<br />

seiner Arme hilft ihm, den schweren Körper auf die Ballen zu<br />

liften. Kokett legt er die Finger dahin, wo normalerweise eine<br />

Taille zu sein hat. Und nun tänzelt er, den ansehnlichen Hintern<br />

kräftig schwenkend, vor dem Maler auf und ab. “ ‘Bitte<br />

schön’, fährt er dabei in singenden, hohen Tönen fort, ‘hier<br />

hinein, Herr Knempner.’ ”<br />

Der Maler quietscht vor Vergnügen. Aus schräggestellten<br />

Augen schielt er hinüber zu seinem Kumpel.<br />

Der versucht, die eleganten Handbewegungen der jungen<br />

Frau nachzuahmen: “‘Ja, und jetzt bitte nach rechts, ins Bad.’”<br />

Der Schmied setzt sich wieder. “Gond, überann Gond!” Er<br />

nickt. “Wahnsinn! Ich sag dir, das war ‘n Hammer! Auf ein-


Feine Dame 429<br />

man hat die feine Dame ihr’n nacktn Arm ausgestreckt. Ganz<br />

dicht an mir vorbei hat sie auf die gondene Armatur gezeigt:<br />

‘Dort, dort neckt es. Immer man wieder. Ein bißchen nur. Aber<br />

<strong>im</strong>mer man wieder.’<br />

Der Maler lacht, stumm, mit hüpfendem Höcker. Die Erzählung<br />

des Schmieds beginnt, ihm einen Riesenspaß zu bereiten.<br />

“Ich hab mein Werkzeug ausgepackt. Die Rohrzange mit<br />

Nappen umwickent, damit ich ja kein’n Kratzer mach an der<br />

Gondarmatur. Ich wonnte die gondene Mutter nachzieh’n. Da<br />

setzt sich die Dame auf den Rand von der großn Wanne. Direkt<br />

vor mir. Und schiebt nangsam den Bademanten beiseite.<br />

Ich sag dir! Wahnsinn! Ich bin band ausgerutscht. Diese Beine!!<br />

Und denn hat se so getan, ans wenn meine Arbeit sie<br />

interessiert. Ganz nach vorn gebeugt hat se sich. Dabei is ihr<br />

Bademanten obn – wie ganz von senbst – aufgegang’n. Die<br />

hatte Tittn! Richtige Mondkucker mit großn Saugern. Da steh<br />

ich drauf! Und denn hat se gesagt: ‘Schade, daß mein Mann<br />

nicht da ist, der hätte Ihnen best<strong>im</strong>mt gerne zugesehen bei Ihrer<br />

interessanten Arbeit. Aber der ist in New York. Und der<br />

kommt erst übermorgen wieder.’<br />

Ich hab nochman annes festgezogn. Und denn hab ich gesagt:<br />

‘Gnädige Frau,’” – er dreht sich scharf zur Seite, “gnädig,<br />

wa? – ‘das sonnte jetzt in Ordnung sein.’<br />

‘Oh, vienen Dank!’ Ich wonnte gehn. Aber da hat die feine Dame<br />

mich am Arm festgehanten: ‘Da ist noch etwas.’ Und dann<br />

hat se mich ins Schnafz<strong>im</strong>mer geführt. Ich sag dir, ich sag dir!<br />

So was hast du noch nich gesehn. Honnywood! Riesn Z<strong>im</strong>mer.<br />

Mitten drin ‘n großes, rundes Bett. Und überann Spiegen. Die<br />

feine Dame hat mich angekuckt. Ganz merkwürdig hat die<br />

mich angekuckt. Und ans ich nix gesagt und nix getan hab, da<br />

hat se auf den großn Einbauschrank gezeigt mit nauter Spiegentüren.<br />

‘Die Tür da’, hat se gesagt, ‘die knemmt. Immer man<br />

wieder.’<br />

War aber nix kaputt. Ich hab die Tür ‘n paar man auf- und


430 BRÜDER<br />

zugemacht und zwei Schraubn nachgezogn. Denn hab ich gesagt:<br />

‘Sonnte die Tür man wieder Probneme machn, da rate<br />

ich Ihnen, honen Sie den Schreiner.’<br />

‘Ja’, hat sie gefnötet. ‘Vienen herznichen Dank, mein Nieber.’”<br />

Der Schmied knufft seinen Kumpel mit dem Ellenbogen<br />

in die Seite, daß der zusammenzuckt. “‘Mein Nieber’, hat die<br />

feine Dame zu mir gesagt!” Er lacht. “Und denn hat se mich<br />

wieder so komisch angekuckt.<br />

Aber ich bin raus aus dem großn weißn Haus. Draußn hab<br />

ich zu mir gesagt: Du dummer Hund, du! Die wonnte doch nur<br />

bumsn. Warum hast du’s ihr nicht gemacht? Aber denn hab ich<br />

auch zu mir gesagt: Sonn’n die fein’n Neute sich doch senber<br />

bumsn! – Und bei so’ner feinen Dame, da wär ich auch aus’m<br />

Takt gekomm’n.”<br />

Der Maler kreischt vor Vergnügen. Berstendes Lachen explodiert.<br />

Eine sonderbare Mischung aus rasendem Schluckauf<br />

und Pferdegewieher. Er preßt beide Hände vors Gesicht. Sein<br />

Oberkörper pendelt vor und zurück. Immer wieder. Und sein<br />

Buckel hüpft und hüpft und hüpft. Hört einfach nicht mehr<br />

auf zu hüpfen.<br />

Es dauert lange, bis er wieder sprechen kann. Nach Luft<br />

ringend und mit Lachtränen in Augen und Gesichtsfurchen<br />

fragt er schließlich: “Bist du da mal wieder hingegangen?”<br />

“Ja. So nach drei Wochn. Da hat mich der Hafer gestochn. Da<br />

bin ich wieder hin zu der großn weißn Vinna. Ich hab mir gesagt,<br />

vienneicht is da man was nos. Und denn war ich auch<br />

schon drin <strong>im</strong> Gart’n. Im Schnafz<strong>im</strong>mer war Nicht. Rötniches<br />

Nicht.<br />

Ich bin rauf auf’n Ast von ‘nem Baum. Von da konnte ich<br />

annes genau sehn. Die feine Dame und ein Mann. Die wänzn<br />

sich rum auf dem großn rundn Bett. Ganz nackt. Ein Knappfenster<br />

war off’n. Die Dame hat gestöhnt und geschrien. Ich<br />

sag dir, und wie die geschrien hat! Mir sind band die Ohr’n<br />

abgefann’n. Aber nicht ‘geschnechtsverkehr mich!’ hat die geschrien.<br />

Nee, ‘fick mich!’ hat die geschrien. Und denn hat se wie-


Feine Dame 431<br />

der gestöhnt. Und denn hat se wieder geschrien: ‘Du sonnst<br />

mich fickn, du Schuft!’<br />

Sachen habn die da gemacht auf dem großn Bett, das war mir<br />

richtig peinnich. Und denn hat se geschrien: ‘Du Schwein du!<br />

Du gottsverdammtes Schschweinnn!’ Und denn hat se wieder<br />

gejammert. Ganz naut. So was hab ich noch nie ernebt. Nach<br />

‘ner Weine bin ich runter vom Baum. Da hat die Dame <strong>im</strong>mer<br />

noch geschrien: ‘Du Schwweinn!’ Ich war schon ‘n Stück weg<br />

vom Schnafz<strong>im</strong>mer, da hab ich die Dame <strong>im</strong>mer noch schreien<br />

hörn. Und wie die geschrien hat! ‘Du kannst annes mit mir<br />

machen’, hat se geschrien. ‘Annes! Du Schwein du! Du<br />

gottsverdammtes Schschschwweinnn!!’”<br />

Klatschend schlägt der Maler die Hände zusammen, <strong>im</strong>mer<br />

wieder. Tief aus dem Bauch heraus explodiert wiehernd<br />

wildes Gelächter. Unglaublich laut. Tränenbäche rinnen über<br />

das Holzschnittgesicht. Und noch lange hüpft der runde Rükken.<br />

“Ich sag dir”, grient der Schmied und freut sich, daß sein<br />

Kumpel so sehr lacht, “da sind wir Stümper gegn. Ganz große<br />

Stümper! Die fein’n Neute, die ziehn da ein’n ab!”<br />

Noch <strong>im</strong>mer gluckst der Maler.<br />

Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken über den breiten<br />

Mund. Er empfindet große Genugtuung. Seine Geschichte<br />

haut den Fiedler so richtig vom Hocker.<br />

Schließlich dreht sich der Maler steifrückig seinem Kumpel<br />

zu und sagt mit tränentropfenden Wulstlippen: “Da hast du ja<br />

wirklich tolle Dinge erlebt!” Wieder gluckst er. Wischt sich mit<br />

der Hand übers Gesicht. Schüttelt den Kopf und rückt seine<br />

Schiffermütze zurecht. Endlich beruhigt er sich, holt tief Luft<br />

und sagt ausatmend: “Ja.” Er nickt vor sich hin. “Ja, <strong>im</strong> Grunde<br />

hast du nicht unrecht.”<br />

“Was heißt <strong>im</strong> Grunde?” ruft der Schmied empört. “Red<br />

kein’n Scheiß! Und was heißt nicht unrecht? Ich hab recht. Und<br />

wie recht ich hab!”<br />

Der Maler zieht die Schultern hoch. Da hat er sich fast ver-


432 BRÜDER<br />

raten! “Ja, du hast recht.”<br />

“Knar hab ich recht!”<br />

Sie stehen auf und fahren fort, ihre Runde zu drehen. Nach<br />

ein paar Schritten sagt der Schmied: “Zuerst – ans der Festmacher<br />

da so mit dir ankam und ans wir zum erstenman<br />

zusamm’n geredet habn – da hab ich so bei mir gedacht, der<br />

neue Fiedner, der hat auch so was vom fein’n Pinken. Nur ganz<br />

wenig … aber <strong>im</strong>merhin.”<br />

Unmerklich zuckt der Maler zusammen. ‘Der Schmied’,<br />

denkt er, ‘irgendwie hatte auch ich das Gefühl, daß der mir<br />

nicht so ganz getraut hat. Der hat eine feine Antenne. Da muß<br />

ich vorsichtig sein!’<br />

Doch da boxt ihm sein Kumpel auch schon in die Rippen, so<br />

kräftig, daß er einen Hüpfer macht. “Das’n Ding, wa? Du und<br />

‘n feiner Pinken!” Der Schmied lehnt den Kopf zurück und<br />

lacht. Ein schönes, helles, befreiendes Lachen. “Nix für ungut”,<br />

sagt er. “Nix für ungut, Fiedner. Du bist ‘n Guter.”<br />

Nach einer Weile fügt der Schmied hinzu: “Ich winn die ganz<br />

fein’n Neute nicht schnecht machn. Nicht anne jedenfanns.<br />

Da gibt’s auch ‘ne Menge Gute. Was mir die Ganne übernaufn<br />

näßt, das ist dieses verdrehte, eingebindete Getue. Und diese<br />

gottsverdammte Vernogenheit!”<br />

Noch <strong>im</strong>mer ist nichts los <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />

Fernsehen<br />

Da kommt den beiden der Festmacher entgegen. “Hallo!”,<br />

ruft er schon von weitem.<br />

Als er vor dem Schmied steht, erhebt er die Rechte und begrüßt<br />

seinen Freund wie <strong>im</strong>mer. Dann wendet er sich dem<br />

Fiedler zu, und zum erstenmal erhebt er auch ihm gegenüber<br />

den rechten Arm. Für einen kurzen Augenblick ist der Maler<br />

verwirrt. Er stutzt. Aber dann gibt er sich innerlich einen<br />

Ruck, hebt ebenfalls den Arm und läßt die geöffnete grazile


Fernsehen 433<br />

Hand mit den dünnen Fingern gegen die mächtige Rechte des<br />

Festmachers klatschen. Gleichzeitig knufft er ihn mit der linken<br />

Faust in die Seite. Er macht das recht ungelenk. Aber das<br />

fällt den anderen beiden nicht weiter auf.<br />

“Schon was gehabt?”<br />

“Nee. Du?”<br />

“Kurze Nummer.”<br />

“Wo?”<br />

“Vor der Hecke.”<br />

“Gut?”<br />

“Ging so.”<br />

Sie drehen zu dritt eine Runde. Nur auf einer Wiese ist was<br />

los. Da liegt ein Paar. Aber als der Festmacher die Lage peilt,<br />

stellt er fest: “Die penn’n!”<br />

Sie gehen noch eine Weile. Dann setzen sie sich auf die Bank<br />

vor der großen Ulme.<br />

Der Schmied wendet sich dem Festmacher zu: “Ich geh man<br />

kurz, wo der Kaiser zu Fuß hingeht.”<br />

Der Festmacher nickt Erlaubnis. “Aber weit genug weg von<br />

der Bank!”, ruft er dem Freund nach. Der hebt den linken<br />

Arm und eilt davon.<br />

“Glaubst du an Engel?”, hört sich der Maler plötzlich fragen.<br />

“Mir is noch keiner begegnet … Dir?”<br />

“Ja.”<br />

“Mit Flügeln und so?”<br />

“In Menschengestalt.”<br />

“Da kenn ich nur ein’n – den Schmied. Sei froh, wenn dir so<br />

ein Guter begegnet!”<br />

“Mein Engel ist nicht nur gut, der ist auch unhe<strong>im</strong>lich.”<br />

“Wo siehst du den?”<br />

“Der ist in mir.”<br />

“In dir? Ein Engel?” Der Festmacher spuckt. Dann formt der<br />

Mund ein O. Bedächtig wischen Daumen und Zeigefinger über<br />

die Mundwinkel. Er wendet den Kopf und gibt dem Fiedler<br />

einen Blick von solch bohrender Intensität, daß der die Augen


434 BRÜDER<br />

auf den dunklen Boden richtet. “Ein Engel in dir kann nich nur<br />

gut sein.”<br />

“Der ist auch unhe<strong>im</strong>lich …”<br />

“Vielleicht, weil du auch unhe<strong>im</strong>lich bist … Vielleicht is das<br />

dein schlechtes Gewissn!”<br />

Da fährt ein Blitz durch den Maler, daß ihm der Höcker zittert.<br />

Betroffen schweigt er, löst die Arme aus der Verschränkung<br />

und läßt sie baumeln.<br />

Der Schmied kommt zurück.<br />

“Wo warst du gestern?”, fragt ihn der Festmacher.<br />

“Zu Haus. Hab ferngesehn.”<br />

“Du dickes Ei! Wie kannst du vor der Glotze hockn!? Mord<br />

und Totschlag, Diebstahl und Krieg. Ich versteh die Welt nich<br />

mehr. Gewalt und Katastrophn in den Nachrichtn. Bosheit<br />

und Verbrechn als Unterhaltung! Die sind doch krank. Die<br />

das Programm machn und die den Scheiß auch noch reinsaugn.<br />

Total bekloppt! Meine Glotze hat schon lange ihrn<br />

Geist aufgegebn. Seitdem gibt’s bei mir kein Fernsehn mehr.<br />

Und auch kein Radio. Und keine Zeitung. Seitdem geht’s mir<br />

besser. Ich sag euch, unser Fernsehn hier das is das einzig<br />

wahre. Immer spannend. Nix Böses. Reine Natur. Wir tun niemand<br />

was. Wir wolln nur’n Happn Spaß. Wie kannst du da<br />

vor der Glotze hockn?”<br />

Der Schmied druckst. “So ist das ja nun auch wieder nicht.<br />

Da gibt’s auch <strong>im</strong>mer man was Gutes. Gestern gab’s ‘n tonnen<br />

Finm über Spinnen.”<br />

“Sag ich doch”, grinst der Festmacher, “die spinnen.”<br />

“Nee, nee.” Der Schmied duckt sich und fährt mit gespreizten<br />

Fingern in der Luft herum: “Spinnen! Tiere! Was das annes<br />

für Spinnen gibt! Und was die annes könn’n. Wahnsinn!<br />

Und vorige Woche, da gab’s ‘n Bericht über Hyänen. Über ihr<br />

Faminienneben, und wie die sich Nahrung verschaffn. Das sind<br />

ganz niebe Tiere. Und sehr intennigent. Bei den’n sind die<br />

Muttis Chef.”<br />

“Auch das noch!!”, ruft der Festmacher empört. “Das hat


Fernsehen 435<br />

mir noch gefehlt! Ich kann meine Alte so schon kaum bändign.”<br />

“Bei den’n muß das so sein. Sonst kriegn die ihre Kinder<br />

nich groß.”<br />

“Ich kann Hyänen nicht leiden”, sagt der Maler plötzlich. Es<br />

ist das erste Mal, daß er eine eigene Meinung äußert <strong>im</strong> Kreise<br />

seiner nächtlichen Brüder. Er hat sich strikte Zurückhaltung<br />

auferlegt, will sich durch Äußerungen über seine Ansichten<br />

und Gefühle nicht verraten. Aber Hyänen kann er nun wirklich<br />

nicht leiden.<br />

“Warum nich?”<br />

“Wie die schon aussehen.”<br />

“Dafür könn’n die nix.”<br />

“Mich stößt dieses Aasfressen ab. Furchtbar finde ich das.”<br />

“Das is ihre Rolle in der Natur.”<br />

“Die fressn nicht nur Aas”, ruft der Schmied dazwischen.<br />

“Die jagen auch senbst. Die fressen auch ganz frisches, noch<br />

warmes Fneisch. Sehr gute Jäger sind das sogar.”<br />

“Trotzdem”, sagt der Maler, “trotzdem. Mich schaudert,<br />

wenn ich mitansehen muß, wie Hyänen sich über Leichen hermachen.”<br />

“Red kein’n Quatsch, Mann! Hast du keine Augn <strong>im</strong> Kopp??<br />

Was tun denn die Menschn? Die machn sich doch dauernd<br />

über Leichn her. Was glaubst du denn, wie lange so’n Schwein<br />

oder so’n Rind tot <strong>im</strong> Schlachthof rumhängt. Und wie lange<br />

Teile von den’n be<strong>im</strong> Schlachter rumliegn. Oder bei andern<br />

auf’n Ladentisch. Oder bei dir <strong>im</strong> Kühlschrank? Die meistn<br />

Leichn, die der Mensch ißt, sind Tage oder Wochn alt.” Der<br />

Festmacher schüttelt den Kopf. “Überleg dir, was du sagst.<br />

Ich mag das nich, wenn einer ohne zu denkn so’n Scheiß<br />

daherquatscht!”<br />

Der Maler zuckt zusammen, sagt kein Wort mehr.<br />

“Wirknich”, kommt der Schmied auf sein Anliegen zurück,<br />

“da gibt’s auch gute Sachn <strong>im</strong> Fernsehn. So was sonntn die<br />

man öfters zeign.”


436 BRÜDER<br />

“Bloß nich! Denn hockst du noch mehr vor der Glotze, und<br />

wir verliern hier ‘n großn Künstler.”<br />

“Nee, nee! Fernsehn kann gut sein. Aber mit hier kommt<br />

das nicht mit. Ich bneib euch treu.” Der Schmied grient mit<br />

breitem Mund und sieht seine beiden Freunde an, zuerst den<br />

Festmacher, dann den Fiedler. Sein Gesicht strahlt Freude<br />

aus und Dankbarkeit dafür, daß er mit solch guten Kumpels<br />

auf Jagd gehen kann.<br />

Jetzt wendet er sich dem Fiedler zu. Der tut ihm leid, weil<br />

der Festmacher ihn so zusammengestaucht hat. “Siehst du<br />

fern?”<br />

“Meistens nur Weltgeschehen.”<br />

“Kaputte Welt”, sagt der Festmacher.<br />

“Yes, sir! Zu vien Vernogenheit und zu vien Ungerechtigkeit!<br />

Zuviene faune Tricks. Und vien zu vien Getue.”<br />

“So isses. Ich mag das nich. Und auch nich diese vieln Verbrechn.”<br />

Das Wort Verbrechen weckt Erinnerungen. “Voriges Jahr, da<br />

war hier mal so’n Verbrecher. Hat Handtaschn geklaut. Kunststück,<br />

wenn die da bumsn. Aber ich will hier ‘n sauberes Revier.<br />

Keine Verbrecher! Natürlich hab ich rausgekriegt, wer<br />

das war.”<br />

“Festmacher kriegt <strong>im</strong>mer annes raus!” Der Schmied<br />

strahlt. “Festmacher sorgt für Gerechtigkeit. Festmacher<br />

entkommt kein Verbrecher. Keiner!! … Festmacher for President!”<br />

“Ich hab mir den Macker zur Brust genomm’n. Hab ihm<br />

‘ne Rede gehaltn. Ganz ruhig. Ganz höflich. Und denn hab<br />

ich ihm eins in die Kiemen geknallt. Da isser umgefalln. Als<br />

er sich wieder rappelt, da hat er gemurrt. Da hab ich ihn mit<br />

der Linken ans Hemd gefaßt und ihn ganz dicht an mich<br />

rangezogn. Ihm ganz tief in die Augen gekuckt. Da hat er<br />

gezittert wie ‘n Hase be<strong>im</strong> Bumsn. Ganz freundlich hab ich<br />

gefragt: ‘Is noch was?’ Als er nich gleich geantwortet hat, da<br />

hab ich wieder ausgeholt. Und rrummmsss!!, hab ich ihm


noch eins in die Fresse geknallt. Noch’n bißchn glatter als<br />

be<strong>im</strong> erstnmal. Da isser wieder umgefalln. Da hatt’s ‘ne Weile<br />

gedauert, bisser versucht hat, sich wieder zu rappeln. Da<br />

isser ers noch mal wieder zusamm’ngesackt. Und denn isser<br />

‘n ganzes Stück gekrochn. Wie so’n besoffener Maikäfer. Und<br />

denn isser weggehumpelt.” Er nickt. “Der is nie wieder gekomm’n.”<br />

Der Festmacher zieht die Mütze in die Stirn: “Selbstkontrolle<br />

nennt man das. Die vom Fernsehn kenn’n nur das Wort.<br />

Aber der Sinn des Wortes – der is den’n noch nich in den Sinn<br />

gekomm’n.”<br />

Hüne<br />

Hüne 437<br />

Auf dem von Laternen beleuchteten Weg kommt ein Paar<br />

heranspaziert. Langsam, einander zugewandt, schlendern die<br />

beiden auf die Bank zu, auf der Festmacher, Schmied und<br />

Fiedler sitzen. Ein Hüne von Mann, weit über zwei Meter, mit<br />

gewaltigen Schultern, und ein graziles, bildhübsches Mädchen<br />

mit langen schwarzen Haaren und dunklen, glänzenden<br />

Augen, in denen ein merkwürdig erregtes Erwartungsleuchten<br />

flammt. Die riesige Gestalt des Hünen ist ganz und gar in<br />

pechschwarzes Leder gehüllt. Mächtige, tätowierte Hände<br />

fingern und fummeln in ungezähmter Lust über den Körper<br />

des Mädchens, als wären sie gänzlich unabhängig von dem<br />

scheinbar gemächlich dahinstapfenden Koloß. Eingerahmt vom<br />

Schwarz des hochgestellten Jackenkragens, leuchtet eine weiße<br />

Visage unter kahlrasiertem Glatzkopf. Hypnotisch stechende<br />

Augen forschen <strong>im</strong> hingebungsvoll aufwärts gerichteten<br />

Gesicht des Mädchens. Klobige Hacken unter schwarzen Lederstiefeln<br />

malträtieren polternd und knirschend den Boden.<br />

Wie die Bocksfüße des Satans.<br />

Als das ungleiche Paar hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden<br />

ist, sagt der Festmacher leise: “Mit dem Macker


438 BRÜDER<br />

möcht ich mich nich anlegn!”<br />

“Right!”, flüstert der Schmied und verzieht den breiten<br />

Mund. “Das ‘n Hammer. ‘N riesn Rudi!”<br />

Der Festmacher wiegt den Kopf. “Aber seiner Puppe würd<br />

ich schon mal ‘n Gefalln tun.”<br />

Der Fiedler grinst. Dann rückt er seine Mütze zurecht.<br />

Die drei stehen auf.<br />

“Los!”, kommandiert der Festmacher leise, “Schmied, du<br />

gehst so rum. Wir geh’n da rum.” Mit kurzen Bewegungen seiner<br />

Rechten gibt er die Richtungen an.<br />

“Endnich wieder was anne Angen!”<br />

Der Hüne und das Mädchen gehen auf eine <strong>im</strong> dichten Gebüsch<br />

stehende Bank zu. Vor der Bank stehend küssen sie einander<br />

lange und leidenschaftlich. Dann setzen sie sich.<br />

‘Nich schlecht’, denkt der Festmacher. Er sieht den Fiedler<br />

an, zieht die Brauen hoch, spitzt die dünnen Lippen, nickt und<br />

kneift ein Auge zu. Der Hüne und seine Freundin sind voll miteinander<br />

beschäftigt. Festmacher und Fiedler stehen links,<br />

der Schmied rechts von der Bank <strong>im</strong> Gebüsch. Sie können einander<br />

sehen. Jetzt winkt der Schmied sogar und grient mit<br />

breitem Mund. Die beiden winken zurück.<br />

Langsam wird das <strong>im</strong>mer hitziger auf der Bank. Der Hüne<br />

zieht seiner Freundin den unteren Teil der Bluse aus dem<br />

engsitzenden Rock. Dann knöpft er die Bluse auf. Knopf für<br />

Knopf. Dabei küßt er das Mädchen schmatzend mit schlekkender<br />

Zunge. Ein Knopf verhakt sich <strong>im</strong> Stoff. Mit beiden<br />

Händen ergreift der Hühne die frei herunterhängenden<br />

unteren Blusensäume und hilft seiner Freundin dabei, sich<br />

die Bluse über den Kopf zu ziehen. Das Mädchen trägt weder<br />

Unterhemd noch BH.<br />

Der Maler schluckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er<br />

auf den mondscheinverzauberten, schlanken, schneeweißen<br />

Oberkörper, über den die langen schwarzen Haare herniederrieseln<br />

wie bei einer Märchenfee. Mit rasenden Sinnen verschlingt<br />

er die aufwärts gerichteten, kleinen festen Brüste mit


Hüne 439<br />

den vorwitzigen Nippeln, die aus großen, dunklen Warzentellern<br />

ragen. Der Bucklige erzittert. Gänsehaut kriecht über<br />

seinen Körper. Gierig greift die Hand weit nach vorn ins<br />

Gebüsch. Der Festmacher sieht, wie sich auf der entblößten<br />

weißen Haut des Zwerges raabenschwarze Haare sträuben.<br />

Der Zwerg will mehr sehen. Seine dünnen Finger umklammern<br />

einen daumendicken, morschen Ast. Er beugt sich vor.<br />

Immer weiter. Plötzlich bricht der Ast – mit lautem, berstenden<br />

Knacken!!<br />

Der Hüne springt auf. “Spanner!”, brüllt er wie ein Löwe.<br />

“Spanner!!”<br />

Der Festmacher packt den Kumpel an der Schulter. Reißt ihn<br />

nach hinten. Davonstürmend zerrt er den Maler hinter sich<br />

her. Der Zwerg stolpert. Stürzt. Doch der Festmacher reißt ihn<br />

wieder hoch.<br />

“Euch werd ich’s zeigen!”, brüllt der Hüne und stürmt krachend<br />

durch die Büsche. Zum Glück in die falsche Richtung.<br />

So gewinnen Festmacher und Fiedler etwas Zeit. Aber dann<br />

sieht der Hüne die beiden Spanner in der Ferne davonlaufen.<br />

Polternd rennt er hinterdrein. “Ich schlag euch windelweich!”,<br />

brüllt er. “Ihr Ratten. Ich schlag euch tot! Ihr Ungeziefer. Alle<br />

beide!”<br />

Und jetzt beginnt eine Hetzjagd, die der Maler nie vergessen<br />

wird. Schon bald ist er erschöpft. Will aufgeben. Aber der<br />

Festmacher läßt seinen Kumpel nicht <strong>im</strong> Stich. Mit großer<br />

Kraft zerrt er ihn durch Sträucher und Büsche. Den Fiedler<br />

an der Hand, schlägt er Haken wie ein Hase. Manchmal<br />

scheint es, als hätten sie den Hünen endlich abgeschüttelt.<br />

Aber dann ist der wieder hinter ihnen her. Nur die Geschicklichkeit<br />

und die einmalig guten Ortskenntnisse des Festmachers<br />

können den beiden jetzt noch helfen.<br />

Die feuchtgewordene Hand des Fiedlers entgleitet dem vorwärtsstürmenden<br />

Festmacher. “Bleib bei mir!”, zischt er über<br />

die Schulter dem abermals stolpernden und dann zusammensackenden<br />

Fiedler zu. “Bleib bei mir!!” Aber der Maler liegt


440 BRÜDER<br />

am Boden. Er hat aufgegeben. Da läuft der Festmacher zurück.<br />

Packt den Kumpel am Kragen und schleift ihn hinter<br />

sich her. Zum Glück überfliegt in diesem Augenblick mit Donnergetöse<br />

ein Flugzeug den <strong>Park</strong>. So kann der Hüne das Rascheln<br />

und das Keuchen nicht hören.<br />

Jetzt sind sie am Rande eines großen Gestrüpps angelangt.<br />

“Hier rein!”, zischt der Festmacher außer Atem. Wechselt<br />

den Griff. Schleift den Bewegungslosen unter Zweige. Er hat<br />

eines seiner Verstecke erreicht: ein dicht verzweigtes Dornengestrüpp.<br />

Für den Notfall hatte er hier, dicht über dem Boden,<br />

ein Einschlupfloch frei gehalten. Durch dieses Loch schleift er<br />

den Kumpel. Keuchend robbt er, sich mit dem Ellenbogen und<br />

mit beiden Knien vorwärts stemmend und den Fiedler hinter<br />

sich herzerrend, durch einen niedrigen, etwas gewundenen<br />

Tunnel <strong>im</strong> Astwerk bis in die Mitte des Gestrüpps. Dort hatte<br />

er schon vor Jahren eine Art Höhle ausgesägt. Und er hatte<br />

zum Ausruhen ein Stück Baumstamm da hineingeschafft.<br />

Darauf setzt er sich jetzt, erschöpft und nach Luft ringend.<br />

Dann wuchtet er den Kumpel neben sich. Doch der kann sich<br />

nicht mehr aufrecht halten, rutscht vom Stamm, ist einer<br />

Ohnmacht nahe.<br />

Wie einen Kranken bettet der Festmacher den Fiedler zu<br />

seinen Füßen. N<strong>im</strong>mt ihm die Mütze ab. Läßt seinen Kopf<br />

zu Boden gleiten. Öffnet Jacke und Hemd. Mit der Mütze<br />

fächelt er ihm frische Luft zu. Der Fiedler bewegt sich nicht.<br />

Da streicht ihm der Festmacher mehrmals mit der mächtigen<br />

Rechten über den mit Haarnadeln gespickten Kopf. Das beruhigt.<br />

Endlich öffnet der Fiedler die Augen. Dankbar drückt<br />

er dem Festmacher die harte Faust. Er weiß: ‘Diese Faust hat<br />

mir das Leben gerettet.’<br />

Allmählich kann der Festmacher wieder ruhiger atmen. Höchste<br />

Zeit! Das Flugzeug ist nur noch von fern zu hören. Und jetzt<br />

wird es wieder ganz still <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />

Wie ein bösartiges Ungeheuer giert der Hüne auf und ab vor<br />

dem Dornengebüsch. Immer wieder versucht er, sich in das


Hüne 441<br />

dichtverzweigte Gestrüpp zu zwängen. Das aber ist unmöglich,<br />

führt nur dazu, daß die Dornen das schwarze Leder aufschlitzen.<br />

Er kocht vor Wut. Schließlich sagt er sich: In dem Gestrüpp<br />

können die nicht sein, aber die können sich auch nicht<br />

in Luft aufgelöst haben. Irgendwo hier müssen die stecken!<br />

Fieberhaft sucht er umher. Bleibt stehen. Lauscht angestrengt<br />

in die Nacht. “Ich krieg euch!!”, brüllt er. “Ihr Dreckskerle! Ihr<br />

Satanspest!!” Wild droht er mit riesigen rotknöcheligen Fäusten.<br />

“Ich bin Boxer. Ich schlag euch sämtliche Knochen kaputt<br />

in eurem verfilzten Leib. Ich krieg euch, ihr verdammten<br />

Wanzen! Wenn ich mit euch fertig bin, seid Ihr Rollstuhlfahrer!!”<br />

Der Maler zittert. Wie ein Kind in Not greift er nach der<br />

Festmacherfaust.<br />

Der Schmied hört den Hünen toben. Er überlegt, wie er helfen<br />

kann. Da kommt ihm eine Idee. Er läuft zu dem Mädchen<br />

auf der Bank, stellt sich ein paar Meter vor ihr auf. Bleibt<br />

ganz ruhig stehen. Kuckt sie ununterbrochen an. Und richtig:<br />

Nur ein paar Sekunden steht er so, da fängt die an zu schreien,<br />

als sollte sie gleich lebendig gebraten werden: “Rüdiger!”,<br />

schreit sie, “Rüdiger!! Hilf mir!!”<br />

Sofort n<strong>im</strong>mt der Schmied Reißaus. ‘Das genügt’, denkt er.<br />

Als der Hüne angestürmt kommt, ist er längst über alle Berge.<br />

Der Festmacher durchschaut das Manöver. “Gut gemacht,<br />

Schmied”, flüstert er. “Gut gemacht.” Von weitem hört er die<br />

schrille St<strong>im</strong>me des Mädchens. Der Hüne versucht, seine<br />

Freundin zu beruhigen. Die aber kreischt: “Ich will weg hier!<br />

Sofort will ich hier weg! Nie wieder geh ich mit dir in den<br />

<strong>Park</strong>! Nie wieder!!”<br />

Der Festmacher wiegt den Kopf und grinst. “Wir habn ‘n Kunden<br />

verlorn”, sagt er leise. “Aber auf so ‘n Kunden kann ich verzichtn.”<br />

Der Maler nickt und grinst zurück. Es ist wirklich erstaunlich,<br />

wie schnell der den Schock überwunden hat!<br />

Sie bleiben noch eine Weile in ihrem Versteck. “Besser is


442 BRÜDER<br />

besser”, raunt der Festmacher. Schließlich sagt er: “Mach deine<br />

Haarnadeln raus. Wir lassn unsere Mützn ersmal hier. Und<br />

wir gehn einzeln. Jeder für sich. So kann der Boxer uns nich<br />

wiedererkenn’n, wenn der hier noch rumspukn sollte. Wir<br />

treffn uns am Spielplatz. Ich geh zuerst und peil die Lage.<br />

Wenn ich in’n paar Minutn nich zurück bin, kommst du nach.”<br />

Der Maler nickt. Wieder grinst er.<br />

Als der Festmacher den Spielplatz betritt, sitzt da schon der<br />

Schmied auf einer Bank. Sofort springt der auf und läuft seinem<br />

Freund entgegen. “Das war eng, wa?”<br />

“Ja. Wie hast du die Puppe zum Schrei’n gekriegt?”<br />

“Hab mich da nur man so hingestennt. Da hat se auch schon<br />

losgeheunt. Wie ‘ne Sirene!”<br />

Beide schuckeln.<br />

“Gut gemacht!”, lacht der Festmacher und klopft dem<br />

Freund auf die Schulter. Dann wird er ernst: “Der Fiedler muß<br />

noch ‘ne Menge lern’n. Lehnt sich da aufn morschn Ast. Bis<br />

der bricht. Wenn der in Fahrt kommt, dreht der durch. Wilder<br />

Bock! Immer mit Vollgas. Schnell geil, schnell Schiß, schnell<br />

wieder alles vergessn!! Den nehm ich mir noch mal vor.” Er<br />

kratzt herum in den Schnittlauchhaaren. “Na ja. Is ja nochmal<br />

gut gegangn.”<br />

“Ja. Ihr habt noch man vien Gend gespart.”<br />

“Wieso?”<br />

“So ‘n Ronnstuhn ist nich binnig.”<br />

Sie sehen sich an, Aug in blitzendes Aug. Mit Macht klatschen<br />

ihre erhobenen Handflächen gegeneinander. Mit Wucht<br />

rammen sie sich die Linke in die Seite. Und dann platzen sie<br />

los. Wie Donner dröhnt Ihr Gebrüll durch den <strong>Park</strong>. Berstendes,<br />

befreiendes Lachen. Mit dem hopsenden Auf und Ab ihrer<br />

Schultern und dem hüpfenden Glucksen ihres Zwerchfells<br />

schütteln sie auch die Anspannung aus ihren Körpern. Und<br />

die Angst.<br />

Der Maler kommt. Er lacht und winkt mit beiden Armen.<br />

Nebeneinander, Festmacher in der Mitte, gehen die drei in


Hüne 443<br />

Richtung Hauptweg. Dabei hält der Festmacher dem Fiedler<br />

eine seiner kurzen markanten Reden. Am Schluß sagt er:<br />

“Schreib dir das hinter die Ohr’n!”<br />

“Ja”, sagt der Maler.<br />

Nach einer Pause sagt der Festmacher: “Du mußt dich mehr<br />

zusammennehm’n, Fiedler! Du brauchst jemand, der dich an<br />

die Leine n<strong>im</strong>mt! Geh nich allein. Wart auf mich!”<br />

Der Maler nickt.<br />

Jetzt sind sie an einer der drei schönen gestifteten Bänke<br />

angekommen.<br />

“Setz dich, Schmied. Und du, Fiedler, du holst ersmal<br />

unsere Mützn.”<br />

Da sitzen sie nun, die beiden Freunde, die Ellenbogen auf<br />

den Knien. Mit leeren Augen kucken sie stumm auf den dunklen<br />

Erdboden. Sie sind froh, daß auch diesmal wieder alles gut<br />

gegangen ist.<br />

“Was wär der <strong>Park</strong> ohne dich!”, quakt der Schmied. “Was<br />

wär ich ohne dich!” Er legt seinem Freund die Hand auf den<br />

Unterarm. Seine Gedanken wandern zurück zu der Erzählung<br />

des Festmachers über den Handtaschendieb. “Auch dem<br />

hast du’s gegeb’n!”<br />

“Wovon redest du?”<br />

“Von dem Verbrecher, der hier Handtaschn geknaut hat.”<br />

“Ach so.”<br />

“Gut, daß du hier für Ordnung sorgst. Dasses wenigstens<br />

hier Gerechtigkeit gibt! Hier. Im <strong>Park</strong>. Und daß wenigstens<br />

hier kein Verbrecher ungestraft bneibt!”<br />

“Ja.”<br />

Der Schmied denkt nach. Plötzlich sagt er, langsam, jedes<br />

einzelne Wort betonend: “Was machst du, wenn hier man ein<br />

Mord passiert? Hier. Im <strong>Park</strong>?”<br />

“Red kein’n Scheiß, Mann!”<br />

“Ich mein nur … ich mein nur, wenn. Und wenn die Ponizei<br />

den Mörder nicht findet. Du findest den doch best<strong>im</strong>mt.”<br />

“—.”


444 BRÜDER<br />

“Was machst du denn?”<br />

“—.”<br />

“Na? Was machst du??”<br />

Als der Festmacher noch <strong>im</strong>mer nichts sagt, läßt der Schmied<br />

seine Frage durch beharrendes Schweigen antwortfordernd<br />

<strong>im</strong> Raum hängen.<br />

Da sagt der Festmacher ruhig und best<strong>im</strong>mt: “Denn treff ich<br />

mich mit dem.”<br />

“Waas??”<br />

“—.”<br />

“Wo?”<br />

“Am altn Anleger. Am See.”<br />

“Ja und denn?”<br />

“Da fällt der denn rein.”<br />

Der Maler kommt. Schnell biegt er in den Weg. Grinsend<br />

winkt er mit den Mützen. Rasch setzt er sich zu den beiden.<br />

Am Schmied vorbeireichend übergibt er dem Festmacher dessen<br />

Mütze. Aus der Hosentasche kramt er Kamm und Haarnadeln<br />

hervor. Mit Sorgfalt kämmt er die langen, schwarzen<br />

Haare. Dann beginnt er, Haarnadeln zwischen den Wulstlippen<br />

und mit der Linken lange Strähnen in die Höhe hebend,<br />

seine Haare hochzustecken.<br />

“Wahnsinn!”, grient der Schmied. “Wie so’ne Finmdiva.” Er<br />

schuckelt mit den Schultern. “Nur nich so hübsch.”<br />

Lange sitzen die drei nebeneinander auf der Bank. Die Pause<br />

tut gut.<br />

Politiker<br />

“Wißt ihr, was Spinnen machn wenn die gebumst habn?”,<br />

fragt der Schmied und n<strong>im</strong>mt so das Gespräch von vorhin wieder<br />

auf.<br />

“Nee.”


Politiker 445<br />

“Das Weibchen frißt das Männchen auf. Jedenfanns machn<br />

das einige von den’n.”<br />

Pause.<br />

“Wenn ich meiner Alten schmeckn würde, die würde mich<br />

auch auffressn.”<br />

Pause.<br />

“Wißt ihr, daß Spinnen auch Ankohon trinkn? Jedenfanns,<br />

wenn se wenchn habn?”<br />

“Nee.”<br />

“Denn sind die richtig besoffn!” Der Schmied kratzt sich am<br />

Kopf. “Und denn spinn’n die fansch rum!”<br />

Wieder Pause.<br />

“Wie die Menschn”, sagt der Festmacher. “Nur die Menschn<br />

spinn’n oft auch falsch rum ohne Alkohol.” Er rülpst. “Seht<br />

euch die Politiker an. Was die sich zusamm’n spinn’n! Viele<br />

Politiker quatschn nur. Machn tun die nur wenig. Und Denkn<br />

tun die nur seltn – und wenn, denn meist nur an die nächste<br />

Wahl, nich an die nächste Generation.”<br />

“Yes, sir”, ruft der Schmied. “Und auch die Wahrheit sagn die<br />

nur sentn.”<br />

“Wahrheit”, sinniert der Festmacher und setzt seine Verkündermine<br />

auf, “Wahrheit, das is ‘ne Sache für sich. Ich hab<br />

das mal probiert.” Er spuckt. “Wenn ich meiner Mutter die<br />

Wahrheit gesagt hab, gab’s Prügel. Wenn ich meiner Altn die<br />

Wahrheit gesagt hab, gab’s Krach. Da hat’s bei mir geknackt.<br />

Da hab ich die Sache geändert. Da hab ich gelogn. Und da ging<br />

alles wie geschmiert. Ich sag euch, Wahrheit braucht <strong>im</strong>mer<br />

zwei: ein’n der se sagt und ein’n, der se verträgt.”<br />

Der Festmacher rückt die Mütze zurecht. Dann kommt er<br />

zurück auf sein Thema. “Viele Politiker quatschn nur. Auch<br />

von Demokratie quatschn se nur. Das is für die meist das, was<br />

se selber wolln. Was sagn die, wenn die Bürger was anderes<br />

wolln? ‘Der Bürger hat unsere Botschaft nicht verstanden.’<br />

Oder: ‘Es ist uns nicht gelungen, unsere Botschaft deutlich zu<br />

machen.’ Arschlöcher!” Er macht eine wegwerfende Handbe-


446 BRÜDER<br />

wegung. “Daß ihre Botschaft Scheiße is, auf die Idee komm’n<br />

die gar nich. Kaum einer von den Typn geht mal hin zu den<br />

Bürgern und fragt: ‘Leute, was wollt ihr? Was paßt euch nich?’<br />

Denn würdn se mal hörn, was Sache is. Daß viele von den<br />

Leutn die Schnauze voll habn. Von dem Mist, den die Politiker<br />

verzapfn. Von dem Schlamm und Dreck, mit dem se um sich<br />

schmeißn.”<br />

“Was die Leute wonn’n”, sagt der Schmied, “ist auch nicht<br />

<strong>im</strong>mer richtig.”<br />

“Okay. Aber die solln die Leute wenigstens anhörn. – Und<br />

warum sch<strong>im</strong>pfn die auf die Leithammel links außn und<br />

rechts außn? Die tun doch nix anderes als sie selbst: suchn<br />

Wähler, wolln Macht, wolln das tun, was se für richtig haltn.<br />

Wer wählt denn schon Extremisten, wenn die großn Parteien<br />

vernünftig sind, wenn der’n Politiker ihre Schularbeitn machn<br />

und nich dauernd am Fenster rumsteh’n, ihre Federn spreitzn<br />

und mit Dreck um sich schmeißn? Ehrlich, mich kotzt das an!”<br />

“Festmacher geht man wieder auf große Fahrt, wa? Anne<br />

Menschn machn Fehner. Ponitiker sind Menschn.”<br />

“Denn solln se sich auch so benehm’n! Aber die benehm’n<br />

sich wie Halbgötter. Wenn die sich besuchn, was für’n Hallas!<br />

Weiße Mäuse. Militärische Ehren – wenn ich das bloß hör!<br />

Festessen, Ausflüge. Die nehm’n sogar ihre Muttis mit. Schon<br />

mal überlegt, was das kostet? Und was da für Zeit ausfällt,<br />

in der se lieber arbeitn solltn? Da gib’s nämlich ‘ne Menge<br />

Arbeit. Aber was machn die? Die feiern sich selbst. Halt’n sich<br />

für die Größtn! Richtige, ehrliche Arbeit? Das überlassn se ander’n.<br />

Dem Volk. Mir, dir, dem Fiedler. Aber unser Geld ausgebn,<br />

das könn’n se. Das könn’n se besser als alles andre!”<br />

“Sch<strong>im</strong>pf nicht so vien. Was sonn die denn machn da obn!”<br />

“Die sind nich da obn. Die stehn aufn Teppich. Genau wie wir.<br />

Was solln die machn? Drei Sachn solln die machn: Weniger<br />

Hallas, weniger Dreck, mehr Arbeit. Und die solln ihre Arbeit<br />

so machn, daß da auch was bei rauskommt. Seht euch die Welt<br />

an. Denn wißt ihr, was Politiker machn!”


“Du zienst scharf. Warum mußt du übertreibn?”<br />

“Wer scharf zielt, sieht nur die Zwölf, nich die ganze Scheibe.<br />

Klar gibt’s auch gute Politiker, sonst wär’s ganz zappenduster.<br />

Aber ‘s gibt zu wenig gute und zuviel schlechte. Das isses!” Der<br />

Festmacher schürzt den Mund, zieht die Brauen hoch, hebt<br />

den Kopf, so als wollte er noch etwas sagen. Aber er sagt nichts.<br />

“Nix geht ebn über Spanner!”, quakt der Schmied vergnügt.<br />

“Annes reine Engen!”<br />

“Nu übertreib mal nich!”<br />

“Hast du senbst gesagt, die reinstn Engen sind wir!” Der<br />

Schmied lehnt den Kopf zurück und lacht. Ihm ist so richtig<br />

wohl <strong>im</strong> Kreise seiner Freunde. Und so fährt er sich voller<br />

Behagen durchs krause Haar. Setzt sich aufrecht. Sieht mit<br />

lustigen, blitzenden Augen in den dunklen <strong>Park</strong>. Und dann<br />

st<strong>im</strong>mt er das Spannerlied an, das der Festmacher gedichtet<br />

und das er ‘vertont’ hat. Quakend singt er nach einer schwerfällig<br />

dahinstapfenden Melodie verbogener Noten:<br />

Der Affe kreischt, es furzt die Naus,<br />

Spanner schneichn aus dem Haus.<br />

Sie suchn weder Has noch Hirsch<br />

Und trotzdem gehn sie auf die Pirsch.<br />

Keinem Wesn tun sie weh,<br />

Keiner Ente, keinem Reh.<br />

Warum sie denn zum Jagn geh’n?<br />

Sie wonn’n nur man ‘n bischn seh’n,<br />

Wie andre ihre Nummern schiebn,<br />

Sich so recht von Herzn niebn.<br />

Politiker 447<br />

Der Maler juchzt vor Vergnügen. Er wischt sich über die Augen.<br />

Dann lacht er stumm vor sich hin. Ihm macht das alles<br />

einen Riesenspaß.<br />

Da sagt der Festmacher: “Und denn stirbt das Lustgewinsel.<br />

Und denn senken sich die Pinsel.”


448 BRÜDER<br />

“Right!”, ruft der Schmied und klatscht sich übermütig auf<br />

die Schenkel.<br />

Ja, die drei sind glückliche Spanner. Meist führt ein Spannerdasein<br />

in trostlose Einsamkeit; denn die meisten Voyeure<br />

jagen einzeln. Und auch Jäger und Beute existieren getrennt<br />

voneinander. Die Verbindung läuft nur über die Süchte des<br />

Spanners. Keine Wechselseitigkeit, kein Emotionsaustausch.<br />

Nur da, wo Spanner gemeinsame Sache machen, wird der<br />

Fluch der Einsamkeit durchbrochen. Da herrscht Brüderlichkeit.<br />

Und diese Brüderlichkeit ist ein hohes Gut. Ernsthafte<br />

Konflikte werden vermieden. Was der andere sonst noch<br />

macht, außerhalb der Jagd, darum kümmert man sich nicht.<br />

Da lebt jeder vom anderen getrennt. Aber während des gemeinsamen<br />

Jagens, da gelten eherne Gesetze: gegenseitige<br />

Unterstützung und rückhaltlose Aufrichtigkeit. Weh dem, der<br />

dagegen verstößt!<br />

“Los Leute! An die Arbeit! Wir wolln noch mal was zu sehn<br />

kriegn.” Die drei stehen auf, recken und strecken sich. Dann<br />

weist der Festmacher die Richtung: Zum Hauptweg.<br />

Füße<br />

Wohl zehn Minuten mögen sie gegangen sein, da bleibt der<br />

Festmacher mit einem Ruck stehen, streckt beide Arme aus,<br />

gebietet: Halt! Stumm weist er mit dem Kopf auf zwei Füße.<br />

Kaum sichtbar liegen die da am Wegrand. Versteckt unter<br />

Sträuchern. Fußspitzen nach oben. Männerfüße. Jemand anders<br />

wären die gar nicht aufgefallen. Die drei stehen um die<br />

Füße herum. Die bewegen sich nicht.<br />

“He”, ruft der Festmacher, “was machst du da?”<br />

… Nichts rührt sich.<br />

“Hier is kein Schlafz<strong>im</strong>mer. Los Mann, steh auf!”


Füße 449<br />

Als sich noch <strong>im</strong>mer nichts rührt, tritt der Festmacher<br />

leicht gegen die rechte Fußsohle. Keinerlei Reaktion.<br />

“Da st<strong>im</strong>mt was nich. Zieht den mal raus da aus’m Busch.”<br />

Schmied und Fiedler ziehen an den Füßen. Doch <strong>im</strong>mer wieder<br />

verhaken sich die Arme des Mannes <strong>im</strong> Gestrüpp.<br />

“Deine Leine!”, herrscht der Festmacher den Maler an. Als<br />

der die Leine aus der Tasche zieht, sagt er: “Bind Äste und<br />

Zweige beiseite, daß wir den da rauskriegn … Die rechts da, du<br />

Dösel!”<br />

Wieder ziehen Schmied und Fiedler an den Füßen. Stück für<br />

Stück kommt ein sorgfältig gekleideter, älterer Mann zum<br />

Vorschein. Der war in die Sträucher gestürzt. Das bezeugen<br />

umgeknickte Zweige. Der Festmacher kniet nieder, lockert<br />

den Schlips des Mannes und knöpft den Hemdkragen auf.<br />

Rasch zieht er sich die Jacke aus, faltet sie zu einer flachen<br />

Nackenstütze und schiebt sie dem Mann unter’s Genick.<br />

Dann öffnet er dessen Jackett, beugt sich nieder, legt ein Ohr<br />

auf die linke Brustseite und lauscht. Er zieht die Mundwinkel<br />

nach unten und richtet sich wieder auf. Mit den Kuppen von<br />

Zeige- und Mittelfinger prüft er, die Augen schließend, ob<br />

noch Puls zu spüren ist in der Halsschlagader.<br />

“Tot?”, fragt der Schmied.<br />

Es dauert einige Zeit, bis der Festmacher antwortet. Schließlich<br />

schüttelt er den Kopf. “Nee. Ohnmächtig. Aber schon ganz<br />

kalt. Der hat da schon ‘ne Weile gelegn. Los, Fiedler, hol ‘ne<br />

Flasche Mineralwasser vom Waldschloß. Und bring ‘n Pappbecher<br />

mit.” Er langt in die Hosentasche. “Hier is Geld.”<br />

Der Maler zieht die Schultern hoch.<br />

“Was is?”<br />

“Ich bleib lieber hier und helf dir.”<br />

Der Festmacher ist nicht gewohnt, daß man seine Anordnungen<br />

nicht sofort befolgt. Aber er ist jetzt voll damit beschäftigt,<br />

dem Ohnmächtigen zu helfen. Da hat er keine Zeit<br />

für Zurechtweisungen. “Los, Schmied, mach du das.”<br />

“Annes knar!” Der Schmied n<strong>im</strong>mt das Geld und rennt los.


450 BRÜDER<br />

“Ohne Kohlensäure!”, ruft der Festmacher ihm nach.<br />

Ohne sich umzusehen, hebt der Schmied den linken Arm.<br />

Der Mann stöhnt leise.<br />

“Was fehlt dir?” Der Festmacher spricht langsam, laut und<br />

ruhig. “Wie könn’n wir dir helfn?” Er greift unter den Kopf des<br />

Kranken und hebt ihn etwas an. Für einen Augenblick öffnet<br />

der Mann die Lider. Starre, graue Augen fixieren den Helfer<br />

mit merkwürdig leerem Blick. Dann schließen sich die Lider<br />

wieder. Der Mann versinkt erneut in Ohnmacht.<br />

“Los, pack an! Wir tragn den zu der Bank da.” Der Festmacher<br />

n<strong>im</strong>mt seine Jacke wieder an sich, zieht sie sich über,<br />

greift dem Ohnmächtigen unter die Achseln und gibt seinem<br />

Kumpel mit einem Kopfnicken das Zeichen, ebenfalls anzupacken.<br />

Der Maler geht in Kniebeuge und ergreift mit jeder<br />

Hand eine Ferse. Als der Festmacher nochmals nickt, richten<br />

die beiden sich langsam auf und heben den Mann in die Höhe.<br />

Der Mann ist schwer. Der Maler verspürt einen starken,<br />

stechenden Schmerz in seinem Rücken. Er stöhnt laut auf.<br />

“Reiß dich zusamm’n, Mann!”<br />

Schritt für Schritt schleppen sie den Ohnmächtigen zur<br />

Bank. “Diese Fiedler!”, sch<strong>im</strong>pft der Festmacher, “könn’n grademal<br />

ihre gottsverdammte Fiedel hebn!”<br />

Erneut stöhnt der Maler. Er hat fürchterliche Schmerzen.<br />

Endlich haben sie die Bank erreicht. “Ich muß einen Augenblick<br />

pausieren. Mein Rücken macht nicht mit.”<br />

Der Festmacher verzieht den Mund und zieht die Pupillen<br />

unter die Lider. Dann streift er sich die Jacke von den Schultern<br />

und breitet sie aus auf der Bank.<br />

“Geht’s jetzt?”<br />

Als der Maler nickt, gibt der Festmacher mit einer Kopfbewegung<br />

das Kommando. Gemeinsam wuchten sie den<br />

Mann auf die Bank. Wieder stöhnt der Maler.<br />

“Sieh nach, was der in sein’n Taschn hat. Hol alles raus!”<br />

Als der Maler ihn fragend ansieht, sagt der Festmacher:<br />

“Der hat sicher Angehörige. Vielleicht müssn wir die benach-


Füße 451<br />

richtign. Vielleicht findn wir auch was, womit wir dem helfn<br />

könn’n. Los, Mann, mach schon!”<br />

Da kramt der Maler die Taschen aus. Zuerst die Jackentaschen,<br />

dann die Hosentaschen: Schlüssel, Taschentuch, Geldbörse,<br />

Kugelschreiber, Notizbuch, Brieftasche …<br />

“Notizbuch! Taschenlampe!”<br />

Der Festmacher blättert. Er findet nichts, das ihm weiterhelfen<br />

könnte.<br />

“Portjuchhe! Mehr Licht!” Einige Hundertmarkscheine, ein<br />

Fünfziger, ein paar Zehner, eine Quittung. Da, was is das? “Mehr<br />

Licht! ‘N Rezept. Mann, Mann, Mann! So’ne Sauklaue! Kann<br />

ich nich lesn. So’n Doktor, der schreibt wie einer in ‘ne Achterbahn.<br />

Kannst du das lesn?” Er reicht dem Fiedler das Rezept.<br />

“Das Rezept ist ausgestellt auf den Namen Gerhard Müller.”<br />

“St<strong>im</strong>mt.” Der Festmacher inspiziert gerade die Brieftasche.<br />

“Das is der hier. Müller steht auch in sein’m Ausweis.”<br />

“Was steht drauf auf dem Rezept? Was braucht der?”<br />

“Der braucht …” Der Maler liest. Der Festmacher versteht<br />

ihn nicht.<br />

“Deine Jacke! Los, zieh deine Jacke aus!”<br />

Widerstrebend gehorcht der Maler. Sein Rücken braucht<br />

Wärme. Als er endlich aus der Jacke schlüpft, reißt sie ihm der<br />

Festmacher aus der Hand. Mit zugleich raschen und ruhigen<br />

Griffen breitet er sie aus über dem Ohnmächtigen. Dann setzt<br />

er sich neben ihn, korrigiert dessen Haltung, legt Kopf und<br />

Arme bequemer.<br />

“Los, lauf zum Doktor! Zum <strong>Park</strong>eingang. ‘N paar hundert<br />

Meter links vom großn Denkmal. Und bring den Doktor mit.”<br />

Der Maler fürchtet sich davor, daß ihn der Arzt erkennen<br />

könnte. “Es ist fast Mitternacht. Der schläft längst.”<br />

Der Festmacher mißt ihn hart aus schräggestellten Augen.<br />

“Das is mir scheißegal. Klingel den raus! Klingel, bis der aus<br />

der Koje fällt. Oder schmeiß dem die Scheibn ein.” Los, Mann,<br />

rausch ab!”<br />

Der Maler rührt sich nicht vom Fleck. Auf keinen Fall will


452 BRÜDER<br />

er in seinen Jagdklamotten außerhalb des <strong>Park</strong>s gesehen werden,<br />

schon gar nicht von einem Arzt, den er mitten in der<br />

Nacht aus dem Bett geklingelt hat.<br />

“Worauf wartest du?”, zischt der Festmacher leise, “soll der<br />

hier erst krepiern?”<br />

“Ich kenne den Arzt”, lügt der Maler. “Der mag mich nicht –<br />

und ich den auch nicht.”<br />

“Du Arsch, du! Du gottsverdammter Arsch. Hier liegt einer<br />

und verreckt, und du willst dem nich helfn, weil du den Doktor<br />

nich magst!”<br />

Da kommt der Schmied angerannt. Er pustet und keucht. In<br />

einer Hand hält er eine Flasche Mineralwasser, in der anderen<br />

einen Pappbecher. Er ringt nach Luft.<br />

“Schenk den Becher halbvoll und gib ihn mir.” Der Festmacher<br />

hebt den Kopf des Mannes, öffnet mit Daumen und<br />

Zeigefinger dessen Mund einen Spalt breit und läßt aus dem<br />

etwas zusammengefalteten Becher Wasser über die Zunge rinnen.<br />

Der Mann schluckt. Noch etwas Wasser. Wieder schluckt<br />

der Mann. Und noch ein drittes Mal.<br />

Der Riese reißt dem Zwerg das Rezept aus der Hand. Stößt<br />

es dem Schmied vor den Bauch. “Hier! Das is ‘n Rezept. Renn<br />

zum Doktor um die Ecke. Klingel den raus. Und bring ihn mit.<br />

Sag ihm, es geht um Lebn oder Tod.”<br />

“Annes knar!”, keucht der Schmied, macht auf dem Absatz<br />

kehrt und rennt los.<br />

Dem Maler ist zumute, als habe er einen schl<strong>im</strong>men Verrat<br />

begangen. Er weiß: Das wird der Festmacher nie vergessen,<br />

das wird er mir nie verzeihen. Er ist verzweifelt. Zitternd<br />

dreht er sich zur Seite. Seine Augen suchen die des Festmachers.<br />

Der aber starrt geradeaus.<br />

“Tut mir leid”, krächzt der Zwerg mit einem Anflug ungeheurer<br />

Verlassenheit in Gebärde und St<strong>im</strong>me und mit einem<br />

Gesicht, in das jetzt die Angst kriecht. “Tut mir sehr leid …<br />

Ich hätte gleich zum Arzt laufen sollen … Ich will gerne helfen<br />

… Aber …”


Füße 453<br />

Der Festmacher sagt nichts. Mit zusammengezerrten Brauen<br />

und fest verschlossenem Mund kehrt er dem anderen hartes<br />

Schweigen zu.<br />

Plötzlich erinnert sich der Festmacher an die erste Begegnung,<br />

an das erste Mal, das er dem neuen Fiedler auf dem erleuchteten<br />

Kiesweg ins Gesicht gesehen hatte. Ganz deutlich<br />

sieht er nun das Gesicht vor seinem inneren Auge, in allen<br />

Einzelheiten. Und dann erinnert er sich an das große Bild, das<br />

er heute auf dem Weg zum <strong>Park</strong> in einem hell erleuchteten<br />

Schaufenster gesehen hat – an den elegant gekleideten Herrn<br />

mit den langen, gepflegten schwarzen Haaren. Unter dem Bild<br />

stand in großen Buchstaben: ‘Ein weltberühmter Bürger unserer<br />

Stadt.’ Der Festmacher kneift den Mund zum Strich.<br />

‘Weh ihm! Weh ihm wenn er lügt!!’<br />

Nochmals flößt der Festmacher dem Mann etwas Wasser<br />

ein. Als der wiederum schluckt, versucht er das abermals.<br />

Doch nun schluckt der Mann nicht. Da hört er auf damit und<br />

läßt dessen Kopf langsam auf die Bank sinken. Er beugt sich<br />

hinunter. Den Mund nah am Ohr des Ohnmächtigen, sagt er<br />

langsam, laut und best<strong>im</strong>mt: “Wir helfen dir.” So als wäre es<br />

ein alter Freund, fügt er hinzu: “Hab keine Angst. Der Doktor<br />

kommt gleich. Es wird alles wieder gut.” Er legt einen Arm<br />

um die Schulter des Ohnmächtigen und ordnet mit der freien<br />

Hand die Jacken so, daß sie die kühle Nachtluft abhalten.<br />

“Wir machn das schon.”<br />

Plötzlich öffnet der Mann die Augen, sieht den Festmacher<br />

an. Ein schwerer, müder Blick. Voller Dankbarkeit.<br />

“Du bist herzkrank?”<br />

Der Mann nickt, ganz schwach.<br />

“Das Rezept in deinem Portjuchhe, is das richtig?”<br />

Wieder nickt der Mann.<br />

“Wir holn den Doktor. Der kommt gleich. Solange mußt du<br />

noch durchhaltn.” Ruhig und best<strong>im</strong>mt sagt er wieder: “Wir


454 BRÜDER<br />

machen das schon.”<br />

Der Kopf des Mannes sinkt zur Seite.<br />

“Renn, Schmied! Renn!!”, murmelt der Festmacher. Dann<br />

holt er tief Luft. Schließlich flüstert er, so als wäre der Schmied<br />

noch <strong>im</strong>mer da: “Und bring den Doktor mit.”<br />

Die dumpfe Stille der Nacht wirkt auf einmal sehr bedrükkend.<br />

Kein Lüftchen regt sich. Kein Laut ist zu hören. Der<br />

ganze <strong>Park</strong> scheint ohnmächtig zu sein.<br />

Warten! Warten auf den Schmied. Die Zeit verrinnt. So langsam.<br />

Wieder fächelt der Festmacher dem Mann frische Luft zu.<br />

‘Hoffentlich is der Doktor zu Haus’, denkt er. ‘Hoffentlich is<br />

das ein Mensch! Ein Mensch, der hilfsbereit is. Der mitkommt.<br />

Dem sein Schlaf nich wichtiger is, als ein’m andern Menschn<br />

das Lebn zu rettn!’<br />

Minuten werden zu Stunden. Der Festmacher richtet sich<br />

auf, hebt den Kopf, dreht und wendet sich, reckt den Hals,<br />

späht angestrengt in die Nacht. ‘Schmied, wo bleibst du?’<br />

Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … aufdringlich laut<br />

dröhnt die Kirchturmglocke durch den stummen <strong>Park</strong>. Durch<br />

einen <strong>Park</strong>, der den Atem anhält. Zwölfmal. Mitternacht. Wie<br />

von einer Totenglocke kommt das Dröhnen dem Festmacher<br />

aufeinmal vor. ‘Schmied, Schmied, wo bleibst du??’<br />

Wieder versucht der Festmacher, dem Mann etwas Wasser<br />

einzuflößen. Aber es gelingt ihm nicht. Das Gesicht des Ohnmächtigen<br />

wird aschfahl. Der Kopf rollt zur Seite. Es sieht so<br />

aus, als ob der Tod nach ihm greift.<br />

‘Schmied … Schmied!!’<br />

Eine Ewigkeit …<br />

Da!! Ein Licht, zwei Lichter! Da kommt ein Auto! Auf dem<br />

Hauptweg kurvt es lang, sehr schnell. Biegt schleudernd um<br />

die letzte Kurve. Schießt auf die Bank zu. Kommt auf dem<br />

Kies rutschend und knirschend zum Stehen. Heraus stürzen<br />

Schmied und Arzt. Als der an der Bank angelangt ist, ruft er:<br />

“Mein Gott, das ist ja der Gerhard!”


Füße 455<br />

“Sie kenn’n den?”<br />

Während der Arzt mit hastenden Händen eine Spritze aufzieht,<br />

sagt er: “Ja. – Vorhin, auf dem Rezept, da hab ich nur<br />

was von Müller gelesen. Davon gibt’s ‘ne Menge. Aber der hier,<br />

das ist ein alter Freund von mir.” Fliegende Finger reinigen<br />

Haut. Umklammernde Fäuste stauen Blut. Rasch holt der<br />

Festmacher die Taschenlampe hervor und leuchtet dem Arzt.<br />

Der führt die Nadel ein, drückt lebensrettende Flüssigkeit in<br />

die schlaffe Vene.<br />

Alle vier starren auf den Ohnmächtigen. Der rührt sich nicht.<br />

Minutenlang nicht. Dann stöhnt er leise und bewegt den Arm.<br />

Die Spritze beginnt zu wirken.<br />

“Sie haben dem Herrn Müller das Leben gerettet”, sagt der<br />

Arzt aufatmend. “Wo haben Sie ihn gefunden?”<br />

“Der lag da <strong>im</strong> Busch. Wir hab’n ihn da rausgezogn und hierher<br />

gebracht.”<br />

Mehrmals mühsam Luft holend, erwacht der Mann. Aus<br />

dunkler Geisterwelt zurückgekehrt, öffnet er die Lider. Er<br />

sieht den Arzt. Lächelt. “Vielen Dank”, flüstert er kaum hörbar,<br />

“vielen herzlichen Dank!”<br />

“Denen da mußt du danken. Diesen drei Herren da. Die<br />

haben dir das Leben gerettet.”<br />

“Vielen Dank, meine Herren … vielen, vielen Dank … Ich<br />

weiß gar nicht … was ich sagen soll, … wie ich Ihnen danken<br />

soll. Ich …”<br />

“Sei still”, sagt der Festmacher. “Ersmal wieder auf die Beine<br />

komm’n! Wir hab’n nix Besonderes gemacht.”<br />

Da erinnert sich der Mann an diese feste, ruhige St<strong>im</strong>me. Sie<br />

hatte ihm Mut gemacht, als er sich bereits anschickte, diese<br />

Welt für <strong>im</strong>mer zu verlassen. Wie durch eine dichte, schwere<br />

Nebelwand hatte ihn die St<strong>im</strong>me während seiner Bewußtlosigkeit<br />

erreicht und in den kurzen Halbwachperioden dazwischen.<br />

Auch jetzt beruhigt sie ihn. Er gehorcht ihr sofort.<br />

“Ich würde gerne Ihre Namen und Anschriften haben”, sagt<br />

der Arzt. “Ich bin sicher, Herr Müller wird sich bei Ihnen noch


456 BRÜDER<br />

besonders bedanken wollen. Zwei Jahrzehnte war er Chef in<br />

unserem Polizeirevier. Er hat vielen Menschen geholfen, und<br />

er weiß Hilfe zu würdigen wie kaum ein anderer. Jetzt ist er<br />

pensioniert. Sein Hobby ist der <strong>Park</strong>. Hier verbringt er viele<br />

Stunden. Aber er sollte nicht allein in den <strong>Park</strong> gehen. Das<br />

hab ich ihm schon oft gesagt.”<br />

Der Kranke lächelt schwach und flüstert: “Bitte um Nachsicht.<br />

Meine Frau ist verreist. Aber ich wollte so gern in den<br />

<strong>Park</strong>. Ich…”<br />

“Nu machn Se mal!”, ruft der Festmacher. “Nu sehn Se mal<br />

zu, daß Sie mit dem ins Warme komm’n. Der is völlig ausgekühlt.<br />

Los, los, fahrn Sie den Mann sofort nach Hause. Ich<br />

komm mal vorbei in Ihre Praxis und geb Ihnen mal unsere<br />

Nam’n.”<br />

Erstaunt hebt der Arzt den Kopf und wendet ihn dem<br />

großen Mann mit der schwarzen Schiffermütze zu. Sekundenlang<br />

blickt er in die klaren harten Augen. Fast körperlich<br />

fühlt er die starke Ausstrahlung des anderen. Widerspruchslos<br />

beugt er sich einer starken Persönlichkeit, blickt zu Boden<br />

und wendet sich ab. Auch der Kranke nickt ergeben Zust<strong>im</strong>mung.<br />

In dieser nächtlichen Stunde zählen nur die Weisheit und<br />

die Kraft, die aus dem Herzen kommen.<br />

Der Arzt greift seinem Freund stützend unter den Arm. Der<br />

Festmacher springt hinzu und hilft, den Kranken zum Auto<br />

zu bugsieren. Der Schmied läuft voraus, öffnet die Beifahrertür<br />

und schiebt den Sitz so weit wie möglich nach hinten.<br />

Dann helfen die drei dem Kranken in den Wagen.<br />

Bevor der Arzt einsteigt, sagt er: “Haben Sie sehr, sehr herzlichen<br />

Dank! Ich wünschte mir, es gäbe mehr solche Männer!”<br />

Er n<strong>im</strong>mt Platz, schließt die Tür, startet und wendet den<br />

Wagen. Dann steigt er nochmals aus und ruft: “Ihr seid großartige<br />

Menschen, ihr drei! Wirklich ganz großartig!!” Zum<br />

Riesen gewandt fügt er hinzu: “Bitte vergessen Sie nicht, bei<br />

mir vorbeizukommen!”


Füße 457<br />

Der Festmacher tickt mit dem Zeigefinger an den Mützenschirm.<br />

Da fährt der Arzt davon.<br />

Die drei Spanner sehen dem sich rasch entfernenden Auto<br />

nach. “Noch mal Glück gehabt!”, sagt der Festmacher. “Bin<br />

froh, daß alles geklappt hat.” Er wendet sich nach links: “Gut<br />

gemacht, Schmied!” Seine Mütze zurechtrückend, sieht er aus<br />

den Augenwinkeln nach rechts, hinüber zum Fiedler. Aber er<br />

sagt nichts.<br />

Zerknirscht starrt der Maler auf seine schwarzen Schuhe.<br />

Mit einem Ausdruck jammervoller Zerbrochenheit.<br />

“Du warst doch der große Meister!”, ruft der Schmied, “Festmacher<br />

weiß <strong>im</strong>mer, wo’s nang geht! Dir hat der sein Neben<br />

zu verdankn.” Er fährt sich mit dem Handrücken über den<br />

Mund. “Kein Mensch hätte den überhaupt gefundn, da unter’m<br />

Busch. Und denn die Idee mit Rezept und Doktor!” Der<br />

Schmied sieht hinauf zu seinem großen, dicht neben ihm stehenden<br />

Freund. Dann macht er “Jupp!” und quakt: “You are<br />

the greatest! Du kriegst jedes Ding in’n Kasten. Wahnsinn!”<br />

Er verbeugt sich: “Festmacher for President!”<br />

Den Festmacher rührt das nicht: “Ich geh mal pinkeln.”<br />

Der Maler ist verzweifelt. Leise stöhnt er auf. Mit einem tiefen<br />

Atemzug zieht er die Schirmmütze in die Stirn. Dann wendet<br />

er sich dem Schmied zu. Eigentlich mehr, um überhaupt<br />

etwas zu sagen, fragt er: “Wieso sprichst du Englisch?”<br />

“War man mit ‘ner Amerikanerin vernobt.”<br />

“In die Brüche gegangen?”<br />

“Nee … Gestorbn … Tödnich verungnückt.” Der Schmied ist<br />

plötzlich wie angefaßt. Er dreht sich ab, so, daß der andere<br />

sein Gesicht nicht sehen kann. Hilflos zuckt er mit den Schultern,<br />

läßt in tiefer Traurigkeit den Kopf sinken.<br />

“Tut mir sehr leid!”<br />

Der Schmied nickt. Er ist dankbar für die Anteilnahme. Niemals<br />

wird er dieses Mädchen vergessen. Nie! Stockend sagt er,<br />

ganz leise, unterbrochen von ruckartigem Einatmen, das wie


458 BRÜDER<br />

Schluchzen klingt: “Manche Männer … geh’n von einer Frau<br />

zur andern … <strong>im</strong>mer weiter … bis sie bei einer bneibn, die sie<br />

begräbt … Ich hatte eine Frau gefundn, bei der wär ich gebniebn<br />

… Ewig.” Er schüttelt den Kopf … “Aber ans sie tot<br />

war, durfte ich sie nicht man begrabn … Ihr gehört mein Herz<br />

… Immer weiter … Bis ich tot bin … Und andere mich<br />

begrabn.”<br />

Der Zwerg ist tief bewegt. Er stellt sich auf die Zehenspitzen<br />

und legt dem Schmied den Arm um die Schulter, zieht ihn zu<br />

sich heran. Nie zuvor hatte ihn ein solches Mitgefühl erfaßt.<br />

In seinem ganzen Leben hatte er niemals wirkliche Liebe<br />

erfahren – und er hatte niemals wirkliche Liebe geben können.<br />

Der Schmied hat Saiten in ihm zum Klingen gebracht,<br />

von denen er nicht einmal ahnte, daß sie existieren. Ein<br />

warmer Strom der Zuneigung erfüllt ihn. Für ihn steht der<br />

Schmied an einem anderen Ufer – an einem Ufer, nach dem er<br />

sich zeitlebens gesehnt hatte. Plötzlich empfindet er dem<br />

Schmied gegenüber so etwas wie innige Zuneigung, ja, wie<br />

brüderliche Liebe. “Wohnst du allein?”<br />

Der Schmied nickt.<br />

“Ist das nicht sehr einsam? Ich meine, so ganz allein in der<br />

Wohnung. Immer so ganz allein zu leben?”<br />

Dem breiten Mund entringt sich Seufzen, diese besondere<br />

Form des Atmens. Tränen füllen die sonst so lustigen Augen.<br />

Der Schmied zieht die Mundwinkel nach unten und zuckt hilflos<br />

mit den Schultern … “Was heißt annein? … Viene Neute<br />

neben zu zweit und sind annein … Ich bin nicht einsam … ich<br />

hab gute Freunde … Den Festmacher … Und … dich.”<br />

‘Ja’, denkt der Maler, ‘der Schmied! So viel Gutes trägt sich<br />

selbst.’ Dieser einfache Mann ist für ihn zu einer Art Idol geworden.<br />

Ein in sich selbst Ruhender, Unverfälschter, ja, ein<br />

Unverfälschbarer. Sich selber aber sieht er als etwas Unreines,<br />

als einen mißratenen Zwitter, als eine Mißgeburt voller<br />

Gegensätzlichem, voller Zerrissenheit und voller äußerer und<br />

innerer Häßlichkeit.


Das aber st<strong>im</strong>mt so nicht ganz. Auch <strong>im</strong> Maler wirkt Gutes.<br />

Als Gegenpol zum häßlichen Gesicht und zum verunstalteten<br />

Körper, bei dem die Natur kaum mit Abstoßendem gespart<br />

hat, schenkte sie ihm eine viele Menschen beglückende kreative<br />

Ausstrahlung allerhöchsten Ranges. Das ging bei ihm<br />

wohl nur, indem Gutes, Böses und Triebhaftes hart miteinander<br />

gemischt wurden, und indem Reines, Unreines und Abscheuliches<br />

ständig umeinander kreisen müssen.<br />

“An die Arbeit!”, ruft der zurückkehrende Festmacher.<br />

“Höchste Zeit, daß wir mal wieder was zu sehn kriegn. Wir<br />

gehn getrennt. Ich und der Schmied, wir gehn links rum. Du<br />

gehst rechts rum. Wir treffn uns”, der Festmacher sieht auf<br />

seine Armbanduhr, “gegen halb zwei bei der großn Rotbuche.”<br />

Ganz Tier<br />

Ganz Tier 459<br />

Der Mond entschwindet hinter dunklen Wolken. Wie nahendes<br />

Unheil schweben sie über dem <strong>Park</strong>. Geduckt, mit<br />

hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf schleicht<br />

und schlängelt der Maler durch die Büsche.<br />

Er ist erleichtert, weil jetzt aufflammendes Jagdfieber einen<br />

radikalen St<strong>im</strong>mungswechsel herbeischleudert. Nach einigen<br />

Minuten verläßt er, <strong>im</strong>mer unruhiger, <strong>im</strong>mer erregter, wie<br />

eine vom Hunger gequälte, aufgeregt umherschnüffelnde Ratte,<br />

das Gebüsch und huscht hinaus auf einen schmalen Pfad.<br />

Den kennt er von vielen Pirschtouren mit dem Festmacher.<br />

Nur wenig vor ihm verliert sich der Pfad in stockdunklem<br />

Nichts. Einen Steinwurf weit schleicht er den Pfad entlang.<br />

Dann biegt er ab nach rechts, verschwindet wieder <strong>im</strong> Gestrüpp.<br />

Alle Zerknirschtheit, alle Anteilnahme, all seine anderen<br />

Ichs – wo sind sie? Sie sind weg, einfach weg!! Den Maler<br />

steuern seine Säfte. Er ist ganz Tier.<br />

Unwiderstehbar treibt den Buckligen eine dunkle Macht.<br />

Immer weiter. Vorwärts! Geilheit brodelt empor wie eine auf-


460 BRÜDER<br />

gischende Welle am Fels. Vorwärts!!<br />

Da! Was ist das? Hat da nicht ein Mädchen gestöhnt? Oder<br />

waren das schon wieder seine flatternden, sich verselbständigenden<br />

Sinne?<br />

Nein! Da ist es wieder, das Stöhnen. Lauter jetzt und von<br />

keuchendem Atmen begleitet.<br />

‘Vielleicht ist das der Engel? Dieser verfluchte, dieser gottsverdammte<br />

Engel!! Ich muß ihn loswerden. Ich muß ihn aus<br />

dem Weg schaffen!’ Das hat er nun schon oft gedacht. Er zuckt<br />

zusammen. ‘Wenn ich leben will, muß der Engel sterben! Ich<br />

muß ihn töten!!’ Dieser Entschluß ist das Kind seines Leibes<br />

und seines Kopfes. Er ist der irre Versuch eines Verzweifelnden,<br />

seine Welt wieder in Ordnung zu bringen.<br />

Langsam schiebt er sich vorwärts. Mit enormer Kraftanstrengung<br />

bremst er, wie eine jagende Raubkatze innerlich<br />

zitternd, überschüssiges Temperament. Auf keinen Fall will<br />

er wieder Fehler machen. Er konzentriert sich auf jede seiner<br />

Bewegungen. Immer weiter dringt er vor, mit den Füßen vorsichtig<br />

die Bodenoberfläche prüfend und mit den Händen behutsam<br />

Zweige beiseite schiebend. Ganz langsam. Immer weiter.<br />

Schritt für Schritt. Immer weiter in die Richtung, aus der<br />

das Stöhnen kommt.<br />

Jetzt sch<strong>im</strong>mert Licht durch kahler werdende Büsche. Es<br />

kommt von einer Laterne am Weg. Das Herz macht einen<br />

Sprung. Ein Liebespaar! Und nun hämmert das Herz, als wollte<br />

es die Rippen zerbrechen. In den Eingeweiden flattert es und<br />

kreischt wie tausend aufgescheuchte Fledermäuse. Halbnackt<br />

liegen die beiden da.<br />

Dichter ran!<br />

Der Rock der Frau ist hochgerutscht. Ihre nackten weißen<br />

Schenkel sind weit geöffnet. Ihre weißen Arme umschlingen<br />

den noch bekleideten Oberkörper des auf ihr liegenden Mannes.<br />

Dessen nackter heller Hintern ist in unablässiger Bewegung.<br />

Gespenstisch leuchtet alles Nackte <strong>im</strong> fahlen Licht der<br />

Laterne. Ein unwirkliches Bild. Noch lauter stöhnt das Mäd-


Ganz Tier 461<br />

chen. Ganz merkwürdig kontrastiert das Weiß der Körper gegen<br />

das Schwarz der Decke, die die beiden als Unterlage auf<br />

dem Waldboden ausgebreitet haben.<br />

Vorwärts!!<br />

Im Buckligen tanzen, wogen und wirbeln archaische Akteure.<br />

Sie zwingen ihn näher, <strong>im</strong>mer näher an das aufpeitschende<br />

Bild. Nur noch wenige Meter ist er von dem Paar entfernt.<br />

Die Verzweigung der Büsche wird spärlicher. Er ist<br />

nicht mehr vor den Blicken der beiden geschützt, sollten sie<br />

sich einmal umschauen. Da erinnert er sich an etwas, das der<br />

Festmacher ihn gelehrt hat: er legt sich flach auf den Boden,<br />

schiebt mit beiden Händen feuchte Walderde zusammen und<br />

bestreicht damit sein Gesicht.<br />

Nun fühlt er sich sicher.<br />

Er robbt näher heran an das sich liebende Paar. Noch näher.<br />

Jetzt könnte er die weißen Schenkel des Mädchens fast berühren.<br />

Das Kinn auf übereinander getürmte Fäuste gestützt,<br />

saugt er mit glitzernden, weitaufgerissenen Augen das Erjagte<br />

in sich hinein. Eine schneeweiße Haut hat das Mädchen.<br />

Und kurze schwarze Haare. Von hämmerndem Herzen gepeitscht,<br />

rauscht Blut durch den Körper des Buckligen wie<br />

Wildwasser nach gnadenlosem Unwetter. Es gurgelt durch die<br />

Adern, dröhnt in den Ohren, rebelliert in den Schläfen, steift<br />

den Muskel und das Fleisch. Plötzlich dreht er sich auf die<br />

Seite. Sein Keuchen mit dem Stöhnen des Mädchens vermischend,<br />

beginnt er, steif wie ein Dolch, zu onanieren. Völlig<br />

von Sinnen starrt er dabei unentwegt auf das Schauspiel dicht<br />

vor sich. Bis er zitternd und zuckend den Höhepunkt erreicht.<br />

Einen Augenblick lang bleibt der vom Trieb Erlöste erschöpft<br />

liegen. Dann schiebt er sich, Stück für Stück, rückwärts.<br />

Schließlich richtet er sich gebückt auf. Blickt noch einmal<br />

zurück. Dann schleicht er sich davon.<br />

Als er schon eine ganze Strecke von dem Paar entfernt ist,<br />

flüstert er: “Das war was!” Und er denkt: ‘Da lohnt es sich, die<br />

Dinge in Kauf zu nehmen, die ich nicht so mag.’ Jetzt hat er


462 BRÜDER<br />

eine kleine Quelle erreicht. Er kniet nieder und beugt sich<br />

über das klare, kühle, glucksend davonfließende Wasser. Mit<br />

beiden Händen wäscht er Erde vom Gesicht. Dann trocknet er<br />

sich ab mit seinem Taschentuch. ‘Das mach ich mal wieder’,<br />

n<strong>im</strong>mt er sich ganz fest vor. ‘Warum müssen die anderen <strong>im</strong>mer<br />

dabei sein? Nächstes Mal geh ich allein.’<br />

Das ist gefährlich! Denn wenn seine Emotionen explodieren,<br />

verkleistern Angst und Geilheit die Vernunft. Dann tanzt der<br />

Teufel zu Tisch. Wer aber mit dem Satan soupiert, der braucht<br />

inneren Abstand. Wer den nicht hat, dem wird’s schnell zu<br />

heiß. Dem sieden die Sinne, dem schmilzt das Gewissen. Dem<br />

kocht der Kopf, dem brodeln die Hoden. Der steigt über Zäune.<br />

Der wird blind und taub gegen Gefahr und Gesetz.<br />

Im Buckligen ist es wundersam ruhig geworden. Wohltuende<br />

Wärme breitet sich aus, erfaßt Körper und Seele. Wie eine<br />

Schneeflocke, so sinkt der Rest der Erregung taumelnd<br />

und schaukelnd zu Boden, landet, sich auflösend, in den<br />

Gefilden eines anderen Ichs. <strong>Suchen</strong>d ersehnen Sinne<br />

Sanftheit und Stille.<br />

Mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten<br />

Armen schreitet der Maler der riesigen Rotbuche entgegen. Er<br />

ist glücklich. Und er ist zufrieden. Endlich war alles perfekt.<br />

Endlich hat er alles ganz allein geschafft. ‘So ein bißchen’,<br />

denkt er, ‘ist das wie bei der Vollendung eines Kunstwerks,<br />

wenn am Ende alles st<strong>im</strong>mt, wenn Erschöpfung, Erfüllung<br />

und Dankbarkeit gegen Gott die zufriedene Seele wiegen.’<br />

Als er bei der Rotbuche eintrifft, ist vom Festmacher und<br />

vom Schmied noch nichts zu sehen. So setzt er sich auf eine<br />

Bank.<br />

Seine Augen starren geradeaus. Wie die Augen eines hölzernen<br />

Heiligen in einer Prozession. Wie die toten Augen, die<br />

über die Köpfe der tragenden und verehrenden Gläubigen<br />

hinweg mit rundem Schwarz und ovalem Weiß unentwegt und<br />

unbewegt ins Leere starren. Es wäre absurd, <strong>im</strong> Maler einen


Ganz Tier 463<br />

Heiligen sehen zu wollen. Aber wohnt nicht letztlich in allem,<br />

was die Schöpfung hervorgebracht hat, irgendwo auch etwas,<br />

das wir als heilig bezeichnen könnten? Und wenn dem denn so<br />

wäre, müßte dann nicht auch <strong>im</strong> Maler irgendwo Heiliges zu<br />

finden sein?<br />

Da ist etwas in ihm, das sehnt sich nach reiner Vollendung<br />

als Mensch und als Künstler. Und da ist etwas, das sehnt sich<br />

nach Vergebung, nach Buße, nach Gott. Aber auch der Teufel<br />

ist in ihm zuhaus. Der drängelt ihn an Abgründe. Der schreit,<br />

hüpft und tanzt. Der läßt die Triebe triumphieren. Und der<br />

haßt den Engel: ‘Wenn du dein Leben genießen willst’, flüstert<br />

der Teufel, ‘wenn du deine Kreativität zu voller Blüte bringen<br />

willst, dann muß der Engel sterben! Er hat dich um deine<br />

Schaffenskraft gebracht. Er hat dich in den Abgrund gestürzt.<br />

Vergiß das nie!’<br />

Der Maler schüttelt sich. Er will den Teufel nicht. Langsam<br />

neigt er sich vornüber, stützt die Ellenbogen auf die Knie und<br />

n<strong>im</strong>mt den wirren Kopf in beide Hände. Ein dunkles Tor in<br />

seiner Seele öffnet sich. Scheu tritt er ein. Schemenhaft zuerst,<br />

dann deutlicher und kräftiger werdend, schweben Darsteller<br />

auf die innere Bühne. Noch <strong>im</strong> Nebel seiner Dumpfheit<br />

beginnen sie unmerklich ihre Tänze. Sie wehen, wogen und<br />

winken. Allmählich ziehen sie seine Aufmerksamkeit auf sich,<br />

und schließlich dominieren sie seinen Geist.<br />

Der Maler blickt in sein Innerstes. Dort sieht er die Gestalt<br />

des Physikers, noch schemenhaft, in geisterhaften, dünnen<br />

Gedankennebeln, dann auch die des Schmieds. Er hört sie flüstern.<br />

Hört ihr Fordern nach mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.<br />

‘Freilich’, beginnen seine eigenen Gedanken sich<br />

zu formen, ‘wir leben in einer verlogenen und verbogenen Vorstellungswelt.<br />

Unser tägliches Leben ist voller eingeübter und<br />

ausgehöhlter Verhaltensweisen. Wir ertrinken in einer Flut<br />

sinnentleerter Rituale, Worthülsen und Sprachfloskeln. Das<br />

Denken und Empfinden vieler Menschen wird best<strong>im</strong>mt von<br />

ungeprüften Vorurteilen. Der Schmied, dieser gute Kerl, hat


464 BRÜDER<br />

recht: zu viel Verlogenheit, zuviel Getue.’<br />

‘Was ist das für eine Gesellschaft! Auf der einen Seite befiehlt<br />

sie jungen Männern, das Handwerk des Tötens zu erlernen,<br />

lehrt sie, wie man mit möglichst geringem Aufwand möglichst<br />

viele Menschen verletzt, verkrüppelt, umbringt, wie man<br />

horrende Massenvernichtungswaffen mit max<strong>im</strong>alem Nutzeffekt<br />

einsetzt. Auf der anderen Seite fühlt sich die gleiche<br />

Gesellschaft verpflichtet, eben diese jungen Männer zu<br />

schützen vor dem Anblick eines Koitus, etwas Natürlichem,<br />

Schönem, etwas, dem wir alle unser Leben verdanken. Auf<br />

der einen Seite schickt diese Gesellschaft Menschen mit Gott<br />

in den Tod, auf der anderen zwingt sie hoffnungslos kranke<br />

Sterbewillige mit teuflischer Technik, am Leben zu bleiben,<br />

versagt ihnen einen Tod in Würde.’<br />

Der Maler schüttelt sich. ‘Was, in Gottes Namen, sind das<br />

für Kräfte, die diese überformalisierte, übermoralisierte, überverlogene<br />

Welt geschaffen haben? Diese Welt, in der Sport<br />

zum bitteren Kampf geworden ist, in der das Kommerzielle,<br />

das Laute, das Gewalttätige dominieren? In der Kunst und<br />

Wissenschaft Anliegen eines viel zu kleinen Zirkels sind? In<br />

der <strong>im</strong>mer mehr Menschen das natürliche Lustgefühl von<br />

Geist und Körper verlieren und <strong>im</strong> Begriff sind, das Lachen zu<br />

verlernen? Was sind das für Kräfte, die alles und jedes gesetzlich<br />

regeln wollen? Für die eine Erziehung zu gehorsamen<br />

Untertanen ein hohes Ziel ist? Aus Lust machen sie Pflicht,<br />

aus Freude am Leben Forderungen des Lebens. So wird aus<br />

Sinnerfüllung Sinnentleerung!’<br />

Der Maler springt auf. Erregt zockelt er auf und ab vor der<br />

Bank. ‘Diese Kräfte müssen wir entlarven! Sie müssen verschwinden!!’<br />

Es dauert eine Weile bis die Stichflamme des<br />

Zorns verlöscht, bis er wieder ruhiger wird. Ausatmend sackt<br />

er auf die Bank.<br />

Langsam schwebt erneut die Gestalt des Schmieds auf die<br />

Bühne seines Gedankentheaters. Leuchtend steht er da, der<br />

Schmied, diese kreuzehrliche, kristallreine Seele. ‘Vollkom-


Ganz Tier 465<br />

men recht hat der Schmied! Der Liebesakt ist in sich völlig<br />

rein. Und daß es einem be<strong>im</strong> Liebesakt – und be<strong>im</strong> Zusehen –<br />

heiß ums Herz wird, Leidenschaft auflodert, auch das entspricht<br />

unserer Natur. In letzter Konsequenz wurzelt alle<br />

Kunst in der Erotik. Generationen von Malern haben sich in<br />

der Darstellung nackter Menschen und oft auch in, zumindest<br />

angedeuteten, Liebesakten verewigt. Wo Nacktheit, ja Geilheit<br />

<strong>im</strong> Gewande der Kunst auftritt, da glauben die Moralapostel,<br />

das vertreten zu können. Diese Pharisäer, diese verabscheuungswürdigen<br />

Heuchler! Warum können nicht auch<br />

wir, wie andere Kulturen, Sexualität als das sehen, was sie<br />

wirklich ist: etwas ganz und gar Natürliches?<br />

Sexualität ist das Herz allen Lebens. Die Natur hat sie aller<br />

normalen Kreatur tief in ihr Wesen eingepflanzt. Wer die<br />

Sexualität tabuisiert, wer sie mit Drohungen und Angst beschädigt,<br />

wer sie mit Schuld belädt, der verformt den Menschen.<br />

Der vergiftet seine Seele, der verfremdet seine Liebe,<br />

der krümmt seinen Rücken.<br />

Ich verstelle niemandem den Weg in eine unnatürliche<br />

Sexualitätslosigkeit. Ich billige jedem seine eigenen Besonderheiten<br />

zu. Aber auch ich beanspruche das Recht auf einen<br />

eigenen Weg. Das Recht auf mich selbst. Keiner Gruppe darf<br />

erlaubt werden, den eigenen Geschmack, die eigenen Maßstäbe<br />

zu Richtlinien für alle anderen zu erklären. Keiner<br />

Gruppe darf gestattet sein, die ihr gemäßen Verhaltensweisen<br />

anderen aufzuzwingen. Genau das aber ist <strong>im</strong>mer<br />

wieder versucht worden. Und das wird versucht bis auf den<br />

heutigen Tag. Hier beginnt Anmaßung. Hier beginnt Vermessenheit!<br />

In unserer Gesellschaft gilt es eher als fein, strenge moralische<br />

Maßstäbe anzulegen.’ Der Maler schmunzelt: ‘Der<br />

Schmied würde jetzt sagen, ‘jedenfanns nach außn’. Er schüttelt<br />

den Kopf: ‘Hier wird Schindluder getrieben mit dem<br />

schlechten Gewissen, das best<strong>im</strong>mte Gruppen den Menschen<br />

<strong>im</strong>mer wieder einreden, ja einpflanzen von Jugend an. Ich for-


466 BRÜDER<br />

dere mehr Raum für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit!<br />

Warum sind die Prediger übertriebener Zwänge und Enthaltsamkeiten<br />

so lange geduldet worden? Obwohl das, was sie predigen,<br />

aller Natur zuwiderläuft? Obwohl sie keinen überzeugenden<br />

Grund für ihre Forderungen ins Feld führen können?’<br />

Der Maler schüttelt den Kopf. Leise sagt er: “Wer eigentlich<br />

sind denn hier die Außenseiter?” Und er beantwortet seine<br />

Frage in Gedanken: ‘Es sind die Prediger unnatürlicher Enthaltsamkeit!<br />

Sie müssen kritisiert werden. Ihre Vorstellungen,<br />

ihr Verhalten, ihre Zielsetzungen: all das ist wider das<br />

Leben, wider die Natur, wider die Schöpfung. Wir dürfen nicht<br />

länger dulden, daß sie ihre Außenseiterrolle ummünzen in die<br />

eines Wächters’.<br />

Stumm nickt der vom Schicksal Begnadete und<br />

Geschlagene vor sich hin. ‘Freilich’, formen sich weitere<br />

Gedanken, ‘freilich, das Sich-Befreien aus gesellschaftlichen<br />

Zwängen und Fesseln birgt Risiken. Es erfordert Stärke.<br />

Nicht selten führt es in die Vereinsamung.’<br />

Der Maler steht auf. Er dehnt den verunstalteten Rücken,<br />

geht ein paar Schritte vor der Bank auf und ab und rollt die<br />

Schultern. Dann setzt er sich wieder. Und schon taucht er erneut<br />

ein in das Theaterspiel seiner Gedanken: ‘Wenn mehr<br />

Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit Einkehr halten sollen, dann<br />

muß das Recht auf den eigenen Weg einen höheren Stellenwert<br />

erhalten. Überall da, wo anderen kein vermeidbarer Schaden<br />

zugefügt wird, muß Freiheit herrschen – Freiheit in den<br />

Möglichkeiten, sich zu entfalten und sich zu sich selbst zu<br />

bekennen! Ungezählte Menschen wurden und werden gezwungen,<br />

in Abhängigkeit, Unfreiheit und Unrecht zu leben.<br />

Über Millionen von Jahren waren die weitaus meisten Menschen<br />

Knechte: Willkürobjekte von Hordenführern, Leibeigene<br />

von Herren, Unterworfene von Fürsten, Königen und Priestern.<br />

Sie waren eine Sache, ein Gegenstand der <strong>Inter</strong>essen<br />

Mächtiger. Sie wurden ausgebeutet von Dienstherren. Sie wurden<br />

drangsaliert von weltlichen und religiösen Vorschriften


und von vielen bösen Drohungen. Es ist an der Zeit, den<br />

gebeugten Nacken aufzurichten!’<br />

“Da!”, raunt der Schmied und zupft den Freund am Ärmel,<br />

“da sitzt der Fiedner und träumt.” Er lacht leise. “Der träumt<br />

best<strong>im</strong>mt, er ist Paganini!” Die beiden gehen auf den Träumer<br />

zu. Erst <strong>im</strong> letzten Augenblick, als sie schon fast die Bank<br />

erreicht haben, auf der er so einsam und so völlig in sich versunken<br />

sitzt, schreckt der Maler hoch aus seinen Gedanken.<br />

“Grüß Gott, Herr Paganini”, quakt der Schmied und grient.<br />

Der Fiedler bringt ein gequältes Grinsen zustande.<br />

“Du hast ganz schön was verpaßt! Wir habn was gehabt.<br />

Wahnsinn!”<br />

“Ich … ich bin nicht so recht in St<strong>im</strong>mung. Ich mach Schluß<br />

für heute. Ich geh nach Haus.”<br />

Festmacher und Schmied wollen noch mal den Spielplatz<br />

inspizieren. Dann wollen auch sie nach Hause gehn.<br />

Staatskarosse<br />

Staatskarosse 467<br />

In sich versunken, wandert der Künstler durch den <strong>Park</strong>. Er<br />

verschränkt die Arme auf dem Rücken und senkt den Blick.<br />

All das, was ihn sonst am nächtlichen Jagen so berauscht, das<br />

n<strong>im</strong>mt er wie durch einen Schleier wahr, mit gedämpften Sinnen.<br />

Gedankenverloren geht er den Hauptweg entlang. Seine<br />

Nachdenklichkeit verläßt ihn nicht. Sie hat jetzt etwas von<br />

Schwermut an sich. Aber sie schwebt über einer Ebene von Zufriedenheit.<br />

Das erfolgreiche Jagderlebnis beschert ihm innere<br />

Ruhe. Und es stärkt seine Selbstsicherheit als Jäger.<br />

Nach einigen hundert Metern biegt er ein in den Weg, der<br />

ihn zu seinem Wagen führen wird. Wieder muß er an den<br />

Schmied denken. Er beneidet ihn um seine Aufrichtigkeit und<br />

Schuldlosigkeit. Auch hat er längst erkannt, daß der Fest-


468 BRÜDER<br />

macher eine in sich sehr gefestigte Persönlichkeit ist. Ein<br />

Mann, der ihm Respekt abfordert. Und dessen elementare innere<br />

und äußere Kraft er zugleich achtet und fürchtet.<br />

Was würden die Menschen sagen, mit denen er sein Tagesdasein<br />

teilt, wenn sie um seine Freundschaft mit solchen<br />

Männern wüßten? Die vielen Bewunderer, die Galeristen, die<br />

Käufer seiner Bilder? Aufschreien würden sie vor Entsetzen<br />

und Empörung. Es ist schlechterdings nicht auszudenken, was<br />

passieren würde, wenn die Welt von seinen nächtlichen Eskapaden<br />

hörte! Man würde ihn verdammen. Man würde ihn<br />

mit Verachtung strafen, ihn aus der Gesellschaft verstoßen!!<br />

Noch <strong>im</strong>mer ganz in Gedanken ist der Maler am Rande des<br />

<strong>Park</strong>s angelangt. Und da schleicht sich ein Grinsen in die harten<br />

Züge. Er steht vor den Büschen, durch die hindurch das<br />

Bild seines Wagens sch<strong>im</strong>mert. Die Rückverwandlung vom<br />

geilen Fiedler zum genialen Künstler fällt heute anders und<br />

abrupter aus als sonst. Er hat mit der inneren Umpolung später<br />

begonnen.<br />

Noch einige Schritte und … wie eine Staatskarosse steht der<br />

schwere schwarze Mercedes vor ihm. Im gewienerten Lack<br />

tanzen, funkeln und zerfließen die Lichter der nächtlichen<br />

Straße.<br />

Der Künstler genießt den plötzlichen Szenenwechsel. Mit<br />

verschmitzten Augen späht er rasch nach links und dann nach<br />

rechts. Die Straße ist leer. Keine Menschenseele ist zu sehen.<br />

Vergnügt holt er, noch <strong>im</strong>mer grinsend, den Wagenschlüssel<br />

aus dem Brustbeutel hervor und schließt die Tür auf. Dann<br />

bückt er sich und will geschwind in den Wagen schlüpfen.<br />

Da bohrt sich ein kräftiger Finger hart in den Nacken. Zu<br />

Tode erschrocken zuckt der Maler zusammen – als habe ihm<br />

jemand die eiskalte Mündung eines geladenen Revolvers in<br />

die nackte Haut gestoßen. Entsetzt fährt er herum und richtet<br />

sich auf. Dicht über ihm blitzen die Augen des Festmachers.<br />

Aus ihnen funkeln Mißtrauen und Drohung.<br />

“Dein Wagn??”


Staatskarosse 469<br />

Vor Schreck beginnt der Maler zu husten. Dann begreift er,<br />

daß das Husten ihm Zeit schenkt, Zeit, um den Schock zu überwinden,<br />

Zeit, um nach einer plausiblen Ausrede zu suchen. So<br />

hustet er weiter, täuscht einen Hustenanfall vor. Schließlich<br />

ruft er: “M … Mensch hast du m … mich erschreckt!” Die Antwort<br />

fordernden funkelnden Augen noch <strong>im</strong>mer dicht über<br />

sich, lügt er: “Nein, natürlich nicht! Das ist nicht mein Wagen.<br />

Der gehört meinem Chef. Den muß ich jetzt abholen.”<br />

“Wo?”<br />

“Be<strong>im</strong> Klub.”<br />

Das Mißtrauen weicht nicht aus den drohenden Augen.<br />

Da sagt der Zwerg: “Willst du mitkommen?”<br />

“Nee. Meine Alte wartet.” Der Festmacher sieht sich den<br />

Wagen an. “Tolle Kutsche! Muß stinkreich sein, dein Chef.”<br />

“Das ist er”, lügt der Maler. Und dann setzt er seiner Lügerei<br />

noch einen drauf: “In letzter Zeit arbeite ich bei ihm auch<br />

noch als Aushilfsfahrer.”<br />

“Gleich drei Uhr nachts. Und <strong>im</strong>mer noch <strong>im</strong> Dienst! Ganz<br />

schön hart, Mann.”<br />

Der Maler nickt. Er ist froh, noch einmal davongekommen<br />

zu sein. “Ich muß jetzt los.”<br />

Hartes Schweigen.<br />

Der Festmacher spuckt. Langsam formen die dünnen Lippen<br />

ein O. Nachdenklich wischen Daumen und Zeigefinger<br />

über die Mundwinkel. “Also bis Mittwoch.”<br />

“Ja”, sagt der Maler … “Bis Mittwoch.”<br />

Der Festmacher sieht sich den großen schwarzen Mercedes<br />

noch einmal an. Ganz genau. Langsam geht er rundherum um das<br />

funkelnde Fahrzeug. Mit stechenden Augen. Keine Einzelheit<br />

entgeht ihm. Er hat das visuelle Gedächtnis eines Fotoapparats.<br />

Dann wendet er sich ab. Geht schnurstracks nach Hause.<br />

“Weh dem, wenn er lügt!”, sagt er vor sich hin. “Ich krieg das<br />

raus! Mit mir kann der das nich tun. Nich mit mir! Ich schlag<br />

den kurz und klein!!!” Er spuckt. “Denn sitzt der bis zum Tod<br />

<strong>im</strong> Stuhl. Im Stuhl mit Rolln!”


470 GÖTTER<br />

2 GÖTTER<br />

Neuer Mensch<br />

“Die Schöpfungsexplosion, also das,<br />

was die Wissenschaft den Urknall<br />

nennt, das ist für mich der zentrale<br />

Akt für die Regeneration Gottes, für<br />

die Zurückgewinnung seiner vollen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten.”<br />

“Unsere Gespräche haben mich in zunehmendem Maße bewegt”,<br />

sagt der Maler. “Ich habe viel darüber nachgedacht.”<br />

Aus zusammengekniffenen Augen blickt er hoch zum Physiker.<br />

“Ihnen gefällt der Mensch nicht. Ihrer Ansicht nach ist da<br />

einiges nicht in Ordnung.”<br />

“Vieles ist da nicht in Ordnung. Wir brauchen einen neuen<br />

Menschen!”<br />

“Huhh!” feixt der Maler und ringt die Hände. “Einen neuen<br />

Menschen! Wo soll der herkommen?” Er findet diese Forderung<br />

eher unsinnig. “Wieder einmal! Wie oft ist der Ruf nach<br />

einem neuen Menschen schon erhoben worden! Zu oft, wie ich<br />

meine, als daß man noch ernsthaft an eine Verwirklichung<br />

solcher Wunschvorstellungen glauben könnte.”<br />

“Ja, viele Philosophen haben einen neuen Menschen gefordert,<br />

aber meist mit einer unrealistischen Zielsetzung. Die hätten<br />

sich den ‘alten’ Menschen zuerst genauer ansehen sollen.<br />

Unsere über Millionen von Jahren gewordenen Strukturen,<br />

Funktionen und Verhaltensweisen lassen sich nicht per Beschluß<br />

korrigieren.”<br />

“Also müssen wir ewig am Konflikt zwischen So-Sein und<br />

Anders-Sein-Sollen leiden?”<br />

“Wir dürfen den Menschen nicht <strong>im</strong>mer nur sagen, daß sie<br />

anders sein sollen. Wir müssen ihnen auch begehbare Wege<br />

zeigen.”


Neuer Mensch 471<br />

“Wo geht’s lang?”<br />

“Kein Weg führt vorbei am Erkennbaren.”<br />

“Sagen Sie mehr über die Wege!!” Wieder flammt Hoffnung<br />

auf <strong>im</strong> Maler. Wieder glaubt er, seinem Ziel näher kommen zu<br />

können: dem Ausgleich zwischen Leib und Kopf, der Balance<br />

zwischen Trieb und Geist, der Vollendung seines Genies in<br />

innerer Harmonie und Reinheit.<br />

So laßt dem Narren seine Träume. So gönnt ihm die Sehnsucht<br />

nach Balance und Vollkommenheit. Noch surrt der Gepeitschte<br />

wie ein Kreisel. Doch seht ihn euch genau genug an!<br />

Beginnt da nicht schon das Taumeln? Und müßte er dann<br />

nicht bald stürzen?<br />

“Wo sehen Sie die Chance?”, ruft der Maler erregt. “Wo liegt<br />

das Gehe<strong>im</strong>nis für die Verwirklichung Ihrer Forderung nach<br />

einem neuen Menschen?”<br />

“Wir müssen uns von der Vorstellungswelt falscher Propheten<br />

befreien und von alten, heutzutage als Blendwerk erkennbaren<br />

Weltbildern. Wir müssen uns losreißen von Prägungen<br />

und Bindungen, die unseren fragenden Geist einseitig festlegen.<br />

Der unmündige, sich bedingungslos einem Gottvater<br />

ausliefernde Mensch muß mündig werden. Er muß lernen,<br />

seine Ängste auszuhalten. Daraus muß er die Kraft gewinnen,<br />

die erforderlich ist, um sich und seine Welt zu ändern, um sich<br />

zu einem neuen Selbst zu entwickeln und sich zu diesem<br />

neuen Selbst zu bekennen – zu dessen Möglichkeiten, Grenzen<br />

und Verantwortlichkeiten.”<br />

“Möglichkeiten, Grenzen, Verantwortlichkeiten”, echot der<br />

Maler enttäuscht. Doch dann wiegt er den Kopf. “Ja”, sagt er<br />

schließlich. “Ja. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Wenn<br />

Sie den freien Willen leugnen, wie soll der Mensch verantwortlich<br />

handeln können? Freiheit ist Voraussetzung für Verantwortlichkeit.”<br />

“Wir müssen unterscheiden zwischen äußerer und innerer


472 GÖTTER<br />

Freiheit.”<br />

“Wie …”<br />

“Freiheit von äußeren Zwängen – gesellschaftlichen, politischen,<br />

religiösen – ist durchaus erreichbar, Freiheit von<br />

inneren Zwängen nur sehr bedingt. Im ständigen Ringen um<br />

innere Freiheit, um die Beeinflussung des sich in uns formenden<br />

Willens und in der Akzeptanz der uns zuwachsenden<br />

Verantwortlichkeiten gegenüber Mitgeschöpf und Umwelt, da<br />

entscheidet sich unser Schicksal. Da liegt die Crux menschlicher<br />

Existenz. Da liegt der Kompaß für den Weg in die Zukunft!”<br />

“Goethe läßt seinen Faust sagen: ‘Das ist der Weisheit letzter<br />

Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der<br />

täglich sie erobern muß’.”<br />

“Ein weises Wort.”<br />

“Sie haben <strong>im</strong>mer wieder von einer tierischen Hypothek <strong>im</strong><br />

Menschen gesprochen. Rücken Sie jetzt davon ab?”<br />

“Nein. Die Hypothek ist da. Wir müssen den Zins zahlen. Der<br />

Zins, das ist die Verpflichtung, unsere Verantwortlichkeit aus<br />

eigener Kraft weiterzuentwickeln.”<br />

“Hat Verantwortlichkeit eine genetische Basis?”<br />

“Ja. Im Verlaufe von Jahrhunderttausenden haben sich Voraussetzungen<br />

für verantwortliches Handeln in unserem Erbgut<br />

angesiedelt.”<br />

“Angesiedelt? Wie kann man sich sowas vorstellen?”<br />

“Vermutlich in Form erblich fixierter Schaltungsbahnen <strong>im</strong><br />

Gehirn.”<br />

“Und darauf können wir heute aufbauen?”<br />

“Ja.”<br />

“Wie?”<br />

“Mit unseren Wertvorstellungen. Mit Einsicht und Rücksicht.”<br />

“Was meinen Sie mit Einsicht und Rücksicht?”<br />

“Sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewußt werden, sich<br />

an anerkannten moralischen Prinzipien messen. Sich zurück-


Neuer Mensch 473<br />

nehmen, sich als Teil des Ganzen sehen.”<br />

“Sch<strong>im</strong>mert da Ihr neuer Mensch durch?”<br />

“Ja. Es gilt, eine neue Art von Wahrhaftigkeit anzustreben<br />

und eine neue Bescheidenheit. Wir müssen ehrlicher umgehen<br />

mit unseren Problemen – den alten, die wir aus unserer tierischen<br />

Vergangenheit mit uns herumschleppen, und den neuen,<br />

die aus unserer zunehmenden Macht gegenüber Leben und<br />

Leblosem erwachsen. Wir müssen unsere Ansprüche einschränken<br />

und mehr Zurückhaltung üben <strong>im</strong> Verändern und<br />

Ausbeuten der Natur. Das sind meine Forderungen an den<br />

neuen Menschen. Wer diese Forderungen erfüllt, ist ein neuer<br />

Mensch. Nur ein solcher Mensch kann Mitgeschöpf und Umwelt<br />

achten, schützen und bewahren. Nur ein solcher Mensch<br />

kann die Überlebensspanne der Menschheit verlängern helfen.<br />

Nur ein solcher Mensch kann in Würde leben.”<br />

“Würde!”, krächzt der Maler. “Würde!! Die Christen fordern<br />

seit zweitausend Jahren Würde – Würde des Menschen als<br />

Ebenbild Gottes.”<br />

“Würde ist in vieler Munde.”<br />

“Aber wenige haben darüber nachgedacht. Und kaum jemand<br />

weiß, was das wirklich ist.”<br />

“Würde”, entgegnet der Physiker, “kann man nicht nur fordern.<br />

Würde verlangt auch: eigenes achtungsförderndes Verhalten<br />

und eigenes Sich-Zurücknehmen. Würde beinhaltet<br />

Wahrhaftigkeit, Verantwortlichkeit und Bescheidenheit. Würde<br />

ist Maßhalten.”<br />

“Sie verlangen Bescheidenheit und Maßhalten und sind doch<br />

selber unbescheiden und maßlos.”<br />

“In welcher Weise?”<br />

“Ihr Wissenwollen, Ihr Verändernwollen, Ihr Belehrenwollen<br />

– sind sie nicht unbescheiden, maßlos?”<br />

“Ich bin unbescheiden <strong>im</strong> Streben nach Erkenntnis und<br />

Wahrhaftigkeit. Ich bin maßlos <strong>im</strong> Fordern nach Maßhalten<br />

und <strong>im</strong> Zurückweisen rücksichtslosen Ausbeutens. Aber ich<br />

bin nicht unbescheiden und maßlos in der Vorteilsuche, <strong>im</strong>


474 GÖTTER<br />

Besitzstreben und …”<br />

“Was also kritisieren Sie?”<br />

“Ich kritisiere die dumpfe und verantwortungsscheue Art, in<br />

der die meisten Menschen leben, das weitverbreitete Desinteresse<br />

an den wesentlichen Dingen unserer Existenz, die<br />

zurechtgebogenen Gefälligkeitsvorstellungen über die Welt<br />

und über uns selbst und die scheinheiligen Begründungen für<br />

so manches Handeln. Zu vieles wird solange hin und her gedreht,<br />

gewendet und gebogen, bis das Ergebnis dazu taugt, uns<br />

zu gefallen, unser Gewissen zu beruhigen, bis – wenigstens<br />

an der Oberfläche – alles wieder zu st<strong>im</strong>men scheint.” Der<br />

Physiker hebt den Zeigefinger: “Wer aber die Dinge verdreht,<br />

wer Schein- und Gefälligkeitslösungen der erkennbaren Wahrheit<br />

vorzieht, der entwickelt eine eigene, eine besondere Beziehung<br />

zur Wirklichkeit, der beteiligt sich an der Konstruktion<br />

eines schiefen Weltbildes. Der entwickelt sich zu einem<br />

Menschen, wie wir ihm sehr häufig begegnen, zu einem Menschen,<br />

den ich ablehne. Ein solcher Mensch klärt nicht auf, er<br />

vernebelt. Ein solcher Mensch sucht nicht die Wahrheit, er<br />

verschließt vor ihr die Augen. Ein solcher Mensch ist unser<br />

aller Untergang.”<br />

Neue Religionen<br />

Wie Irrlichter huschen Gefühle und zucken Gedanken herum<br />

in der verschlungenen Malerpsyche. Der Wissenschaftler<br />

hat mal wieder vieles durcheinandergewirbelt. Mühsam versucht<br />

der Künstler, Ordnung wiederherzustellen, Streitendes<br />

zu zügeln, Wankendes zu festigen.<br />

Das gelingt ihm nur teilweise. Er ist verunsichert. Und er<br />

ist verärgert. Plötzlich schlägt der Ärger um in Resignation.<br />

Zerknirscht gesteht sich der Künstler ein, daß der Wissenschaftler<br />

seine Hoffnungen nicht erfüllt, daß der Schlüssel,<br />

dem er <strong>im</strong> Hirn des Physikers nachgespürt hat, nicht schließt.


Neue Religionen 475<br />

Da ist wenig, das seine schöpferischen Energien anregt. Da ist<br />

nichts, das seiner Schaffenskraft zu neuem Höhenflug verhelfen<br />

könnte, und nichts, das dem erhofften Ausgleich zwischen<br />

Leib und Kopf nützlich sein könnte. Verstand und Logik<br />

sind ihm keine Musen. Seine Kreativität saugt Saft aus tieferem<br />

Brunnen. Seine Musen wohnen <strong>im</strong> Leib, nicht <strong>im</strong> Kopf.<br />

Einen dauerhaften Ausgleich zwischen Trieb und Geist kann<br />

es bei ihm nicht geben. Das Triebhafte ist zu stark für einen<br />

Pakt.<br />

Aber der Physiker hat andere Kräfte <strong>im</strong> Maler gefördert. Er<br />

hat das Feuer des Wissenwollens hell auflodern lassen und<br />

die Suche nach neuen geistigen Ufern beflügelt. So ruft der<br />

Zwerg: “Was für Bilder hinter den Kulissen! Was für Blicke in<br />

Ihre Wissenschaftlerseele! Sie machen mir Angst – aber Sie<br />

faszinieren mich auch. Vorwärts! Bitte, machen Sie weiter!!”<br />

Ja, so ist das mit der Angst. Sie ist nicht nur eine Buhle der<br />

Lust, sie ist auch eine Schwester der Neugier. Große Angst<br />

ist die dunkle Seite hohen Intellekts. Aber sie ist auch eine<br />

Quelle kreativer Genialität. So manchen peitscht sie an Grenzen,<br />

auf einsame Höhen oder ins Reich der Halluzinationen.<br />

Angst kann Humanes zu Gipfeln führen, aber sie kann<br />

Humanes auch beiseite drängen. Angst kann die Psyche verformen<br />

und diese Verformung in physiologischen, ja anatomischen<br />

Veränderungen gefrieren lassen.<br />

“Nun denn”, sagt der Physiker, “zu meinem nächsten Punkt:<br />

Richtlinien für neue Religionen. Auf die großen Fragen der<br />

Menschheit hat die verängstigte, Halt und Schutz suchende<br />

Psyche <strong>im</strong>mer wieder unterschiedliche Antworten hervorgebracht.”<br />

“Wie lauten die Fragen?”<br />

“Wer hat den Menschen erschaffen? Wer die Erde? Wer beschützt<br />

uns? Wer best<strong>im</strong>mt über unser Schicksal? Welche Rolle<br />

kommt uns zu <strong>im</strong> Welttheater? Welche Kraft steuert das


476 GÖTTER<br />

Weltgeschehen? Wo<strong>im</strong>mer Wissen nicht ausreichte, um diese<br />

Fragen zu beantworten, da entstand Erklärungsnot, Unsicherheit<br />

und Leid. Linderung verschafften alte Beruhigungsmittel:<br />

Wunschvorstellungen, Märchen, Scheinlösungen.”<br />

“Wer nicht gewinnen kann, der schummelt, was? Der setzt<br />

die Torpfosten des anderen weiter auseinander, wie?”<br />

“Das Beruhigen des Antwort und Halt suchenden Geistes<br />

folgt einem einfachen Schema. Ein kleines Kind, das gewohnt<br />

ist, Musik von einer Dorfkapelle zu hören und den Musikern<br />

dabei zuzusehen, ist ratlos, wenn Musik aus einem Kasten,<br />

einem Radio, kommt. Das Kind ist beunruhigt, in Erklärungsnot.<br />

Es fragt: ‘Wo sind die Musiker?’ Da das Kind noch nicht<br />

in der Lage ist, den wirklichen Sachverhalt zu begreifen, antwortet<br />

die Mutter: ‘Die Musiker sind <strong>im</strong> Kasten.’ Damit ist<br />

das Kind zufrieden. Jedenfalls zunächst einmal. Wie die Musiker<br />

in den Kasten kommen, wie sie darin Platz finden, wie<br />

sie sich ernähren, ob sie <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Kasten bleiben müssen<br />

und andere Fragen kommen erst später. Und dann wird die<br />

Mutter Antworten geben, die, dem jeweiligen Begriffsvermögen<br />

des Kindes entsprechend, sich <strong>im</strong>mer mehr der Realität<br />

nähern.”<br />

“Kinderfragen haben ihr eigenes Gewicht. Kinder sehen oft<br />

direkter. Ungehemmt heben sie den Vorhang. Mit frischem<br />

Blick spähen sie hinter die Kulissen. So sehen sie manches,<br />

das wir nicht sehen.”<br />

“Einverstanden.”<br />

“Was also soll die Geschichte mit den Musikern?”<br />

“Vergleichbar verlief die Behebung von Verunsicherung und<br />

Erklärungsnot in der Entwicklung der Menschheit. Wer<br />

macht den Donner? Wer den Wind? Wer macht den Regen,<br />

wer den Vulkanausbruch? Wer entscheidet über unser Schicksal,<br />

über Leben und Tod? Dem Ich-Welt-Syndrom und dem<br />

Personifizierungsdrang gemäß konnte das nur ein menschenähnliches<br />

Wesen sein – der Größe des Geschehens entsprechend<br />

ein Riese, ein Gott. Wo<strong>im</strong>mer beunruhigende Erkennt-


Neue Religionen 477<br />

nislücken durch den fragenden Geist nicht geschlossen werden<br />

konnten, da wurden die Löcher mit Phantasie gefüllt, da<br />

wurden die Verursacher, deren Wirken und deren Motivation<br />

erfunden. So entstanden Aberglauben, Gottvorstellungen und<br />

Pr<strong>im</strong>itivreligionen. Natürlich sind auch die gegenwärtigen<br />

Religionen Anwärter auf den Titel Pr<strong>im</strong>itivreligion. Das ist<br />

nur eine Frage der Zeit. Der sich fortschreibende Reigen <strong>im</strong>mer<br />

neu sich formender Fragen und <strong>im</strong>mer neu sich einfindender<br />

Antworten und Ursachenbeschreibungen ist etwas<br />

ganz Natürliches, ein Wesenszug ausreifenden Menschseins.”<br />

“Etwas ganz Natürliches? Wer also hat den schwarzen Peter?”<br />

“Ideologisch-religiös motivierte Denker. Sie streben danach,<br />

diesen Reigen zu kanalisieren und zu fixieren. Sie reden ihren<br />

Mitmenschen Ein-für-alle-mal-Antworten ein. Sie versuchen<br />

nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie stehen nicht<br />

auf dem Boden der durch Erkenntnis gewinnbaren Wahrheit.<br />

Sie geben Rat und Anweisung über Dinge, von denen sie<br />

selber nichts verstehen. Sie behaupten einfach: So ist der<br />

Mensch erschaffen worden. So ist die Erde entstanden. Dies<br />

ist die Kraft, die alles formt. Und sie sagen bis in alle Einzelheiten,<br />

wie der Mensch sich dieser Kraft gegenüber zu verhalten<br />

hat.”<br />

“Zu stark vereinfacht, zu wenig Respekt!”<br />

“Diese Denker fesseln sich und andere. Sie sagen, wie der<br />

Mensch sein soll, ohne zu wissen, wie der Mensch ist, wie er<br />

das geworden ist, was er ist, und welche Rolle ihm zukommt<br />

<strong>im</strong> Drehbuch der Schöpfung. Sie behaupten, das Drehbuch zu<br />

kennen, aber sie können nicht einmal darin lesen.”<br />

“Diese Denker denken tief. Ich bewundere sie. Ihr Denken<br />

fußt nicht nur auf Menschlichem, es wurzelt in göttlichen Botschaften.”<br />

“Ihr Denken dreht sich um sich selbst. Ihre Ängste tanzen<br />

mit ihren Wünschen. Ihre Hoffnungen sind Mätressen ihrer<br />

Machtgelüste. Ihre Wahrheiten sind die Kinder ihrer Sehnsüchte.”


478 GÖTTER<br />

“Diese Denker sind Erleuchtete.”<br />

“Diese Denker sind Geprägte. Sie sind Gefangene ihres Glaubens.<br />

Sie sind Sklaven ihres selbsterschaffenen Erlösers. Es ist<br />

schwer, die Ketten ihrer Prägung zu brechen. Es ist schwer, sie<br />

zu befreien von ihrem Glauben. Es ist schwer, sie zu erlösen<br />

von ihrem Erlöser.”<br />

“Sie verfälschen die Rolle, die Religionsführer tatsächlich<br />

gespielt haben, und die sie auch heute noch spielen. Sie verkennen<br />

deren Anliegen. Sie verschweigen deren beispielhafte<br />

Lebensführung. Sie wissen nicht um die Schwierigkeiten ihrer<br />

bedingungslosen Unterwerfung unter ihren Gott, und unter<br />

die strengen Regeln dessen Verehrung. Sie verzerren die großartigen<br />

Verdienste der Religionsführer. Sie würdigen die hohen<br />

moralischen Forderungen nicht, denen sie sich uneigennützig<br />

unterwerfen – zum Wohle der gesamten Menschheit.”<br />

“Wo<strong>im</strong>mer das von den Religionsführern Verkündete und<br />

Gelehrte mit ihren eigenen <strong>Inter</strong>essen kollidierte, da haben<br />

sie es mit Füßen getreten. Dafür gibt es Beweise zuhauf, unwiderlegbare,<br />

historisch dokumentierte Beweise. Rücksichtslos<br />

haben sie ihre eigenen Anliegen vor alles andere gestellt<br />

und konkurrierende Religionen unbarmherzig bekämpft. Dabei<br />

wurden die Gebote ihrer beispielhaften Lebensführung<br />

und ihre moralischen Forderungen ganz einfach außer Kraft<br />

gesetzt. Das geschieht auch heute noch. Hier wird das ganze<br />

Ausmaß der Einseitigkeit, Verblendung und Machtgier deutlich.<br />

Hier sieht man die ‘Heiligen’ ohne Maske.”<br />

“Sie verallgemeinern in unzulässiger Weise und Sie übertreiben.<br />

Ich vermisse den inneren Abstand. Was ärgert Sie so<br />

sehr an den religiösen Männern, daß Sie sich so versteigen?<br />

Sind die Schwächen, die Sie so sehr verachten und geißeln,<br />

nicht <strong>im</strong> Grunde etwas sehr Menschliches?”<br />

“Ja. Aber die Religionsführer erheben sich über das Menschliche.<br />

Sie beanspruchen besondere Rechte, und sie behaupten,<br />

<strong>im</strong> Besitz besonderer Wahrheiten zu sein. Also darf ich sie<br />

auch mit einer besonderen Elle messen. Was mich ärgert? Die


Neue Religionen 479<br />

Intoleranz, die Verbissenheit, die Unbeweglichkeit. Kategorisch<br />

verkünden sie: so war das, so ist das, so wird das <strong>im</strong>mer<br />

sein. Keine Entwicklung, keine Anpassung – es sei denn eine<br />

von außen gegen große Widerstände erzwungene. Natürlich<br />

kann das nicht gutgehen. In einer Welt ständigen Wandels<br />

kann kein Dogma überleben, kein religiöses, kein philosophisches,<br />

kein politisches, kein wissenschaftliches.”<br />

Abwehrend erhebt der Maler die Hand: “Absolute Wahrheit<br />

ist nicht verhandelbar. Wer sie gefunden hat, will sie nicht<br />

wieder verlieren.”<br />

“In der Vorstellung, absolute Wahrheit finden zu können,<br />

liegt ein Fluch: Der <strong>Suchen</strong>de sucht etwas, das er niemals finden<br />

kann.”<br />

“Sie suchen doch selber nach der Wahrheit!”<br />

“Aber <strong>im</strong>mer in der Gewißheit, daß Wahrheit etwas Vorläufiges<br />

ist, etwas, das ständiger Korrekturen bedarf. Die absolute<br />

Wahrheit ist für keinen Menschen erkennbar.”<br />

“Aber …”<br />

“Der Wahn, die absolute Wahrheit gefunden zu haben, ist der<br />

Kern aller Ideologien. Wer glaubt, die absolute Wahrheit gefunden<br />

zu haben, läßt nichts anderes gelten. In allem anderen<br />

sieht er Minderwertiges, Verfall, Unmoral, Blindheit. Daher<br />

beansprucht er das Recht, in das Leben anderer einzugreifen.<br />

So sind letztlich alle großen Auseinandersetzungen entstanden:<br />

Kriege um Lebensauffassungen, Lebensräume, Religionen,<br />

Rassen, Resourcen.”<br />

“Freilich”, sagt der Maler nach einer Weile, “freilich, so gesehen<br />

haben Sie nicht unrecht.”<br />

“Totalitarismus und Diktatur haben keine Zukunft. Doktrinär-autoritäre<br />

Systeme werden untergehen <strong>im</strong> Wettbewerb<br />

mit Systemen, die auf Freiheit und Demokratie fußen. In der<br />

Politik sind die großen doktrinär-autoritären Exper<strong>im</strong>ente –<br />

der Faschismus und der real existierende Sozialismus – bereits<br />

gescheitert. Das wird auch mit doktrinär-autoritären<br />

Religionen geschehen. In der Politik haben erlebbare Alter-


480 GÖTTER<br />

nativen das Scheitern beschleunigt. In der Religion fehlen<br />

noch überzeugende Alternativen. Hier bremst die Scheu vor<br />

dem Verlust einer Stütze, vor einer noch nicht ausfüllbaren<br />

Leere, die Entwicklung.”<br />

“Große Ideensysteme”, gibt der Maler zu bedenken, “graben<br />

tiefe Spuren. Es gibt Menschen, die Vergangenes nicht hinter<br />

sich lassen können. Die Erben der Ideen bauen Denkmäler.”<br />

“Vergangenes ist nicht wertlos. Man kann daraus lernen.<br />

Und irgendwo ist da oft auch Nützliches, das be<strong>im</strong> Bau neuer<br />

Ideensysteme Verwendung finden kann.”<br />

“Wo sollen sie herkommen, die neuen Ideensysteme?”<br />

“Heute leben so viele kreative Menschen wie niemals zuvor,<br />

in der gesamten Geschichte der Menschheit zusammengenommen.<br />

Jeden Tag machen sie neue Entdeckungen, jeden Tag erarbeiten<br />

sie neue Einsichten, neue Vorstellungen, neue Ideen.”<br />

“Aber wir brauchen einen Halt. Wir brauchen den Glauben.<br />

Wir brauchen die geleitende Hand der Bibel. Sie hat den Menschen<br />

viel gegeben. Sie fußt auf alten Werten und Hoffnungen.<br />

Sie ist das Werk weiser Autoren, geschrieben in einer einfachen<br />

aber kraftvollen Sprache. So manches von dem, was da<br />

geschrieben steht, ist von zeitloser Bedeutung.”<br />

Der Physiker nickt. “In ihrer Essenz ist die Bibel ein gutes<br />

Buch. Sie enthält viele eindrucksvolle Gleichnisse, viel <strong>im</strong><br />

wahren Sinne Humanes. Aber da gibt es auch Ungere<strong>im</strong>tes<br />

und Unglaubhaftes. Und da gibt es auch Inhumanes. Die Bibel<br />

war ein wundervolles Buch zu ihrer Zeit. Das ist lange her.<br />

Sehr vieles ist seitdem geschehen. Selbst die klügsten Religionsführer<br />

haben es <strong>im</strong>mer schwerer mit der Ausdeutung der<br />

alten Texte, mit deren Anwendung auf die heutige Zeit. Mit<br />

oft geradezu grotesken Argumenten und Verrenkungen versuchen<br />

sie, die sich weitende Kluft zu überbrücken oder zu<br />

verdecken zwischen dem, was da geschrieben steht, und dem,<br />

was wir heute empfinden, denken und wissen. Mit jedem Tag<br />

aber wird die Kluft größer.”<br />

“Haben Sie schon mal mit einem Theologen über diese Aus-


Neue Religionen 481<br />

deutungsprobleme gesprochen?”<br />

“Ja. Aber er hat mir gesagt, er sehe da keine Kluft. Das<br />

glaube ich ihm nicht.” In Unverständnis hebt der Physiker die<br />

Arme und läßt sie mit einem Seufzer wieder sinken. “Diese<br />

Kluft ist doch mit Händen zu greifen. Wer sie nicht sieht, ist<br />

blind, verblendet oder dumm. Oder er lügt.”<br />

“Sie!” Ärgerlich schüttelt der Maler den Kopf. “Eine Kluft<br />

gibt es nur für Engstirnige und Eisherzige! Die Bibel ist ein<br />

altes, ehrwürdiges Zeugnis menschlichen Ringens um Selbstfindung<br />

und Einordnung!”<br />

Unbeirrt fährt der Physiker fort: “Ich habe nur eine Erklärung<br />

dafür, daß die Bibel auch heute noch als Verhaltensanweisung<br />

und Glaubensquelle Verwendung findet: Sie wird nur<br />

von einem exklusiven Kreis gelesen.”<br />

“Sie irren!”<br />

“Von Gläubigen, die Trost und Erbauung suchen und vielfach<br />

auch finden, denen es aber für eine kritische Würdigung am erforderlichen<br />

Abstand fehlt, und von Schriftgelehrten und Religionsführern,<br />

die aus naheliegenden Gründen bestrebt sind,<br />

dieses Fundament ihres Glaubens am Leben zu erhalten.<br />

Würden viele Menschen die Bibel lesen, wirklich all das, was<br />

da geschrieben steht, kritisch lesen, nicht nur mit dem Herzen,<br />

sondern auch mit dem Hirn, es gäbe einen Aufschrei! Einen<br />

Schrei nach einer neuen Religion, einer Religion, die unserer<br />

Zeit gemäß ist, die den heutigen Erkenntnissen, Problemen,<br />

Sorgen und Pflichten der Menschen Rechnung trägt, und unseren<br />

inzwischen völlig anderen Vorstellungen von der Welt<br />

und von Gott.”<br />

‘Pflichten!’, denkt der Maler. ‘Ist das nicht eher ein Sich-<br />

Einfügen in Unvermeidliches?’<br />

“Und da sind wir auch schon bei meiner Forderung nach<br />

neuen Religionen. Ich wähle bewußt den Plural. Es wäre falsch,<br />

nach der Überwindung von Altem, Absolutärem sogleich wieder<br />

neue Ketten zu schmieden. Der moderne Mensch braucht<br />

Dynamik und Bewegungsfreiheit, sowohl <strong>im</strong> Denken und Han-


482 GÖTTER<br />

deln als auch <strong>im</strong> Glauben.”<br />

“Sie wenden sich einem für Sie fremden Thema zu. Sollte<br />

es nicht Fachgelehrten vorbehalten bleiben?” Der Künstler<br />

kneift die Augenlider zu Schlitzen. Er kuckt in das tiefe Wasser<br />

zu seinen Füßen. Dann schweift sein suchender Blick über<br />

die glitzernde Wasserfläche. Er steht auf. Stöhnend reckt und<br />

streckt er steif gewordene Glieder. Dann n<strong>im</strong>mt er den Spazierstock<br />

von der weißen Bank auf dem alten Bootsanleger und<br />

nickt dem Wissenschaftler zu. So schicken die beiden sich an,<br />

den Rundgang um den See zu vollenden.<br />

Der Maler trägt seinen Stock jetzt zwischen angewinkelten<br />

Armen auf dem Rücken. “Was, glauben Sie”, fragt er, “würden<br />

Fachgelehrte, was tiefgläubige Christen zu all dem sagen?”<br />

Als der Physiker nicht antwortet, sagt der Maler: “Da gibt<br />

es viele kluge Köpfe. Und da gibt es viele gute Herzen. Da gibt<br />

es Menschen, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Arbeit selbstlos<br />

in den Dienst ihres Glaubens stellen. Diese Menschen sind<br />

Diener ihres Gottes <strong>im</strong> besten Sinne des Wortes.”<br />

Die beiden bleiben stehen und wenden sich einander zu.<br />

Auge fixiert Auge. Nach eindringlichem Schweigen sagt der<br />

Maler: “Ich zweifle nicht daran, daß es Ihnen ernst ist mit<br />

Ihrem Ringen um Wahrheit, und ich achte Ihren mutigen<br />

Drang nach Neuem. Aber ich meine, daß auch die andere Seite<br />

zu Wort kommen muß. Haben Sie über Ihre Forderung nach<br />

neuen Religionen schon einmal mit Theologen gesprochen?”<br />

“In ein solches Gespräch muß man möglichst unvoreingenommen<br />

hineingehen können. Dazu bedarf es nicht nur eines<br />

klugen, sondern auch eines freien Kopfes – eines Kopfes,<br />

der nicht mit Dogmen vernagelt ist. Ein solcher Kopf ist mir<br />

unter Theologen bisher noch nicht begegnet.”<br />

Ärgerlich wiegt der Maler den Kopf und geht weiter.<br />

Auch der Physiker ist ärgerlich: “Die Theologen gebärden<br />

sich, als betrieben sie eine Art Wissenschaft. Aber die Theologie<br />

ist keine Wissenschaft. Sie arbeitet mit unbewiesenen,<br />

unbeweisbaren und unüberprüfbaren Annahmen und Speku-


Neue Religionen 483<br />

lationen. Dennoch tut sie so, als fuße sie auf physikalischen<br />

Gesetzen. Die Essenz theologischen Gedankengutes hat mit<br />

Wissenschaft nichts zu tun. Sie ist ein dogma-orientierter<br />

Gruppenmythos. Sie ist naturfremd. Ja, sie ist wider die Natur.”<br />

“Sie schießen mal wieder weit übers Ziel hinaus! Die Theologie<br />

fußt auf Offenbarungen, die Menschen zuteil geworden<br />

sind.”<br />

“Die Theologen haben diese Offenbarungen den Menschen<br />

nicht näher gebracht. Sie haben sie vertheoretisiert, verklausuliert<br />

und verabsolutiert. Keine theologische Doktrin fußt<br />

auf dem, was ein Mensch mit gesunden Sinnen wahrnehmen<br />

kann, keine auf normaler Welterfahrung, keine auf objektivierbarer<br />

Gotterfahrung. Dennoch behaupten diese Religionstheoretiker,<br />

zu wissen, was Gott will. Wie Gott den Menschen sieht.<br />

Was Gott vom Menschen verlangt. Was er dem Menschen<br />

vergibt und was nicht. Und was Gott mit dem Menschen vorhat.<br />

In Wirklichkeit aber wissen sie von all dem gar nichts.<br />

Sie schreiben ganz einfach ihr eigenes Menschenfühlen und<br />

-denken Gott zu. Das aber ist eine ungerechtfertigte Selbstüberhöhung.<br />

Denn: machen sie sich auf diese Weise nicht selber<br />

zum Gott?”<br />

Der Maler hebt protestierend die Hand.<br />

“Und überlegen Sie doch mal: Was eigentlich hat die Gottheit<br />

der Theologen in den Millionen von Jahren getan, die von der<br />

Entstehung der Menschen bis zur Offenbarung der Glaubensinhalte<br />

verflossen sind? Waren die vielen, vielen Menschen, die<br />

vor mehr als zweitausend Jahren gelebt haben, des christlichen<br />

Glaubens, der göttlichen Offenbarung, nicht würdig?<br />

Warum hat sich der Christengott für Millionen von Jahren hinter<br />

seinem Werk versteckt? Warum hat er sich den Fragen,<br />

Ängsten und Leiden des von ihm geschaffenen Menschen so<br />

lange verschlossen? Das ist doch unglaublich! Die Gedankenwelt<br />

der Theologen umfaßt nur einen winzigen Bruchteil der<br />

menschlichen Geschichte: die jüngsten Jahrtausende. Vorher


484 GÖTTER<br />

war nach ihren Vorstellungen nichts, nicht einmal Licht, von<br />

dem wir doch wissen, daß es seit Milliarden von Jahren existiert.<br />

Das ist doch wirklich nicht zu fassen! Wir leben in einer<br />

Welt, in der menschlicher Geist die Entstehung und<br />

Entwicklung der Erde und des Lebens auf ihr, einschließlich<br />

des Menschen, in vielen Einzelheiten erforscht hat. Aber von<br />

Tausenden von Erkenntnissen läßt sich kaum eine einzige<br />

widerspruchslos mit dem in Einklang bringen, was die Theologen<br />

auch heute noch <strong>im</strong>mer behaupten und lehren.” Der<br />

Physiker schüttelt den kahlen Kopf. “Und was eigentlich meinen<br />

die Kirchenführer mit ihrem Begriff ‘Jenseits’? Es gibt<br />

kein Jenseits! Das Universum ist ein Kontinuum. Und in diesem<br />

Kontinuum verläuft alles und jedes nach ehernen Gesetzen.<br />

Nichts, aber auch gar nichts, ist geschaffen worden,<br />

und nichts, aber auch gar nichts, kann beeinflußt oder verändert<br />

werden durch ein menschenähnliches Wesen, durch den<br />

Gott der Christen.”<br />

Hände auf dem Rücken, blicken die beiden hinüber zum<br />

Bootsverleih. Jeden beschäftigt das Gesagte, jeden in anderer<br />

Weise. Der Maler ist empört über die Art, in der hier tiefer<br />

Glaube, großartige Leistungen und wohlgemeinte Bemühungen<br />

ungezählter Generationen von Kirchenführern abqualifiziert<br />

werden. Der Physiker ärgert sich über soviel Verstocktheit<br />

und Unbelehrbarkeit.<br />

‘Dieser Wissenschaftler’, bebt der Bucklige, ‘er entwurzelt<br />

mich. Er schwächt die geringen Kräfte, mit denen ich versuche,<br />

mein Leben zu meistern. Er löscht das bißchen Licht in<br />

meiner Seele.’ Zornig zerrt er die Krempe seines Hutes in die<br />

Stirn. ‘Wo in den Widersinnigkeiten der Welt soll ich die Hand<br />

Gottes suchen?!’ Der Künstler mißbilligt die Art, in der der<br />

Wissenschaftler Geheiligtes in sterile Teile zerlegt. “Meinen<br />

Sie wirklich”, fragt er mürrisch, “Sie hätten über diese Dinge<br />

tief genug nachgedacht? In ausreichendem Maße deren Vielschichtigkeit<br />

erwogen?”<br />

“Genug, um Erneuerung zu fordern, aber nicht genug, um


Neue Religionen 485<br />

mit Einzelheiten aufwarten zu können. Ich kann nur Leitlinien<br />

anbieten. Aber vielleicht ist das auch gut so.”<br />

“Sie suchen also nach Wahrheit auch in der Religion?”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Neue Religionen auf Wahrheit aufbauen zu wollen, erzeugt<br />

neue Probleme. Wir haben es schon gesagt: die Wahrheit, die<br />

der Mensch erfahren kann, ist <strong>im</strong>mer nur ein kleiner, verzerrter<br />

Ausschnitt dessen, was wirklich ist. Eine solche Wahrheit<br />

ist nicht geeignet, als Basis zu dienen für neue Religionen!”<br />

“Einverstanden. Aber ich habe nicht gesagt, daß eine best<strong>im</strong>mte<br />

Wahrheit Richtschnur für neue Religionen sein soll.<br />

Ich fordere Aufrichtigkeit <strong>im</strong> Umgang mit dem, was wir jeweils<br />

als Wahrheit erkennen können. Schluß mit den Betäubungen<br />

unseres fragenden Geistes, mit den Gefälligkeitsverdrehungen,<br />

mit den Märchen und Zauberformeln. Ich fordere<br />

Wahrhaftigkeit <strong>im</strong> Denken und Handeln. Unser Leben kann<br />

nur den Sinn haben, den wir ihm geben. Jede Sinnfindung<br />

aber muß aufbauen auf der schnörkellosen Akzeptanz dessen,<br />

was wir mit offenen Sinnen wahrnehmen können.”<br />

“Sie sind Naturwissenschaftler. Begeben Sie sich da nicht in<br />

einen fremden Garten?”<br />

“Warum sollte ein Naturwissenschaftler nicht Grundsätze<br />

für neue Religionen aufstellen? Was ist dagegen einzuwenden?<br />

Ich bin kein Prophet. Ich bin ein Sucher.” Mit steifem<br />

Zeigefinger schiebt der Physiker die Brille hoch. “Jesus war<br />

Handwerker. Und andere Religionsverkünder? Was waren<br />

sie? Im übrigen habe ich größere Achtung vor der Person Jesu<br />

und vor dem, was er offenbar wirklich gewollt hat, als so<br />

manch ein Religionsführer, für den er nur ein Alibi ist. Wäre<br />

er mehr als ein Alibi, dann müßte vieles anders sein in der<br />

Form, in der seine Lehren institutionalisiert worden sind, in<br />

der Art, in der die Kirchenfürsten leben, und in der Weise, in<br />

der sie ohne jede Rücksichtnahme ihren Einfluß und ihre<br />

Macht zu vermehren suchen.”<br />

Der Physiker bleibt stehen und verschränkt die Arme über


486 GÖTTER<br />

der Brust. Er leidet keinen Mangel an Selbstbewußtsein. “Nun<br />

denn”, sagt er, hebt den Kopf und schließt die Augen. “Ich werde<br />

Ihnen jetzt Leitlinien skizzieren, die meiner Ansicht nach<br />

in neuen Religionen Berücksichtigung finden sollten, um Gott<br />

gerecht zu werden und um den Menschen zu helfen. Und Hilfe<br />

brauchen die Menschen, so wie sie nun einmal beschaffen<br />

sind, Hilfe in ihrem Ringen mit Egoismen, Süchten, Trieben<br />

und zahlreichen Unzulänglichkeiten – Eigenschaften, um die<br />

sie nicht gebeten haben, mit denen sie aber zurechtkommen<br />

müssen. So oder so.”<br />

“Schießen Sie los!” ruft der Maler. Er hat eingesehen, daß<br />

der Physiker nicht zu bremsen ist.<br />

“Nun denn”, sagt der Physiker abermals und kramt einen<br />

Zettel hervor aus seiner Jackentasche. Er überfliegt seine<br />

Stichworte. Und nun beginnt er.<br />

“Erstens: Ein Gott neuer Religionen darf nicht nur ein Gott<br />

der Menschen sein und ein Gott der Erde. Er muß ein Gott<br />

sein aller Geschöpfe, aller Natur und aller H<strong>im</strong>melskörper –<br />

ein Gott des Universums.<br />

Zweitens: Alle Energie und alle Materie des Universums<br />

haben den gleichen Ursprung, dieselbe Geschichte, dieselbe<br />

Zukunft, und sie werden beherrscht von den gleichen Gesetzen.<br />

Energie, Materie und Gesetze sind Geist, Körper und<br />

Wille Gottes.<br />

Drittens: Der Mensch muß aufwachen aus seinen Träumen.<br />

Er muß sich an den Realitäten und Notwendigkeiten orientieren,<br />

die für ihn erlebbar und erkennbar sind.<br />

Viertens: Der Mensch ist nicht Herr, sondern Teil der Natur.<br />

In jeder seiner Milliarden Zellen trägt er Naturgeschichte mit<br />

sich herum. Er muß begreifen, daß diese Hypothek angesichts<br />

der heutigen Überlegenheit über seine Mitgeschöpfe und<br />

angesichts der gewaltigen Möglichkeiten, Natur nach seinen<br />

<strong>Inter</strong>essen umzugestalten, etwas sehr Gefährliches ist –<br />

potentiell tödlich für große Teile irdischen Lebens und für ihn


Neue Religionen 487<br />

selbst. Die Rolle, die dem heutigen Menschen zufällt, erfordert<br />

ein hohes Maß an Bescheidenheit, Selbstbeschränkung<br />

und Selbstkontrolle. Die Voraussetzungen für das Ausgestalten<br />

der neuen Rolle sind nicht Glauben und Vertrauen,<br />

sondern Erkennen und Einsicht.<br />

Fünftens: Der Mensch ist verantwortlich für alles, was er<br />

tut oder unterläßt. Niemand und nichts kann ihm helfen, ihm<br />

vergeben oder ihn beschützen. Während seines ganzen Lebens<br />

soll der Mensch danach streben, seinen Nachkommen und allen<br />

anderen Geschöpfen die Erde so zu hinterlassen, wie er sie<br />

vorzufinden wünscht – eine Erde, die blühendes Leben zu tragen<br />

vermag.<br />

Sechstens: Neue Religionen sollen dem Menschen gestatten,<br />

ja, ihn dazu auffordern, sich zu seinen eigenen Gedanken,<br />

Überzeugungen und Taten zu bekennen, wahrhaftig zu sein<br />

und sich in seiner Suche nach der erkennbaren Wahrheit von<br />

nichts und Niemandem abbringen zu lassen.<br />

Siebtens: Neue Religionen sollen tolerant sein, Andersartiges<br />

nicht nur dulden, sondern achten, wo<strong>im</strong>mer es sich <strong>im</strong><br />

Rahmen der Ethik und Moral bewegt.<br />

Achtens: Neue Religionen dürfen keine Dogmen sein. Sie<br />

sollen mitwachsen mit den Menschen, und der Vielfalt menschlicher<br />

Existenz Rechnung tragen.<br />

Neuntens: Neue Religionen sollen die Menschenwürde achten.<br />

Und sie sollen alle Formen, in denen sich die Schöpfung<br />

offenbart, zu schützen und zu erhalten suchen.<br />

Zehntens: Neue Religionen sollen ihre Inhalte über die<br />

Form stellen. Sie dürfen ihren Verkündern und Führern nicht<br />

gestatten, aus ihrer Funktion Macht zu gewinnen, die nicht<br />

unmittelbar für die Ausübung ihrer religiösen Obliegenheiten<br />

erforderlich ist.<br />

Diese zehn Thesen”, sagt der Physiker und steckt seinen<br />

Zettel wieder ein, “sind meiner Ansicht nach unverzichtbare<br />

Grundelemente für jede neue Religion. Sie sind gar nicht, nur


488 GÖTTER<br />

teilweise oder nur unzureichend in den mir bekannten Religionen<br />

enthalten.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf. “Freilich”, sagt er, “da ist Bedeutsames<br />

drin. Aber auch Zündstoff.”<br />

Sie gehen bis zur nächsten Bank. Dort setzen sie sich.<br />

“Und Sie glauben”, fragt der Maler, “daß Religionen, die Ihren<br />

Thesen gerecht werden, mithelfen könnten, die Menschen<br />

wachzurütteln, sie <strong>im</strong> Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verändern?”<br />

“Ich weiß es nicht. Es muß ganz einfach versucht werden.<br />

Wir haben keine andere Wahl. Unsere bisherigen Religionen<br />

haben versagt. Sie haben nichts wirklich bewegt, nichts wirklich<br />

verändert. Sie haben die Menschen nicht veranlassen<br />

können, die Augen zu öffnen und Verantwortung zu übernehmen.<br />

Jetzt läuft uns die Zeit davon. Jetzt brauchen wir<br />

dringend ein wirksames Gegengewicht gegen die von uns ausgehende<br />

Zerstörung der irdischen Ordnung.”<br />

“Aber wie wollen Sie einfachen Menschen das Feuer Ihrer<br />

Gedanken ins Gemüt pflanzen, wenn schon nicht ins Gehirn?<br />

So wie die meisten Menschen beschaffen sind, brauchen sie<br />

einen Gott, den sie sich vorstellen können, an den sie sich<br />

wenden können in ihrer Not, zu dem sie Vertrauen haben können,<br />

dem sie sich offenbaren können, zu dem sie sprechen<br />

können. – Sehen Sie sich nur die vielen hilflos <strong>Suchen</strong>den an!”<br />

“Ja. So mancher von den <strong>Suchen</strong>den kann weder an seinen<br />

Gott glauben noch von ihm lassen.” Der Physiker nickt vor<br />

sich hin. “Die Umsetzung meiner Leitlinien ist schwer. Neue<br />

Religionen müssen, wie die alten, den Menschen Anleitung<br />

geben für ihre Lebensführung, für die Suche nach dem Sinn<br />

der eigenen Existenz. Für mich sind dabei drei Dinge wichtig:<br />

höchstmöglicher Wahrheitsgehalt, höchstmögliche Hilfestellung<br />

und höchstmögliche Achtung der Freiheit und Würde<br />

des Menschen.”<br />

“Was für eine Freiheit meinen Sie jetzt?”<br />

“Die Freiheit von doktrinären politischen und religiösen


Neue Religionen 489<br />

Zwängen. Sie ist die Grundvoraussetzung für eine bessere Zukunft<br />

und für eine volle Entfaltung der Verantwortlichkeit.”<br />

“Und was ist mit dem Transzendentalen?”<br />

“Ich unterschätze nicht das Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit,<br />

nach religiösen Emotionen, nach Ritualen, nach<br />

Transzendentalem. Viele Menschen wollen Religion nicht über<br />

das Hirn, sondern über das Herz. Manch einer wird nicht in<br />

der Lage sein, die Realität zu ertragen. Nur wenige werden<br />

genügend Einsicht aufbringen, um Konsequenzen daraus zu<br />

ziehen. Viele werden nicht willens sein, so ohne weiteres Einschränkungen<br />

auf sich zu nehmen.”<br />

“Das sehe ich genauso.”<br />

“Für diese Menschen müssen wir Argumente formulieren,<br />

Bilder malen und Rituale gestalten, die sie emotionell berühren.<br />

Meinetwegen auch in Form von Geschichten und Märchen.<br />

Aber, und dies ist der entscheidende Punkt, neue Religionen<br />

müssen <strong>im</strong>mer auf der Basis dessen aufbauen, was wir<br />

jeweils mit offenen Augen als Wahrheit erkennen können.”<br />

“Abermals: Was verstehen Sie unter Wahrheit? Es gibt verschiedene<br />

Wahrheiten.”<br />

“Unter Wahrheit verstehe ich das Erkennbare, das sich<br />

widerspruchslos einordnen läßt in das jeweilige Weltbild, das<br />

wir in unseren Vorstellungen konstruieren. Wo aber schon das<br />

Fundament des Weltbildes schief ist, da kann es keine Wahrheit<br />

geben.”<br />

“Und die von Ihnen skizzierten Leitlinien für neue Religionen,<br />

die halten Sie für unumstößlich?”<br />

“Nein. Sie stehen zur Disposition. Ich meine jedoch, daß sie<br />

eine Richtlinienfunktion haben könnten.”<br />

“Wer sollte sich Ihrer Richtlinien annehmen? Beabsichtigen<br />

Sie, dafür die Reklametrommel zu rühren?”<br />

“Nein. Dafür bin ich nicht der richtige Typ. Ich sage, was ich<br />

denke. Damit ist für mich der Fall erledigt. Was andere daraus<br />

machen – oder auch nicht machen – das ist schon nicht<br />

mehr meine Sache.”


490 GÖTTER<br />

Der Maler schweigt. Dann dreht er sich steifrückig seinem<br />

Gefährten zu: “Ist das nicht sehr wenig, was Sie den Menschen<br />

da anbieten? Ist es nicht zu wenig? Was sagen Sie den<br />

Vielen, die große Angst vor dem Tod haben? Wo bleibt der<br />

Trost für die Leidenden? Wo Vergebung, wo Erlösung? Und wo<br />

die Gewißheit über das eigene Schicksal?”<br />

“Bei allen meinen Überlegungen”, sagt der Physiker mit großem<br />

Ernst, “erwächst mir <strong>im</strong>mer wieder die Gewißheit, unwiderbringlicher<br />

Teil zu sein eines wunderbaren, eines großartigen,<br />

gewaltigen Ganzen – der Erde, des Universums,<br />

Gottes. Nichts in diesem Ganzen geht verloren. Alles bleibt erhalten.<br />

Nichts in diesem Ganzen braucht Vergebung, nichts<br />

Erlösung. Alles geschieht innerhalb der Gesetze. Und <strong>im</strong>mer<br />

ist alles auf dem Wege des Wandels. Warum sollte da Angst<br />

sein vor dem Tod? Vor diesem Wandler, diesem Erneuerer?<br />

Vor diesem Meilenstein am unendlichen Wege?”<br />

“Schmerzt es Sie nicht, daß ihre Einmaligkeit so hinfällig<br />

ist? Daß sie nach kurzem Aufleuchten für <strong>im</strong>mer verschwinden<br />

wird?”<br />

“Mag meine Individualität vergehen, mögen meine Ichs verwehen:<br />

das, was mich als einmaligen Wurf der Schöpfung hervorgebracht<br />

hat, das bleibt bestehen. Ich genieße die Gewißheit,<br />

als ephemere Einzelerscheinung fest eingewoben zu sein<br />

in ein unvorstellbar großes, ewiges Werden, Vergehen und<br />

Wiederwerden. Mag mein Sichtbares auf der Bühne des<br />

Lebens verlöschen, mögen die Spuren von all dem, was ich je<br />

gefühlt und gedacht, was ich je gesagt und getan habe, vergehen<br />

– all das ist geschehen! All das ist, all das war Wirklichkeit.<br />

All das hat Bestand in alle Ewigkeit.”<br />

Neuer Gott<br />

Das Wandern der beiden dauert heute länger als sonst.<br />

Abermals sind sie an der weißen Bank auf dem verwaisten


Neuer Gott 491<br />

Bootsanleger angelangt. Ermüdet vom langen Gehen setzen<br />

sie sich und blicken bewegten Sinnes hinaus auf den See.<br />

“Früher”, stochert der Maler mit dem Spazierstock herum<br />

<strong>im</strong> morschen Holz, “früher haben Sie von Ihrem Gott gesprochen.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Und Sie haben mir in Aussicht gestellt, daß Sie mir Ihre<br />

Vorstellung von Gott offenlegen werden.”<br />

“Meine Vorstellung von Gott ist anders als die der meisten<br />

Menschen.”<br />

“Haben nicht alle Menschen ihre eigene Vorstellung von<br />

Gott?”<br />

“Ja. Für jeden Menschen, der einen Gott verehrt, ist Gott<br />

etwas anderes. Und auch jeder Gottlose hat seine eigene Vorstellung<br />

über die Nichtexistenz Gottes. Keine zwei Menschen<br />

haben genau den gleichen Gott, keine genau die gleiche Gottlosigkeit.”<br />

“Die Vorstellungen, die sich Menschen von Gott machen,<br />

sind also ebenso verschieden voneinander wie die Menschen<br />

selber.”<br />

“So ist es. Nicht notwendigerweise verschieden <strong>im</strong> Prinzip,<br />

<strong>im</strong>mer aber <strong>im</strong> Detail.”<br />

“So gibt es also viele Götter.”<br />

“Ja. Die meisten Gläubigen verehren in ihrem Gott ihr überhöhtes<br />

Spiegelbild.”<br />

“Spiegelbild?” Der Maler ist irritiert.<br />

“Sie verehren ein Wesen, das eine Entsprechung ist ihrer<br />

eigenen Vorstellungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste.”<br />

“Was ist Gott für Sie?”<br />

“Mein Weltverständnis zwingt mich dazu, einen neuen Gott<br />

zu sehen und zu erleben.”<br />

“Einen Gott, der Ihnen ähnlich ist?”<br />

“Nein. Einen Gott allen kosmischen Geschehens.”<br />

“Bitte erklären!”<br />

“Alle seit dem Urknall auseinanderstrebende und dabei


492 GÖTTER<br />

ausreifende Materie und alle diesen Vorgang vorantreibende<br />

und ordnende Energie stammen aus der gleichen Quelle.<br />

Und alles, was aus dieser Quelle kommt, das bleibt auch<br />

über alle Entfernungen und über alle Zeiten miteinander<br />

verbunden, bleibt in ständigem, mannigfaltigem Kontakt<br />

miteinander, durch verbindende Energieströme und durch<br />

Austausch von Materie und Information. All das entwickelt<br />

sich gemeinsam und reift in gegenseitiger Abhängigkeit. In<br />

den Teilen des so Entstehenden vollzieht sich ein ständiges<br />

Kreisen, Schwingen und Pulsieren, ein unablässiges Wachsen<br />

und Schrumpfen, ein <strong>im</strong>merwährendes Aufbauen, Umbauen<br />

und Abbauen. Die sich formenden und wieder vergehenden<br />

Gebilde geben und nehmen einander Energie und<br />

Materie. Und sie kommunizieren miteinander in vielfältigster<br />

Weise. Ein gewaltiger Stoffwechsel unerhörten Ausmaßes.”<br />

“Was für eine stupende Perspektive!”<br />

“In seiner Gesamtheit bildet das sich entfaltende, in Milliarden<br />

von Jahren ausreifende Universum einen unvorstellbar<br />

intelligenten Organismus. Dieser Panorganismus vollendet<br />

sich in gigantischen Zeitspannen, bildet Kommunikationskanäle<br />

aus, in denen Informationen besonders schnell wandern<br />

können, vergleichbar mit unserem Nervensystem, bildet<br />

Transportbahnen aus, auf denen Materie schnell befördert<br />

wird, vergleichbar mit unserer Blutbahnen, bildet Organe aus<br />

für die Wahrnehmung spezieller Funktionen, formt Denk-,<br />

<strong>Inter</strong>pretations- und Steuerungszentren. Und schließlich<br />

schmilzt dieser Panorganismus alle diese Ausbildungen wieder<br />

ein, stürzt das ganze Universum wieder in sich zusammen,<br />

um sich dann erneut auszubilden. Ein Milliarden von<br />

Jahren in Anspruch nehmendes Werden, Vergehen und Wiederwerden.<br />

Dieser Panorganismus, das ist für mich Gott.”<br />

“Ungeheuerlich!!” Der Maler schluckt, greift mit zitternden<br />

Fingern an die eng gewordene Kehle, ringt um Fassung. Augen<br />

irren umher <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel. Es dauert eine Weile, bis er zu zi-


Neuer Gott 493<br />

scheln vermag: “Nichts von all dem kann ich sehen. Selbst<br />

nachts sehe ich nur Mond und Sterne. Kugeln und unendlichen<br />

leeren Raum. Kein Nervensystem, keine Organe, kein …”<br />

“Versuchen Sie mal, sich vorzustellen, wie unser Körper<br />

einem Wesen erscheinen müßte, das in ihm lebt, und das so<br />

klein ist wie ein Atom. Nur kreisende Materie könnte es sehen<br />

– Atomkerne und Elektronen. Kreisende Kugeln in scheinbar<br />

grenzenlosem Nichts.”<br />

“Was für ein Schauspiel!”<br />

“Zellen, Gewebe, Organe werden erst auf anderen Ebenen<br />

der Wahrnehmung sichtbar. Deren koordiniertes Funktionieren<br />

und das Gesamtwesen lassen sich aus der Perspektive eines<br />

Atomwesens nicht erkennen. Der Tanz der Materie macht<br />

nur für den Sinn, der die Zusammenhänge erkennen oder doch<br />

erahnen kann.”<br />

Für einen Augenblick versinkt der Maler in fassungslosem<br />

Staunen: “Wie Sie das alles sehen! Unglaublich”, stammelt er.<br />

“Wirklich ganz unglaublich!” Nur zögernd beginnt er, zu bewerten:<br />

‘Was ist ein solcher Gott mir?’, denkt er. ‘Was sind ihm<br />

meine Hoffnungen? Was meine Bitten? Was meine Schuld?<br />

Wie könnte der mir vergeben? Wie mich erlösen? Wie mich bestrafen?’<br />

Lauernden Auges wendet er den Kopf dem Physiker zu und<br />

krächzt: “Gott. – Ja, Gott. Ihr Gott! Er ist mir nichts. Er ist<br />

mir fremd. Er ist taub und blind. Taub für meine Bitten, blind<br />

für meine Bilder.” Als der Physiker nicht reagiert, sagt er: “Je<br />

tiefer wir einzudringen versuchen in den Begriff Gott, desto<br />

leerer wird er. Je angestrengter wir versuchen, über den Zaun<br />

zu spähen, desto bedeutungsloser wird das, was wir da sehen.<br />

Desto weniger finden wir Hilfe für unsere Probleme, für unsere<br />

Ängste. Desto mehr wird Hoffnung zu Enttäuschung.<br />

Desto tiefer versinkt Sehnsucht in Sinnlosigkeit. Hoffnung<br />

und Sehnsucht aber müssen phantasieren können, wachsen,<br />

sich steigern. Sonst verkommen sie zu Dumpfheit, Gleichgültigkeit<br />

oder Verbitterung.”


494 GÖTTER<br />

“Sonst wird aus Sehnsucht Sucht”, sagt der Physiker.<br />

“Sucht”, stammelt der Zwerg, “Sucht … Sie verknüpfen alles<br />

mit allem. Sie leinen alles an. Ich mag Ihre Leinen nicht! Ich<br />

will raus aus Ihren Verknotungen. Ich will raus aus Ihren<br />

dunklen Tunneln!!”<br />

“Die Tür aus den Tunneln öffnet nur das Ende des Selbstbetrugs.”<br />

“Sie … ! Sie … !!”<br />

Zurückfindend zu seinem Gedankengang sagt der Physiker:<br />

“Im Körper meines Gottes liegt die Erde weit entfernt von allen<br />

wesentlichen Funktionen und Strukturen. Vielleicht hat das<br />

dazu beigetragen, daß uns das Erkennen dieses Gottes so<br />

schwerfällt. Und daß auf unserem Planeten so viel Merkwürdiges<br />

geschieht, so manches von der Norm Abweichende. Daß<br />

sich hier ein so sonderbares organisches Leben entfalten konnte.<br />

Und daß eine Abnormität in diesem organischen Lebensvorgang,<br />

der moderne Mensch, sogar in der Lage ist, essentielle<br />

Strukturen und Funktionen in diesem entlegenen Teil Gottes,<br />

den wir Erde nennen, zu beschädigen.”<br />

Heftig schüttelt der Zwerg den Kopf. Immer wieder. Das ist<br />

zu weit weg von seiner Art, die Welt zu sehen. Sein Blick<br />

schweift über den See. Ein Gedanke formt sich. Doch er schwebt<br />

ihm davon, bevor er ihn noch in Worte zu fassen vermag.<br />

Nach langem Schweigen sagt er: “Das Werden und Vergehen<br />

Ihres Gottes und das Werden und Vergehen des Universums,<br />

das sehen Sie offenbar als ein und denselben Vorgang.”<br />

“Ja.”<br />

“Aber warum muß Ihr Gott <strong>im</strong>mer wieder vergehen? Warum<br />

kann ein so unvorstellbar intelligentes und mächtiges Wesen<br />

seinen Zerfall – und sei er auch nur vorübergehend – nicht<br />

vermeiden?”<br />

“Mein Gott bildet sich aus über Milliarden von Jahren. Seine<br />

Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfend, vervollkommnet er<br />

sich dabei und strebt einem Zielzustand zu. Je näher er diesem<br />

Zustand kommt, desto eingeschränkter werden seine Gestal-


Neuer Gott 495<br />

tungsmöglichkeiten, desto starrer, langsamer und eingleisiger<br />

wird die Entwicklung. Die Naturgesetze, mit denen Gott<br />

meiner Ansicht nach ja identisch ist, lassen keine andere Wahl.<br />

Max<strong>im</strong>ale Gestaltungsmöglichkeiten gibt es <strong>im</strong>mer nur nach<br />

einer neuen, alles Materielle zerschmetternden Schöpfungsexplosion.<br />

Neuschöpfung ist gebunden an vorausgehenden<br />

Zerfall. Oder anders herum: Zerfall ist die Voraussetzung für<br />

Neuschöpfung. Nach jeder Schöpfungsexplosion verläuft die<br />

Entwicklung vermutlich anders, nicht grundsätzlich, aber<br />

doch in vielen Einzelheiten. So schöpft Gott die ganze Fülle seiner<br />

Gestaltungsmöglichkeiten dadurch aus, daß er mit jeder<br />

Schöpfungsexplosion <strong>im</strong>mer wieder neu die Würfel wirft.”<br />

“Vor jedem Würfeln muß geschüttelt werden, wie?”<br />

“Jedes Würfeln setzt voraus, daß alles Bestehende, langsam<br />

erst, dann schneller, <strong>im</strong>mer schneller und schließlich in einem<br />

gewaltigen, unvorstellbaren Inferno, wieder in sich zusammenstürzt.<br />

Dabei wird alle Materie wieder in ihre Urbestandteile<br />

zerschlagen und schließlich in Strahlung umgewandelt.<br />

Die Schöpfungsexplosion erfordert eine gigantische Menge an<br />

Energie. Diese kann nur durch das In-sich-Zusammenstürzen<br />

des Universums gebündelt werden. Für eine unvorstellbar<br />

kurze Zeit verschwindet alles Materielle, bleibt nur Organisationsenergie,<br />

nur die Essenz Gottes übrig. Die Schöpfungsexplosion,<br />

also das, was die Wissenschaft den Urknall nennt,<br />

das ist für mich der zentrale Akt für die Regeneration Gottes,<br />

für die Zurückgewinnung seiner vollen Gestaltungsmöglichkeiten.”<br />

Der Maler stützt beide Hände auf den silbernen Handgriff<br />

seines zwischen zusammengepreßten Schenkeln auf das Holz<br />

gedrückten Spazierstocks. Ganz fest beißt er die Lippen aufeinander.<br />

Aus starren Augen bohrt sein Blick in das tiefe<br />

Wasser zu seinen Füßen. “Ihr Gott”, sagt er nach einer Weile,<br />

“ist also Teil – oder Kern – des Universums.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Mein Gott ist größer. Mein Gott existiert außerhalb des


496 GÖTTER<br />

Universums. Mein Gott schaut und regiert von außen in die<br />

Dinge hinein.”<br />

“Warum kommen Sie zu dieser Ansicht?”<br />

“Weil ein Teil eines Ganzen, der das Ganze verändert, auch<br />

<strong>im</strong>mer sich selber und seine Existenzbedingungen verändert.”<br />

“Gerade das ist die Grundvoraussetzung für einen lebenden<br />

Gott. Gerade darin sehe ich eine wichtige Möglichkeit für Entwicklungen.<br />

Wie könnte ein Gott außerhalb des Universums<br />

dynamisch sein? Er wäre starr. Er wäre tot!”<br />

Der Künstler senkt den Kopf. Er nickt. Und schweigt.<br />

Visionen<br />

Schließlich fragt der Maler: “Ihr Gott – ist er das Wesen,<br />

von dem Sie früher gesprochen haben?”<br />

“Nein. Er ist das allumfassende Urwesen. Aus ihm können<br />

viele verschiedene Wesen entstehen.”<br />

“Früher”, der Zwerg zupft an seinem Schal, “früher haben<br />

Sie die Art beklagt, in der irdisches Leben organisiert ist.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Gibt es eine andere Art, Leben entstehen zu lassen und zu<br />

erhalten?”<br />

“Ich weiß es nicht. Aber ich habe mir da so meine Gedanken<br />

gemacht. Gedanken, mit denen ich schon seit geraumer Zeit<br />

umgehe.”<br />

“Darf man da mal hinter den Vorhang kucken?”<br />

“Sie dürfen.” Der Physiker spitzt die Lippen, dann schiebt er<br />

die Brille hoch. “Die meisten Menschen sind von der Vorstellung<br />

erfüllt, daß Leben <strong>im</strong>mer so – oder doch so ähnlich –<br />

aussieht und organisiert ist wie hier auf Erden. Da hat es<br />

mich gereizt, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, einmal<br />

Visionen auf die Bühne meines Bewußtseins einzuladen.<br />

Visionen darüber, wie ein ganz anderes Leben aussehen und


Visionen 497<br />

organisiert sein könnte.”<br />

“Wie sollte Leben außerhalb von Ökosystemen möglich sein,<br />

wie sollte es existieren, wie evolvieren können?”<br />

“In Form von nicht-organischen Wesen.”<br />

“Huuhhh!!”, schreit der Künstler. “W … wie in aller Welt<br />

kann es nicht-organisches Leben geben? Das ist doch ein Widerspruch<br />

in sich! Nicht-organische Wesen!”, ruft er ganz laut<br />

und schüttelt sich.<br />

“Ich spreche von Visionen. Bitte vergessen Sie das nicht.”<br />

Wißbegierig nickt der Zwerg.<br />

“Nach meinen Vorstellungen könnte es eine völlig andere<br />

Art geben, Leben sich entwickeln, sich erhalten, sich vervollkommnen<br />

zu lassen.”<br />

“Wie, in Gottes Namen, soll das möglich sein!?”<br />

“Leben, konzipiert nach dem Vorbild meines Gottes. Nicht<br />

der an organische Verbindungen gefesselte Teufelstanz der<br />

Materie, wie er sich auf der Erde ausgebildet hat, sondern Leben,<br />

organisiert als winzige Kopien der Strukturen und Funktionen<br />

des Universums. Diese, nach dem Vorbild des Panorganismus<br />

gestalteten Geschöpfe, das sind die wahren Kinder<br />

Gottes, geschaffen nach seinem Ebenbild, und wie Gott selbst<br />

nicht fähig, Böses zu tun, nicht fähig, gegen die Naturgesetze<br />

zu verstoßen – ohne Triebe, ohne Egoismen, ohne Sucht, ohne<br />

Verbrechen, ohne Sünde.”<br />

“Gottes Kinder!!”, ruft der Maler empört. Dann senkt er den<br />

Kopf. ‘Ohne Triebe’, echot es durch seinen Leib, ‘ohne Verbrechen,<br />

ohne Sünde!’<br />

“Diese Lebenseinheiten des Universums sind für mich ein<br />

Ausdruck des ethischen Prinzips der Schöpfung. Ich nenne sie<br />

daher E-Wesen.”<br />

“Warum postulieren Sie Ethik für das Universum?”<br />

“Weil es für mich undenkbar ist, daß der gewaltige Schöpfungsvorgang<br />

sich in sinn- und ziellosem Wirbeln und Kreisen<br />

von Materie erschöpft. Weil das großartige kosmische<br />

Schauspiel meiner Ansicht nach nicht ohne Darsteller, nicht


498 GÖTTER<br />

ohne Herz und nicht ohne Seele auskommt. Weil ich mir nicht<br />

vorstellen kann, daß die unvollkommene Ethik, welche<br />

sich <strong>im</strong> Menschen manifestiert, alles ist, was das Ausreifen<br />

der Materie an moralischen Kräften hervorzubringen vermag.”<br />

“Ähnliche Gedanken”, sagt der Maler leise, “sind mir auch<br />

schon mal gekommen.” Und er denkt: ‘Vielleicht entsprechen<br />

E-Wesen Erscheinungen, die andere als Engel interpretieren?’<br />

Sogleich erschrickt er über diesen Gedanken und über den<br />

Begriff ‘Engel’.<br />

“Für E-Wesen ist das Universum weder fremd, noch taub,<br />

noch blind. Sie fühlen seine Schwingungen. Sie hören seine<br />

Musik. Sie verstehen seine Sprache. Sie sehen seine Schönheit.<br />

Für sie ist das Universum Mutter, He<strong>im</strong>at.”<br />

Ein kalter Schauer rieselt durch den Künstler. Er erzittert<br />

vor Ehrfurcht. Und vor Neugier.<br />

“Wir Menschen dagegen müssen erst mühsam einen Weg<br />

suchen zum Verständnis des Universums. Für uns bedarf es<br />

größter Anstrengungen, über den Tellerrand zu kucken. Aber<br />

vielleicht wird das Universum eines Tages auch für uns nicht<br />

mehr fremd sein. Vielleicht werden dann auch wir seine Musik<br />

hören, seine Sprache verstehen und seine Schönheit mit<br />

Freude erleben können.”<br />

“W … wie … wie sieht denn so ein E-Wesen aus?”, krächzt<br />

der Maler.<br />

“E-Wesen können ihre Erscheinungsform verändern. Sowohl<br />

bei starker Verringerung als auch bei starker Erhöhung<br />

ihrer Materiedichte werden sie für uns unsichtbar. Bei sehr<br />

starker Materiekonzentration schrumpfen sie zu winzigsten<br />

Teilchen. Dabei werden enorme Energiepotentiale frei. Auf<br />

diese Weise können sie Expeditionen ins All durchführen, und<br />

zwar unglaublich schnell – auf Gottes Nervenbahnen. Am Ziel<br />

angelangt, werden dann rasch die erforderlichen Gestalten<br />

angenommen und die notwendigen Gerätschaften und Instrumente<br />

aus örtlicher Materie aufgebaut.”


Visionen 499<br />

“Wie sind E-Wesen konstruiert? Woher gewinnen sie ihre<br />

Energie? Wie? Wo? Was? Tausend Fragen!!”<br />

“Gemach.” Der Physiker legt die Handflächen zusammen<br />

und führt sie vor den Mund. Die Daumen stützen das Kinn,<br />

die Spitzen der Zeigefinger berühren die Nase. So verharrt er<br />

eine Zeitlang. “Ein E-Wesen”, sagt er endlich, “besteht aus<br />

Materieteilchen, die in besonderer Weise miteinander verknüpft<br />

sind. Die Art der Verknüpfung ist variabel und<br />

steuerbar. Auch die Stärke der Verknüpfungen kann kontrolliert<br />

verändert werden. Die Verknüpfungsmöglichkeiten<br />

sind vielfältig. E-Wesen entscheiden zum großen Teil selbst<br />

über ihre Eigenschaften. Sie sind nicht nur Gottes Kinder, sie<br />

sind auch – <strong>im</strong> Rahmen vorgegebener Gesetze – selber<br />

Schöpfer.”<br />

Der Physiker denkt nach. Dann sagt er: “E-Wesen benötigen<br />

für ihre Existenz kein sie tragendes Ökosystem. Sie<br />

gewinnen ihre Energie und Materie nicht aus dem Behindern,<br />

Beschädigen oder Töten anderer Geschöpfe. Ihre Überlegungen,<br />

Planungen und Taten werden nicht durch Triebe<br />

beeinträchtigt. Ethik und Moral müssen ihnen nicht gepredigt<br />

werden. Sie sind einfach da – system<strong>im</strong>manente,<br />

unumstößliche Bestandteile ihres Seins. So wenig ein Stein<br />

gegen Gottes Gesetze zu verstoßen vermag, sowenig vermögen<br />

das die E-Wesen.”<br />

Die Visionen des Wissenschaftlers erregen den Künstler<br />

maßlos. “W … wie”, ruft er laut und stößt die Spitze seines<br />

Spazierstocks mit Macht in die Holzbohle, “wie sollen sich<br />

Ihre E-Wesen denn ernähren? Wie für sie nutzbare Energie<br />

gewinnen? Wie sich vermehren? Wie sich verständigen?” Er<br />

zerrt den Hut in die Stirn. “Wie tauschen sie genetisches<br />

Material aus? Haben die überhaupt so was wie Sex?”<br />

“Sie beherrschen die Kunst, Gravitationskräfte zu manipulieren,<br />

nach Belieben Schwerefelder zu erzeugen und zu<br />

verändern. So saugen sie aus ihrer Umgebung gezielt und differenziert<br />

für sie nutzbare Materie an. Die Energie für ihre


500 GÖTTER<br />

Aktivitäten gewinnen sie auf die gleiche Weise wie der Panorganismus.<br />

Überall da, wo Materie bewegt oder umgewandelt<br />

wird, da fließt auch Energie.”<br />

“Und wie vermehren sich die E-Wesen?”<br />

“Durch Abtrennung von Teilen, die sich regenerieren. Aber<br />

E-Wesen können sich nicht nur vermehren, sie können auch<br />

das Gegenteil: mehrere Wesen können sich zu einem einzigen<br />

Wesen vereinigen. Auf diese Weise wird die Intelligenzleistung<br />

oder das Speicherpotential für Informationen vervielfacht. Ich<br />

gehe davon aus, daß bereits ein einzelnes E-Wesen enorme geistige<br />

Fähigkeiten besitzt, und Speicher- und Rechnerkapazitäten,<br />

welche unsere größten Computeranlagen um ein Vielfaches<br />

übertreffen.<br />

Die Verständigung zwischen E-Wesen erfolgt nicht, wie bei<br />

uns, durch vereinbarte Signale – akustische, also Sprache,<br />

und optische, also Schrift oder Zeichen. E-Wesen kommunizieren<br />

direkt, Gedanke mit Gedanken. Be<strong>im</strong> Menschen muß<br />

ein Gedanke <strong>im</strong>mer erst in Signale übersetzt werden, den<br />

Kommunikationspartner erreichen und von ihm zurückverwandelt<br />

werden in Gedanken. Das ist ein fehlerbeladener<br />

Prozeß. Nehmen Sie hinzu, daß die Signale oft unscharf sind,<br />

daß ein Wort oft für verschiedene Leute etwas Verschiedenes<br />

bedeutet, so darf man sich nicht wundern über das Ausmaß<br />

an resultierenden Mißverständnissen. Im …”<br />

“Aber”, ruft der Maler dazwischen, “was nicht alles hat der<br />

Mensch trotz dieser Beschränkungen hervorgebracht! Denken<br />

Sie an die Höhepunkte menschlicher Kulturen, die<br />

Glanzleistungen der Kunst und der Wissenschaft, das großartige,<br />

von Menschenhirnen geschaffene geistige Universum!”<br />

“Jede Faser unseres Körpers, jede Windung unseres Hirns,<br />

jedes Zittern unserer Seele ist Teil des Textes, der <strong>im</strong> Drehbuch<br />

der Schöpfung steht. Bemerken Sie den Kreis? Das Unentrinnbare?<br />

Das rotierende kosmische Theaterspiel?”<br />

Mit leeren Augen blickt der Künstler vor sich hin.


Visionen 501<br />

“Haben E-Wesen Sex?” n<strong>im</strong>mt der Physiker den Gesprächsfaden<br />

wieder auf. “Nein, natürlich nicht!”<br />

“Schade”, sagt der Maler, aber nur ganz leise.<br />

“Wozu auch? Ihre Fortpflanzung ist gesichert, ungetrübt durch<br />

Triebe. Nicht zuletzt das macht das Göttliche an ihnen aus.<br />

Auch Geschlechter gibt es selbstverständlich nicht. Die Vermischung<br />

genetischen Materials geschieht nach sorgfältig erforschten<br />

Regeln. Das Ergebnis wird getestet durch Exper<strong>im</strong>ente.<br />

Neue Energie-Materie-Konstellationen werden geplant,<br />

ihre Auswirkungen überprüft und schließlich gebilligt<br />

oder verworfen.”<br />

Einen Augenblick lang ist der Künstler sprachlos, fasziniert.<br />

Aber dann verdrängen Nachdenken und Kritik die Faszination.<br />

Das harte Furchengesicht verdunkelt sich: “Was Sie<br />

sich da so alles zusammendenken! Wie kommen Sie nur auf so<br />

etwas?”<br />

“Wie ich bereits angedeutet habe, hat mich eine Eingebung<br />

geleitet. Sie hat die Vorstellung in mir reifen lassen, daß die<br />

Schöpfung auch uns völlig fremde Formen von Leben hervorzubringen<br />

vermag. Da hat es mich gereizt, einmal ganz auf<br />

Empfang zu schalten, mich mit all meinen Sinnen auf von<br />

außen Kommendes einzustellen. Und dann habe ich das, was<br />

da an Gedanken und Visionen auf mich zuschwebte, tief in<br />

mich hineingesogen.”<br />

“Und so sind die E-Wesen in Ihre Welt gekommen?”<br />

“Ja.”<br />

“Und mit Ihren Vorstellungen über diese Wesen leben Sie<br />

seither.”<br />

“Ja.”<br />

Der Maler begreift plötzlich, daß die merkwürdigen Andeutungen<br />

des Wissenschaftlers über nächtliche Erscheinungen<br />

und Begegnungen <strong>im</strong> <strong>Park</strong> auf diese Weise ihre Erklärung finden.<br />

“Diese Wesen beginnen offenbar, Ihr Denken zu beeinflussen,<br />

Ihre Welt zu verändern.”<br />

“Ja.”


502 GÖTTER<br />

“Ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet?”<br />

“Was?”<br />

“Etwas, das Sie Religionsführern vorwerfen.”<br />

Achselzucken.<br />

“Sie haben gesagt, viele Religionsführer seien ganz und gar<br />

in der von ihnen erdachten Phantasiewelt zu Hause. Und Sie<br />

haben gesagt, daß es für so manchen Religionsführer eine<br />

schl<strong>im</strong>me Überraschung geben würde, wenn seine Phantasiewelt<br />

zusammenbräche.”<br />

Nicken.<br />

“Schauen Sie mal, da gibt es doch Parallelen zwischen Ihnen<br />

und den religiösen Männern.”<br />

Ein fragendes Gesicht.<br />

“Ist das nichts Paralleles, wenn Sie sich Eingebungen öffnen,<br />

die Ihnen angeblich aus dem Universum zuschweben,<br />

und wenn Sie diesen Eingebungen gestatten, von Ihnen oder<br />

von ihrem Hirn Besitz zu ergreifen? Leben nicht auch Sie da<br />

in einer Phantasiewelt? Und wird es dann nicht eines Tages<br />

auch für Sie eine schl<strong>im</strong>me Überraschung geben?”<br />

Der Wissenschaftler ist betroffen.<br />

Der Künstler genießt es, den anderen in Verlegenheit<br />

gebracht zu haben. Diesen Alleswisser, diesen Physiker-Biologen-Philosophen.<br />

Er grinst. Aus aufblitzenden Augenwinkeln<br />

sieht er, wie der Kiefer mahlt unter dem kahlen<br />

Schädeldach.<br />

Mit zusammengezogenen Brauen sinniert der Physiker vor<br />

sich hin. Gedankenverloren nickt er mehrmals. Sein Gefährte<br />

hat da einen kritischen Punkt angesprochen. Darüber<br />

muß er nachdenken. Aber er ist weit davon entfernt, seine<br />

Vorstellungen ungeprüft fallen zu lassen. Die haben für ihn<br />

<strong>im</strong> Laufe der Zeit einen sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad<br />

gewonnen. ‘Ich werde eine Bestätigung meiner Vorstellungen<br />

herbeiführen’, denkt er. ‘Oder deren Widerlegung. Ich werde<br />

eine unmittelbare Begegnung mit den Wesen erzwingen.<br />

Koste es, was es wolle!’


Gestaltungsgeschehen<br />

Gestaltungsgeschehen 503<br />

Künstler und Wissenschaftler erheben sich und beginnen<br />

einen neuen Rundgang um den See.<br />

“Sie haben”, sagt der Maler nach einer ganzen Weile, “<strong>im</strong>mer<br />

wieder von Ausreifungsplan und Ausreifungszwang<br />

gesprochen. Was meinen Sie damit?”<br />

Als der Physiker nicht antwortet fragt der Maler: “Sind das<br />

Manifestationen der Macht Ihres Gottes?”<br />

Der Physiker schweigt.<br />

“Was ist der Kern der Macht Gottes?”<br />

Der Physiker sieht sich um als suche er etwas. Sein Gesichtsausdruck<br />

läßt darauf schließen, daß er aus tiefen Gedanken<br />

zurückkehrt. Er räuspert sich. “Zweierlei”, sagt er nun<br />

mit fester St<strong>im</strong>me: “Die Gesetze, nach denen das Entfalten<br />

und Zusammenstürzen des Universums erfolgt – vorbest<strong>im</strong>mt<br />

<strong>im</strong> Ganzen aber <strong>im</strong>mer wieder neu gestaltet <strong>im</strong> Detail. Und<br />

die Zeit, die unendliche, unwiderbringlich still dahinziehende<br />

Zeit, in der die Schöpfung ausreift, sich vollendet und vergeht<br />

– in ewigem Wechsel.”<br />

“Was genau bedeutet ausreifen?”<br />

“Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Aber ich habe da so<br />

meine Vorstellungen.”<br />

“Ich bin gespannt! Wie ein Flitzbogen!!”<br />

“Das ist ein kompliziertes Thema. Haben Sie Zeit und Geduld?”<br />

“Nur los! Für so was hab ich <strong>im</strong>mer Zeit. Mit der Geduld ist<br />

das schon eher ein Problem.” Ein gewitztes, wißbegieriges<br />

Grinsen zieht die Wulstlippen in die Breite. “Aber ich werde<br />

mir Mühe geben.”<br />

Die beiden setzen sich auf eine Bank am Ostufer des Sees.<br />

Auf dieser Bank waren dem Physiker <strong>im</strong>mer wieder besondere<br />

Vorstellungen zugeschwebt. Und hier haben manche davon,<br />

so meint er jedenfalls, erst in der letzten Nacht eine faszinierende<br />

Bestätigung erfahren – in Form von außergewöhn-


504 GÖTTER<br />

lichen Erscheinungen. Die Bank ist ein Stück vom Wegrand<br />

zurückgesetzt worden, weiter als die anderen. Zur Rechten,<br />

zur Linken und in ihrem Rücken ist sie von dicht stehenden<br />

Büschen umgeben. Man sitzt hier wie in einem Erker. Hier<br />

kann man völlig in sich versinken, tief in sich hineinsehen.<br />

Ein tiefer Blick verlangt nach tiefer Entrücktheit. Nur in einer<br />

sich ganz dem innersten Wesen des Universums öffnenden<br />

Einsamkeit kann dem Menschen die Gnade besonderer<br />

Einsichten zuteil werden.<br />

Der Physiker n<strong>im</strong>mt die Brille ab, putzt sie, hält sie gegen<br />

den H<strong>im</strong>mel, prüft, ob alles ganz sauber ist. Putzt sie erneut<br />

und setzt sie nun zurück auf die Nase. Abwesend schiebt er<br />

sie hoch, exakt auf ihren Platz. “Schaffen Sie Raum in Ihrem<br />

Kopf”, sagt er, “bereiten Sie sich vor auf etwas Neues.”<br />

Ungeduldig nickt der Maler.<br />

“Auf Ihre Bitte hin habe ich ein Bild entworfen darüber, wie<br />

die Wissenschaft das Universum sieht. Darauf baue ich jetzt<br />

auf. Aber das, was ich Ihnen heute darlege, ist nicht das<br />

Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, sondern der Versuch<br />

einer Synthese von wissenschaftlichem Erkennen und intuitivem<br />

Erahnen.”<br />

“Paßt denn das zusammen?”<br />

“Das ist die einzige Möglichkeit, über den Zaun zu spähen,<br />

den die Schöpfung um uns zieht – jedenfalls ein winziges<br />

Stückchen.”<br />

Den Maler überrascht diese Akzentverschiebung in der Diskussion.<br />

“Sie verwirren mich”, flüstert er. Ohne daß ihm das<br />

bewußt wird, rückt die Hand den Hut zurecht. ‘Dieser Naturwissenschaftler!’,<br />

denkt er, ‘<strong>im</strong>mer mehr Rätsel gibt der mir<br />

auf. Immer mehr entwurzelt der mich.’ Verloren fährt der<br />

Handrücken über den Mund. Wie die erste Gebärde, so gehört<br />

auch die zweite nicht zum Repertoire seiner unbewußten Bewegungen.<br />

Dunkle Erinnerungen huschen umher <strong>im</strong> Maler.<br />

Das Echo nächtlicher Freundschaften hallt durch den Leib.<br />

“Schon meine erste Behauptung wird Sie überraschen: Alle


Gestaltungsgeschehen 505<br />

Materie, nichts als gefrorene Energie, ist potentiell lebendig<br />

und potentiell intelligent. Energie und Materie, zwei Erscheinungsformen<br />

ein und derselben Sache, besitzen unvorstellbar<br />

große Möglichkeiten der Organisation und Ausreifung. Die<br />

Phänomene, die eine Ausreifung dieser Möglichkeiten über<br />

Milliarden von Jahren steuern, die fasse ich zusammen in<br />

dem Begriff ‘Gestaltungsgeschehen’.”<br />

“Diesen Begriff hatten Sie bereits erwähnt. Was ist das?”<br />

“Ein ewiges Urprinzip.”<br />

“Woher haben Sie dieses Wissen?”<br />

“Das ist kein Wissen. Das ist eine Hypothese. Das von mir<br />

postulierte Gestaltungsgeschehen ist universumweit wirksam.”<br />

“Was bewirkt dieses Geschehen für mich?”<br />

“Am Anfang gibt das Gestaltungsgeschehen dem Universum<br />

– ebenso wie einem Menschen – nur die Erstausstattung mit,<br />

nur den Grundbauplan, die Grundfunktionen. Die Ausstattung<br />

mit Speziellem erfolgt erst <strong>im</strong> Laufe der Ausreifung.”<br />

“Wodurch?”<br />

“Durch Schlüsselereignisse. Deren Wirksamkeit erreicht ihr<br />

Max<strong>im</strong>um während best<strong>im</strong>mter Entwicklungszustände. Da<br />

gibt es Fenster, wie be<strong>im</strong> Start einer Weltraumrakete.”<br />

“Ich bin ohne derartige Fenster aufgewachsen.”<br />

“Wie bei anderen Menschen, so wurden auch in Ihrem Körper<br />

und in Ihrem Hirn best<strong>im</strong>mte Eigenschaften und Fähigkeiten<br />

vor allem in Zeitfenstern festgelegt.”<br />

“Bitte erläutern Sie mir das.”<br />

“In der frühen Individualentwicklung prägen Reize – Bilder,<br />

Sprache, Musik, Lernen, Zwischenmenschliches – Verhalten,<br />

Wissen und Können eines Menschen.”<br />

“Wie?”<br />

“Die Reize st<strong>im</strong>ulieren Nervenzellen. Die produzieren daraufhin<br />

Transmittersubstanzen. Und diese wiederum induzieren<br />

Verbindungen und Schaltstellen zwischen Nervenzellen.<br />

Mit anderen Worten: Sie bauen die Feinvernetzung des<br />

Nervensystems auf. So reifen, auf der Basis der Grundaus-


506 GÖTTER<br />

stattung und des Ererbten, die Besonderheiten einer Individualität.<br />

Reize aktivieren und dirigieren, chemische Substanzen<br />

locken und verlegen, Nervenwachstum verbindet und verschaltet.<br />

In seiner Essenz kann das Ergebnis derartiger<br />

Prägungsvorgänge über ein Menschenleben erhalten bleiben.”<br />

Der Physiker denkt nach. Dann sagt er: “Das Gestaltungsgeschehen<br />

ist unzerstörbar. Aus ihm heraus programmiert<br />

sich nach jeder Schöpfungsexplosion ein neues Universum.<br />

Das Gestaltungsgeschehen gebiert, evolviert, kontrolliert und<br />

liquidiert alles.”<br />

“Langsam”, ruft der Maler, “langsam! Ich komme nicht mit!<br />

Wie paßt denn das in unsere Welt?”<br />

“Wir sehen nur einen kleinen Teil Welt! Alles, was wir sehen,<br />

was wir erleben, alles Tote und Lebendige, das sind nur die<br />

für uns wahrnehmbaren materialisierten Nadelspitzen der<br />

Schöpfung. Und selbst davon sehen wir nur den Widerschein.”<br />

“Was soll denn das nun wieder heißen?”<br />

“Das ist ein bißchen so wie mit dem Licht. Auch das Licht<br />

können wir nicht sehen. Nur dessen Widerschein von Gegenständen,<br />

auf die es trifft. Was die Welt wirklich ausmacht,<br />

ihre Essenz, ihr Wesen – das ist mit unseren Sinnesorganen<br />

nicht erfaßbar und mit unseren Apparaten nicht meßbar.”<br />

“Was ist die Essenz?”<br />

“Das Gestaltungsgeschehen. Es läßt alles Materielle aus<br />

dem Nichts, aus Energie, hervorgehen und wieder darin<br />

verschwinden. In einem unvorstellbar gewaltigen kosmischen<br />

Theaterspiel zwingt es alles dazu, in Milliarden von Jahren<br />

auszureifen. Unaufhaltsam drängt es vorwärts, <strong>im</strong>mer nur vorwärts.<br />

Und schließlich läßt es alles so Entstandene wieder<br />

vergehen, wieder zu Energie werden – in ewigem Wechsel ein<br />

ewiger Kreis.”<br />

“Immer da, aber nie geworden?<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Was, zum Teufel, bedeutet das?”<br />

“Das ist die Geschichte vom Sein und vom Nichtsein.”


Gestaltungsgeschehen 507<br />

“Was ist Nichtsein, was Sein? Und wie paßt die Schöpfung<br />

da rein?”<br />

“Nichtsein ist der Kern des Gestaltungsgeschehens. Dessen<br />

Wirkung ist das Werden. So formt das Gestaltungsgeschehen<br />

das ausreifende Sein. Das Formen ist der Schöpfungsakt, sein<br />

Ergebnis, die Schöpfung.”<br />

“Dann ist das Gestaltungsgeschehen Gott?”<br />

“Es ist sein Wille.”<br />

Der Maler schluckt. “Die Schöpfung”, fragt er erregt, “ist sie<br />

ewig?”<br />

“Nein. Das Gestaltungsgeschehen ist ewig. Die Schöpfung<br />

ist etwas sich <strong>im</strong>mer wieder Erneuerndes.”<br />

“Erklären!”, schreit der Maler außer sich. “Erklären!! Wo ist<br />

der Motor? Welche Kraft treibt die Ausreifung?”<br />

“Eine besondere Form von Energie. Die Physik kennt nur<br />

‘Arbeitsenergien’: Potentielle Energie, Bewegungsenergie,<br />

Wärmeenergie, Gravitationsenergie. Meiner Ansicht nach ist<br />

der Motor eine Urenergie, eine Kraft, die das geordnete Werden,<br />

Ausreifen, Vergehen und Wiederwerden des Universums<br />

überhaupt erst möglich macht. Eine kosmische Energie. Die<br />

Energie des unermeßlichen Reiches der <strong>im</strong>materiellen Erscheinungen.”<br />

“Teufel auch, was ist das für eine Energie?”<br />

“Ich nenne sie Organisationsenergie.”<br />

“Sie erschlagen mich mit Ihren Begriffen! Und Sie verwirren<br />

mich mit Ihren Vorstellungen! Was ist das, Organisationsenergie?”<br />

“Organisationsenergie enthält die Uridee, das Urprogramm<br />

des Universums. Sie ist vor der Materie da. Sie ist die Mutter<br />

aller Strukturen und aller Funktionen. Sie erfüllt und durchströmt<br />

den gesamten Kosmos, in örtlich unterschiedlicher<br />

Stärke und Wirksamkeit.”<br />

“Was bedeutet das für mich?”<br />

“Organisationsenergie ist überall. Sie liefert Antrieb und<br />

Plan für alles. Das reicht von den Galaxien, bis hin zu den


508 GÖTTER<br />

einzelnen H<strong>im</strong>melskörpern, von den Lebenssystemen, bis hin<br />

zu den einzelnen Lebensformen – also auch zu Ihnen, zu Ihrer<br />

geistigen und körperlichen Einmaligkeit.”<br />

“Zu viel ‘überall’! Zu viel ‘alles’!”<br />

“Überall herrschen die gleichen Kräfte, alles unterliegt den<br />

gleichen Gesetzen.” Der Physiker schweigt einen Augenblick.<br />

Dann sagt er: “Ohne Organisationsenergie kann keine Ordnung<br />

entstehen, sich erhalten und fortentwickeln. Um die in<br />

ihr schlummernden Möglichkeiten zu realisieren, benötigt sie<br />

unvorstellbar viel Zeit und über lange Zeitspannen berechenbare<br />

physikalische und chemische Bedingungen.”<br />

Chaos<br />

“Sie tun so, als habe alles seine gute Ordnung. Andere Physiker<br />

aber sehen Unordnung, Chaos.”<br />

“Was meinen die damit?”<br />

“Unberechenbarkeit, Zufall, Unvorhersagbarkeit – <strong>im</strong><br />

Grunde also gesetzloses Verhalten.”<br />

“Gesetzloses kann nur erkennen, wer um die Gesetze weiß.”<br />

“Und?”<br />

“Die Menschen wissen zu wenig über die Gesetze.”<br />

Der Maler wiegt den Kopf. Er überlegt. Dann sagt er: “Gibt<br />

es Übergänge zwischen Ordnung und Unordnung?”<br />

“Im Universum wird ständig Ordnung aus Unordnung und<br />

Unordnung aus Ordnung.”<br />

“Ihre Kollegen erwecken den Eindruck, als hätten sie das<br />

Phänomen des Chaos gerade eben entdeckt.”<br />

“Physiker haben bisher vor allem in Zuständen der Ordnung<br />

gedacht und gerechnet. Für sie ist die Begegnung mit dem<br />

Chaos daher eine aufregende Sache. Biologen haben schon<br />

lange mit dem Chaos gelebt. Für sie gehören Ordnung und<br />

Unordnung zusammen wie Leben und Tod.”<br />

“Was ist Chaos für Sie?”


Chaos 509<br />

“Ein Teil der Ordnung. Sozusagen programmierte Unordnung.<br />

Für mich ist Chaos ein Motor für die Ausreifung der<br />

Materie, der toten wie der lebendigen.”<br />

“Wo ist Unordnung ein Teil der Ordnung?”<br />

“Zum Beispiel bei der Entstehung des Lebendigen.”<br />

“Dann ist Leben Ordnung und Tod Unordnung?”<br />

“Das wäre zu unscharf und auch nur zum Teil richtig. Es gibt<br />

Unordnung <strong>im</strong> Lebenden, zum Beispiel in der Evolution. Und<br />

es gibt Ordnung <strong>im</strong> Toten, zum Beispiel in Gesetzmäßigkeiten<br />

der Materiestruktur.”<br />

“Ist eine Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung<br />

<strong>im</strong> Bereich des Geistigen möglich?”<br />

“Auch da gibt es Übergänge.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Jeder Satz, den ich soeben gesprochen habe, war das Ergebnis<br />

eines Übergangs von Unordnung zu Ordnung. Ideen-<br />

Nebel und Gedankensplitter wurden geordnet zu Wörtern<br />

und Aussagen.”<br />

“Freilich! Nicht von ungefähr sagen wir: ‘ich muß erstmal<br />

meine Gedanken ordnen.’”<br />

“So ist es.”<br />

“Und was folgern Sie daraus?”<br />

“Nicht, was ist Ordnung, ist die Frage, nicht, was ist Unordnung.”<br />

“Sondern?”<br />

“Welche Kraft ist hier am Werk? Wie schafft sie Ordnung,<br />

wie Unordnung?”<br />

“Und welche Kraft ist da am Werk?”<br />

“Die Kraft, die ich als Organisationsenergie bezeichne.”<br />

“Und da wären wir wieder am Ausgangspunkt.”<br />

“Ja. Ich vermute, daß es eine materielose Grundkraft gibt.<br />

Ein Urgeschehen, das alles und jedes hervorbringt, also auch<br />

alles für uns Erlebbare. Ein Urgeschehen, das alles entwickelt,<br />

steuert und wieder vergehen läßt.”<br />

“Und welche Bedeutung könnte dabei dem Chaos zukommen?”


510 GÖTTER<br />

“In der Welt <strong>im</strong> Kleinen wie in der Welt <strong>im</strong> Großen vermögen<br />

winzige Ursachen riesige Wirkungen zu erzeugen, unvorhersagbar<br />

<strong>im</strong> einzelnen, aber vorbest<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> ganzen. Hier könnte<br />

‘geplante’ Unordnung eine innovative Wirkungsdynamik entfalten.<br />

Aber ich gehe davon aus, daß es Chaos außerhalb der<br />

Naturgesetze nicht gibt, nicht geben kann. Im Chaos würfelt<br />

die Ordnung um neue Möglichkeiten, sich zu manifestieren.”<br />

“Welche Rolle spielt dabei die Zeit?”<br />

“In unendlich kleinen und in unendlichen großen Zeitspannen<br />

verschw<strong>im</strong>men die Begriffe. Auch so kann Ordnung zu<br />

Unordnung und Unordnung zu Ordnung werden.”<br />

“Wo bleibt in Ihrem Weltverständnis der Ausgleich, wo Ruhe,<br />

wo Entspannung?”<br />

“Es gibt nichts Ausgeglichenes, nichts Ruhendes, nichts<br />

Spannungsfreies. Das erste Grundgesetz des Universums<br />

heißt ewige Bewegung, ewiger Auf- und Abbau von Ungleichgewichten,<br />

ewige Spannung. Hier steht die Wiege von allem.”<br />

“Beispiele!”<br />

“Aufbau negativer Gravitationsenergie als Folge des Urknalls,<br />

deren Abbau be<strong>im</strong> Zusammenstürzen des Universums<br />

und deren abermaliger Aufbau be<strong>im</strong> nachfolgenden Knall.<br />

Entstehung von Materie aus Energie und deren Rückverwandlung<br />

in Energie. Universumweite Abstoßung und Anziehung.<br />

Schwingungsberg und Schwingungstal. Schaffung<br />

und Vernichtung von Komplexem. Billiardenfaches Borgen<br />

und Rückzahlen von Energie. Eines bedingt das andere. In<br />

stetem Wandel. Daher gibt es auch keinen Anfang und kein<br />

Ende. Alles ist in ständigem Fluß. In ewigem Reigen ein<br />

ewiger Ring.”<br />

Gedankentheater<br />

“Ihr Gestaltungsgeschehen, Ihre Organisationsenergie”, quillt<br />

es aus dem Maler hervor, “beinhalten sie auch menschliche


Gedankentheater 511<br />

Schöpfungen? Wenn ich male, fließen mir da Ihrer Ansicht<br />

nach auch Kräfte zu, die auf die Organisationsenergie zurückgehen?”<br />

“Meiner Ansicht nach, ja.”<br />

“Wie soll das funktionieren?”<br />

“Wie ich schon sagte, sind wir letztlich nichts anderes als<br />

winzige Funken des gewaltigen Feuers, das sich vor Milliarden<br />

von Jahren entzündet hat. Nichts anderes als zeitlich und<br />

räumlich begrenzte Wirbel von in best<strong>im</strong>mter Weise angeordneten<br />

Teilchen.”<br />

“Wie kann daraus Ganzheit, wie eine neue Qualität entstehen?”<br />

“Die einzelnen Teilchen beeinflussen sich gegenseitig. Und<br />

sie entwickeln kollektive Verhaltensweisen, welche ihrerseits<br />

Eigenschaften der Einzelteilchen verändern. So kann das Zusammengesetzte<br />

innere Identität und Zusammenhalt gewinnen.<br />

Und so vermag es, <strong>im</strong>mer wieder neue Eigenschaften,<br />

neue Qualitäten zu entwickeln.”<br />

“Was hat das mit mir zu tun?”<br />

“Wie bei anderen Menschen, so wird auch bei Ihnen ein Teil<br />

des Kreisens und Wirbelns in Gedanken umgewandelt, in Gefühle,<br />

Ideen, Verlangen, Triebe, Ängste.”<br />

Der Maler ist äußerst erregt. Sein ganzes Wesen rebelliert:<br />

‘Das geht zu weit!’, schreit eine St<strong>im</strong>me in ihm. Und dann<br />

denkt er: ‘Mein Empfinden ist zu eng für die Welt dieses<br />

Wissenschaftlers. Dessen visionäres Eindringen in universale<br />

Zusammenhänge kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin<br />

zu gefühlsorientiert, um Tod und Leben zusammenzudenken,<br />

um in Stein und Fleisch das Gleiche zu sehen.’<br />

Erst gestern nacht hatte er verloren vor leerer Leinwand<br />

gehockt. Wieder wollte er die Essenz dessen, was für ihn der<br />

Engel ist, in Ölfarben bannen. Vergeblich! Da hatte er den<br />

Kopf gesenkt und schließlich wie <strong>im</strong> Traum auf die Leinwand<br />

gepinselt:


512 GÖTTER<br />

Ich gehe und gehe<br />

Ich weiß nicht wohin<br />

Ich suche und suche<br />

Ich weiß nicht warum<br />

Licht am Weg, Höhe, Erfüllung<br />

Dunkel <strong>im</strong> <strong>Suchen</strong>, Tiefe, Verzweiflung<br />

Wo bin ich?<br />

Ich weiß nicht wo<br />

Wer bin ich?<br />

Ich weiß nicht wer<br />

Und dennoch: Ich bin<br />

Und weiter: Ich muß<br />

Jetzt zerren dünne Finger am weißen Hut. Unwirsch wendet<br />

sich der Künstler dem Wissenschaftler zu: “Sie verlassen<br />

die Pfade der Realität. Ich sehe diese Dinge anders! Ganz anders!!”<br />

Doch der Physiker reitet ihm davon: “Das Schwingen, Wirbeln<br />

und Kreisen, aus dem unsere Gedanken und Empfindungen<br />

sich formen, hat sozusagen ein Innen und ein Außen.<br />

Innen wohnen die speziellen Kräfte, die unsere Einmaligkeit<br />

als Teil des Ganzen ausmachen, außen die allgemeinen.<br />

Genau genommen gibt es natürlich kein separates Innen und<br />

Außen, aber diese Vorstellung erleichtert das Verständnis<br />

dessen, was ich ausdrücken möchte. Innen sind unsere individuellen<br />

Eigenarten, Fähigkeiten und Erfahrungen, unser<br />

Gedächtnis und unser Vermögen, Gespeichertes und Erfahrenes<br />

selektiv vorübergehend zu aktivieren und auf die Bühne<br />

des Bewußtseins zu rufen, es also stückchenweise zu erleben<br />

und darüber nachzudenken. Außen ist das uns tragende Lebenssytem,<br />

die Natur, das Universum. Das Theater unserer<br />

Gedanken und Gefühle empfängt Anregungen vom Innen und<br />

vom Außen.”


Gedankentheater 513<br />

In hilfloser Verwirrtheit ruft der Maler: “Und aus diesem<br />

Anregungssalat soll Vernünftiges entstehen können?”<br />

“Ich sehe das nicht als Salat.”<br />

“Wie kann eins zum andern finden?”<br />

“Durch Abst<strong>im</strong>mung der Wellenlängen.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Ein best<strong>im</strong>mter Mensch kann <strong>im</strong>mer nur das empfangen<br />

und erleben, was seiner Empfangsausstattung gemäß ist.”<br />

“Das ist mir aber ein sonderbares Theaterspiel! – Was ist da<br />

meine Rolle?”<br />

“Die eines Zukuckers.”<br />

“A … aber”, stottert der Maler, “a … aber …”<br />

“Sind wir nicht alle Zukucker?”<br />

“W … wie … ?”<br />

“Und Darsteller. Und manchmal auch Regisseur.”<br />

“Regisseur? Ich denke wir sind Teil.”<br />

“Teil <strong>im</strong> Weltgeschehen. Regisseur <strong>im</strong> Theater unserer Gedanken.<br />

Wie kein anderes Wesen auf der Erde kann der<br />

Mensch versuchen, in das Theaterspiel seiner Gedanken und<br />

Vorstellungen einzugreifen und so Akzente zu setzen. Wie kein<br />

anderes Wesen kann er auf der Bühne seines Bewußtseins<br />

verschiedene Gegebenheiten und Möglichkeiten gedanklich<br />

durchspielen. Und er kann danach streben, die sich daraus ergebenden<br />

Konsequenzen abzuschätzen und zu berücksichtigen.”<br />

“Ein Gedankentheater!”<br />

“Ja. Und mitten auf der Bühne dieses Gedankentheaters<br />

steht die Wiege der Menschlichkeit. Hier wurde die Menschenwelt<br />

geboren.”<br />

Wieder ist der Künstler aufs höchste erregt. Wieder ist er<br />

ganz und gar <strong>im</strong> Bann der Ideen des Wissenschaftlers: “Sie<br />

haben von Außenbotschaften gesprochen, die unser Gedankentheater<br />

beeinflussen.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Wie sollen uns Botschaften von außen erreichen?”


514 GÖTTER<br />

“Wenn ich einen Gedanken, eine Idee, auf die Bühne meines<br />

Bewußtseins stelle, wenn ich mich darauf konzentriere, wenn<br />

die Kulisse die richtige ist und wenn die St<strong>im</strong>mung paßt,<br />

dann kommt Verwandtes dazu. Nicht selten etwas, das nicht<br />

zu meinem Erlebnisschatz, zu meinem Gedächtnis, gehört:<br />

Darsteller und Botschaften also, die von außen kommen. Sie<br />

agieren, verändern und gestalten. Ich hocke dann in einer<br />

dunklen Ecke meines Bewußtseins und sehe und höre dem<br />

Geschehen zu, stumm, gebannt, fasziniert.”<br />

“Was verstehen Sie unter Bewußtsein?”<br />

“Zunächst einmal das, was wir in einem best<strong>im</strong>mten Augenblick<br />

gewahr werden. Sodann aber auch das, was wir davon<br />

gedanklich bewältigen, also begreifen können. Und schließlich<br />

das, was wir von dem Begriffenen in Worte zu fassen vermögen.<br />

Es gibt also verschiedene Ebenen von Bewußtsein, sozusagen<br />

verschiedene Scharfeinstellungen. In seiner höchsten<br />

Form ist Bewußtsein die letzte Kontrollinstanz des Hirns.<br />

Hier gewahrt und bewertet es einen Teil seiner eigenen Arbeit.”<br />

“Ja”, sagt der Maler nach einigem Nachdenken, “ja, das ist<br />

eine faszinierende Sache.”<br />

“Welche Sache meinen Sie jetzt?”<br />

“Ich meine diesen Übergang von zunächst ganz gehe<strong>im</strong>en<br />

Gedanken zum gesprochenen oder geschriebenen Wort.<br />

Dieses Hinaustreten von Privatem aus der Welt des Eigenen,<br />

<strong>Inter</strong>nen in die Welt des Fremden, Öffentlichen – in die Welt<br />

der Allgemeinheit.”<br />

“Das empfinde ich ganz ähnlich. Auf einmal steht man nackt<br />

da. Ist von jederman zu besichtigen. Ist Gegenstand geworden<br />

von Diskussionen, Beurteilungen, Verurteilungen. Das ursprünglich<br />

eigene lebt da irgendwo weiter, aber losgelöst von<br />

mir, Mißverständnissen preisgegeben, nicht länger veränderbar,<br />

nicht länger rücknehmbar, nicht mehr reprivatisierbar.”<br />

Der Maler nickt. “Das Gedankentheater hat auf einmal Zuschauer.”


Gedankentheater 515<br />

“Genauso ist es.”<br />

“Gibt es Bewußtwerden auch bei Tieren?”<br />

“Meiner Ansicht nach ja.”<br />

“Welche Funktion hat es dort?”<br />

“Es dient der Einordnung des Individuums in äußere Systembezogenheiten.<br />

Bewußtwerden ermöglicht eine schnelle<br />

Veränderung und Anpassung von Verhaltensstrategien. Das<br />

ist besonders wichtig bei Lebensformen, die <strong>im</strong>mer wieder<br />

rasch neue Probleme und neue Situationen meistern müssen.<br />

Wollte die Natur für all das erblich fixierte, also angeborene<br />

Reaktionsbahnen bereithalten, so müßte das zu Überbelastungen<br />

und zu evolutiven Erstarrungen führen.”<br />

“Bewußtwerden ist nicht <strong>im</strong>mer das Resultat einer eigenen<br />

geistigen Leistung?”<br />

“Nein. Ein Schmerz, ein aus den Tiefen des Leibes aufsteigendes<br />

Bedürfnis, ein Trieb, können so stark werden, daß sie<br />

von sich aus die Grenze zur Bewußtwerdung überschreiten,<br />

ja, daß sie das ganze Bewußtsein ausfüllen. Der Geist muß dabei<br />

nicht beteiligt sein.”<br />

“Glauben Sie, daß das Bewußtsein eine materielle Grundlage<br />

hat? Die Dualisten behaupten ja, Geist und Materie seien<br />

etwas voneinander Verschiedenes, Unabhängiges. Aber moderne<br />

Neurologen hoffen, dem Nachweis nahe zu sein, daß<br />

Geist und Bewußtsein eine materielle Basis haben.”<br />

“Eine materielle Basis, ja, aber das bringt uns nicht weiter.<br />

Am Anfang von allem, auch des Bewußtseins und des Geistes,<br />

steht das Nichtmaterielle. Die Materie ist nicht der Ausgangspunkt,<br />

sondern die Konsequenz der hier wirksamen Kräfte.”<br />

Der Physiker schweigt eine Weile. Dann sagt er: “Kräfte, die<br />

von außen kommen, wirken von überall her auf die Erde ein.<br />

Ohne sie könnte die Erde nicht ihre Position <strong>im</strong> Universum<br />

einnehmen und nicht geregelt ihre Bewegungen ausführen.<br />

Alles Leben auf der Erde ist in Wirkungsfeldern von Kräften<br />

entstanden, die von außen kommen. Unter dem Einfluß von<br />

Außenkräften ist es so geworden, wie wir es heute vorfinden.


516 GÖTTER<br />

Und auch jetzt noch, jeden Tag, wird das Leben auf der Erde<br />

von Außenkräften beeinflußt und geformt.”<br />

“Was sind das für Kräfte?”<br />

“Es sind universumweit wirkende Kräfte: Elektromagnetische<br />

Phänomene. Strahlung, Energie- und Materieströme,<br />

materielle und <strong>im</strong>materielle Wellen, Gravitation, Magnetfelder.<br />

Das Leben auf der Erde bedarf dieser Kräfte. Sie liefern<br />

Energie, Botschaften, Direktiven. Sie beeinflussen Lebensvorgänge,<br />

Verhaltensweisen, Wanderungen und Fortpflanzungsrhythmen.”<br />

“Wie können diese Kräfte auf uns einwirken?”<br />

“Unsere Übergangszone von außen nach innen, die Haut,<br />

kann wie eine Antenne wirken.”<br />

“Uups! Ich habe meine Haut noch niemals als Antenne empfunden!”<br />

“Die Haut ist unser größtes Organ. Während der Individualentwicklung<br />

entsteht sie aus dem gleichen Ke<strong>im</strong>blatt, aus<br />

dem auch Nerven und Sinnesorgane entstehen. Haut, Hirn<br />

und Sinnesorgane sind verwandte Strukturen. Viele einfach<br />

konstruierte Organismen sehen und hören mit ihrer Haut.<br />

Diese Fähigkeiten sind be<strong>im</strong> Menschen verkümmert. Aber<br />

sie sind da.”<br />

“Ich sehe mit den Augen! Ich höre mit den Ohren!”<br />

“Beides Hautverwandte.”<br />

“Weiter!”<br />

“Von außen, also auch aus dem Universum kommende Informationen<br />

können über die Haut Kontakt mit dem Hirn aufnehmen.”<br />

“Zur Hölle auch! Wie soll das funktionieren?”<br />

“Sie haben eben gesagt, daß Sie die Welt mit ihren Augen<br />

erleben.”<br />

“Ja.”<br />

“Was passiert da?”<br />

“Ich sehe.”<br />

“Und wie funktioniert das?”


Als der Maler nicht sogleich antwortet, sagt der Physiker:<br />

“Strahlung von außen – Licht von Sonne, Mond, Sternen,<br />

Lampen – trifft auf einen Gegenstand, sagen wir mal auf ein<br />

hübsches blondes Mädchen.”<br />

‘Engel!’, durchzuckt es den Maler. ‘Engel!!’<br />

“Das Mädchen reflektiert die Strahlung. Ein Teil der reflektierten<br />

Strahlung trifft auf die Licht perzipierenden Teile Ihres<br />

Auges. Von da dringt die empfangene Information ins<br />

Hirn. Dort entsteht ein Bild von dem Mädchen – ein Bild, dessen<br />

Eigenart letztlich auch von Ihrer Eigenart abhängt, von<br />

Ihrer Erfahrungswelt, ja von Ihrer St<strong>im</strong>mungslage.”<br />

‘Mein Gott!’, denkt der Maler. ‘Mein Gott!!’ Er zittert. ‘Gott<br />

sei mir Sünder gnädig!!’<br />

“Ich vermute nun, daß bei sensiblen Menschen vielerlei<br />

Außenbotschaften über die Haut ins Unterbewußtsein gelangen,<br />

dort reifen und ins Bewußtsein dringen. Daß sie nicht<br />

selten überraschend anmutende Einsichten, Erkenntnisse<br />

und Ängste konstellieren, die den Eindruck erwecken, sie<br />

seien in uns geboren.”<br />

Der Maler ist völlig in sich zuammengesunken.<br />

Ballons<br />

Ballons 517<br />

“So wie ich das sehe”, fährt der Physiker fort, “existieren alle<br />

großen Ideen, Gedanken und Empfindungen in ihrer Essenz<br />

bereits vor uns, außerhalb von uns – als Teil des universumweiten<br />

Gestaltungsgeschehens. Wie zarte Ballons schweben<br />

ihre Rohformen aus dunklen Nebelwolken in die Tageshelle<br />

unseres Bewußtseins. Wie Schmerzen kommen sie zu uns –<br />

wie Schmerzen, die lange vorher da waren, die uns aber erst<br />

wahrnehmbar, erst bewußt werden, wenn sie eine unsichtbare<br />

Intensitätsgrenze überschreiten.” Der Physiker schiebt die<br />

Brille hoch und blickt kopfdrehend weit über den See, als<br />

suchte er dort etwas. Kaum vernehmbar sagt er: “Und unsere


518 GÖTTER<br />

intensivsten Gedanken und Gefühle, sie können auch in sonderbarer<br />

Weise aus uns hinauswirken.”<br />

Scheinbar abwesend, tatsächlich aber ganz konzentriert in<br />

sich hineinsehend, sagt der Physiker: “In mir ist die Vorstellung<br />

gereift, daß die Urformen emotionaler Energien, geistiger<br />

Kräfte und Ideen ewig da waren und ewig da sein werden.<br />

Alles, was die Menschen je an großen Gedanken, Kompositionen,<br />

Bildern, Schriftwerken oder Erfindungen hervorgebracht<br />

haben, alles Bedeutende, das sie je empfunden und<br />

je gedacht haben, ja, alles, was sie überhaupt empfinden und<br />

denken können – all das ist in seiner Essenz bereits <strong>im</strong><br />

Gestaltungsgeschehen enthalten und vorweggenommen.”<br />

Der Maler macht einen Versuch, zu protestieren. Aber sein<br />

Gefährte n<strong>im</strong>mt das gar nicht wahr.<br />

“Selbst unsere größten Philosophen, Künstler und Wissenschaftler,<br />

sie haben niemals etwas wirklich noch nie Dagewesenes<br />

empfunden oder gedacht. Sie haben niemals etwas erfunden.<br />

Sie haben <strong>im</strong>mer nur etwas gefunden oder nachempfunden,<br />

etwas <strong>im</strong> Gestaltungsgeschehen bereits Vorhandenes,<br />

etwas, das <strong>im</strong> Weltprogramm seit ewigen Zeiten existiert<br />

und ewig existieren wird.”<br />

“Schaun Sie mal, das ist doch …” Der Maler schüttelt verzweifelt<br />

den Kopf. “Wo bleiben denn da die Einzelleistungen<br />

großer Künstler, Erfinder und Wissenschaftler? Sie haben die<br />

größten Kulturleistungen der Menschheit hervorgebracht!<br />

Keinem Menschen ist jemals eine Ganzheitsahnung vom Wirken<br />

und Wollen der Natur zugeschwebt. Sonst hätte sich die<br />

Menschheit sicherlich anders entwickelt und anders verhalten.”<br />

“Ich habe nicht von großen, neuerkannten Zusammenhängen<br />

gesprochen, sondern von Denkanstößen, von Intuitionen, von<br />

der Essenz großer Gefühle, Erfindungen und Einsichten.”<br />

“Weiter!”<br />

“Wer dazu fähig ist, sich als ein Teil des Universums zu begreifen,<br />

wer sich dem Außen ganz zu öffnen vermag, der kann


Ballons 519<br />

Botschaften empfangen und Anregungen, die sein Weltverständnis<br />

verändern. Der Wesensgehalt des Empfangenen muß<br />

durch den Verstand erfaßt und formuliert werden. So kann<br />

das Empfangene durch Nachdenken und Erörterungen zu<br />

neuen Erfahrungen und Einsichten reifen.”<br />

“Wenn es st<strong>im</strong>men würde, daß dem Menschen wichtige Botschaften<br />

aus dem Gestaltungsgeschehen zuschweben, wo liegt<br />

der Übertragungsfehler?”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Warum sehen wir dann nur einen kleinen Teil der Welt?<br />

Warum nicht die ganze Welt?”<br />

“Der Mensch kann nur einen sehr kleinen Teil der Außenbotschaften<br />

wahrnehmen und selbst dieser Teil wird abgewandelt<br />

durch die spezifische Art, in der wir das Empfangene<br />

auswerten.”<br />

“Auch hier stoßen wir also wieder auf Ihr Restriktionsgesetz.”<br />

“So ist es.”<br />

“Und was ist mit einem kreativen Genie?”<br />

“Ein Genie ist ein besonders sensibler, phantasievoller und<br />

intelligenter Empfänger, Verabeiter, Ausdeuter und Wiedergeber<br />

von in der Natur Vorgegebenem. Diese meine Vorstellung<br />

erniedrigt einen genialen Menschen zu einer Art Reflektor,<br />

aber sie erhöht ihn auch zu einem besonderen Teil eines unerhört<br />

großen, eines unglaublich wunderbaren Ganzen. Wer<br />

sensibel ist und wer Geist hat, den vermögen viele Ballons zu<br />

erreichen. Und wer die Ballonbotschaften zu deuten, in Bilder,<br />

Worte oder Töne umzusetzen vermag, die in der Welt der Menschen<br />

laut und mächtig widerhallen, der ist ein großer Maler,<br />

Dichter, Denker oder Komponist. Die Auswahl, Deutung und<br />

Einordnung dessen, was da empfangen wird, das ist die eigentliche,<br />

die originäre Leistung der inneren Kräfte des Individuums.<br />

Diese meine Vorstellungen schließen auch Propheten<br />

ein und religiöse Botschaften. Hier vollendet sich also ein<br />

Kreis, der auch göttliche Offenbarungen umfaßt.”<br />

In seiner wachsenden Empörung hat der Künstler die letz-


520 GÖTTER<br />

ten beiden Sätze nicht zur Kenntnis genommen. Wütend<br />

springt er auf. Geduckt droht er mit dem Stock. Dann brüllt<br />

er den Wissenschaftler an: “Das ist alles, was meine Kreativität<br />

ausmacht? Mein Genie??”<br />

“Nicht alles”, lächelt der Physiker, “zu einem ordentlichen<br />

Genie gehört auch ein Löffel Eitelkeit, ein Körnchen Bosheit<br />

und eine Prise Ängstlichkeit.”<br />

“Sie!!!”<br />

Ungerührt vollendet der Physiker seinen Gedankengang:<br />

“Die Ballons schweben unmerklich herbei, scheinbar aus dem<br />

Nichts. Für mich kommen sie aus dem Gestaltungsgeschehen.<br />

Für mich sagen sie das – das Wenige – das wir von diesem<br />

Geschehen und seinen Botschaften begreifen können.”<br />

Diese Vorstellungen des Wissenschaftlers sinken tief ins<br />

aufgewühlte Hirn des Künstlers. Bis an sein Lebensende wird<br />

er sie nicht vergessen. “D … dann wären ja alle meine Bilder<br />

<strong>im</strong> Grunde Plagiate!”, brüllt er. Taumelnd sucht er nach Halt.<br />

Dann plötzlich fängt er sich wieder. Aufs höchste erregt trippelt<br />

er auf und ab vor der Bank.<br />

‘Verdammt nochmal!’, dröhnt es ihm <strong>im</strong> Schädel, ‘dieser<br />

Mann schadet meiner Schaffenskraft! Was, zum Teufel, nützt<br />

mir alles Wissen dieses Wissenschaftlers, wenn es mir den<br />

Glauben n<strong>im</strong>mt, den Glauben an meinen Gott, den Glauben an<br />

mich, den Glauben an meine Originalität, an meine Genialität?!’<br />

“N… nicht mein Werk!!”, kreischt der Bucklige wie von Sinnen.<br />

“Nicht mein Verdienst. Nicht meine eigene Leistung!!”<br />

“So ist es”, sagt der Physiker. “Jedenfalls fast so.”<br />

“A … alles schon dagewesen! A … alles nur Wiederholung.<br />

Das ist doch Wahnsinn!!”<br />

“Es ist nicht alles schon dagewesen. Wir müssen differenzieren.<br />

Immer schon dagewesen sind die großen Kräfte, die großen<br />

Gedanken, die großen Ideen. Immer schon dagewesen sind<br />

die Organisationsenergie, die Schöpfungsexplosion, der<br />

Milliarden von Jahren in Anspruch nehmende Ausreifungsprozeß<br />

und der alles Materielle wieder zerschmetternde Ver-


Ballons 521<br />

nichtungsprozeß. Und dies alles wird auch ewig da sein. Noch<br />

nicht dagewesen sind die Einzelheiten, ist das Individualisierte<br />

der Natur, das ständig neue Wege <strong>Suchen</strong>de, sich niemals<br />

Wiederholende, das <strong>im</strong>mer wieder neue Möglichkeiten hervorbringende<br />

Spiel, in dem sich die Grundkräfte der Schöpfung<br />

verwirklichen und erneuern.”<br />

“E … erklären!”, gurgelt der bebende Maler. “Erklären!!”<br />

“Jeder große Gedanke, jede große schöpferische Leistung,<br />

jede große religiöse Botschaft, sie alle bestehen aus <strong>im</strong>mer<br />

schon Dagewesenem und aus Neuem – aus von außen auf uns<br />

zuschwebenden Anregungen und aus dem, was unser individueller<br />

Geist daraus entstehen läßt.”<br />

Der Maler hebt abwehrend die Hand.<br />

“Alles, was wir sind”, fährt der Physiker fort, “alles, was wir<br />

erfahren und erlernt haben, unsere ganze unwiederbringliche<br />

Einmaligkeit als Individuum – das ist der Ort, an dem die<br />

Ballons Gedanken und Botschaften absetzen, das ist die Bühne,<br />

auf der die herbeischwebenden Darsteller ihre geisterhaften<br />

Tänze aufführen, auf der sie ihre Rollen spielen.”<br />

Lange schweigen die beiden.<br />

Schließlich fragt der Maler: “Und wo bleibt da Ihre Wissenschaft?”<br />

“Sie funktioniert nur innerhalb der Grenzen menschlicher<br />

Möglichkeiten. Nur hier vermag sie Gedankengebäude zu errichten,<br />

die in sich schlüssig wirken und dementsprechend als<br />

logisch oder als wahr empfunden werden. Wissenschaft ist in<br />

der Menschenwelt zu Hause.”<br />

“Da sind wir also schon wieder be<strong>im</strong> Restriktionsgesetz.”<br />

“Ja. Die Wissenschaft ist eine Konstruktion des Menschengeistes.<br />

Daher vermag sie dessen Grenzen nicht zu überschreiten.<br />

Aber unser Menschsein als Ganzes kann Botschaften von<br />

außerhalb der Grenzen empfangen und sie dem Hirn zuführen.<br />

So können wir darüber nachdenken. Und so können wir das<br />

Ergebnis des Nachdenkens überprüfen, indem wir es in Beziehung<br />

setzen zu wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisssen.


522 GÖTTER<br />

Nur wem es gelingt, Erforschbares zu bereichern mit Erfühlbarem,<br />

nur dem gewährt die Schöpfung einen flüchtigen Blick<br />

durchs Schlüsselloch. Aber selbst so ein flüchtiger Blick kann<br />

das Leben eines Menschen für <strong>im</strong>mer verändern.”<br />

Perlen<br />

Der Maler reißt den Hut vom Kopf. Schwankend geht er<br />

zurück zur Bank. Dort hockt er sich auf die Kante der Sitzfläche.<br />

“Natürlich”, sagt der Physiker, “erfordert alles Große Sensibilität<br />

und Geist. Ein Stumpfer kann keine großen Gefühle<br />

empfinden, ein Dummer keine großen Ideen gebären. Stumpfe<br />

und Dumme verharren in der Ebene. Ihnen sind Berge so fremd<br />

wie Täler.”<br />

Von Verkrampfung erlöst, rutscht der Maler in eine normale<br />

Sitzposition. Und dann, ganz plötzlich, gewinnt er inneres<br />

Gleichgewicht zurück. Er beginnt zu überlegen. Nach einiger<br />

Zeit sagt er: “Freilich, das sind große Gedanken.” Er legt Hut<br />

und Stock neben sich. “Da erkenne ich zwei Seiten menschlicher<br />

Existenz: die große universumweite und die kleine individuum-gebundene.<br />

Den endlosen Aspekt überpersönlichen<br />

Weltgeschehens und den endlichen Aspekt unserer vergänglichen<br />

Individualität. Das unsichtbare Zeitlose und das<br />

sichtbare Zeitliche. Hier verbindet ein großer Wurf sich<br />

scheinbar gegenseitig Ausschließendes.”<br />

Der Physiker nickt.<br />

“Im Rahmen des Endlosen”, überlegt der Maler weiter,<br />

“finden wir unsere Hoffnung auf Ewigkeit erfüllt, schwebt uns<br />

eine Ahnung zu von der Vollkommenheit des Universums, von<br />

der Gemeinsamkeit mit allem Lebenden, ja mit allen Kräften<br />

und Erscheinungsformen der Schöpfung überhaupt. Innerhalb<br />

der Grenzen des Endlichen wachsen, tanzen und vergehen unsere<br />

Ichs.” Er faßt an die Hutkrempe. “Hier reiht ein Gedanken-


Perlen 523<br />

faden Unterschiedliches zu Perlen einer Kette.”<br />

“Ja”, sagt der Physiker. “Und diese Kette führt zum Kern<br />

unseres Seins. Sie hilft uns, die Begrenztheit und Vergänglichkeit<br />

unserer Individualität zu erkennen und zu ertragen,<br />

und sie gibt uns die Möglichkeit, uns als einmaligen Wurf der<br />

Schöpfung <strong>im</strong> großen, ewigen Weltgeschehen wiederzufinden.”<br />

Der Physiker denkt nach. Langsam und best<strong>im</strong>mt sagt er<br />

dann: “Alles <strong>im</strong> Universum ist ein Prozeß. Nichts ist einfach<br />

da, alles geschieht. Die Zeit hat zwei Seiten: eine einmalige,<br />

irreversible, vorwärtsgerichtete und eine wiederkehrende, reversible,<br />

zyklische. Die irreversible Seite verleiht dem Ganzen<br />

ewigen Bestand, die reversible verleiht ihm erneuerbare Kreativität.”<br />

In sich versinkend n<strong>im</strong>mt der Maler seinen Spazierstock in<br />

die Hand und betrachtet dessen silbernen Handgriff. Stumm<br />

nickt er vor sich hin.<br />

Da faßt der Wissenschaftler seine Gedanken noch einmal<br />

zusammen. “Wenn also die Anregungen für unsere tiefsten<br />

Einsichten und größten schöpferischen Leistungen aus dem<br />

Gestaltungsgeschehen kommen, aus der großen Welt des<br />

Universums zu uns schweben – wer sind dann wir? Was sind<br />

wir?” Er blickt in die umherirrenden Augen des Künstlers,<br />

deren Schwarz ganz klein geworden ist, und deren Weiß bei<br />

jeder Augenbewegung hell aufblitzt. “Wer oder was sind wir<br />

wirklich, wenn nicht zuerst und vor allem ein Teil des Universums?<br />

Ein Teil der Organisationsenergie, der Schöpfung,<br />

ein Teil der Zeit?”<br />

Ganz tief sieht und horcht der Wissenschaftler in sich<br />

hinein. Mit fest geschlossenen Augen. Langsam hebt er den<br />

Arm. Wie <strong>im</strong> Traum malt seine ausholende Hand einen Halbkreis<br />

in die laue Abendluft. Dabei sagt er leise, kaum hörbar:<br />

“Es hängt alles zusammen. Es ist alles miteinander und ineinander<br />

verwoben.” Bewegt nickt er vor sich hin. “Alles ist<br />

auf dem Wege. Alles fließt. Alles reift und vollendet sich in<br />

innerer Ausgewogenheit.”


524 GÖTTER<br />

“Ich glaube”, flüstert der Maler, “an ein ewiges Wirken letzter<br />

Kräfte, Zwecke und Ziele.”<br />

“Daran glaube auch ich”, sagt der Physiker. “Aber ich glaube<br />

auch, daß wir diese niemals erkennen können.”<br />

Nach kurzem Schweigen fährt der Physiker fort: “Dennoch:<br />

ich bin mir gewiß – und diese Gewißheit gibt meinem Leben<br />

Inhalt und Bedeutung – daß ich ein Teil bin des universumweiten<br />

Gestaltungsgeschehens, des kosmischen Ozeans elektromagnetischer<br />

Phänomene. Und diese Gewißheit läßt mich<br />

auch daran glauben, daß die in meiner Einsamkeit und in<br />

meinem nach außen weit geöffneten Bewußtsein empfangenen<br />

Botschaften und meine darauf fußenden Einsichten und<br />

Erkenntnisse einen gewissen objektiven Wahrheitsgehalt besitzen.”<br />

Teufelswerk<br />

Der Künstler will das Thema wechseln, sich wieder den<br />

Realitäten seiner Welt zuwenden. “Sehen Sie sich um!”, ruft er.<br />

Mit steifem Rücken dreht er sich erst nach links und dann<br />

nach rechts. “Überall herrliche, friedliche Natur! Der See,<br />

die Büsche, die Bäume, die zwitschernden Vögel – überall<br />

herrscht Gottes segnende Hand. Überall herrscht tiefster<br />

Friede hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.”<br />

Diese Bemerkung holt den Naturwissenschaftler zurück in<br />

die Gegenwart. “Das Bild trügt”, sagt er. “Im <strong>Park</strong> herrscht<br />

Krieg. Die Vögel zwitschern nicht zu ihrem Pläsier und schon<br />

gar nicht zum Pläsier des Menschen. Mit ihrem Zwitschern<br />

signalisieren sie: ‘dies ist mein Revier, verschwinde hier oder<br />

es gibt Prügel!’”<br />

Das kommt dem Maler bekannt vor. Das berührt ihn sehr<br />

unangenehm.<br />

“Büsche und Bäume wachsen nicht friedlich nebeneinander.<br />

Sie kämpfen unablässig gegeneinander um Vorteile be<strong>im</strong>


Teufelswerk 525<br />

Zugang zu ihrer Energiequelle, dem Licht. Mit unerbittlich<br />

angewandten, ausgefeilten Tricks wachsen ihre Äste und<br />

Blätter so, daß sie opt<strong>im</strong>al das Licht ausnützen, und daß sie<br />

dem Konkurrenten die Energiezufuhr beschneiden. Selbst<br />

abfallende Blätter werden noch als Waffen benutzt. Sie<br />

decken kleinere Gewächse zu, setzen sie dem Lichtmangeltod<br />

aus. Bei manchen Bäumen sind die Blätter für Konkurrenten<br />

so giftig, daß dort, wo sie niedersinken, nicht einmal<br />

mehr Gras wachsen kann. Im Wurzelbereich machen die<br />

Pflanzen sich gegenseitig Wasser und Nährstoffe streitig,<br />

führen unerbittliche Umschlingungskämpfe und wenden die<br />

raffiniertesten und gemeinsten biologisch-chemischen Waffen<br />

an, mit deren Hilfe sie sich gegenseitig hemmen, schaden<br />

oder töten. Pflanzen haben die unglaublichsten Methoden<br />

der Ausbreitung, Kommunikation, Verteidigung und Kriegsführung<br />

entwickelt.”<br />

Der Physiker sieht auf seinen kleinen Gefährten herab.<br />

“Und erst der Krieg der Tiere! Ein riesiges, furchtbares Fressen<br />

und Gefressenwerden! Rücksichtslose Ausnutzung eigener<br />

Vorteile, gemeinste Methoden der Täuschung, hinterhältigste<br />

Fallenstellerei. Denken Sie nur einmal an die Spinnen,<br />

wie sie ihre Netze spannen, wie sie ihre noch lebenden<br />

Gefangenen mit klebrigen Fäden fesseln, wie sie ihre wehrlose<br />

Beute hängen lassen wie Räucherschinken, bis sie hungrig<br />

werden, und diese dann – <strong>im</strong>mer noch lebend – langsam,<br />

stückchenweise aussaugen. Ach, ich könnte stundenlang fortfahren,<br />

die Scheußlichkeiten zu beschreiben, welche das organische<br />

Leben auf dieser Erde hervorgebracht hat, aufgrund<br />

derer unsere belebte Erdenwelt funktioniert. Wenn das<br />

Geschehen dieser Erde eines besonderen Schöpfers bedurft<br />

hätte – so etwas hätte sich nur der Satan ausdenken können.<br />

Und was ist das Teuflischste am Teuflischen? Das ist die unglaubliche<br />

Bosheit, einem der beteiligten Geschöpfe, dem<br />

Menschen, auch noch genügend Verstand zu geben, um dieses<br />

Teufelswerk bewußt zu erleben!”


526 GÖTTER<br />

Das Gesicht des Zwerges verzerrt sich, als wolle es auseinanderfallen.<br />

“Au … aufhören!”, brüllt er. “Aufhören!! Ich lebe<br />

nicht in Ihrer Hölle!! Sie sind ein Pess<strong>im</strong>ist! Sie malen<br />

schwarz in schwarz. Das ist ja grauenvoll, wie Sie die Dinge<br />

sehen!”<br />

“Ich versuche, die Dinge zu sehen wie sie sind.”<br />

“Wer die Welt so sieht wie Sie, den wird man verdammen!”<br />

“Ich müßte mich selbst verdammen, würde ich mir die Welt<br />

anders vorstellen, als sie sich mir darstellt.”<br />

“Wie können Sie nur mit solchen Vorstellungen, mit solchen<br />

Gedanken und Bildern <strong>im</strong> Kopf leben? Wie können Sie damit<br />

ein normales Alltagsleben führen, fröhlich sein, Glück empfinden?”<br />

“Ich kann. Dies ist die Wirklichkeit, dies ist die Wahrheit –<br />

so wie sie sich mir darstellen. Und mit der Wirklichkeit und<br />

mit der Wahrheit kann ich besser umgehen als mit Verdrehungen<br />

und Märchen. Wenn ich’s nicht könnte, ich hätte mich<br />

längst von dieser Welt verabschiedet.”<br />

Etagen<br />

Nach einer Weile sagt der Physiker: “Sehen Sie, das ist eine<br />

der Merkwürdigkeiten bei uns Menschen …”<br />

“Was?”<br />

“Die Fähigkeit, in verschiedenen Etagen unserer Individualität<br />

zu wohnen.”<br />

“Etagen?”<br />

“Mich treibt es halt <strong>im</strong>mer wieder einmal in meine oberste<br />

Etage. Von dort kann ich Dinge sehen, die manch anderer nicht<br />

sieht. Aber auf die Dauer kann es sehr kalt werden da ganz<br />

oben. Dann gehe ich eine oder mehrere Etagen tiefer. Und da<br />

kann es dann plötzlich ganz gemütlich sein. Ich vergesse oder<br />

schiebe beiseite, was ich da ganz oben an Neuigkeiten oder<br />

Fürchterlichkeiten gesehen habe, freue mich des Lebens, lade


Etagen 527<br />

den Akku wieder auf. Bis mich dann wieder die Neugier packt,<br />

der Drang nach Herausforderung, die Lust, mich erneut umzusehen.<br />

Dann steige ich wieder die Treppe hoch, gehe wieder<br />

in meine oberste Etage.” Der Physiker lächelt. “Und von Zeit zu<br />

Zeit geh ich auch mal in die Kellerbar mit ihren bunten Lichtern,<br />

ihrer Musik, ihrer bacchantischen Heiterkeit. Da kann<br />

man viel Spaß haben und durch und durch glücklich sein bei<br />

einem herrlichen Tropfen, bei einem fürstlichen Mal, bei einem<br />

schönen Mädchen. Oder”, jetzt lacht er wieder wie ein Spitzbube,<br />

“bei allen dreien auf einmal!”<br />

“Freilich! Bei Gott, das kann man!” Der Maler zieht die<br />

Schultern hoch und schuckelt vergnügt: “<strong>Suchen</strong> nach Wissen<br />

treibt auf den Boden, <strong>Suchen</strong> nach Genuß in den Keller.” Er<br />

lacht. “Sie haben wirklich alles durchdacht.”<br />

“Nicht alles, aber so manches.”<br />

“Ich hab Hunger!”, ruft der Maler, “lassen Sie uns was essen<br />

geh’n.”<br />

“Eine ausgezeichnete Idee. Aber diesmal sind Sie mein Gast.”<br />

“Darüber möchte ich keinen Streit anfangen. Hauptsache,<br />

was zu essen!”<br />

“Wohin geh’n wir?”<br />

“Wie wär’s mit dem Waldschloß?”<br />

“Einverstanden.”<br />

Die beiden erheben sich. Der Maler preßt die Schultern zurück,<br />

legt den Kopf in den Nacken und rollt ihn von einer<br />

Seite zur anderen. Dabei verzerrt sich das hartgeschnittene<br />

Gesicht, und die langen schwarzen Haare wedeln wie Wäsche<br />

<strong>im</strong> Wind. Schließlich n<strong>im</strong>mt er Hut und Spazierstock von der<br />

Bank. Er sieht den Gefährten an: “Na, dann woll’n wir mal.”<br />

Auf dem Weg zum Waldschloß sagt der Maler, und man<br />

merkt ihm an, daß die Worte eine Fortsetzung intensiven<br />

Nachdenkens sind: “Dieses Bild mit den Etagen, das trifft den<br />

Nagel auf den Kopf. Auch ich steige <strong>im</strong>mer gern einmal die<br />

Treppe hoch. In meiner obersten Etage dominiert aber eher<br />

Fühlen als Denken. Wenn ich male, dann potenzieren sich


528 GÖTTER<br />

meine Empfindungen. Meine Sinnenwelt beginnt zu vibrieren.<br />

Meine Sensibilität steigert sich in einem solch unerhörten<br />

Ausmaß, daß ich beginne, Töne zu hören, die es gar nicht gibt,<br />

Farben und Bilder zu sehen, die einer fremden Welt anzugehören<br />

scheinen. Dann weiß ich plötzlich gar nicht mehr, wer ich<br />

bin, wo ich bin. Und dann habe ich manchmal das Gefühl, als<br />

sähe ich mir zu, als stünde ich neben dem, der da malt.”<br />

Mit einem Ruck bleibt der Maler stehen und stößt seinen<br />

Spazierstock in den Boden. “Und dann, ganz plötzlich, schreit<br />

alles in mir: ‘Entspannung!’ Dann brauche ich sofort Ablenkung,<br />

andere Erlebnisformen, Erlösung. Dann greife ich zu<br />

meiner Violine. Oder ich eile in den <strong>Park</strong>. Sie haben völlig<br />

recht, die oberste Etage ist nur eine gewisse Zeit lang zu ertragen.<br />

Aber was kann sie einem in dieser Zeit geben! Was für<br />

ein Höhenflug! Was für eine Erhabenheit! Welch Ausmaß an<br />

Erfüllung!! Wenn die Gefühlsintensität unerträglich wird,<br />

dann muß ich sofort abbrechen. Sehr schnell wird dann<br />

Schönes zu Schmerz, Genuß zu Grauen, Höhenflug zu Höllenfeuer.<br />

Sehr schnell ist dann eine Grenze erreicht, die zu überschreiten<br />

ich mich fürchte, vor der ich zittere!” ‘Eine Grenze’,<br />

denkt er, ‘hinter der Entsetzliches lauert: der Engel, der Teufel,<br />

die Schuld!’ Er schluckt. “Dann renne ich, so schnell ich<br />

nur kann, in tiefere Etagen, auch gern mal bis in die Kellerbar.”<br />

Er blickt zur Seite und grinst verstohlen: ‘Und manchmal<br />

noch ein bißchen tiefer.’<br />

Schweigend legen Künstler und Wissenschaftler den größten<br />

Teil des restlichen Weges zum Waldschloß zurück.<br />

“Der <strong>Park</strong> ist schön”, sagt der Physiker auf einmal und sieht<br />

sich um. “Wunderschön.” Mehrmals nickt er. “Jahrelang bin ich<br />

hier nun schon spazieren gegangen.” Langsam schiebt er die<br />

Brille hoch. “Aber ich war <strong>im</strong>mer nur tagsüber <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.”<br />

“Und? Hat sich das geändert?”<br />

“Neuerdings gehe ich auch nachts in den <strong>Park</strong>.”<br />

“Nachts??”<br />

“Ja. Nachts.”


Etagen 529<br />

“Ist das nicht sehr gefährlich? Ich meine … so ganz allein in<br />

der Dunkelheit. Davon würde ich Ihnen aber dringend abraten!”<br />

Ohne auf die Frage und auf die Bedenken seines Gefährten<br />

einzugehen, sagt der Physiker: “Die Ursache dafür sind meine<br />

Kontakte.”<br />

“Was für Kontakte?”<br />

Auch diese Frage scheint der Physiker nicht gehört zu haben.<br />

Er ist auf einmal wie angefaßt.<br />

Da hakt der Maler nach: “Haben Sie denn da überhaupt keine<br />

Angst? In finsterer Nacht, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>?”<br />

“Nein. Ich habe keine Angst, vor den Wesen nicht und schon<br />

gar nicht vor den Menschen. Meine Sichtungen konzentrieren<br />

sich mehr und mehr auf die Zeit vor und nach Mitternacht.<br />

Wie auf eine gehe<strong>im</strong>e Verabredung hin haben sich beide Seiten<br />

darauf geeinigt. Für Kontakte bevorzugen die Außerirdischen<br />

das Ufergebiet des Sees.”<br />

“Dann gehen Sie nachts an den See?”<br />

“Ja. Nur dorthin.”<br />

Der Maler atmet auf. Das hätte ihm gerade noch gefehlt,<br />

dem Physiker des Nachts in seiner Jägerkluft zu begegnen!<br />

Erst jetzt reaktiviert er aus seinem akustischen Gedächtnis<br />

den Nachhall des Unglaublichen. Was hat der Physiker<br />

da eben gesagt? Außerirdische? Das ist denn doch … “Das<br />

meinen Sie doch nicht <strong>im</strong> Ernst, das mit den Außerirdischen?”<br />

Als der Physiker wiederum nicht antwortet, sagt der Maler:<br />

“Sie sind ein sehr intelligenter Mann. Wie können Sie ernsthaft<br />

annehmen, daß Wesen von einem anderen Planeten, vielleicht<br />

gar von einer anderen Galaxie hierher kommen, hierher<br />

in den <strong>Park</strong>, hierher zu Ihnen an den See?” Der Maler dreht<br />

sich in der Hüfte und wendet sich mit steifem Kreuz dem Physiker<br />

zu. “Das ist denn doch …” Jetzt blickt er in flackernde<br />

Augen. Und was er da sieht in den Augen dieses Mannes, den<br />

er trotz so mancher Enttäuschung und Verärgerung zu schät-


530 GÖTTER<br />

zen gelernt hat, das läßt ihn verstummen. “Sagen Sie nur”,<br />

beginnt er nach wiederholtem Kopfschütteln erneut, “sagen<br />

Sie nur, Sie glauben wirklich daran.”<br />

“Ja”, sagt der Physiker ernst, “ich glaube wirklich daran.”<br />

Wieder schüttelt der Maler den Kopf. Er ist jetzt völlig ratlos.<br />

Aber er fühlt auch, daß weiteres Fragen, zumindest in diesem<br />

Augenblick, zwecklos wäre. So schweigt er.<br />

Der Physiker öffnet eine Hintertür zum Waldschloß und läßt<br />

den Maler vor sich eintreten. In diesem Augenblick beginnt<br />

die Tanzmusik von neuem. Durch ein Seitenfenster in der<br />

Wand werden für einen Augenblick die Tanzfläche sichtbar<br />

und ein schlanker Geiger in hellem Sommeranzug. Im Rhythmus<br />

der einschmeichelnden Musik, ein slow dance, schreitet<br />

er langsam auf und ab vor einem schwarzen Flügel. Hingebungsvoll<br />

neigt und wendet er dabei den Kopf, so daß ihm eine<br />

große schwarze Locke vor den Augen taumelt.<br />

Ungestüm drängt der Maler vorwärts. N<strong>im</strong>mt den großen<br />

weißen Hut vom Kopf und hält ihn scheinbar unbeabsichtigt<br />

so, daß sein Gesicht verdeckt ist. Er möchte hier nicht gern<br />

gesehen werden.<br />

Und dann haben sie auch schon den abseits gelegenen kleinen<br />

Klubraum erreicht. Hier lassen sie sich an einem der drei<br />

Tische nieder, in fröhlich-bunt gepolsterten Korbsesseln. Als<br />

die Kellnerin kommt, steckt ihr der Maler verstohlen einen<br />

größeren Geldschein zu. Die kennt das offenbar schon und<br />

macht kein Aufhebens davon. Aber die beiden Männer <strong>im</strong><br />

Klubraum werden heute abend nicht durch fremde Gäste gestört<br />

werden.<br />

Gedankenverloren legt der Künstler Hut und Spazierstock<br />

neben sich auf den dritten Korbsessel. Er entn<strong>im</strong>mt seinem<br />

Jackett einen Zettelblock, macht sich ein paar Notizen und<br />

rollt abermals den zurückgelehnten Kopf. Dann streicht er<br />

mit dünnen Fingern die Haare glatt.<br />

Die Kellnerin kommt zurück. Als Vorspeise bestellt der Maler<br />

Salatblätter an Magerquark mit Apfelsinenscheibchen, der


Etagen 531<br />

Physiker eine halbe Pampelmuse. Für die Hauptspeise einigen<br />

sie sich auf eine Stroganoffplatte für zwei Personen. Dann<br />

lassen sie sich die Weinkarte geben und wählen gemeinsam<br />

eine Flasche französischen Weins aus.<br />

Den Maler beschäftigt erneut das, was der Physiker über<br />

Außerirdische gesagt hat. Aber er schiebt das mit Nachdruck<br />

beiseite. So wird in seinem Bewußtsein wieder ein ihn faszinierendes<br />

Thema freigelegt: Das Bild von den Etagen. Hier<br />

erkennt er einen Schlüssel zum Verständnis seines eigenen<br />

komplizierten Wesens.<br />

“Dieses Auf- und Absteigen in den Etagen unserer Persönlichkeit”,<br />

sinniert er, “es erlaubt uns … nein, es ist die Voraussetzung<br />

für das volle Ausschöpfen unserer Möglichkeiten, die<br />

Welt zu verstehen und zu erfühlen.” Er nickt vor sich hin. “Nur<br />

so können wir ihre Schönheiten genießen und ihre Fürchterlichkeiten<br />

ertragen, ohne dabei den Verstand zu verlieren.”<br />

“Ja”, sagt der Physiker, “und wir können unsere Erlebnisfähigkeit<br />

nur dann voll austesten, wenn wir den Mut aufbringen,<br />

alle Räume in allen Etagen zu betreten, und sei es nur<br />

für kurze Zeit. Nur wenn wir uns all dem Neuen, all dem<br />

Wunderbaren und all dem Schrecklichen aussetzen, das uns<br />

da entgegentritt, nur wenn wir all das auf uns wirken lassen,<br />

auf all das reagieren – nur dann können wir Läuterung und<br />

Erleuchtung erfahren. Die Fürchterlichkeiten, von denen ich<br />

sprach, sie sind nicht mehr so fürchterlich, wenn wir sie als<br />

das akzeptieren, was sie sind: Realitäten. Daß diese Realitäten,<br />

mit denen die Menschen ja schon <strong>im</strong>mer gelebt haben,<br />

uns auf einmal so schockieren, das liegt vor allem daran, daß<br />

unser bisheriges Weltverständnis uns vor dem kalten Wind<br />

der Wirklichkeit geschützt hat.”<br />

“Was ist das, die Wirklichkeit?”<br />

“Das, was wir mit all unseren Sinnen erfahren und erleben<br />

können. Nun”, setzt der Physiker seinen Gedankengang fort,<br />

“ist das Erwachen um so schockierender. Nun müssen wir<br />

durch Tiefen gehen, bis wir zu neuen Höhen gelangen können,


532 WESEN<br />

bis wir leben können ohne große Lügen. Nur durch Leid führt<br />

der Weg zu neuen Ufern.”<br />

“Was bringt es uns”, fragt der Maler, “wenn wir die Scheuklappen<br />

abnehmen? Die Scheuklappen, die uns bisher so gut<br />

geschützt haben? Was gewinnen wir, wenn wir Dinge sehen,<br />

die uns schmerzen? Wenn wir Erkenntnisse erarbeiten, die<br />

wir nur schwer ertragen können? Was kann uns unser <strong>Suchen</strong><br />

wirklich geben?”<br />

“Das Größte und Erhabenste, das Menschen erfahren können:<br />

Erhobenen Hauptes die Welt erforschend, das Erkannte<br />

in seiner Schönheit zu bewundern und in seiner Unabänderlichkeit<br />

zu ertragen. Nur so können wir reifen, nur so begreifen,<br />

was den Kern eines sinnerfüllten Menschenlebens ausmacht.”<br />

“Was?”<br />

“Sich unserer Möglichkeiten erfreuen und unserer Unzulänglichkeiten<br />

bewußt werden. Leben und Umwelt achten<br />

und schützen. Bescheidenheit üben <strong>im</strong> Anspruch und Verantwortlichkeit<br />

<strong>im</strong> Handeln. Hier liegt der Schlüssel für die volle<br />

Entfaltung der Menschenwürde.”<br />

3 WESEN<br />

Grandioses Schauspiel<br />

“Komm näher, du! Ich<br />

will diese Begegnung!”<br />

Die Sonne ist hinter dem Horizont versunken. Ihr letzter<br />

rotgoldener Widerschein hat sich aufgezehrt. Der Herbstwind<br />

hält den Atem an. Der See ruht. Er träumt vor sich hin. Die<br />

weite sch<strong>im</strong>mernde Wasserfläche gleicht einem riesigen gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />

Spiegel. In ihm reflektieren sich große Bäume,<br />

zwinkern sich die langsam an Leuchtkraft gewinnenden Ster-


Grandioses Schauspiel 533<br />

ne zu. Aus ihm leuchtet der Mond. Ruhendes Wasser ist der<br />

Urahne aller Spiegel. Ein Spiegel bildet ab, jede Einzelheit,<br />

ganz exakt. So sagt er die Wahrheit. Aber er macht auch<br />

rechts aus links. So verdreht er. Und er läßt Dinge hinter sich<br />

erscheinen, die vor ihm sind. So täuscht er.<br />

Langsam, ganz langsam kriecht kühle Dämmerung herbei.<br />

Zögernd zuerst, dann <strong>im</strong>mer entschlossener steigen aufwärts<br />

strebende, schwebende, schwankende Nebelschleier aus dem<br />

Wasser. Verdichten sich, lösen sich auf, formen sich erneut,<br />

kräftiger jetzt und deutlicher sichtbar. Sie beginnen langsam<br />

zu kreisen, zu rotieren, zu wirbeln. Sie drehen und wiegen<br />

sich, wandeln, wallen und wogen. Und nun sinken sie wieder<br />

in sich zusammen, nähern sich der Seeoberfläche, ihrer Wiege.<br />

Mit neuen Kräften versehen streben sie abermals in die<br />

Höhe. Ein gespenstischer, ein zauberhafter Zeitlupen-Traumtanz<br />

luftgewordenen Wassers.<br />

Einsam steht der Physiker am Ufer. Weit weg von allem<br />

menschlichen Leben und Treiben. Irgendetwas hat eine vagabundierende<br />

Unrast über ihn ausgegossen. Sein flackernder<br />

Blick begleitet das heller werdende Licht des Mondes, schweift<br />

über grau-silbrig sch<strong>im</strong>merndes Gras, über buckelige Binsenwiesen<br />

und über steifstengeliges Schilf. Seine sensiblen Sinne<br />

streben weit aus ihm hinaus, weit über die Felder der Lampenputzer,<br />

weit über den die Nacht ersehnenden See. Alles in<br />

ihm bündelt sich zu ungeduldiger Erwartung. Alles eskaliert<br />

zum Ausnahmezustand.<br />

Einsam ist er, aber nicht allein. Da sind flatternde, surrende<br />

und summende Insekten. Da sind quäkende und schnatternde<br />

Enten, grunzende, knurrende und quakende Frösche, melancholisch<br />

uhende Unken. Da sind zwitschernd ihren Schlafplatz<br />

aufsuchende Vögel. Dort ruft ein Käutzchen. Hier flattert<br />

eine erste Fledermaus. Und da sind – nur der Physiker<br />

fühlt es, weiß es – die Wesen. Die Wesen, die ihm in der letzten<br />

Zeit <strong>im</strong>mer häufiger, <strong>im</strong>mer offensichtlicher und <strong>im</strong>mer<br />

entschlossener erschienen sind. Die Wesen, die er kennenler-


534 WESEN<br />

nen, mit denen er Kontakt aufnehmen will.<br />

Die Dämmerung breitet sich aus, erfüllt den Raum, hüllt<br />

alles ein, saugt Farben in sich auf und Einzelheiten. Schwarz<br />

und dunkelnachtblau winken drohend die Silhouetten riesiger<br />

Kiefern und Erlen zu ihm herüber.<br />

Hoch aufgerichtet steht er da, mit forschenden Augen. Immer<br />

wieder wandert sein Blick über Feuchtwiese, Schilf und<br />

Wasserfläche. Die Stirn ist gefurcht, die Kiefermuskeln mahlen,<br />

die Sinne suchen und das Hirn ist bereit, in sich aufzunehmen,<br />

was <strong>im</strong>mer da auf ihn zuschweben mag.<br />

Angespannt verfolgt er jede Einzelheit der sich vor ihm verändernden<br />

Szene. Sachte segelt eine dunkle Wolke weiter und<br />

gibt den Blick frei auf den Halbmond. Fahles Licht strahlt<br />

vorbei an Baumriesen und hohen Büschen, beleuchtet Ausschnitte<br />

von Wiese und Schilf. Läßt Nebel und Dunst gespenstisch<br />

aufleuchten und die Wasserfläche silbrig glitzern.<br />

Erste Herbstblätter schaukeln lautlos zu Boden. Alles scheint<br />

in Bewegung zu sein, ein merkwürdiges, gehe<strong>im</strong>nisvolles<br />

Eigenleben zu führen.<br />

Der Dämmerung folgt ihre Schwester, die Dunkelheit. Sie<br />

hüllt nicht ein, saugt nicht auf – sie verschlingt, eines nach<br />

dem anderen. Als wieder eine dunkle Wolke vor den Mond<br />

schwebt, herrscht Finsternis. Nur ein schwacher Widerschein<br />

der fernen Großstadtlichter zaubert einen Abglanz menschlichen<br />

Wirkens unter tiefhängende, stumm dahinziehende Wolken<br />

und spiegelt sich in einem so noch nie erlebten See.<br />

Eine Brise kommt auf, reibt Laub leis aneinander, macht<br />

Wipfel wispern und Schilf knistern – ein zarter, fächelnder<br />

Atem, der von weither weht. Die Nacht ist da.<br />

Was ist das? Dort drüben. Über dem Wasser? Da! Das da!!<br />

Unmerklich langsam treibt es dahin. Aber diesem Dahintreiben<br />

scheint Zielstrebigkeit innezuwohnen. Das da kommt<br />

auf das Ufer zu. Auf den Physiker zu.<br />

Die wieder etwas heller werdende Szene wird <strong>im</strong>mer bedrückender<br />

und beängstigender. Sie hat jetzt eine Qualität,


Grandioses Schauspiel 535<br />

die jeden normalen Menschen sogleich vertreiben würde. Nicht<br />

so den Physiker. Sein starker Wille versucht, den Verstand zu<br />

disziplinieren, sauber zu unterscheiden zwischen dem, was<br />

seine Sinne ihm vorgaukeln, und dem, was da tatsächlich<br />

passiert. Angesichts seiner Erregung ist das nicht einfach.<br />

Ungestüm drängelt Phantasie durch Grenzen menschlicher<br />

Begreifbarkeit, schlüpft Ahnung durch Barrieren von Logik<br />

und Verstand. Mit äußerster Konzentration bemüht er sich,<br />

das Geschehen mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu registrieren<br />

und mit kritischem Geist die verursachenden Faktoren<br />

des Szenenwechsels zu analysieren.<br />

‘Genauso’, redet er sich ein, ‘habe ich mir das vorgestellt.<br />

Genauso habe ich den Beginn der Begegnung erwartet. Schluß<br />

jetzt mit dem Versteckspiel! Heute werde ich die Wesen ermutigen,<br />

den letzten Schritt zu tun. Heute werde ich den Kontakt<br />

erzwingen.’<br />

Ein grandioses Schauspiel beginnt. Mit einem grandiosen<br />

Darsteller und mit grandiosen Akteuren, die nicht in den<br />

<strong>Park</strong> gehören. Und nicht in unsere Welt.<br />

Dort, vor dem dunklen Hintergrund der riesigen Kiefern<br />

und Erlen, formt sich, zunehmend deutlicher werdend, eine<br />

wogende, wankende Nebelgestalt über dem Wasser. Und da<br />

hinten, links, da sind noch zwei Gestalten. Ganz deutlich sieht<br />

er die drei. Sich drehend und wendend schweben sie langsam<br />

auf ihn zu. Jetzt werden zwei Gestalten durchsichtiger, lösen<br />

sich langsam auf, verschwinden nun ganz – wie ein Gedanke.<br />

In Panik schrecken Tiere aus dem Schlaf. Enten fliegen auf.<br />

Flattern in irrer Angst umher. Sausen quakend und flügelpeitschend<br />

davon. Andere Vögel schreien schrill. Taumeln<br />

durch die Nacht, als seien sie geblendet. Die Natur ist in<br />

hellem Aufruhr. Die Wesen scheinen besondere Kräfte zu entfalten,<br />

Kräfte, die nur für sensible Sinnesorgane wahrnehmbar<br />

sind.<br />

Die Nebelgestalt kommt näher. Eine zweite Gestalt wird<br />

sichtbar. Sie folgt der ersten in kurzem Abstand. Nun zögert


536 WESEN<br />

sie, bleibt zurück, verharrt auf der Stelle. Aber jetzt kommt sie<br />

wieder in Bewegung, schließt dicht auf zur ersten.<br />

Was ist das?! Die beiden verschmelzen! Gehen vollkommen<br />

ineinander auf.<br />

Das Resultat ihrer Vereinigung schwebt, sich drehend und<br />

wendend vorwärts. Es rotiert um seine Achse. Jetzt formt es<br />

Kreise. Viele große Kreise. Ein geisterhafter Reigen kosmischer<br />

Erscheinungen! Nun ist da nur noch eine riesige<br />

Scheibe zentrierender Kreise. Immer enger werden die<br />

Kreise. In der Nähe des Zentrums leuchtet etwas. Wie ein<br />

riesiges Komma. Und jetzt formt sich dort erneut das Wesen.<br />

Die Kreise verlöschen.<br />

Immer deutlicher wird das Wesen sichtbar. Es kommt<br />

näher. Wird da nicht so etwas wie ein Auswuchs sichtbar? Ein<br />

Arm? Und winkt der ihm nicht? Oder versucht doch, ihm ein<br />

Zeichen zu geben? Noch dichter schiebt sich die unhe<strong>im</strong>liche<br />

Erscheinung an den wartenden Physiker heran – entgegen<br />

der ihm in den Rücken fächelnden Nachtbrise! Mal wird das<br />

Wesen durchsichtiger, mal kompakter. In der Mitte seines<br />

Körpers beginnen schwach blitzende Lichtpunkte zu rotieren.<br />

Auch weiter außen leuchten Lichtquellen auf. Nun fängt all<br />

das an, zu pulsieren.<br />

Immer näher kommt das Unfaßbare. Wie es scheint, mit<br />

großer Vorsicht.<br />

Das Wesen hat die freie Wasserfläche verlassen. Es schwebt<br />

jetzt über dem Schilfgürtel. Die Lichtpunkte <strong>im</strong> Zentrum der<br />

Gestalt rotieren energischer. Die Leuchtkraft der weiter außen<br />

gelegenen Lichtquellen n<strong>im</strong>mt zu. Das Rotieren wird schneller,<br />

hastiger. Immer mehr wird es erfaßt von einem allmählich die<br />

ganze Gestalt beherrschenden rhythmischen Pumpen.<br />

Mit einem fürchterlichen Schrei flüchtet taumelnd ein großer<br />

Vogel.<br />

Wie hypnotisiert macht der Physiker einen Schritt vorwärts.<br />

Sein Herz rast. Seine Sinne wirbeln. Seine Gedanken<br />

überstürzen sich.


Grandioses Schauspiel 537<br />

In diesem Augenblick erkennt er erstmals feine Lichtstrahlen.<br />

Sie verlaufen vom Zentrum des Wesens in auseinanderweisenden<br />

Richtungen, sind aber vor allem auf ihn gerichtet.<br />

Nun erscheinen auch breitere Strahlenbündel, jeweils zwei<br />

auf jeder Seite. Plötzlich verschwinden alle Strahlen wieder,<br />

gerade so, als wäre ein Lichtschalter ausgeknipst worden.<br />

Und jetzt! Ist da nicht ein Geräusch, ein heller Pfeifton, dünn<br />

wie ein Faden? Der Physiker horcht in die Nacht. Ja! Da ist es<br />

wieder, das Geräusch. Und nun vern<strong>im</strong>mt er ein nie zuvor<br />

gehörtes leises, pfeifendes Rascheln. Das Rascheln schwillt an,<br />

dann wieder ab, in regelmäßiger werdendem Rhythmus.<br />

“Ich bin mir ganz sicher”, flüstert der Physiker, “heute wird<br />

es geschehen.” Mit flackernden Augen fixiert er sein Gegenüber,<br />

das sich jetzt ein weiteres Stück auf ihn zubewegt. ‘Heute<br />

kommt es zur unmittelbaren Kontaktaufnahme!’ Er richtet<br />

sich auf, so hoch er nur kann. Durch seine Haltung will er signalisieren:<br />

Hier stehe ich; ich will euch kennenlernen; ich will<br />

mit euch kommunizieren. Wie ein Schlafwandler macht er<br />

drei Schritte auf das Wesen zu. Seine Füße werden naß. Er<br />

steht <strong>im</strong> flachen Wasser. Aber das merkt er nicht. Noch einen<br />

Schritt macht er. Er will mehr sehen, mehr hören, mehr fühlen.<br />

Jetzt beugt er sich vor. Noch weiter, so wie jemand, der<br />

das Objekt seines <strong>Inter</strong>esses noch <strong>im</strong>mer nicht genau genug<br />

wahrnehmen kann, wie einer, der mit all seinen Sinnen etwas<br />

Neuem entgegenstrebt.<br />

Die Kehle wird ihm eng, die Zunge trocken. Er räuspert<br />

sich. Schluckt. Und nun hört er sich sprechen, oder ist es ein<br />

Rufen? “Komm näher, du! Ich will diese Begegnung! Ich will,<br />

daß du näher kommst, … noch näher!! Ich will wissen, wer du<br />

bist. Hier steht ein furchtloser Mensch, ein Wissenschaftler,<br />

einer, der dir Partner sein will bei deiner Erforschung dieses<br />

Planeten. Komm näher!!”<br />

Aber das Wesen reagiert nicht. Es verharrt auf der Stelle<br />

mit blitzenden, pulsierenden Lichtsignalen in seinem Körper.<br />

Da erinnert sich der Physiker seiner Vorstellungen über E-


538 WESEN<br />

Wesen. “Nicht sprechen”, flüstert er, “ganz konzentriert denken!”<br />

Und nun konzentriert er sich mit all seiner Kraft auf den<br />

Gedanken: ‘Komm näher!’ Und er versucht mit großer Anstrengung,<br />

diesen Gedanken aus seinem Hirn hinauszupressen,<br />

ihn hinauszustrahlen in die Richtung des Wesens. Wieder<br />

versucht er das. Wieder bemüht er sich, mit Hilfe seiner Gedankenbotschaft<br />

das Wesen zu erreichen, mit ihm Kontakt<br />

aufzunehmen: ‘Ich fürchte dich nicht. Ich bin bereit, Verletzungen<br />

hinzunehmen, wenn es sein muß auch meinen Tod.<br />

Ich will mit dir kooperieren, ganz nah, ganz intensiv. Koste es,<br />

was es wolle!’<br />

Leere Hülle<br />

Jetzt reagiert das Wesen! Langsam gleitet es vorwärts. Nur<br />

noch wenige Meter liegen zwischen ihm und dem Physiker.<br />

Unaufhaltsam schwebt das Unfaßbare weiter auf den<br />

Menschen zu. Und nun beginnt der, diese Nähe auch zu<br />

spüren. Ein feines Kribbeln überzieht die Haut. Das Kribbeln<br />

wird stärker, dann wieder schwächer, verlöscht jetzt ganz.<br />

Doch nun ist es wieder da. Stärker als zuvor. Immer intensiver<br />

wird es, erfaßt den ganzen Körper. Und da ist es auch<br />

wieder, dieses pfeifende Rascheln! In dem Maße, in dem das<br />

Wesen noch näher kommt, mischt sich in dieses Rascheln<br />

ein Röhren, das überall <strong>im</strong> Körper widerzuhallen scheint. Aus<br />

dem Röhren wird ein Dröhnen und Poltern, schließlich ein<br />

Donnern. Die Zunge schmeckt vorher nie Geschmecktes – eine<br />

merkwürdige Mischung aus Säure- und Metallgeschmack.<br />

Und die Augen sehen vorher nie Gesehenes – ein blitzendes<br />

Form- und Farbgewitter. Eine Symphonie aus bizarren<br />

Gestalten, gleißenden Rot-Gelb-Mustern und aus golden<br />

leuchtenden Strahlenkernen.<br />

Das Kribbeln auf der Haut wird unerträglich. Jetzt über-


Leere Hülle 539<br />

kommt den Menschen eine trockene Kühle. Die Haut spannt,<br />

droht zu zerreißen. Dann wird alles warm, jetzt ganz heiß. Die<br />

Nerven erbeben. Die Glieder zucken. Überall zittern Muskeln<br />

und Fleisch. Es ist, als wolle die Schöpfung einem nicht mehr<br />

zu steigernden Höhepunkt, dem Gipfel menschlicher Erlebnisfähigkeit,<br />

noch eine Krone aufsetzen.<br />

Erstmals steigt so etwas wie Furcht <strong>im</strong> Physiker auf. Er<br />

kann sich das alles nicht mehr erklären. Das Hirn versagt<br />

ihm den Dienst.<br />

Doch nun kehrt der Verstand noch einmal zurück. Der<br />

Mensch sieht das Wesen ganz dicht vor sich. Es ist etwa so<br />

groß wie er, aber etwas breiter. Die Körperumrisse sind nicht<br />

scharf. Sie verschw<strong>im</strong>men mit der Umgebung wie bei einem<br />

Ball aus Gas, wie bei einer Wolke. An der Peripherie formen<br />

sich unablässig Auswüchse und bilden sich wieder zurück, ein<br />

bißchen so wie bei einer Amoebe. Offenbar können diese Auswüchse<br />

überall entstehen, an der gesamten Übergangszone<br />

zwischen Wesen und Umwelt. Immer mehr Auswüchse wachsen<br />

hervor, und <strong>im</strong>mer wieder werden sie eingeschmolzen, reintegriert<br />

in die Gestalt.<br />

Im Zentrum des Wesens verstärkt sich das Licht. Seine<br />

Quellen sind jetzt genau auszumachen. Das Licht stammt von<br />

rotierenden runden Körpern. Es ist merkwürdig fahl und von<br />

unterschiedlicher Farbe und Leuchtkraft – wie bei einem<br />

Haufen beisammenstehender Sterne. Auch einige schwach<br />

leuchtende rötlich-blaue Kugeln sind darunter. Drei davon<br />

haben so etwas wie ein Leuchtband um sich herum. Sie stehen<br />

<strong>im</strong> Mittelfeld eines gelblichen Materieschleiers. Unvermittelt<br />

n<strong>im</strong>mt die Lichtstärke zu. Überall. Die Bewegungsintensität<br />

der Lichtquellen steigert sich stark. Das ganze Wesen<br />

erstrahlt in unirdischem Glanz. Und nun beginnt es sich<br />

zu dehnen und zu schrumpfen, so als ob es atmet.<br />

Plötzlich kommt alles – Geräusche, Bilder, Geschmack –<br />

nicht mehr von außen über Ohren, Augen und Zunge, sondern<br />

von innen. Der Physiker hält sich die Ohren zu: die gleichen


540 WESEN<br />

Geräusche. Er verdeckt mit den Händen beide Augen: die gleichen<br />

Bilder. Das Wesen teilt sich ihm nicht mehr über seine<br />

äußeren Sinnesorgane mit. Es hat direkten Kontakt aufgenommen<br />

mit den perzipierenden Teilen seines Hirns. Auch<br />

das erneut zunehmende Kribbeln auf der Haut wird jetzt von<br />

innen her ausgelöst.<br />

Das Wesen schaltet die körpereigenen Kontroll- und Kommunikations-Systeme<br />

des Physikers aus. Es übern<strong>im</strong>mt die<br />

Steuerung seines Körpers.<br />

Eine fürchterliche Hitzewelle durchschwemmt den Leib.<br />

Schweiß bricht aus. Das fahle Licht, das vom Wesen ausstrahlt,<br />

läßt den kahlen Schädel aufglänzen. Wie ein starker<br />

Magnet saugt eine unbekannte Macht am Physiker, zerrt all<br />

sein Denken, Fühlen und Wissen in das kreisende Zentrum<br />

einer rotierenden, wirbelnden Wolke hochaktivierter Materie.<br />

Von allen Seiten her dringen Teile des Wesens in den Menschen<br />

ein. Alles dröhnt. Alles ist unerträglich heiß.<br />

Ein greller Blitz durchzuckt den Körper. Und dann ist alles<br />

ganz still. Der Physiker hört nichts mehr, sieht nichts mehr,<br />

fühlt nichts mehr. Das Wesen ergreift Besitz vom Inhalt seines<br />

Hirns. Alles wandert hinaus aus dem Menschen und hinein<br />

in das Wesen.<br />

Nun zieht sich das Wesen zurück. Der Körper des Physikers<br />

stürzt zu Boden. Das Wesen schrumpft. Ist nur noch apfelgroß,<br />

ganz winzig nun. Und jetzt ist es für das menschliche Auge<br />

nicht mehr zu erkennen. Es ist vollkommen verschwunden.<br />

Das, was einmal der Physiker war, liegt bewegungslos, aber<br />

atmend am Ufer. Eine leere Hülle.<br />

Am nächsten Morgen macht der Gärtner eine Inspektionstour<br />

mit seinem Fahrrad. Als er am Seeufer entlang radelt,<br />

winkt ihm aus taufeuchtem Schilf der MinRat zu. In dunkelgrüner<br />

Anglerhose und mit umgehängtem Fernglas stapft er<br />

durch kniehohes Wasser seinem Aquarianerfreund entgegen.<br />

“Guten Morgen”, sagt er, als er vor ihm steht. “Ein herrli-


Leere Hülle 541<br />

cher Herbsttag. Ich habe Rohrdommeln beobachtet und Teichhühner.<br />

Absolut superb! Was es alles für Vögel gibt <strong>im</strong> und am<br />

See! Unglaublich! Ich habe mir ein Fachbuch gekauft und best<strong>im</strong>me<br />

danach die Artzugehörigkeit der beobachteten Vögel.<br />

Und in meinem Notizbuch mache ich mir Aufzeichnungen<br />

über ihr Verhalten. Jeden Tag sehe ich etwas Neues. Jeden<br />

Tag lerne ich dazu.”<br />

“Schon fast ein Ornithologe”, murmelt der Gärtner.<br />

“Wie meinen?”<br />

“Ich meine, wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch noch<br />

ein Fachmann auf dem Gebiet der Vogelkunde.”<br />

“Ja. Vögel zu beobachten und deren Verhalten zu studieren,<br />

das macht unerhört viel Freude. Da gibt es viel <strong>Inter</strong>essantes<br />

zu erjagen. Da gibt es viel zu bewundern. Das hat mir eine<br />

ganz neue Welt erschlossen.”<br />

Wiederum muß der MinRat an den Physiker denken und an<br />

dessen Worte über Angeln und Jagen. ‘Der Phyiker’, denkt er,<br />

‘wie recht er doch hatte!’ Dem Gärtner zugewandt, sagt er:<br />

“Das Jagen mit den Augen ist eine wundervolle Sache!”<br />

Der Gärtner nickt. “Wer Augen hat – und wer damit wirklich<br />

zu sehen vermag – dem kann die Natur viel geben.”<br />

“Ja.”<br />

“Was haben Sie da für ein Glas? Darf ich mal durchsehen?”<br />

“Bitte.”<br />

Der Gärtner lehnt sein Fahrrad an einen Baum und ergreift<br />

das Fernglas, das der MinRat vom Hals genommen hat und<br />

ihm nun entgegenreicht.<br />

“Mit Zoom”, sagt der Gärtner und hebt das Glas vor die<br />

Augen. Weit blickt er über den See. “Eine ausgezeichnete Optik.”<br />

Er schwenkt zu den großen Kiefern und Erlen, betrachtet<br />

die weiße Bank auf dem alten Anleger, und schließlich richtet<br />

er das Glas auf die Übergangszone zwischen Wiese und Schilfgürtel.<br />

Sein Blick schweift am Uferrand entlang. Plötzlich<br />

hält er inne. Da liegt etwas <strong>im</strong> feuchten Gras. Er zoomt näher.<br />

“Da liegt jemand! Da! Kommen Sie!!”


542 ENGEL UND TEUFEL<br />

Beide laufen auf einen grauen Punkt <strong>im</strong> Grün zu. Als sie<br />

näher kommen, erkennen sie, daß ein Mann mit dem Unterkörper<br />

<strong>im</strong> flachen Wasser liegt. Sein abgewandtes Gesicht<br />

ruht auf einem Binsenbüschel. Keuchend dreht der Gärtner<br />

den Mann herum.<br />

“Mein Freund! Das ist mein Freund!!”<br />

Der MinRat kann nicht sprechen. Der Schock läßt ihn erstarren.<br />

Hastig zieht der Gärtner den Körper des Physikers<br />

ins Trockene, reißt sich die Jacke vom Leib und hüllt den kalten<br />

Körper darin ein. Dann hebt er den Freund hoch und trägt<br />

ihn zur nächsten Bank. Dort legt er ihn nieder und hockt sich<br />

neben ihn.<br />

Immer wieder schüttelt der MinRat den Kopf. Sein Gesicht<br />

ist aschfahl.<br />

“Er atmet noch”, sagt der Gärtner, “aber nur ganz schwach.<br />

Bitte, nehmen Sie mein Fahrrad. Fahren Sie zur Telephonzelle<br />

dort hinten. Fordern Sie einen Rettungswagen an. Unter<br />

der Nummer 1011.”<br />

Der MinRat läuft, so schnell er kann. Anfangs noch etwas<br />

taumelnd vom Schock. Dann schneller, aber behindert durch<br />

die Anglerhose. Nun schwingt er sich aufs Rad. Stehend in die<br />

Pedale tretend, radelt er rasch davon.<br />

Der Gärtner öffnet mit den Fingern die Lider des Freundes.<br />

Er sieht den Tod.<br />

4 ENGEL UND TEUFEL<br />

Wespen<br />

“Der liebe Gott wird<br />

mich beschützen!”<br />

“Peter hat geschrieben!” Mit hochgerecktem Arm wedelt Inge<br />

einen Luftpostbrief in der Luft herum. Sie tanzt vor Freu-


Wespen 543<br />

de. Den Brief hat der Postbote eben abgegeben.<br />

Der Pastor erhebt sich aus seinem Sessel. Auch er freut sich:<br />

“Was schreibt er denn, der Peter?”<br />

Mit fliegenden Fingern reißt Inge den Umschlag auf und entn<strong>im</strong>mt<br />

den Brief. Sie versucht, das Gekritzel ihres Verlobten zu<br />

entziffern. Langsam, stoßweise, faßt sie das Wesentliche für<br />

ihren Vater zusammen: “Er ist gut angekommen in Los Angeles<br />

… Er fühlt sich wohl in dem Institut dort … Alles ist<br />

weniger formell als bei uns … Der Chairman hat eine Cocktailparty<br />

für ihn gegeben. Dabei hat er Peter allen Wissenschaftlern<br />

des Instituts vorgestellt. Auch der Dekan war gekommen<br />

… Mehrere Wissenschaftler kannte Peter bereits vom<br />

Namen her aus der Literatur. Zweien war er vorher auf Symposien<br />

begegnet … Sie nennen ihn Pete. Für den Abend hat ihn<br />

einer der beiden in sein Haus zum Dinner eingeladen. Dort<br />

wird er auch dessen Familie kennenlernen … Nächste Woche<br />

soll mit den Exper<strong>im</strong>enten begonnen werden … Sehr herzliche<br />

Grüße an dich!”<br />

“Danke! Bitte grüße den Peter ebenso herzlich wieder, wenn<br />

du ihm schreibst.”<br />

“Das werde ich sehr gern tun.”<br />

Inge liest noch eine Weile in dem Brief. Peters Handschrift<br />

ist wirklich eine schl<strong>im</strong>me Sache. An einigen Worten rätselt<br />

sie lange herum. “Wie bei einem Kreuzworträtsel”, sagt sie<br />

und stöhnt. “Ein Fach Schönschrift hat es in seiner Schule mit<br />

Sicherheit nicht gegeben.” Aber als sie dann endlich zu entziffern<br />

vermag, was der Peter da am Schluß des Briefes schreibt,<br />

da überfliegt eine Röte ihr Gesicht, und sie strahlt vor Glück.<br />

Aus den Augenwinkeln sieht der Pastor hinüber zu seiner<br />

Tochter. Er lächelt vor sich hin. Dann legt er den Stummel<br />

seiner Zigarre beiseite und sagt: “Die Sonne scheint noch so<br />

schön. Hast du Lust, dich mit mir auf die Bank vor der Haustür<br />

zu setzen? Der Herbst hat den Garten verzaubert.”<br />

“Vater, Vater”, ruft Inge, “hör dir das an! Das hatte ich eben<br />

ganz übersehen. Hier, am untersten Rand, hat der Peter noch


544 ENGEL UND TEUFEL<br />

etwas hingekritzelt: Er will versuchen, mich heute abend anzurufen,<br />

um 23 Uhr unserer Zeit!”<br />

“… Aber wir wollen doch mit dem Abendzug zum Kirchentag<br />

fahren.”<br />

“Mein Gott! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!!” Inges<br />

Blick erlöscht. Mit einem Schlag verlieren die blauen<br />

Augen ihren Glanz. Hilflos irren sie umher. Das Gesicht wird<br />

ganz fahl. Traurig läßt sie den Kopf sinken.<br />

Seufzend streicht der Pastor über weiße Locken. Ihn<br />

schmerzt Inges große Not. Er sieht sie an. Blickt in ihr blutleer<br />

gewordenes Gesicht, sieht, daß sie mit Tränen ringt. Da<br />

umarmt er seine Tochter und streichelt über ihren Scheitel.<br />

“Ja, was machen wir denn da?” Er wiegt das Haupt. Dann sagt<br />

er leise: “Ich könnte ja auch ohne dich fahren. Aber ich möchte<br />

dich nicht allein zurücklassen … ich mache mir Sorgen.”<br />

“Oh, bitte, Vater!”, ruft Inge und schöpft Hoffnung, doch noch<br />

den Anruf entgegennehmen zu können, “mach dir um mich nur<br />

keine Sorgen! Ich komme schon zurecht. Es wäre ja auch nicht<br />

das erste Mal, daß ich allein <strong>im</strong> Haus bin.”<br />

“Trotzdem … trotzdem. Eine St<strong>im</strong>me in mir sagt, laß die<br />

Inge nicht allein … Ich mache mir wirklich Sorgen!”<br />

“Sei unbesorgt, Vater. Was soll mir schon passieren? Der liebe<br />

Gott wird mich beschützen! Er hat mir noch niemals seinen<br />

Schutz versagt. Er wird mich behüten, daran hege ich nicht die<br />

Spur eines Zweifels.”<br />

Der Pastor sieht seine Tochter lange an. Diese Seele seines<br />

Lebens. Diesen Engel, den er geformt, den er geprägt hat und<br />

aus dessen Augen jetzt das feste Gottvertrauen leuchtet, das<br />

er tief in das junge, reine Herz gesenkt hat. Bitterer Schmerz<br />

durchzuckt ihn, bohrt sich ins Fleisch wie ein Speer aus kaltem<br />

Stahl. Ein Konflikt erschüttert seine Gläubigkeit. Angst<br />

um seine Tochter ringt mit über viele Jahrzehnte Gewachsenem<br />

und Gepredigtem: Absolutes Vertrauen in Gott den Allmächtigen<br />

und bedingungslose Ergebenheit in dessen unerforschlichen<br />

Willen. Zum erstenmal in seinem Leben als


Wespen 545<br />

Geistlicher verliert er den Boden unter den Füßen, zum erstenmal<br />

wankt seine innere Festigkeit. Nur langsam lockert<br />

sich der Griff der Angst. ‘Herr, Du nahmst mir meine Frau,<br />

nicht auch meine Tochter!!’ Aber noch während er um die<br />

Wiedergewinnung seines inneren Gleichgewichts ringt, löst<br />

sich aus zitterndem Herzen die Botschaft seines Herrn: ‘Wer<br />

Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht<br />

wert.’ Ein Orkan durchtobt die sturmentwöhnte Seele. Und<br />

ganz plötzlich ist da ein feines Klirren wie von zerspringendem<br />

Kristall. Irgendetwas in ihm ist zerbrochen. Irgendetwas.<br />

In der Hoffnung, zu Hause bleiben zu können, gewinnen<br />

Inges blaue Augen ihre Leuchtkraft zurück. Ihre Wangen<br />

überzieht eine feine Röte. Als der Pastor in die aufblitzenden<br />

Augen sieht, als er erkennt, wie sehr sich seine Tochter freut,<br />

wie wichtig dieser Anruf für sie ist, und als jetzt auch Zuversicht<br />

in ihren Zügen aufflammt, da stellt er aus Liebe zu<br />

seiner Tochter seine Bedenken zurück. Da drängt er die Angst<br />

beiseite. Er umarmt und küßt Inge. Mit großer Inbrunst ruft<br />

er: “So möge denn der Herr sein Antlitz auf dich richten und<br />

dich beschützen. So bleibe denn, in Gottes Namen … Und sag<br />

dem Peter, daß ich ihn mag. Daß ich mich sehr auf seine<br />

Rückkehr freue.”<br />

“Danke, Vater! Danke!!” Inge umarmt ihren Vater so stürmisch,<br />

daß der einen Schritt zurücktaumelt. Ordnend fährt er<br />

mit der Hand über die Locken. Und dann umfängt er seine<br />

Tochter mit beiden Armen. Mit Macht drückt er sie an sein<br />

Herz.<br />

Tief bewegt blickt der Pastor vor sich hin. Schließlich wiederholt<br />

er seine Frage: “Also, wie wär’s, wollen wir uns noch<br />

ein bißchen in den Garten setzen?”<br />

“Gern, Vater.”<br />

Arm in Arm gehen Vater und Tochter zur Tür hinaus. Im<br />

Licht der späten Nachmittagssonne erstrahlt die Natur in<br />

leuchtendem Rot, Gelb, Braun und Grün – wie das Meisterwerk<br />

eines genialen Malers. Der nahe Pflaumenbaum ist be-


546 ENGEL UND TEUFEL<br />

reits weitgehend abgeerntet. Die wenigen noch an den Ästen<br />

verbliebenen Früchte sind tief dunkelblau. Und sie schmekken<br />

wunderbar süß.<br />

Vater und Tochter setzen sich auf die alte Bank neben der<br />

Haustür. Der Pastor streicht sich mit der Hand übers Knie<br />

und blinzelt in die tiefstehende Sonne.<br />

“Der Pflaumenbaum”, sagt Inge, “er hat uns schon viel Freude<br />

bereitet.” Mit der Hand wirft sie den Zopf über die Schulter.<br />

Ganz fest hakt sie sich ein bei ihrem Vater und schmiegt sich<br />

an ihn. “Auch die Wespen haben an den leckeren Pflaumen<br />

genascht. Bei denen muß man sich in acht nehmen. Ihr Stich<br />

kann lebensgefährlich sein.” Sie sieht hinüber zum Pflaumenbaum.<br />

“Vor kurzem ist eine Kommilitonin von mir an einem<br />

Wespenstich gestorben.”<br />

Wieder streicht der Pastor übers Knie, als wolle er etwas<br />

wegwischen. “So manches in unserem Leben verläuft anders,<br />

als wir denken, und so manches auch anders, als wir es uns<br />

wünschen … Es ist furchtbar, daß deine Kommilitonin an<br />

einem Wespenstich sterben mußte … Aber wir dürfen der<br />

Wespe dafür nicht die Schuld zuweisen. Sicherlich hat sie aus<br />

Angst zugestochen.”<br />

“Das glaube ich auch.”<br />

Noch eine Weile sprechen Vater und Tochter miteinander<br />

auf der Bank vor dem Haus. Dann streichelt der Pastor seiner<br />

Tochter liebevoll über den Scheitel. Er erhebt sich und geht<br />

ins Haus. Im Wohnz<strong>im</strong>mer entn<strong>im</strong>mt er dem Zigarrenkasten<br />

eine Hand voll cellophanumhüllter Zigarren und steigt damit<br />

die Treppe hinauf. In seinem Z<strong>im</strong>mer ordnet er Unterlagen<br />

für den Kirchentag. Dann packt er seinen kleinen Koffer.<br />

Inge kommt die Treppe hinaufgestürmt: “Kann ich dir helfen?”<br />

“Nein. Vielen Dank. Die paar Sachen sind schnell gepackt.<br />

Ich bleibe nur eine Nacht. Morgen abend bin ich zurück.”<br />

Inge geht die Treppe wieder hinunter und dann in die Kü-


Wespen 547<br />

che. Dort gibt sie Eier in den Kochtopf, schneidet Brot, holt<br />

Butter und Wurst herbei und bereitet ein paar Schnitten zu.<br />

Sie wickelt Salz in ein Stückchen Staniolpapier, läuft in den<br />

Garten und klettert auf den untersten Ast des Pflaumenbaums.<br />

Elf Pflaumen kann sie ohne Leiter erreichen. Damit<br />

geht sie zurück ins Haus, wäscht die tief-dunkelblauen<br />

Früchte unter dem Wasserhahn und trocknet sie ab. Alles<br />

zusammen verpackt sie zu einem Paket.<br />

Dann holt sie ein Blatt Papier und schreibt darauf:<br />

Ich danke Dir, geliebter Vater!! Mit Deinem Entschluß,<br />

allein zu fahren, hast Du mir eine ganz große Freude bereitet.<br />

Ich werde Dir morgen den Empfang dahe<strong>im</strong> besonders<br />

schön gestalten.”<br />

Den Zettel schiebt sie in das Paket und verschnürt es. Über<br />

die Schulter ruft sie: “Möchtest du etwas zu trinken mitnehmen?”<br />

“Nein danke”, ruft der Pastor zurück. Als er gleich darauf<br />

mit seinem Koffer die Treppe herunterkommt, fügt er hinzu:<br />

“Ich werde mir eine Flasche Apfelsaft kaufen.” Der Pastor<br />

n<strong>im</strong>mt das Paket in Empfang, verstaut es <strong>im</strong> Koffer und küßt<br />

Inge auf die Stirn.<br />

Arm in Arm verlassen Vater und Tochter das Haus. Langsam<br />

schreiten sie durch den kleinen Garten und dann durch<br />

das Holztor mit dem eingeschnitzten großen Kreuz.<br />

Vor dem Tor steht ein Auto. Der Pastor der Nachbargemeinde<br />

ist gekommen. Er will die beiden zum Bahnhof fahren.<br />

“Grüß Gott! Da seid ihr ja, ihr beiden!”<br />

“Grüß Gott. Inge kommt nicht mit. Sie erwartet am späten<br />

Abend einen wichtigen Anruf aus Los Angeles. Von ihrem zukünftigen<br />

Mann.”<br />

Der Pastor sieht seine Tochter an. Er umarmt sie, so als wolle<br />

er sie nie wieder loslassen. Nach einer Weile löst sich Inge aus<br />

seinen Armen mit langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewe-


548 ENGEL UND TEUFEL<br />

gungen. Ein letzter, tiefer Blick. Dann steigt der Pastor, seinen<br />

kleinen Koffer vor der Brust, in den wartenden Wagen. Ein<br />

Winken …<br />

Und nun ist Inge allein.<br />

Langsam geht sie zurück ins Haus und verschließt die Tür.<br />

Sie sieht sich um. Überlegt. Irgendwie kommt sie sich verloren<br />

vor. Unschlüssig irrt ihr Blick umher.<br />

Nach einer Weile setzt sie sich in den Sessel, in dem zuletzt<br />

Peter gesessen hatte. Ihre Finger streicheln das weiche Leder –<br />

als wäre es seine Haut. Ihre Gedanken beginnen zu wandern.<br />

Das Wandern geschieht ohne Denken, ganz ohne daß das Ergebnis<br />

des gedanklichen Herumwanderns ins Bewußtsein<br />

dringt. Inge schließt die Augen. Nun träumt sie. Von zwei fröhlichen<br />

Kindern. Vom Glück ihres Vaters, der mit seinen Enkeln<br />

spielt. Von ihrem Leben mit Peter…<br />

Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … Es ist zehn Uhr.<br />

Inge blickt auf. Lächelt. Dann wandern ihre Gedanken zu<br />

ihrem Vater. Sie ist ihm so dankbar für seine Liebe, so dankbar,<br />

daß er ihrer stillen Bitte, zu Hause bleiben zu dürfen, entsprochen<br />

hat. Ganz fest n<strong>im</strong>mt sie sich vor, ihm morgen einen<br />

unvergeßlich schönen Empfang zu bereiten.<br />

Wieder streichelt sie über Peters Sessel. Läßt ihre Augen<br />

verweilen auf dem Aschenbecher, in dem er seine Pfeife<br />

ausgeklopft hat. Steht auf. Macht ein paar ziellose Schritte.<br />

Setzt sich wieder. Schließt die Augen. Sie sieht Peter, als stünde<br />

er da, neben ihr. Wie früher.<br />

Peters Botschaft<br />

Das Bild ihres Geliebten treibt sie an Orte, an denen er<br />

war. In der letzten Nacht vor seinem Abflug nach Amerika<br />

war Peter <strong>im</strong> Gästez<strong>im</strong>mer. Rasch eilt sie die Treppe hinauf.<br />

Als sie die Tür öffnet, umweht sie ein Hauch des aromati-


Peters Botschaft 549<br />

schen Duftes von Peters Pfeifentabak. Sie setzt sich auf einen<br />

Stuhl. Ihr ist, als wäre er nur einmal kurz hinausgegangen,<br />

als müßte er jeden Augenblick zur Tür hereinkommen.<br />

Inge neigt den Kopf, legt die Hände in den Schoß und faltet<br />

sie. Langsam beginnen ihre Augen herumzusuchen, von den<br />

gefalteten Händen zur Z<strong>im</strong>merdecke, zum Fenster, über Wände<br />

und Möbel hinüber zu dem großen Bett. ‘Hier’, denkt sie,<br />

und ihr Herz krampft sich zusammen, ‘hier hat er geschlafen.’<br />

Sie steht auf, geht hinüber zum Bett, setzt sich und streichelt<br />

über das Kopfkissen, dort, wo Peters Kopf geruht hatte. Ihre<br />

Fingerspitzen stoßen gegen Papier. Es ist eingeklemmt zwischen<br />

Bett und Wand. Sie steht auf. Mit den Knien drängt sie<br />

gegen das Bett und schiebt zugleich mit den Händen. Das Bett<br />

gibt nach. Krächzendes Knarren. Drei eingefangene Papierbögen<br />

segeln zu Boden. Sie bückt sich und sammelt die Bögen<br />

ein. Sie sind beschrieben. Es ist Peters Handschrift. Nicht<br />

schön, schwer lesbar. Aber von Peter!<br />

‘Vielleicht ist es etwas Wichtiges, das ich ihm sogleich nachschicken<br />

muß?’ Sie n<strong>im</strong>mt die Papierbögen in die Hand und<br />

ordnet sie. Dann setzt sie sich damit wieder auf das Bett und<br />

liest. Die Überschrift lautet: Schuld und Strafe. ‘Merkwürdig’,<br />

denkt sie, ‘darüber hat er mit mir nie gesprochen. Offenbar<br />

haben ihn diese Gedanken noch in der letzten Nacht vor seiner<br />

Abreise so sehr beschäftigt, daß er sie niederschreiben mußte.’<br />

Sie kommt nur langsam voran. Peters Schrift ist wirklich<br />

eine schl<strong>im</strong>me Sache. Er schreibt:<br />

Die Essenz unseres So-Seins wird von Kräften best<strong>im</strong>mt, auf<br />

die wir selbst keinerlei Einfluß haben. In keiner Phase der Entstehung<br />

unserer Individualität besteht eine Wahlmöglichkeit, so<br />

oder so zu werden, diese oder jene Eigenschaft zu haben. Wie<br />

also können wir daran schuldig werden? Ebensowenig wie es<br />

unsere Schuld sein kann, daß wir blond sind oder einen Buckel<br />

haben, ebensowenig kann es unsere Schuld sein, daß wir dumm<br />

sind oder klug, kleptoman oder eigentumsrespektierend, starke<br />

Triebe haben, einen schwachen Willen – oder gar beides. Ererb-


550 ENGEL UND TEUFEL<br />

tes liegt außerhalb menschlicher Schuldzuweisungskompetenzen.<br />

Wie groß ist der Spielraum? Er ist individuell verschieden<br />

groß. Die Menschen sind ja nicht gleich, wie einige Hohlköpfe<br />

nicht aufhören zu behaupten, sondern alle Individuen sind unaufhebbar<br />

voneinander verschieden. Das ist ein Naturgesetz,<br />

eine Voraussetzung für das Funktionieren irdischen Lebens.<br />

Manchem schlägt das Herz träge hinter den Rippen. Manchem<br />

verharrt der Verstand <strong>im</strong> Dunkel. Vielen gelingt es, ihr Verhalten<br />

zu steuern – durch Lernen, Erziehung, Einsicht und<br />

Beachten von Vorschriften. Wo aber ein starker Trieb mit einem<br />

schwachen Willen kombiniert ist, da bleiben die Korrekturmöglichkeiten<br />

begrenzt, manchmal so sehr, daß es früher oder<br />

später zu einem Verbrechen kommen muß. So mancher<br />

Verbrecher ist Täter und Opfer in einem.<br />

Von diesen unwiderlegbaren Tatsachen muß jede Erörterung<br />

über Schuld und Strafe ausgehen. Da keine Wahlmöglichkeit<br />

besteht, so oder so zu werden, kann das So- oder So-Geworden-<br />

Sein nicht als Schuld gewertet werden. Und wo es keine Schuld<br />

gibt, da kann es keine Strafe geben. Wohlgemerkt: es geht mir<br />

hier um Prinzipielles, um den Kern der Problematik. Natürlich<br />

gibt es Verstöße gegen die Rechtsordnung, die auf korrigierbarer<br />

Disziplinlosigkeit beruhen, und es gibt Verbrechen, bei denen<br />

rücksichtsloses Streben nach eigenem Vorteil <strong>im</strong> Vordergrund<br />

steht, bei denen mit klarem Verstand absichtsvoll gegen die Moral-<br />

und Wertvorstellungen der Gemeinschaft verstoßen wird.<br />

Unsere Rechtsordnung beruht auf dem Prinzip von Schuld<br />

und Strafe, christlicher Verhaltensanspruch auf dem Prinzip<br />

von Sünde und Buße. Aber die Begründungen für das Recht des<br />

Strafens und des Auferlegens von Buße werden nicht in ausreichendem<br />

Maße auf erkennbare Realitäten zurückgeführt, sondern<br />

auf Vorstellungen von Schuld und Strafe, und von Sünde<br />

und Buße, die nach den Ausdeutungen der Rechts- und Glaubenshüter<br />

formalisiert worden sind. Machen sich diese Hüter<br />

da nicht – in ihrem eigenen Sinne – selber schuldig? Durch Unterlassen<br />

ausreichender Suche nach den Ursachen? Durch un-


Peters Botschaft 551<br />

beirrtes Festhalten an Denk- und Glaubenssystemen, die nach<br />

heutigem Wissensstand keine festen Grundlagen mehr haben?<br />

Sollen wir einen Dieb ungeschoren, einen Mörder frei herumlaufen<br />

lassen? Nein, natürlich nicht. Aber bei der Beurteilung<br />

ihres Verhaltens sollte nicht länger die Frage nach der Schuld<br />

<strong>im</strong> Vordergrund stehen. Der Verbrecher und dessen Schuld auf<br />

der einen Seite, der Strafanspruch des Staates auf der anderen<br />

– dieses Konzept ist brüchig geworden. Ein Strafurteil, das<br />

voraussetzt, daß der Verurteilte auch anders hätte handeln können,<br />

muß das Vorhandensein einer solchen Voraussetzung nachweisen,<br />

zumindest als sehr wahrscheinlich einstufen können.<br />

Sonst setzt es sich dem Vorwurf der Ungerechtigkeit aus.<br />

Der Kern der Problematik ist doch dieser: Jede Gesellschaft<br />

muß Regeln für das Miteinander hervorbringen, achten und<br />

schützen. Aus der Wahrnehmung dieser Aufgaben erwächst ihr<br />

die Zuständigkeit, gegen Mitmenschen vorzugehen, die die<br />

Regeln verletzen, auch gegen Individuen, die auf Grund ihres<br />

So-Seins außerstande sind, die Regeln einzuhalten. Die<br />

Gesellschaft hat nicht das Recht, solche Individuen zu bestrafen,<br />

aber sie hat die Pflicht, sie mit geeigneten Mitteln zur<br />

Einhaltung der Regeln zu zwingen. Sie hat die Pflicht, einen<br />

Verbrecher an der Verursachung weiteren Schadens zu hindern,<br />

ihn also zu isolieren. Diese Isolationspflicht schließt Fürsorge-,<br />

Belehrungs- und Erziehungspflichten ein, sowie die Aufgabe,<br />

dem Isolierten <strong>im</strong> Rahmen des Möglichen ein menschenwürdiges<br />

Dasein zu gewähren.<br />

Korrekturmöglichkeiten von Verstößen gegen die Regeln der<br />

Gesellschaft müssen eingehender erforscht und Rehabilitationsmöglichkeiten<br />

überdacht werden. Triebtäter mit unzureichendem<br />

Kontrollvermögen dürfen nie wieder in die Gesellschaft<br />

entlassen werden – es sei denn, sie sind bereit, sich ärztlichen<br />

Eingriffen zu unterziehen, die erwiesenermaßen eine Wiederholung<br />

des Verbrechens ausschließen.<br />

Man mag einwenden, der ‘Strafvollzug’ sei ohnehin schon<br />

sehr teuer. Mag sein. Deshalb darf man aber vor der Realität die


552 ENGEL UND TEUFEL<br />

Augen nicht verschließen. Geregeltes Miteinander, Sicherheit<br />

und Ordnung haben ihren Preis.<br />

Und vergessen wir nicht, daß so manch einer von uns Mitverursacher<br />

eines Verbrechens ist! Wenn ich als Betreiber eines<br />

Supermarktes latent Kleptomanen meine Ware geradezu in die<br />

Hand dränge, in der Absicht, möglichst viel davon zu verkaufen,<br />

dann bin ich Mitverursacher eines möglichen Fehlverhaltens.<br />

Wenn ich potentiellen Triebtätern durch Fernsehen,<br />

Filme oder Bücher <strong>im</strong>mer wieder die Emotionen vermittle, die<br />

diese Menschen unterdrücken möchten, dann bin ich Mitverursacher.<br />

Wer um eigener Vorteile willen – oder aus Gedankenlosigkeit –<br />

bei anderen rechtswidriges Verhalten fördert, muß sich fragen<br />

lassen, ob er nicht am Fehlverhalten eines Mitmenschen mitgewirkt<br />

hat, insbesondere eines Menschen, der trotz großer innerer<br />

Gegenwehr schließlich ein Verbrechen begeht.<br />

Langsam läßt Inge die bekritzelten Papierbögen sinken und<br />

blickt auf. “Oh, Peter”, sagt sie kopfschüttelnd. “Oh, mein geliebter<br />

Peter. Du stellst noch die ganze Welt auf den Kopf!”<br />

Aber sie sagt das ohne Vorwurf. Und jetzt lächelt sie sogar.<br />

Anruf<br />

Seit einer Viertelstunde sitzt Inge auf einem alten Stuhl<br />

neben dem Telephon. Weiß ist es und sorgfältig geputzt. Es<br />

steht auf einem kleinen, viereckigen Eichentisch neben der<br />

Küchentür. Generationen von Pastoren und deren Familien<br />

war der Tisch für vielfältige Dinge zu Diensten. Auf seiner<br />

Oberfläche liefern Kratzer und Abschürfungen, verursacht<br />

durch eben diese Menschen, Beweise dafür, daß sie existiert<br />

haben. Nicht unmittelbar sichtbare Beweise ihrer Existenz<br />

liegen in sorgfältig gepflegten Gräbern auf dem kleinen Friedhof<br />

hinter dem Pastorenhaus. Es ist zur Tradition geworden,


Anruf 553<br />

daß Pastoren, die lange in dieser Gemeinde gedient haben,<br />

ebenso wie deren engste Familienangehörige, dort ihre letzte<br />

Ruhe finden.<br />

Voller Ungeduld blickt Inge auf Tisch und Telephon. Peter<br />

ist sehr stark in ihr. Sie braucht nur kurz die Augen zu schließen,<br />

und schon steht er da. Geradezu unbändig freut sie sich<br />

darauf, seine St<strong>im</strong>me zu hören. Ihre innere Anspannung verlangt<br />

nach Bewegung. So steht sie auf und geht <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer<br />

auf und ab. Es ist jetzt fünfzehn Minuten vor elf. Um elf will<br />

Peter anzurufen.<br />

Die Gedanken wandern zu ihrem Vater. In den letzten Jahren<br />

hatte sie ihn stets zum Kirchentag begleitet. Dort hatte<br />

sie viele interessante Menschen kennengelernt. Mit Gottesdiensten,<br />

Bibelarbeit, Musik, Vorträgen, Diskussionen und<br />

Theateraufführungen waren die Kirchentage ein besonderes<br />

Erlebnis für sie gewesen. Manche Vorträge allerdings waren<br />

recht theoretisch oder programmatisch. Kirchenpolitisches<br />

hat sie nie interessiert. Da wurden oft Themen behandelt, die<br />

wenig zu tun hatten mit dem Glauben. So war sie während<br />

des letztjährigen Kirchentages an einem Nachmittag den<br />

Vorträgen ferngeblieben und hatte sich die Stadt angesehen.<br />

Nach einem Spaziergang war sie in ein Museum gegangen.<br />

Dort lief gerade eine Sonderausstellung über die Frühgeschichte<br />

der Menschheit. Die maßstabgerechten Nachbildungen<br />

der ersten Menschen, die detaillierte, anschauliche Darstellung<br />

der schrittweisen Menschwerdung aus tierischen<br />

Vorfahren und die großen Wandmalereien, auf denen die Entwicklung<br />

der Menschheit schematisch dargestellt war, all das<br />

hatte sie stark beeindruckt. Lange hatte sie vor einem Bild<br />

gestanden, das die allmähliche Entstehung des modernen<br />

Menschen aus affenähnlichen Tieren wiedergab, mit großer<br />

Ausdruckskraft und in lebensnahen Farben.<br />

‘Die Wissenschaftler’, hatte sie damals gedacht, ‘die entwikkeln<br />

da Vorstellungen, die eigentlich wenig übrig lassen von<br />

der biblischen Schöpfungsgeschichte.’


554 ENGEL UND TEUFEL<br />

Darüber hatte sie am Abend mit ihrem Vater gesprochen.<br />

Der hatte genickt und über ihren Scheitel gestreichelt. Dann<br />

waren sie spazierengegangen. Dabei hatte es ihr Vater vermocht,<br />

die unterschiedlichen Blickwinkel von Religion und<br />

Wissenschaft miteinander auszusöhnen. Er hatte gesagt: ‘Die<br />

biblische Schöpfungsgeschichte ist ein Gleichnis. Sie ist so<br />

verfaßt, daß jede Zeit ihre neugewonnenen Erkenntnisse und<br />

Einsichten darin wiederfinden kann – sofern die Menschen das<br />

nur wollen. Die Gleichnisse in der Bibel deuten nur an. Sie vergleichen<br />

mit den Erfahrungen des Alltags. Sie dienen der Veranschaulichung,<br />

Verdeutlichung und Vertiefung der Verkündigungen.<br />

Man soll von Gleichnissen nichts erwarten, das sie<br />

nicht leisten können. Die Bibel ist kein wissenschaftliches<br />

Lehrbuch. Sie will nicht wörtlich genommen werden. Nichts<br />

Menschliches ist der Bibel fremd. Ihre Botschaften sind zeitlos.<br />

Daher muß sie sich auch zeitloser Gleichnisse bedienen. Im<br />

Übrigen schließt die Bibel eine Entwicklung des Menschen<br />

sowohl körperlich als auch geistig keineswegs aus.’<br />

Das Telephon klingelt! Inge reißt den Hörer an sich und<br />

ruft: “Peter!! Peter, wie geht es Dir??”<br />

Aber es antwortet eine Frauenst<strong>im</strong>me. Ihre Freundin bedankt<br />

sich nochmals für alles, was Inge für sie getan hat. Ob<br />

sie sich heute in einer Woche treffen können?<br />

“Ja”, sagt Inge, “gern. Wenn es dir recht ist, komme ich am<br />

nächsten Mittwoch abends zu dir, so um neun.”<br />

“Pr<strong>im</strong>a. Danke!”<br />

Dann sagt Inge, daß sie auflegen muß, weil sie einen Anruf<br />

von Peter aus Amerika erwartet.<br />

“Also, tschüß dann, bis heute in einer Woche.”<br />

“Ja. Bis Mittwoch.”<br />

Rasch legt Inge den Hörer zurück auf die Gabel.<br />

Das Telephon bleibt stumm. Sie wartet. Voller Ungeduld.<br />

Aber das Telephon bleibt stumm.<br />

Elfmal dröhnt die Kirchturmglocke. Zehn Minuten vergehen,<br />

fünfzehn Minuten.


Inge rennt die Treppe hoch und holt Peters Brief unter ihrem<br />

Kopfkissen hervor. Zurückgekehrt, liest noch einmal, was Peter<br />

da geschrieben hat. Er schreibt: Ich werde versuchen, dich<br />

am Mittwoch um 23 Uhr dortiger Zeit anzurufen. Aber dann<br />

steht da auch noch, ganz klein: sonst einen Tag später. Das hatte<br />

sie bisher völlig übersehen!!<br />

Zwanzig Minuten nach elf. Inge hat die Hoffnung noch <strong>im</strong>mer<br />

nicht aufgegeben. Halb zwölf.<br />

Jetzt seufzt sie und zuckt mit den Schultern: “Heute wird<br />

das nichts mehr”, sagt sie traurig. Aber noch <strong>im</strong>mer hat sie<br />

Bedenken, sich weit vom Telephon zu entfernen.<br />

Fünfzehn Minuten vor zwölf.<br />

“Dann eben morgen.” Zögernd steht sie auf und sieht sich<br />

um. Sie überlegt. Sie weiß nicht, was sie tun soll.<br />

Mitternacht<br />

Mitternacht 555<br />

Wieder setzt sich Inge in Peters Sessel. Und wieder<br />

erscheint ihr sein Bild. So klar, so deutlich, daß sie versucht<br />

ist, mit ihm zu sprechen. Und ganz plötzlich drängt es sie,<br />

einen Ort aufzusuchen, an dem sie oft gemeinsam waren: Die<br />

Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche. Den Ort,<br />

an dem sie und Peter die Brücke gebaut und vollendet haben<br />

– die Brücke, die sie nun miteinander verbinden soll, ein<br />

ganzes Leben lang, bis in den Tod. Diese Bank, auf der ihre<br />

Liebe entstanden und gewachsen ist, hat für sie eine schicksalhafte<br />

Bedeutung.<br />

Mit einem Schwung wirft sie ihren Staubmantel über die<br />

Schultern. Rasch verschließt sie das Haus. Mit fliegenden<br />

Mantelschößen läuft sie zur Bank auf dem Hügel, ihrer und<br />

Peters Bank.<br />

An der Bank angekommen, atmet sie tief. Setzt sich. Streichelt<br />

mit der flachen Hand über das harte Holz. Dann steht<br />

sie auf. Erhitzt vom Rennen, legt sie den Staubmantel ab,


556 ENGEL UND TEUFEL<br />

breitet ihn aus über die Sitzfläche und setzt sich darauf. Ihre<br />

Gedanken wandern zu ihrem Geliebten. Auf dem Flugplatz<br />

hatte er ihr noch rasch ins Ohr geflüstert: ‘Ich liebe dich so<br />

sehr! Und ich kann es gar nicht erwarten, bis wir auch vor deinem<br />

Gott ein Paar sind.’<br />

Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hält Inge ihren Kopf<br />

in beiden Händen. Sie denkt an die vielen Stunden, die sie mit<br />

Peter auf dieser Bank verbracht hat. Auf den Boden blickend,<br />

gibt sie sich ganz ihren Erinnerungen hin.<br />

Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Es wird dunkler <strong>im</strong><br />

<strong>Park</strong>. Inge schließt die Augen. Sie träumt. Von der bevorstehenden<br />

Hochzeit. Von ihrem zukünftigen Leben mit Peter.<br />

Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … Zwölfmal dröhnt die<br />

Kirchturmglocke. Es ist Mitternacht.<br />

Als das Dröhnen des letzten Glockenschlags <strong>im</strong> <strong>Park</strong> verhallt<br />

ist, öffnet Inge ihre Augen. Sie blickt auf zwei schwarze<br />

Schuhe. Ein Mann steht direkt vor ihr. Die Kirchturmglocke<br />

hatte das Knirschen seiner Tritte <strong>im</strong> Kies des Weges verschluckt.<br />

Genau <strong>im</strong> Rhythmus der Glockenschläge hatte der<br />

Mann, jedesmal wenn der Klöppel den Rand der Glocke traf,<br />

einen Schritt vorwärts gemacht. Mit dem zwölften Glockenschlag<br />

steht er nun vor ihr. Er starrt auf ihren Scheitel.<br />

Langsam wandert Inges Blick empor an der kleinen, dunkelgekleideten<br />

Gestalt. Sie sieht in das Gesicht. Es ist mit dunkler<br />

Erde eingerieben. Darüber erkennt sie eine Schiffermütze.<br />

In dem schwarzen Gesicht funkeln weit aufgerissene Augen.<br />

Die Augen eines Irren. Ihr rundes Schwarz droht und durchbohrt,<br />

ihr ovales Weiß glitzert und glüht. Aus den Augen starrt<br />

der Teufel.<br />

Die Augen machen ihr Angst. Hilflos fragt sie: “Kann ich Ihnen<br />

helfen?”<br />

Der Mann antwortet nicht. Bebende Finger packen ihre<br />

Schultern, dann die Kehle. Der Mann drängt sich nach vorn.<br />

Mit der Kraft des Irrsinns und mit seinem ganzen Gewicht<br />

drückt er sie nieder auf die Sitzfläche.


Mitternacht 557<br />

Der Schmied ist heute erst spät gekommen. Er mußte Überstunden<br />

machen auf der Werft. Zwei große neue Aufträge<br />

nehmen alle Hände in Anspruch. Er ist todmüde. Aber er wollte<br />

unbedingt in den <strong>Park</strong>. Hier umfängt ihn ein Stück He<strong>im</strong>at.<br />

Hier bettet sich seine Einsamkeit in ein seelenwärmendes<br />

Sich-Wohlfühlen <strong>im</strong> Gewohnten. Hier taucht er ein in eine<br />

vertraute Umgebung, in oft erlebte Abläufe des Geschehens<br />

und in bewährte Männerfreundschaft. Zunächst jedoch verlangt<br />

die Müdigkeit ihr Recht. Er legt sich auf seine Matte tief<br />

<strong>im</strong> Gebüsch hinter der Bank auf dem Hügel. Und schon fallen<br />

ihm die Augen zu.<br />

Eine knappe Stunde später weckt den Schmied die Kirchturmglocke.<br />

Er gähnt, reibt sich die Augen, hebt die Arme<br />

und fährt damit in der Luft herum. Von der Bank her hört er<br />

Geräusche. “Wahnsinn!” flüstert er, “die drehn da ‘ne Nummer<br />

und ich penn hier.” Rasch windet er sich durch Büsche.<br />

Keuchen. Dann Stöhnen. ‘Da näuft was’, denkt er und pirscht<br />

weiter. Ein heller Schrei! Unvermittelt bricht der ab, so als<br />

wäre der Schreienden eine Hand über den Mund gepreßt<br />

worden. Der Schmied macht noch einen Schritt. Dann<br />

besteigt er die Plattform aus Feldsteinen. Er biegt einen<br />

Fliederzweig beiseite. Da sind zwei heftig zugange. Aber da<br />

st<strong>im</strong>mt was nicht. Die Frau wehrt sich. Sie wehrt sich verzweifelt!<br />

Der Mann liegt auf der Frau. Eine Hand über ihren Mund<br />

gepreßt, zerfetzt er mit der anderen, wie vom Teufel besessen,<br />

ihre dünne Bluse.<br />

Der Schmied will helfen. Aber er kann nicht. Er ist gelähmt!<br />

‘Wie damans!’, schreit es in ihm. ‘Genau wie damans!! Nich<br />

noch man!’, hämmert es in seinem Hirn. ‘Nich noch man!!!’<br />

Wie ein Tier verklammert und verbeißt sich der Mann am<br />

Fleisch der Frau. Keuchend reißt er ihr den Büstenhalter vom<br />

Leib. Aus seinen Mundwinkeln tropft Speichel. Dünne Finger<br />

ziehen und zerren Kleidung aus dem Weg. Das bucklige Un-


558 ENGEL UND TEUFEL<br />

geheuer will den Engel nackt, so, wie er ihm viele Male erschienen<br />

ist!<br />

Die Frau wehrt sich mit all ihrer Kraft. Laut ruft sie etwas in<br />

die Nacht, das hört sich an wie “Pet der!” oder so ähnlich. Da<br />

würgt der Mann die Frau. Immer weiter. Bis sie bewegungslos<br />

daliegt. Hastig zerrt er eine Leine aus der Tasche, umschlingt<br />

damit die Füße der Frau und verknotet das Ende der Leine an<br />

der Bank. So groß ist seine Angst, daß ihm der Engel <strong>im</strong> letzten<br />

Augenblick noch entkommen könnte.<br />

Unerwartet erwacht die Frau aus ihrer Ohnmacht. Mit letzter<br />

Kraft stößt sie den Mann von sich und setzt an zur Flucht.<br />

Links neben der Bank stürzen beide zu Boden.<br />

Dem Schmied wird schlecht.<br />

Fast nackt, richtet sich die gefesselte Frau auf. Sie kniet,<br />

faltet die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />

Da zuckt der Mann zusammen. Er sieht einen großen Stein.<br />

Der liegt da vor ihm. Mit beiden Händen umklammert er den<br />

Stein in seiner verengten Mitte. Ächzend stemmt er ihn in die<br />

Höhe. Und dann schmettert er ihn mit aller Wucht auf den<br />

Scheitel der Betenden. Wie vom Blitz getroffen stürzt die zu<br />

Boden. Für einen Augenblick herrscht Stille. Mit irren Augen<br />

sieht der Mann sich um. Und dann, geritten vom Teufel, hebt<br />

er den Stein erneut und schlägt mit großer Wucht zu. Und<br />

noch ein drittes Mal.<br />

Der Schmied taumelt. Rutscht von der Plattform. Stürzt.<br />

Liegt am Boden. Finger krallen in den Trampelpfad. Ziehen<br />

und zerren den Körper vorwärts. Weg von der Bank! Beine<br />

schleifen nach. Weg von der Bank!! Knie beginnen zu drükken.<br />

Taumelndes Kriechen. Weg von der Bank!!! Der Schmied<br />

versucht, sich aufzurichten. Stürzt vornüber. Mit Macht knallt<br />

der Kopf auf einen Baumstumpf. Der harte Aufprall löst die<br />

hypnotische Verkrampfung. Wankend beginnt er zu laufen.<br />

Auf dem Hauptweg kommt ihm der Festmacher entgegen.<br />

“Hallo!”, ruft er und stellt sich dem Freund in den Weg. “Was’s<br />

los?”


Mitternacht 559<br />

Keine Antwort.<br />

Stumm bricht der Schmied zusammen. Der Festmacher<br />

springt hinzu und umfängt den Stürzenden mit beiden Armen.<br />

Keuchend schleift er den schlaffen Körper zur nächsten Bank.<br />

Dort läßt er ihn auf die Sitzfläche niedergleiten und stemmt<br />

den Rücken des Freundes gegen die Lehne. Da sackt der in sich<br />

zusammen.<br />

“Mann, Mann, Mann!! Was’ s los, Schmied? Hast du den<br />

Teufel gesehn??”<br />

Der Schmied antwortet nicht.<br />

Er zittert. Immer stärker wird das Zittern, wird zum Rütteln<br />

und Schütteln.<br />

Der Festmacher versucht, ihn aufzurichten. “Reiß dich zusamm’n,<br />

Mann! Sag mir endlich, was los is! Was is passiert??”<br />

Der Schmied antwortet nicht.<br />

Der Festmacher fühlt, daß jedes weitere Fragen <strong>im</strong> Augenblick<br />

zwecklos ist. So schweigt er, legt den Arm um den Freund,<br />

drückt ihn an sich. Eine Zeitlang sitzen die beiden so.<br />

Mit einem Ruck befreit sich der Schmied und richtet sich<br />

auf. Ganz steil aufgerichtet sitzt er nun da. Er hebt den Kopf,<br />

lehnt ihn zurück. Direkt in den H<strong>im</strong>mel blickt er jetzt. Er reißt<br />

den Mund auf, ganz weit. Und nun heult er. Wie ein Wolf heult<br />

er. Heult und heult und heult. Ganz fürchterlich hört sich das<br />

an.<br />

Der Festmacher erschrickt. Er will etwas sagen, versucht,<br />

den Freund in den Arm zu nehmen. Der aber reißt sich los mit<br />

ungeheurer Kraft. Springt hoch. Taumelt ein paar Schritte.<br />

Und dann rennt er, rennt den Hauptweg entlang. Rennt raus<br />

aus dem <strong>Park</strong>. Rennt und rennt und rennt.<br />

Er wird den <strong>Park</strong> nie wieder betreten. Die beiden Freunde<br />

werden einander niemals wiedersehen.<br />

“Mann, Mann, Mann!!”, ruft der Festmacher ganz laut. “Was<br />

is bloß mit dem Schmied los!” Und er denkt: ‘Da muß was<br />

Furchtbares passiert sein!’ Er steht auf. Spuckt. Sieht sich


560 ENGEL UND TEUFEL<br />

um. Überlegt. Es ist zu spät, dem Schmied noch nachzulaufen,<br />

unmöglich, den noch einzuholen. ‘Ich muß jetz ersmal wissn,<br />

was da passiert is.’ Energisch zerrt er die Schiffermütze in die<br />

Stirn. Dann macht er sich auf den Weg.<br />

Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />

Jede Bank überprüft er, auch alles Gebüsch daneben und<br />

dahinter.<br />

Schon elf Bänke hat er nun untersucht. Auf der Bank an der<br />

Hecke liegt ein Paar. Die sind da zugange. Aber das interessiert<br />

ihn jetzt überhaupt nicht. Er biegt ein in den Spielplatz.<br />

Nichts Ungewöhnliches. So geht er weiter. Immer weiter.<br />

Jetzt ist schon über eine Stunde vergangen, seit der<br />

Schmied aus dem <strong>Park</strong> gerannt ist.<br />

Gegen den schwach erleuchteten Nachth<strong>im</strong>mel erkennt der<br />

Festmacher die gewaltige Krone der großen uralten Eiche. Er<br />

entschließt sich, auch die Bank auf dem Hügel zu inspizieren.<br />

Auf dem Weg dorthin hört er, von ganz ferne, Martinshörner.<br />

Sie kommen näher. Von allen Seiten kommen sie. Der Festmacher<br />

beschleunigt seine Schritte, geht weiter auf die Bank<br />

zu. Jetzt sch<strong>im</strong>mern auch rotierende Blaulichter von weitem<br />

durch Blätterwerk und Baumstämme. Als die Lichter näher<br />

kommen, reflektiert der Schein ihres bläulichen Geblinkes<br />

von tiefhängenden Wolken.<br />

‘Da is die Hölle los’, denkt der Festmacher. Und dann denkt<br />

er auch noch: ‘Bloß weg hier. Nix wie weg!’<br />

Aber er muß einfach wissen, was seinem Freund zugestoßen<br />

ist, was da passiert ist in seinem Revier. So rennt er auf<br />

Schleichwegen zu der Bank auf dem Hügel. Als er den Trampelpfad<br />

entlang läuft, blitzen von ganz nah Blaulichter durch<br />

Blätter. Es sind die Lichter der auf dem Hauptweg versammelten<br />

Polizeifahrzeuge. Scheinwerfer leuchten auf. Taschenlampen<br />

strahlen durch die Nacht. Schwer atmend rennt der<br />

Festmacher weiter. Nun steht er seitlich von der Bank hinter<br />

dem Fliederbusch. Er betritt seine Plattform. Vorsichtig biegt<br />

er einen Zweig beiseite.


“Mein Gott”, flüstert er, “mein Gott!!” Vor der Bank liegt das<br />

blonde Mädchen mit eingeschlagenem Schädel in einer großen<br />

Blutlache.<br />

In diesem Augenblick erfaßt den Festmacher der Strahl<br />

eines suchenden Scheinwerfers. “Da ist er”, brüllt eine kräftige<br />

Männerst<strong>im</strong>me. Da links neben der Bank! Faßt ihn! Faßt<br />

den Mörder!!!”<br />

Eine Trillerpfeife schrillt durch die Nacht. Und dann noch<br />

eine.<br />

“Steh’n bleiben!”, brüllt die Männerst<strong>im</strong>me. Und dann bellt<br />

ein Warnschuß auf. “Bleiben Sie sofort stehen!”, dröhnt es<br />

jetzt furchtbar laut aus einem Megaphon, “hier spricht die<br />

Polizei.” Und dann noch einmal: “Bleiben Sie stehen, wo Sie<br />

sind. Hier spricht die Polizei! Heben Sie die Hände in die<br />

Höhe. Kommen Sie raus aus dem Gebüsch! Wir machen sonst<br />

von der Schußwaffe Gebrauch!!”<br />

Karierte Jacke<br />

Karierte Jacke 561<br />

Der Festmacher rennt um sein Leben. Er hastet den Trampelpfad<br />

entlang, biegt ab nach links, rennt geradeaus, schlägt<br />

einen Haken nach rechts, läuft jetzt genau auf eine Gruppe von<br />

Polizisten zu. “Da ist er”, schreit einer der Männer: “Zwei Meter,<br />

dunkle Kleidung, schwarze Schirmmütze! Fangt den Kerl!!”<br />

Der Festmacher wendet sich noch weiter nach rechts, vorbei<br />

an mehreren dicht stehenden Bäumen. Springt in ein großes<br />

Dornengebüsch. Nur er weiß, wie man da durchkommt.<br />

Schlängelt, kriecht und robbt. Macht <strong>im</strong>mer wieder eine Pause.<br />

Keucht. Schluckt. Hält den Atem an. Lauscht mit zugekniffenen<br />

Augen. Dann rennt er weiter. Wechselt <strong>im</strong>mer wieder die<br />

Richtung. Hat jetzt die Verfolger abgeschüttelt. Bleibt stehen.<br />

Dreht den Kopf. Horcht mit gewölbten Handflächen an den<br />

Ohren. Läuft in Richtung Fluß. Hastet am Fluß entlang. Immer<br />

weiter. Die St<strong>im</strong>men kommen jetzt von weiter her.


562 ENGEL UND TEUFEL<br />

Aber nun hört er Hundegebell, von ein, zwei, drei Hunden.<br />

Die haben seine Spur aufgenommen. Sie jagen hinter ihm her.<br />

Seine Verfolger erreichen den Fluß und stürmen am Ufer entlang.<br />

Auch von der entgegengesetzten Seite des Flußufers nähern<br />

sich Taschenlampen. Der Festmacher sitzt in der Falle!<br />

Da donnert es und blitzt.<br />

‘Das muß nich schlecht sein’, denkt der Festmacher und<br />

steigt in das kalte Wasser. Holt Luft. N<strong>im</strong>mt seine Schiffermütze<br />

in die Hand. Taucht weg. Unter Wasser bewegt er sich<br />

auf eine schräg gegenüberliegende Uferstelle zu. Dorthin, wo<br />

er eben noch ganz tiefhängende, dicht beblätterte Zweige gesehen<br />

hat, die vom Ufer her weit über den Fluß ragen. Ganz<br />

vorsichtig taucht er auf. Genau unter den tiefhängenden Zweigen.<br />

Leise atmet er mehrmals durch, blickt sich um. Dann ragen<br />

nur noch Schnittlauchhaare, Augen und Nase aus dem<br />

Wasser.<br />

Am gegenüberliegenden Ufer, nur wenige Meter von ihm<br />

entfernt, stehen drei Polizeibeamte und suchen mit Taschenlampen<br />

den Uferbereich ab. Jetzt kommen auch die Hunde<br />

herangelaufen, die Nasen am Boden. Schnuppernd verharren<br />

sie an der Stelle, an der er in den Fluß geglitten ist. Sie bellen,<br />

was das Zeug hält. Die Situation scheint aussichslos. Da saugt<br />

der Festmacher abermals Luft in sich hinein und taucht<br />

unter, Mill<strong>im</strong>eter um Mill<strong>im</strong>eter. Unter Wasser hört er das<br />

mächtige Donnern des Gewitters. Und jetzt prasselt es mit<br />

Macht auf die Wasseroberfläche. Das kann nur Regen sein,<br />

eher ein Wolkenbruch. ‘Das muß nich schlecht sein’.<br />

Als er ganz vorsichtig wieder auftaucht, sind die Polizisten<br />

und die Hunde <strong>im</strong>mer noch da. Durch Regenböen stürmt ein<br />

vierter Polizeibeamter herbei: “Was steht Ihr hier rum?”,<br />

brüllt er, “der ist am Ufer längs gerannt! Los! Ihr zwei nach<br />

rechts und wir beiden nach links!” Alle vier rennen davon. In<br />

strömendem Regen. Und die Hunde hinterher.<br />

‘Nich schlecht’, denkt der Festmacher. ‘Gar nich schlecht.’<br />

Es ist verdammt kalt in dem Fluß. So kriecht er aus dem


Karierte Jacke 563<br />

Wasser. Schleicht gebückt die Uferböschung hoch, schlüpft<br />

in einen Busch und peilt die Lage. Dann kommt er wieder<br />

hervor. In einem großen Bogen wandert er durch den <strong>Park</strong>.<br />

Schließlich schlägt er die Richtung zur Stadt ein.<br />

Die Polizei hat einige sehr kluge Leute. Aber um den Festmacher<br />

zu fangen, müßten sie doppelt so klug sein.<br />

Als in weiter Ferne die Kirchturmglocke dre<strong>im</strong>al dröhnt,<br />

teilen sich am Rande einer leeren, regengepeitschten Straße<br />

Zweige dichtstehender Büsche. Heraus tritt ein großer Mann.<br />

Ruhig geht er den Fußsteig entlang. Seine rot-weiß karierte<br />

Jacke ist klitschnaß. Glitzernd reflektiert sie das Licht einer<br />

nahen Laterne. Mittelblonde kräftige Haare trotzen dem Unwetter<br />

wie widerspenstige Borsten. Angesichts des prasselnden<br />

Regens schlendert der Mann erstaunlich gelassen dahin.<br />

In einem entlegenen Teil des <strong>Park</strong>s hatte der Festmacher<br />

seine Jacke ausgezogen, ausgewrungen, gewendet, und dann<br />

hatte er sie – die rot-weiß karierte Innenseite jetzt außen – wieder<br />

angezogen. Später hatte er seine Schiffermütze sorgfältig<br />

versteckt.<br />

Der Festmacher taucht unter in der Großstadt. Immer weiter<br />

geht er, ruhigen Schrittes, aber tobenden Sinnes. Jetzt hat<br />

er ein mit alten Bäumen bestandenes Villenviertel erreicht.<br />

Im Fernlicht eines Autos wirft seine hohe, he<strong>im</strong>wärts strebende<br />

Gestalt lange, wandernde Schatten über die Wand einer<br />

großen weißen Villa.<br />

Der Mann, der den Festmacher fangen kann, ist noch nicht<br />

geboren worden. Der Festmacher ist nicht festzumachen.


Kosmische Erscheinung


IM WINTER<br />

Der Festmacher meldet sich bei seinem Chef: “Ich kann heut<br />

nich”, sagt er. “Ich muß mal was in Ordnung bringn. Bin morgn<br />

wieder da.”<br />

Nach dem Frühstück geht er in den <strong>Park</strong>. Es ist das erste<br />

Mal, daß er den <strong>Park</strong> bei Tag betritt. Er trägt einen hellen<br />

Wollmantel. Die Schnittlauchhaare spreizen vom Kopf wie die<br />

Stacheln vom Körper eines gereizten Igels. Als er den Hauptweg<br />

entlangwandert und die Brücke über den Bach am Fuß<br />

des Hügels in Sicht kommt, hat die Polizei ihre Arbeit gerade<br />

beendet. Die Reste der Absperrung werden in einem Kombiwagen<br />

verstaut. Drei Uniformierte steigen ein und fahren davon.<br />

Zwei Kr<strong>im</strong>inalbeamte folgen in einem schwarzen Volkswagen.<br />

Jetzt beginnt der Festmacher mit der Spurensuche. Scheinbar<br />

spazierengehend, schlendert er den Kiesweg hinauf. Dann<br />

steht er unter der großen uralten Eiche. Ihre gewaltige Krone<br />

hat die Bank weitgehend vor den Wassermassen des Wolkenbruchs<br />

geschützt. So vermag er <strong>im</strong> blutgetränkten Boden Spuren<br />

auszumachen – Spuren von Schuhsohlen, die er kennt.<br />

Ganz genau inspiziert er die Bank. Am Holz findet er winzige<br />

Faserreste von einer Leine, die er kennt. Und links neben der<br />

Bank liegt ein kleiner Teil von einem zertretenen Jackenknopf,<br />

den er kennt.<br />

Als er sich dem Kiesweg zuwendet, kommen drei Männer<br />

auf ihn zu. Der erste schiebt eine Karre mit Sand vor sich her.<br />

Der zweite trägt eine Schaufel in der Hand, der dritte eine<br />

Harke über der Schulter. Als der Festmacher auf der Brücke<br />

dem dritten begegnet, leuchtet dessen rotblondes Haar auf in<br />

einem Sonnenstrahl. Nur flüchtig treffen sich zwei Augenpaare,<br />

aber mit sonderbarer Intensität.<br />

Wieder auf dem Hauptweg, fährt die harte Hand wutbebend<br />

über dünne Lippen: ‘Dieses bucklige Ungeheuer! Dieser


566 IM WINTER<br />

Lügner, dieser Verbrecher, dieser Mörder!!!’ Mit geballten<br />

Fäusten in den Manteltaschen starrt der Festmacher in den<br />

H<strong>im</strong>mel. Sein Freund wurde tief verletzt, sein sauberes Revier<br />

geschändet, seine Männerehre, für die Freundschaft viel<br />

bedeutet, in den Dreck getreten. Ein unschuldiges Mädchen<br />

wurde ermordet!!<br />

Der Festmacher beißt die Lippen aufeinander, so fest, daß sie<br />

völlig verschwinden. “Zu spät!”, stöhnt er. “Ich hab nich<br />

geschaltet!” Und er denkt: ‘Hätt ich diesn Satan bloß nich in<br />

mein Revier gelassn. Hätt ich den bloß nich vor dem Boxer<br />

gerettet. Hätt ich den bloß Mittwochnacht zusamm’ngeschlagn!<br />

Denn hätt der rechtzeitig <strong>im</strong> Rollstuhl gesess’n.’<br />

Verbisssen forscht er anhand einer Autonummer nach einer<br />

Adresse und einer Telefonnummer.<br />

Dann arrangiert er einen Treff. In der Nacht. Am See. Bei der<br />

weißen Bank am alten Anleger.<br />

Die Aussprache ist kurz, das Geständnis zitternde Hilflosigkeit.<br />

Krächzen erstirbt <strong>im</strong> Dröhnen der Kirchturmglocke. Es<br />

ist Mitternacht.<br />

Als der zwölfte Glockenschlag verhallt ist, umfängt die große<br />

und die kleine Gestalt vor der weißen Bank eine unendlich<br />

leere, schaurig gespenstische Stille.<br />

Gefrorene Würde in den herben Zügen, hält der Festmacher<br />

eine seiner kurzen, markanten Reden. Er scheint merkwürdig<br />

unbeteiligt zu sein. Seine Augen sind eher nach innen gerichtet.<br />

Doch das kraftvolle Spannen und Zucken der eisernen<br />

Muskeln <strong>im</strong> fest entschlossenen Gesicht, es hat seine eigene<br />

Beredtsamkeit, es hat seine eigene Weise, Verachtung auszudrücken<br />

und Verdammung.<br />

Und dann ist da wieder die Faust. So gewaltig schlägt sie<br />

zu, daß es knackt in den Gesichtsknochen des Zwerges.<br />

Steif und starr, wie eine Statue, verharrt der Festmacher am<br />

Ort des Schreckens. Seine Sinne sind düster, seine Augen voll<br />

bedrückender Bedeutsamkeit. Dann aber spiegelt das hohl-


IM WINTER 567<br />

wangige Asketengesicht mit der großen, weit vorspringenden<br />

Nase die selbstbewußte Verschlossenheit eines gerechten Richters.<br />

Nickend steht der große Mann vor der weißen Bank.<br />

Stumm blickt er hinunter in das Wasser des Sees – auf die Wellen,<br />

die nun sanfter werden.<br />

Silbern-gelb glitzert und funkelt der Mond aus dem Wasser<br />

zu ihm herauf. Ganz merkwürdig.<br />

Der Festmacher spuckt. Dann formt der fast lippenlose Mund<br />

ein O. Bedächtig wischen Daumen und Zeigefinger über die<br />

Mundwinkel. Schließlich zerrt die Faust die Mütze in die Stirn.<br />

‘Der hat sich überhaupt nich gewehrt’, wundert er sich.<br />

Ein Orkan peitscht und prügelt den <strong>Park</strong>. Wie Geschosse<br />

schleudert er Hagelkörner in die Nacht, geißelt Wege und Wiese,<br />

Büsche, Bäume und Bänke. Schüttelt und rüttelt aufstöhnende<br />

Natur, zerrt die letzten Blätter von den Ästen.<br />

Ebenso plötzlich wie er geboren wurde stirbt der Orkan. Ihm<br />

folgt eine hohle, eine unwirkliche Ruhe. Eine Totenruhe.<br />

Grau und trist fließt der Fluß. Tagelang. Es ist, als ströme<br />

mit seinem Wasser alles Leben aus dem <strong>Park</strong>. Tiefe Trauer<br />

überall. Der <strong>Park</strong> ist ärmer geworden. Um sechs seiner neun<br />

Darsteller.<br />

Ein kalter Wintermorgen naht. Mühsam sucht fahl-graues<br />

Licht einen Weg in das Meer kahler Äste. Langsam entwindet<br />

es widerwillig weichendem Dunkel ein neues Bühnenbild. Der<br />

<strong>Park</strong> legt sein Winterkleid an. Stummes Wirbeln, taumelndes<br />

Sinken. Weiche weiße Flocken hüllen alles ein, decken alles<br />

zu. Wiese und Wege, Büsche, Bäume und Bänke. Verwandeln<br />

und verbergen, verzaubern und verklären.<br />

Der Winter dämpft den Schmerz. Behutsam zieht er über<br />

alles ein großes weißes Tuch aus Schnee und Eis. Auch über<br />

die Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche. Auch<br />

über die drei neuen Gräber auf dem kleinen Friedhof hinter


568 IM WINTER<br />

dem Pastorenhaus. Auch über das Wasser des Sees vor der<br />

weißen Bank auf dem alten Bootsanleger.<br />

Allmählich stellt sich Stille ein. Überall. Der <strong>Park</strong> versinkt<br />

in tiefem Schlaf. Er träumt seinem Wiedererwachen <strong>im</strong> Frühling<br />

entgegen.<br />

Dann regt sich, zögernd zuerst, frisches Leben. Pflanzen<br />

saugen und pumpen. Mit Macht entwachsen sich erwärmender<br />

Erde ans Licht drängende Ke<strong>im</strong>e. Stengel und Stämme<br />

stehen <strong>im</strong> Saft. Schwellendes, wachsendes Gewebe dehnt sich<br />

kraftvoll in strahlender Jugend. Blätter und Knospen bauen<br />

und formen. Mit bunten Farben eröffnen Frühlingsblumen einen<br />

neuen Reigen pulsierender Aktivität. Vögel zwitschern,<br />

Eichhörnchen jagen einander, und <strong>im</strong> seichten Wasser<br />

schlüpfen junge Hechte.<br />

Abermals hebt sich der Vorhang. Ein neuer Akt beginnt <strong>im</strong><br />

Schauspiel, für das der <strong>Park</strong> Bühne ist und Bahn.<br />

Seht nur! Dort!!<br />

Aus Nebelschleiern schweben, zögernd noch eben, entschlossener<br />

und best<strong>im</strong>mter jetzt, neue Darsteller heran.<br />

Kreisend und wirbelnd, sich drehend und wendend beginnen<br />

sie tanzend ihren geisterhaften Reigen. Selbstsicherer werdend<br />

finden sie in ihre Rollen. Und schon bald werden sie ein<br />

Geschehen gestalten.<br />

Wunderbare, unvergängliche, sich entfaltende, vergehende<br />

und abermals sich entfaltende Schöpfung.<br />

In ewigem Reigen ein ewiger Ring.


Weiße Bank


570 EIN TRAUM<br />

EIN TRAUM<br />

Auch ich habe geträumt. Ich, der Regisseur. Ich hatte einen<br />

wundersamen Traum. Mir träumte von den Wesen.<br />

Unbemerkt von Erdbewohnern hatten sie <strong>im</strong> <strong>Park</strong> das Leben<br />

studiert. Dieses Leben, das anders ist als alles, was sie vorher<br />

kannten: organisiert in Gemeinschaften verschiedener Formen,<br />

die einander als Quelle nutzen für Lebensenergie und Material,<br />

und auf diese Weise spezifische Antriebe gewinnen für ihre Ausreifung.<br />

Die kurze Lebensdauer der Individuen beschränkt –<br />

gemeinsam mit den restriktiv gewährten Möglichkeiten, Informationen<br />

zu erschließen und zu verarbeiten – ein tiefes Eindringen<br />

in das, was die Welt wirklich ist. So bleiben die<br />

Erdwesen in ihren Erkenntnismöglichkeiten begrenzte und in<br />

ihrem Verhalten beeinflußte Kreationen des Ausreifungsprozesses.<br />

Welch seltsamer Planet!<br />

Die Wesen haben große Achtung vor der Schöpfung, auch vor<br />

deren absonderlichsten Auswüchsen. So bestand das Ziel ihrer<br />

Expedition darin, Informationen zu gewinnen, ohne Schaden<br />

anzurichten. Immer wieder einmal hatten sie sich Menschen<br />

genähert, aber <strong>im</strong>mer unter strikter Vermeidung von Beschädigungen.<br />

Sie waren sich nicht sicher, ob es mit ihren derzeitigen<br />

Methoden möglich sein würde, unmittelbaren Kontakt herzustellen<br />

mit einem Menschenhirn, ohne dabei das Gesamtindividuum<br />

zu gefährden. Als ihnen dann der Kahlkopf<br />

signalisierte, daß er um jeden Preis mit ihnen kooperieren<br />

wolle, daß er bereit sei, dabei auch Beschädigungen in Kauf zu<br />

nehmen, ja selbst den Verlust seines Lebens, da war der<br />

schwierigste Teil ihrer Expedition durchführbar geworden.<br />

Der Inhalt des Kahlkopfhirns wird ihnen Einblicke eröffnen in<br />

die Denkweise und den Kenntnisstand der Menschen. In den<br />

Laboratorien ihrer He<strong>im</strong>at kann eine eingehende Analyse des<br />

Hirninhalts erfolgen, ohne weiteren Schaden anzurichten. Trotz<br />

ihrer Erfolge trauern die Wesen, weil es ihnen nicht möglich<br />

war, diesen Menschen als Ganzes zu erhalten.


EIN TRAUM 571<br />

Schon bald werden sie neue Methoden entwickeln können, mit<br />

deren Hilfe sie alle Formen des Lebens auf der Erde, einschließlich<br />

des Menschen, ohne Beschädigung kopieren können. Dann<br />

wollen sie in ihrer He<strong>im</strong>at ganze Populationen von Mikroorganismen,<br />

Pflanzen, Tieren und Menschen nachbilden und die für<br />

die Existenz des Erdlebens erforderlichen Gemeinschaftssysteme<br />

aufbauen. Dem unter ihrer Obhut stehenden irdischen<br />

Leben soll dann eine langfristige Existenz ermöglicht werden.<br />

Und dann soll auch der Hirninhalt des Kahlkopfs wieder einen<br />

Körper erhalten.<br />

Die Ergebnisse ihrer Expedition werden den Wesen einen<br />

Schlüssel liefern für die Durchführung ihres Plans: zu verhindern,<br />

daß die ausgereiften Lebensgemeinschaften dieses<br />

Planeten vom Menschen unwiderbringlich beschädigt oder zerstört<br />

werden. Können sie rechtzeitig die Schöpfung in diesem<br />

entlegenen Teil des Universums vor den Menschen schützen?<br />

Die Problematik menschlicher Existenz erhöht das <strong>Inter</strong>esse an<br />

diesem absonderlichen Schadensstifter: Diesen Zwitter mit<br />

übertierischem Hirn, aber starken tierischen Trieben. Diesen<br />

Zwiespalt, der in Kunst und Wissenschaft beachtliche Leistungen<br />

hervorbringt, aber auch die fürchterlichsten Verbrechen begeht;<br />

der sich Frieden wünscht, aber <strong>im</strong>mer wieder Kriege führt;<br />

der sich ethische Gebote auferlegt und Religionen ausdenkt,<br />

aber all das <strong>im</strong>mer wieder verrät. Diese schillernde Sch<strong>im</strong>äre,<br />

die von Glück und Erfüllung träumt, die Befriedigung ihrer<br />

Wünsche, Süchte und Triebe ersehnt, aber nicht zuletzt dadurch<br />

<strong>im</strong>mer wieder Tod bringt und Verderben. Diese einzige Lebensform<br />

auf Erden, die sich selbst der schl<strong>im</strong>mste Feind ist.<br />

Die Menschheit steht vor ihrer Vernichtung, in die sie große<br />

Teile der Schöpfung mitreißen wird. Der baldige Sturz des<br />

Menschen in den Abgrund ist unabwendbar.<br />

Hier bin ich aufgewacht aus meinem Traum. Erschrocken<br />

habe ich notiert:<br />

Es sei denn, der Mensch öffnet die Augen. Es sei denn, er sucht


572<br />

und akzeptiert die für ihn erkennbare Wahrheit: Über seinen<br />

verfälschten Rollenplan <strong>im</strong> Drehbuch der Schöpfung. Über sein<br />

veraltetes Weltverständnis. Über seine ihm die Sicht verstellenden<br />

religiösen Vorstellungen. Wir sind nicht die Krone der<br />

Schöpfung. Wir sind nicht Auserwählte. Wir sind Teil – Teil<br />

eines großartigen Ganzen.<br />

Die Augen zu öffnen, das wird Angst gebären und Leid. Wir bedürfen<br />

ihrer! Nur sie können ausreichende Energien freisetzen,<br />

um den erforderlichen Bewußtseinswandel zu bewirken. Glauben<br />

und Wissen reichen nicht aus. Angst und Leid hatten die<br />

aus der dumpfen Welt tierischer Existenz ausbrechende Menschheit<br />

dazu gedrängt, die verlorene Urharmonie zu ersetzen durch<br />

eine Ideenharmonie. Der Kern dieser Ideenharmonie kommt<br />

wohl von weither, wohl aus den Tiefen des Univerums. So ist er<br />

heilig. Aber zu viele der daraus entwickelten Verhaltenspraktiken<br />

und Religionsvorstellungen tragen uns heute nicht mehr.<br />

So entstehen aufs neue Angst und Leid. Und wieder brauchen<br />

wir sie: als Antriebskräfte für das <strong>Suchen</strong> nach einer neuen Ideenharmonie,<br />

für das Ringen um ein neues Weltverständnis. Durch<br />

Angst zum Handeln, durch Leid zur Einsicht! Es gilt, die Balance<br />

wiederherzustellen zwischen Mensch und Natur. Es gilt,<br />

eine neue Beziehung aufzubauen zwischen Mensch und Gott.<br />

Öffnet Sinne und Herzen! Nicht Pess<strong>im</strong>ismus ist die Botschaft,<br />

sondern Realismus. Nicht Resignation, sondern Adaptation.<br />

Nicht Verheißung, sondern Forderung.<br />

Die Essenz der Forderung lautet: Erkennen und Einordnen. Die<br />

Natur erhält nur einen Menschen, der die Natur erhält. Nur<br />

wenn wir mit äußerstem Bemühen lernen, die Schöpfung und<br />

ihre Gesetze besser zu verstehen und besser zu achten, nur wenn<br />

wir uns mit jeder Faser unseres Wesens der Urmusik des Universums<br />

öffnen – nur dann können wir Teil bleiben des großartigen<br />

kosmischen Reigens, nur dann unsere neue Rolle finden <strong>im</strong> grandiosen<br />

Schauspiel fließender Energie und tanzender Materie.<br />

Und nur so können wir den baldigen Sturz des Menschen von<br />

der Bühne des Lebens verhindern.


QUALEN<br />

VERSE<br />

Weh' dem, der die Wunden wägt,<br />

Die der Mensch der Schöpfung schlägt!<br />

Weh' dem, der den Menschen rügt,<br />

Der sich und seinen Gott belügt!<br />

Wer so viel wagt, der muß viel zahlen<br />

Auf den warten zweifach Qualen:<br />

Innen nagen Not, Verzweiflung<br />

Außen drohen Tod, Verteuflung<br />

ALLES<br />

Alles Zufall?<br />

Alles Gottes Wille?<br />

Alles Schicksal?<br />

Alles eigner Wille?<br />

Ach was!<br />

Alles das!<br />

BOTSCHAFT<br />

Was sch<strong>im</strong>mert da <strong>im</strong> Dunkel?<br />

Was schwebt denn da herbei?<br />

Auf leichtem, leisem Flügel?<br />

Auf Bahnen sanft und scheu?<br />

Eine Botschaft<br />

Empfangen vom Herzen<br />

Wurzelnd <strong>im</strong> Fühlen<br />

Wachsend <strong>im</strong> Glauben<br />

Wird sie Gewißheit<br />

Empfangen vom Kopf<br />

Gemessen, gewogen<br />

Gewandelt, gebogen<br />

Gebiert sie Zweifel<br />

573


574 VERSE<br />

KREIS<br />

Wie hoch noch der Berg?<br />

Wie weit noch der Weg?<br />

Du wanderst <strong>im</strong> Kreis<br />

Warum nicht gradaus?<br />

Ich wandere nicht<br />

Mich wandert der Kreis.<br />

Wie weit schon die Zeit?<br />

Wie nah schon das Ziel?<br />

Nacht beschläft den Tag<br />

Wann löschst Du das Licht?<br />

Ich lösche nicht<br />

Mich löscht der Kreis.


Weißes und Schwarzes


DANKSAGUNGEN UND SCHULDZUWEISUNGEN<br />

Den größten Teil meines Lebens habe ich der Wissenschaft gewidmet.<br />

So war der Entschluß, einen Roman zu schreiben, eine Herausforderung<br />

und ein Wagnis. Vor größeren Fehleinschätzungen haben<br />

mich (hoffentlich!) drei Freunde bewahrt: Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c.<br />

Hans-Joach<strong>im</strong> Elster (Konstanz), Prof. Dr. rer. nat. Kurt Lillelund<br />

(Hamburg) und Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Werner Rotthauwe<br />

(Alfter). Die <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong> Lektorin, Frau Britta Radenhausen, hat<br />

die letzten Fassungen der ersten Auflage mit Sorgfalt überarbeitet.<br />

Auch ihr verdanke ich Anregungen und Kritik.<br />

Meiner Frau Helga bin ich dankbar für Geduld und Nachsicht mit<br />

einem plötzlich schriftstellernden Gefährten.<br />

Der Hauptschuldige bin ich selbst, der Nebenschuldige mein Sohn<br />

Stephan: ohne sein interessiertes Insistieren hätte ich dieses Buch<br />

nicht geschrieben.


ÜBER DEN AUTOR<br />

Professor Dr. rer. nat. Otto Kinne,<br />

geboren in Bremerhaven, ist Meeresbiologe<br />

und Ökologe. Promotion 1952,<br />

Wissenschaftlicher Assistent 1952–<br />

1957, Habilitation 1958, Universität<br />

Kiel. Assistant <strong>Research</strong> Zoologist,<br />

University of California, Los Angeles,<br />

USA, 1957–1958. Assistant Professor<br />

1958–1960, Associate Professor<br />

1960–1962, University of Toronto,<br />

Kanada. Leitender Direktor und Professor<br />

Biologische Anstalt Helgoland,<br />

Hamburg, 1962–1984. Professor<br />

Universität Kiel, 1967 –.<br />

Otto Kinne<br />

(Einzelheiten siehe www.int-res.com)<br />

Gründer und Direktor <strong>Inter</strong>national Ecology Institute, Oldendorf/Luhe,<br />

1984– .Mitglied wissenschaftlicher Akademien in<br />

USA, Indien, Ukraine. Ehrenmitglied der Hydrobiologischen<br />

Gesellschaft der früheren Sowjetunion (heute GUS). Ehrenmitglied<br />

wissenschaftlicher Institute in England, Rußland.<br />

Präsident wissenschaftlicher Einrichtungen. Träger wissenschaftlicher<br />

und staatlicher Auszeichnungen.<br />

Autor zahlreicher Originalia auf den Gebieten der Physiologie,<br />

Biologie und Ökologie wasserlebender Tiere. Gründer,<br />

Herausgeber und Mitautor von Handbüchern ('Marine<br />

Ecology', 13 Bücher, Wiley & Sons; 'Diseases of Marine<br />

An<strong>im</strong>als', 5 Bücher, Biologische Anstalt Helgoland). Gründer<br />

und Herausgeber der Buchserie 'Excellence in Ecology', bisher<br />

11 Bücher, Ecology Institute. Gründer und Herausgeber<br />

wissenschaftlicher Zeitschriften: 'Marine Ecology Progress<br />

Series', bisher 220 Bände, 'Marine Biology', bisher 140 Bände,<br />

'Diseases of Aquatic Organisms', bisher 46 Bände. Gründer<br />

und Verleger der wissenschaftlichen Zeitschriften 'Aquatic<br />

Microbial Ecology', bisher 25 Bände; 'Cl<strong>im</strong>ate <strong>Research</strong>', bisher<br />

17 Bände; ‘Ethics in Science and Environmental Politics’<br />

(electronisch). Mitherausgeber weiterer naturwissenschaftlicher<br />

Publikationen.


ÜBER DEN VERLAG<br />

<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong> (IR) ist ein internationales Wissenschaftszentrum<br />

(Einzelheiten unter www.int-res.com).<br />

IR sponsort das internationale Ecology Institute (ECI) mit<br />

derzeit 58 wissenschaftlichen Mitgliedern aus 21 Ländern. Das ECI<br />

hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, wichtige Ergebnisse und<br />

Probleme ökologischer Forschung einer breiten Öffentlichkeit<br />

zugänglich zu machen. Alljährlich verleiht das Institut Preise an<br />

hervorragende Wissenschaftler und unterstützt – durch eine Stiftung<br />

– junge Forscher in osteuropäischen Staaten. ECI-Preisträger<br />

machen ihre Forschungsergebnisse, Einsichten und Ansichten durch<br />

ein Buch bekannt, das in der Serie Excellence in Ecology (EE) publiziert,<br />

zum Selbstkostenpreis vertrieben und Ländern in der dritten<br />

Welt kostenlos zur Verfügung gestellt wird.<br />

ECI-Preisträger und ihre EE-Bücher:<br />

Tom Fenchel (Kopenhagen, Dänemark): ‘Ecology — potentials and<br />

l<strong>im</strong>itations’, 1987, DM 67<br />

Edward O. Wilson (Cambridge, USA): ‘Success and dominance in<br />

ecosystems, the case of the social insects’, 1990, DM 49<br />

Gene E. Likens (Millbrook, USA)’: The ecosystem approach: its use<br />

and abuse’, 1992, DM 59<br />

Robert T. Paine (Seattle, USA): ‘Marine rocky shores and community<br />

ecology: an exper<strong>im</strong>entalist’s perspective’, 1994, DM 59<br />

Harold A. Mooney (Stanford, USA): ‘The globalization of ecological<br />

thought’ (in Vorbereitung)<br />

F. H. Rigler und Robert H. Peters (Montreal, Canada): ‘Science and<br />

l<strong>im</strong>nology’, 1995, DM 74<br />

David H. Cushing (Lowestoft, United Kingdom): ‘Towards a science<br />

of recruitment in fish populations’, 1996, DM 58<br />

Paul Ehrlich (Stanford, USA): ‘A world of wounds: ecology and<br />

human predicament’ (in Vorbereitung)<br />

Colin S. Reynolds (Ambleside, United Kingdom): ‘Planktonic vegetation:<br />

a model of ecosystem processes’ (<strong>im</strong> Druck)<br />

Ramón Margalef (Barcelona, Spanien): ‘Our biosphere’ (<strong>im</strong> Druck)<br />

John Lawton (Ascot, United Kingdom): ‘Community ecology in a<br />

changing world’, 2000, DM 68


Z. Maciej Gliwicz (Warsaw, Poland): ‘Between hazards of starvation<br />

and risks of predation: the ecology of an offshore an<strong>im</strong>al’ (in<br />

Vorbereitung)<br />

Richard T Barber (Beaufort, NC, USA): ‘The response of oceanic<br />

ecosystems to the cl<strong>im</strong>ate of the 21st century’ (in Vorbereitung)<br />

Ilkka Hanski (Helsinki, Finland): ‘Habitat loss and its biological consequences’<br />

(in Vorbereitung)<br />

Stephen R. Carpenter (Madison, Wisconsin): ‘Integrating ecosystem<br />

science: comparison, long-term study, exper<strong>im</strong>ent, and theory’ (in<br />

Vorbereitung)<br />

Top Books (TB) ist eine neue Abteilung von IR. TB publiziert<br />

Bücher, die sich (in englischer oder deutscher Sprache) an ein großes<br />

Publikum wenden. Die Bücher erörtern wichtige Probleme der heutigen<br />

Gesellschaft — allgemeinverständlich und eingebunden in spannende<br />

Handlungsabläufe. Das vorliegende Buch ist Beispiel und<br />

Orientierungsmöglichkeit. Autoren wenden sich bitte an Dr. Thomas<br />

Thornton; e-mail: thomas@int-res.com (<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>).<br />

Otto Kinne (Oldendorf/L., Deutschland): ‘<strong>Suchen</strong> <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ringen<br />

um ein neues Weltverständnis’, 1996, gedruckte Version: DM 48<br />

Jörg Friedrich (Mainz, Deutschland): ‘Anna’, 1998, gedruckte<br />

Version: DM 25<br />

Bestellungen:<br />

Druckversionen von Fachzeitschriften, EE-Büchern und Top Books<br />

sind erhältlich<br />

(a) von unserer Verlagsbuchhandlung (Vorkasse). Kreditkarten werden<br />

akzeptiert (American Express, Visa, Euro-/Mastercard).<br />

Bitte Karten-Nummer und Verfallsdatum angeben.<br />

(b) über den Buchhandel<br />

<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>, Nordbünte 23(+21,26,28,30),<br />

21385 Oldendorf/Luhe, Germany<br />

Tel. (+49) (0)4132 7127, Fax (+49) (0)4132 8883<br />

E-mail ir@int-res-com, <strong>Inter</strong>net: www.int-res.com<br />

Bankverbindungen:<br />

Postbank Hamburg Kto Nr. 37923-208 (BLZ 20010020)<br />

Volksbank Lüneburg Kto Nr. 3690000 (BLZ 24090041)<br />

Sparkasse Lüneburg Kto Nr. 3001195 (BLZ 24050110)

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