Suchen im Park - Inter Research
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Otto Kinne<br />
Top op Books<br />
Ringen um<br />
ein neues<br />
Weltverständnis<br />
Roman<br />
Zweite Auflage<br />
2nd edition<br />
– A Division of <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong><br />
<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>, , Oldendorf/Luhe
ÜBER DAS BUCH<br />
Im <strong>Park</strong> begegnen sich neun Menschen: ein Maler, ein Physiker,<br />
eine Germanistin, ein Ökologe, ein Pastor, ein Gärtner, ein Ministerialrat<br />
und zwei Spanner. Bei all ihrer Verschiedenartigkeit<br />
haben sie eines gemeinsam: sie suchen – nach Erkenntnis und<br />
Erfüllung, nach den Kräften, die unsere Welt gebären und reifen<br />
lassen, nach Gott, sich selbst und auch nach sexueller Befriedigung.<br />
Der Leser n<strong>im</strong>mt hautnah teil an emotionsgeladenen geistigen<br />
Auseinandersetzungen über Kunst, Wissenschaft, Philosophie<br />
und Religion. Er taucht tief ein in die Welt der Voyeure. Er wird<br />
Zeuge des Aufblühens einer großen Liebe. Und er erlebt die<br />
Tragödie eines großen Genies, das zum Ungeheuer wird, zwei<br />
Frauen ermordet, zwei Männern den Tod bringt und einem dritten<br />
lebenslange Verzweiflung.<br />
Der Autor will herausfordern, Augen öffnen, Wege weisen. So<br />
sprengt er den Rahmen täglicher Erfahrung und macht den Blick<br />
frei auf Außergewöhnliches, führt den Leser in neue Felder, bis<br />
hin zu einem neuen Gott und zu phantastischen Visionen.<br />
Essentielle Probleme der heutigen Menschheit beleuchtet er aus<br />
ungewohnten Perspektiven. So werden schließlich Grundrisse<br />
einer neuen Menschenwelt erkennbar: ein neues Weltverständnis,<br />
das dem Leben des Menschen einen neuen Sinn verleiht; ein<br />
realistischeres und aufrichtigeres Selbstverständnis, das befreit.<br />
Symbolik und verwobene Handlungsabläufe lassen eine komplexe<br />
Tiefenstruktur entstehen. Schritt für Schritt wird das innerste<br />
Wesen der handelnden Charaktere enthüllt, bis wir uns am Ende<br />
selbst begegnen. So will der Roman letztlich auch ein Spiegel sein.<br />
Werden sich die Menschen darin erkennen? Mit all ihren<br />
Fähigkeiten und Fürchterlichkeiten? Wichtiger noch: Werden sie<br />
Konsequenzen ziehen? Überlebenswichtige Notwendigkeiten<br />
und Verantwortlichkeiten akzeptieren – auch das, was schmerzt?<br />
Oder werden sie schon bald unwiederbringlich von der Bühne des<br />
Lebens verschwinden, in den Abgrund der Selbstvernichtung<br />
stürzen?
SUCHEN IM PARK<br />
Ringen um ein neues Weltverständnis<br />
Zweite Auflage, 2001<br />
2nd edition<br />
Elektronisch, korrigiert, um ein Gedicht (p. 395) bereichert<br />
Erste Auflage 1996 gedruckt<br />
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung, Übersetzung, Nachdruck<br />
oder elektronische Weiterverbreitung sind nicht gestattet ohne schriftliche Genehmigung<br />
des Verlags. Für den individuellen Gebrauch darf die elektronische Version des<br />
Buches (oder Teile davon) bis auf weiteres kostenlos heruntergeladen werden.<br />
This book is protected by copyright. Resale, translation, republication or redistribution<br />
are not permitted without written consent of the publisher. The electronic version of the<br />
book (or parts thereof) may be downloaded free of charge until further notice.<br />
ISBN: 3-9805097-0-2<br />
© 2001 Top Books in <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong><br />
21385 Oldendorf/Luhe, Germany<br />
www.int-res.com
Schwarzes und Weißes
Wer das Erkennbare sucht<br />
Wer sich dem Gefundenen öffnet<br />
Und wer bereit ist, daraus Lehren zu ziehen<br />
Dem ist dieses Buch gewidmet<br />
Quellennachweis: Titelseite, Illustrationen, Verse: Autor.
INHALT<br />
VERSE 1<br />
AUF EIN WORT 3<br />
IM FRÜHLING<br />
1 Jäger<br />
Jäger, die kucken 7<br />
Jäger, die töten 21<br />
Trampelpfade 33<br />
2 Königskinder<br />
Brückenbau 35<br />
Prägung 41<br />
Religiosität 53<br />
Kirche 60<br />
Ohrring 72<br />
Stein 74<br />
3 Freunde<br />
Explosion 75<br />
Quatsch 79<br />
Wunder 85<br />
Buschkrieg 89<br />
4 Wanderer<br />
Kunst und Wissenschaft 91<br />
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 117<br />
Ethik und Moral 128<br />
Unfehlbarkeit 132<br />
Tricks 138<br />
Freier Wille 151<br />
Gut und Böse 165<br />
Eine Geschichte 169<br />
Schriftlich 173<br />
Aquarianer 176
5 Dreigestirne<br />
Begegnung 189<br />
Predigt 191<br />
Vorbereitungen 195<br />
Be<strong>im</strong> Pastor 198<br />
Intelligenz 201<br />
Lebensprozeß 206<br />
Ökosysteme 213<br />
Kartoffel 217<br />
Abendessen 219<br />
Nachtmusik 221<br />
IM SOMMER<br />
1 Einmaleins<br />
Einweisung 225<br />
Entspannung 232<br />
2 Ansichten<br />
Ausweg 238<br />
Paris 247<br />
Männchen 249<br />
Leben 252<br />
Angst 257<br />
Urgesetz 260<br />
Augenpaare 262<br />
Ich-Weltbild 265<br />
Ich 273<br />
Mensch 277<br />
Urahnen 282<br />
Unterbrechung 284<br />
Auferstehung 289<br />
Erkenntnisgewinnung 298<br />
3 Erfüllung<br />
Kirchturmglocke 310<br />
Brückenvollendung 315<br />
Tanzen 316
4 Gerechtigkeit<br />
Gleichnis 321<br />
Unschuldig 325<br />
Neun Mark 328<br />
5 Bekenntnisse<br />
Machttrieb 335<br />
Selbstbescheidung 343<br />
Testament 347<br />
6 Einsichten<br />
Fünf-Sterne-Kaffee 351<br />
Lebensfreude 360<br />
Streitgespräch 378<br />
Abschied 416<br />
IM HERBST<br />
1 Brüder<br />
Rollenwechsler 421<br />
Feine Dame 427<br />
Fernsehen 432<br />
Hüne 437<br />
Politiker 444<br />
Füße 448<br />
Ganz Tier 459<br />
Staatskarosse 467<br />
2 Götter<br />
Neuer Mensch 470<br />
Neue Religionen 474<br />
Neuer Gott 490<br />
Visionen 496<br />
Gestaltungsgeschehen 503<br />
Chaos 508<br />
Gedankentheater 510<br />
Ballons 517<br />
Perlen 522
Teufelswerk 524<br />
Etagen 526<br />
3 Wesen<br />
Grandioses Schauspiel 532<br />
Leere Hülle 538<br />
4 Engel und Teufel<br />
Wespen 542<br />
Peters Botschaft 548<br />
Anruf 552<br />
Mitternacht 555<br />
Karierte Jacke 561<br />
IM WINTER 565<br />
EIN TRAUM 570<br />
VERSE 573
VERSE<br />
HASSEN<br />
Schwarzes haßt Weißes:<br />
Wo eines gewinnt<br />
Das andere zerrinnt<br />
Kaltes haßt Heißes:<br />
Wo eines ist da<br />
Kommt’s andere nicht nah<br />
Immer aber weiß es:<br />
Schwarzes braucht Weißes<br />
Kaltes braucht Heißes<br />
Keins existiert allein<br />
Ohne das andre kann’s nicht sein<br />
WOLLEN<br />
Wie, Du willst Ewigkeit?<br />
Was ist das für Dich?<br />
Wie, Du willst Seligkeit?<br />
Was meinst Du damit?<br />
Bist Du nicht Teil?<br />
Teil der Zeit?<br />
Der Schöpfung Teil?<br />
Warum willst Du noch mehr?<br />
MEIN<br />
Du sagst mein Ich, Du sagst mein Gut<br />
Du sagst mein Herz, Du sagst mein Blut<br />
Doch nichts in dieser Welt ist Dein<br />
Alles ist ein Teil vom Sein<br />
Und Sein, das ist ein eigen Ding<br />
Ist steten Wandels ew’ger Ring<br />
1
2 VERSE<br />
WO?<br />
Engel und Teufel<br />
Geister und Götter –<br />
Wo wachsen und wo wohnen die?<br />
Wo wandeln und wo wirken sie?<br />
In den Hirnen von Menschen!<br />
Sonstwo?<br />
Nirgendwo!
AUF EIN WORT<br />
Vor Ihnen liegt mein Erstlingswerk als Schriftsteller. Ich bin<br />
ein alter Mann, so wird es wohl auch mein Letztlingswerk sein.<br />
In meinem langen Leben habe ich kaum jemals Zeit gefunden,<br />
einen Roman zu lesen. Fast <strong>im</strong>mer ging es um Fachliteratur. So<br />
drängt es mich zu einem Wort an Sie, den Leser, den elften Beteiligten.<br />
Außer Ihnen sind beteiligt neun Darsteller und mein Ich-<br />
Ich als Regisseur. Zusammen sind wir also, wie gesagt, elf.<br />
Die neun Darsteller repräsentieren Einsichten und Ansichten,<br />
die mir geworden sind aus Erlerntem und Erfahrenem. Und sie<br />
verkörpern Intuitionen und Visionen, die mir zugeschwebt sind<br />
aus Nebelschleiern des in ewigem Kreisen und Wirbeln gefangenen<br />
Welttheaters. Zögernd schlichen sie sich auf die Bühne<br />
meines Bewußtseins. Sich drehend und wendend, begannen sie<br />
tanzend einen geisterhaften Reigen. Selbstsicherer werdend,<br />
gestalteten sie ein Geschehen. Ich hockte in einer dunklen Ecke<br />
und sah und hörte ihnen zu – stumm, gebannt, fasziniert.<br />
Nach einer Weile entschloß ich mich, die Regie zu übernehmen.<br />
Ich entwarf einen Rollenplan und ein Drehbuch für die<br />
neun: Inge, Pastor und Peter; Festmacher, Maler und Schmied;<br />
Physiker, Gärtner und MinRat. Der Vorhang hob sich. Die Vorstellung<br />
begann. Und nun wurde aus dem Regisseur auch<br />
<strong>im</strong>mer wieder ein Protokollführer, ein Beschreiber und ein<br />
Deuter. Wie das Geschehen geschah, so schrieb ich es nieder,<br />
zunächst weitgehend außeracht lassend, wie sich die Teile zum<br />
Ganzen fügen mochten. Aber alles erwuchs aus einer Wurzel.<br />
Und so reifte alles in innerem Zusammenhang. Allmählich<br />
entstand Wesenhaftes, etwas Lebendiges, das sich wie ein<br />
Baum entfaltete und verästelte, und das Blüten trieb und<br />
Früchte.<br />
Es entwickelte sich Verflochtenes aus menschlichen Möglichkeiten,<br />
Fehlern und Grenzen. Es wuchs Verwobenes aus<br />
Gutem und Bösem, aus Verzweiflung und Hoffnung, aus Freude<br />
und Erfüllung, aus Fakten und Fiktionen. Und es ergab sich<br />
3
4 AUF EIN WORT<br />
eine Bedeutungsparallelität: Essentielle Aussagen erfuhren eine<br />
Versinnbildlichung in Geschichten und Lebensbekenntnissen.<br />
Nicht <strong>im</strong>mer ist alles gut gegangen. Vier der neun Darsteller<br />
entglitten meiner Regie. Da habe ich mit denen gerungen und<br />
sie vor Unheil gewarnt. Aber das hat nicht gefruchtet. So wende<br />
ich mich jetzt an Sie. Ich möchte, daß Sie wissen: es wäre<br />
einiges anders verlaufen, hätten die vier ihren Rollenplan<br />
einhalten können.<br />
Nehmen Sie die Inge. Ein wunderschönes Mädchen und ein<br />
tief religiöser Mensch. In meinem ganzen Leben ist mir noch<br />
niemals ein solch engelhaftes Wesen begegnet. Ich habe die Inge<br />
verehrt, sie ganz besonders in mein Herz geschlossen. Deshalb<br />
habe ich sie auch gewarnt. “Inge”, habe ich zu ihr gesagt, “geh<br />
nicht allein in den <strong>Park</strong>.” Wissen Sie, was sie mir geantwortet<br />
hat? Das gleiche wie ihrem Vater, dem Pastor: “Ich habe keine<br />
Angst. Der liebe Gott wird mich beschützen.” Mir gegenüber hat<br />
sie aber noch etwas hinzugefügt. Sie hat gesagt: “Und wenn<br />
Gott sich anders entscheiden sollte, so ist mir das auch recht. Er<br />
weiß, was er tut und warum. Seinen Willen akzeptiere ich ohne<br />
Wenn und Aber.” – Ja, ich bitte Sie, was hätte ich denn da tun<br />
sollen, tun können?<br />
Ein ganz persönliches Detail möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.<br />
Als das Entsetzliche geschah, kurz nach Mitternacht,<br />
da habe ich geweint.<br />
Und nehmen Sie den Schmied. Diesen aufrechten Kerl, diesen<br />
durch und durch rechtschaffenen Mann mit den tiefen Wunden,<br />
die ihm das Leben geschlagen hat. Sein schl<strong>im</strong>mes Schicksal<br />
macht ihn in besonderem Maße verletzlich. Daher habe ich zu<br />
ihm gesagt: “Geh mit dem Festmacher auf die Jagd. Der<br />
überlegt genau, was er tut, der kann Unheil verhindern helfen.”<br />
Aber, Sie werden es selber miterleben, in einem entscheidenden<br />
Augenblick war der Schmied allein. Und nun muß er sein<br />
ganzes Leben, bis zu seinem letzten Atemzug, darunter leiden.<br />
Und der Physiker? Ein mutiger Bekenner mit fundiertem<br />
Wissen in Physik und Biologie und ein großer Visionär. In
AUF EIN WORT 5<br />
vielem hat er recht, in manchem könnte er recht haben. “Herr<br />
Physiker”, habe ich gesagt, “bitte seien Sie vorsichtig <strong>im</strong> Umgang<br />
mit fremden Mächten.” Da hat er laut gelacht und den<br />
Kopf geschüttelt: “Ich weiß, was ich tue, was ich tun kann und<br />
was nicht.” Und dann hat er noch hinzugefügt: “Sollten meine<br />
Vorstellungen aber falsch sein, so ist mir das Wissen um meine<br />
Fehler wichtiger als meine Unversehrtheit.” Die Folgen seines<br />
Starrsinns sind fürchterlich.<br />
Was für Darsteller! Sie sehen, was ich meine.<br />
Ja, und dann ist da auch noch der Maler. Warum folgt er<br />
nicht dem Rollenplan und übt sich in Mäßigung? Sein Lebenshunger<br />
wird unstillbar, seine Sinnlichkeit unkontrollierbar,<br />
sein <strong>Suchen</strong> nach Selbstbestätigung und Wissen unbegrenzbar.<br />
Was würde die Gesellschaft tun, die ihn als begnadetes Genie<br />
anh<strong>im</strong>melt, wenn sie erführe, daß er des nachts als Voyeur <strong>im</strong><br />
Gebüsch lauert? Und was werden seine nächtlichen Kumpane<br />
mit ihm machen, wenn sie herausfinden, daß er sie so völlig<br />
hinters Licht geführt hat? Nicht genug damit. Seine Schuld will<br />
Rache statt Vergebung! Der Festmacher hat recht, wenn er sagt:<br />
“Du mußt dich mehr zusamm’n nehmn, Fiedler!” Kann der<br />
Maler sein gefährdetes Schicksalsschiff sicher steuern? Ohne<br />
Havarie? Und dürfen wir – Sie, der Leser, und ich, der Regisseur<br />
– ihn mit unserer Elle messen? Im Maler ringt Gegensätzliches:<br />
Weißes und Schwarzes, Gott und Teufel, Schöpferisches<br />
und Zerstörerisches, Hoffnung und Haltlosigkeit. Aber ist ein<br />
Genie nicht <strong>im</strong>mer ein Schauplatz starker, widerstreitender<br />
Kräfte? Ist es nicht <strong>im</strong>mer vieles in einem?<br />
Der Pastor, der Festmacher, der Gärtner, der MinRat? Sie<br />
haben sich an den Rollenplan gehalten. In bewundernswerter<br />
Weise vermag der Pastor zu helfen, und sogar große Gegensätze<br />
auszugleichen. In unerschütterlichem Glauben dient er seinem<br />
Herrn. Der ungeschlachte Festmacher beweist <strong>im</strong>mer wieder,<br />
daß er alles, was er tut, genau überlegt, und daß er auf seine Art<br />
sehr klug ist. Der Gärtner wird zum Vorbild: ihm gelingt es, aus<br />
großem Leid Kraft zu gewinnen. So kann er seinem Leben einen
6 AUF EIN WORT<br />
neuen Sinn geben und es anders gestalten. Der MinRat öffnet<br />
sich neuen Einsichten. So besiegt er alte Triebe.<br />
Ja, und der Peter? Auch mit ihm gab es nie ernsthafte<br />
Probleme. Er hat sich nie weit von meinem Ich-Ich entfernt. Wie<br />
sollte er auch? Von allen neun ist er noch am ehesten ein Stück<br />
von mir selbst.<br />
Worum es denn eigentlich geht? Es geht um etwas, das alle<br />
Menschen angeht. Es geht um Fesseln, Freiheiten und Verantwortlichkeiten.<br />
Es geht um Kunst und Wissenschaft, um<br />
Erkenntnisgewinnung und Philosophie. Um Einsichten, die<br />
traditionelle Weltbilder erschüttern, und um gewagte Visionen.<br />
Es geht um ein neues Weltbild und um einen neuen Menschen,<br />
um Leitlinien für neue Religionen und um einen neuen Gott.<br />
Ja, um so viel geht es hier. Soviel maßt er sich an, der alte<br />
Mann!
1 JÄGER<br />
Jäger, die kucken<br />
IM FRÜHLING<br />
“Dies is ‘n sauberes Revier.<br />
Und das soll’s auch bleibn!”<br />
“Hier rein!!”<br />
Eine Faust schießt hervor aus finsterm Nichts, packt den<br />
Maler, reißt ihn herum und zerrt den Taumelnden ins<br />
Gebüsch. Atem stockt. Der Mund klappt auf, will schreien.<br />
Aber er bleibt stumm. Der Maler erstarrt. Erst als die Faust<br />
ihn wieder freigibt, zuckt sein Holzschnittgesicht in<br />
hochschnellende Schultern. Ein Arm hebt sich in Abwehr.<br />
“Steh still, Mann!” Wieder diese zischende Flüsterst<strong>im</strong>me,<br />
die aus dem Finstern kommt.<br />
Der kleine bucklige Maler umklammert das kostbare Instrument.<br />
‘Jetzt!’, schießt es durch seine stürmenden Sinne,<br />
‘jetzt passiert es! … gleich ist mein Leben zuende!’ Ergeben<br />
erwartet er Entsetzliches.<br />
Aber es passiert nichts … Noch nicht …<br />
Wie angeschweißt, verharrt der Zwerg vornübergebeugt auf<br />
der Stelle, gefangen <strong>im</strong> Schreckreflex. Die leeren Augen sind<br />
auf seine weißen Schuhe gerichtet, die in der Finsternis matt<br />
sch<strong>im</strong>mern, und auf den nachtschwarzen Erdboden, der mit<br />
Blättern des letzten Herbstes bedeckt ist.<br />
Als noch <strong>im</strong>mer nichts geschieht, hebt der Maler den Kopf<br />
und wendet ihn zur Seite, nach dorthin, wo die St<strong>im</strong>me herkam.<br />
Seine wulstigen Lippen beben unter steifspitziger Nase.<br />
Lange schwarze Haare hängen wie Vorhänge vom Mittelscheitel<br />
und umrahmen pendelnd ein eindrucksvolles und zugleich<br />
abstoßendes Gesicht.
8 JÄGER<br />
Schwankend richtet der Zwerg sich etwas auf. In seinen vor<br />
Angst zuckenden, suchenden Augen rollt rundes Schwarz in<br />
ovalem Weiß. Er gewahrt eine dunkle Gestalt. Die Gestalt bewegt<br />
sich nicht. So tastet das Schwarz aufwärts. Immer weiter<br />
aufwärts. Die Gestalt neben ihm ist riesig. Im Widerschein<br />
des von der nahen Großstadt schwach erhellten Nachth<strong>im</strong>mels<br />
wird ein hohlwangiges Asketengesicht erkennbar. Darin<br />
dominiert eine große, weit vorspringende Nase. Dünne Lippen<br />
versiegeln einen herben, von scharfen Falten tangierten<br />
Mund. Und ganz oben, auf dem Kopf des Riesen, da thront eine<br />
schwarze Schiffermütze.<br />
Der Riese sieht ihn nicht an. Seine engstehenden Eulenaugen<br />
durchbohren die Nacht in eine andere Richtung.<br />
Wieder zerreißt harsches Flüstern stille Finsternis: “Beinah<br />
hätts du alles kaputt gemacht, du Arsch!” Geschmeidig, geräuschlos,<br />
geduckt wiegt der große Mann sich in den Hüften,<br />
dreht und wendet sich, reckt den Hals. Lautos gleitet er umher,<br />
weich und sacht wie eine Boa. Plötzlich ist er<br />
verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.<br />
Zitternd steht der Maler da, zieht den Kopf zurück in Schultern<br />
und Buckel, wie eine Schildkröte bei Gefahr. Das runde<br />
Schwarz rollt nach links – keine Spur vom Riesen – nach<br />
rechts: nichts. Wo ist der Riese geblieben? Gänsehaut kriecht<br />
über den Buckel.<br />
Es dauert eine Weile, bis der Zwerg begriffen hat: Der große<br />
Mann ist blitzschnell eingeknickt, hockt jetzt tief unten am<br />
Boden, verharrt dort regungslos in Kniebeuge.<br />
Aber jetzt! Jetzt ist die Schiffermütze wieder neben, über<br />
dem Zwerg. Der Riese bückt sich. Mit unerwarteter Vertraulichkeit<br />
raunt der herbe Mund unter der großen Nase, die<br />
dünnen Lippen fast am Malerohr: “Noch nix gehabt heut.” Der<br />
große Mann richtet sich auf, hebt die mächtige Faust, wippt<br />
mit abgespreiztem, richtungsweisendem Daumen zwe<strong>im</strong>al<br />
nach halbrechts: “Das da, das kann was werdn!” Er fingert am<br />
Hosenschlitz. Spreizt die Beine und – pinkelt. Die freie Hand
Jäger, die kucken 9<br />
gebietet: mach Platz!<br />
Schockiert wendet sich der Maler ab, reißt seinen Geigenkasten<br />
zur Seite und umschließt ihn mit den Armen. Blätter<br />
rascheln.<br />
“Leise, du Arsch!”, zischt der Riese über die Schulter.<br />
Schließlich konzentriert er sich auf eine Blähung. Gekonnt<br />
kontrolliert n<strong>im</strong>mt deren Tonfolge teil am Konzert nächtlicher<br />
Geräusche: dem leisen Knarren und Ächzen der von einer<br />
Brise bewegten Baumkronen, dem lockenden Rufen eines<br />
Nachtvogels und der vom nahen Restaurant, dem Waldschloß,<br />
herüberwehenden Tanzmusik. Der Oberkörper winkelt vor,<br />
eine angedeutete Kniebeuge, ein paar Schlenker – und nun ist<br />
die Schiffermütze wieder dicht bei, über dem Maler. Die<br />
Finger noch mit dem Hosenschlitz beschäftigt, durchbohren<br />
scharfe Augen erneut die Nacht.<br />
Der Rand der dunklen Wolke, die eben noch dem Mondlicht<br />
direkten Zugang zum <strong>Park</strong> verwehrt hatte, segelt weiter. Nun<br />
verhüllt den Vollmond nur noch ein weißer Wolkenschleier. Es<br />
wird heller <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ohne die Blickrichtung zu ändern, zieht<br />
der Riese ein kleines Fernglas aus der Jackentasche hervor.<br />
Rasch wandert es vor die Augen. Zeigefinger pressen gegen<br />
Brauen, verschweißen Glas und Stirn. Mittelfinger und Daumen<br />
entwinden der Nacht das Objekt: eine Frau und ein<br />
Mann. Sie sitzen auf einer Bank.<br />
Hinter der Stirn empören sich Gedanken: ‘Sitzt da nebn<br />
seiner Puppe und quatscht und quatscht und quatscht!’<br />
Der Riese läßt das Glas sinken. Unterdrückt Rülpsen. Spuckt.<br />
Verächtlich formt der fast lippenlose Mund ein O. Daumen und<br />
Zeigefinger wischen von oben nach unten über die Mundwinkel.<br />
Dann zerrt die mächtige Rechte die Schiffermütze in<br />
die Stirn.<br />
Endlich verstummt das Gespräch. Wieder knickt der Riese in<br />
Kniebeuge. Rollt nach vorn ab, liegt jetzt auf dem Bauch. Robbt<br />
und schlängelt lautlos durch Büsche. Noch etwas weiter. So,<br />
nun ist die Sicht ganz frei. Jetzt kann er die Bank voll über-
10 JÄGER<br />
sehen. Sie steht auf einem Hügel unter einer großen uralten Eiche.<br />
Das Fernglas fokussiert die junge Frau. Halb sitzend, halb<br />
liegend, auf den linken Arm gestützt, hat sie die Beine<br />
angezogen. Der Wolkenschleier zerreißt. Mondlicht fließt<br />
unbehindert in den <strong>Park</strong>, tastet durch windbewegtes Laub.<br />
Wie eine Geisterlaterne, wankend getragen von unsichtbarer<br />
Gestalt, beleuchtet es die Szene auf der Bank, entwindet dem<br />
Dunkel Einzelheiten: ein feingeschnittenes, schönes Gesicht;<br />
lange, zum Zopf gebündelte, blonde Haare; einen hellen Pullover,<br />
der eine aufreizend eng taillierte Figur umspannt; Brüste,<br />
die den Leib des Riesen zusammenfahren lassen; schneeweiße<br />
nackte Schenkel, entblößt von hochgerutschtem Rock;<br />
und lange, endlos lange, wohlgeformte Beine. Die Augen<br />
hinter dem Glas saugen sich fest an diesem erotischen Bild.<br />
Erneut redet der Mann auf der Bank auf die junge Frau ein.<br />
Das Fernglas schwenkt zu ihm hinüber. Feuerschein flackert.<br />
Der Mann pafft den Tabak in seiner Pfeife in Glut. Für kurze<br />
Augenblicke erhellt das Auf und Ab der Feuerzeugflamme<br />
ernste, von der Klarheit ebenmäßiger Harmonie geprägte Züge,<br />
aufblitzende Brillengläser mit lebhaften Augen dahinter<br />
und einen kurz geschnittenen Backenbart.<br />
Wieder wandern die Eulenaugen zu der jungen Frau …<br />
Der Maler schluckt. Seine Zungenspitze befeuchtet rötliche,<br />
weiche Wulstlippen, die so gar nicht in das harte Gesicht<br />
passen. Es ist ihm, als erwache er aus einem entsetzlichen<br />
Traum. Sein Atem weht unregelmäßig, erst sacht und flach,<br />
dann hüpfend und tief. Vorsichtig bewegt er die schreckerstarrten<br />
Glieder, neigt und dreht den Kopf. Nun klemmt er<br />
seinen Geigenkasten zwischen die Schenkel. Wie tot hängen<br />
die Arme von den <strong>im</strong>mer noch gehobenen Schultern. Nur<br />
langsam löst sich die Verkrampfung. Jetzt umfängt er sein<br />
wertvolles Instrument mit beiden Armen wie ein Kind, das<br />
seines Schutzes bedarf. So verharrt er eine Weile. Dann stellt<br />
er die Beine bequemer. ‘Was will der Riese von mir? Ich kenne<br />
ihn doch gar nicht, habe ihn noch nie gesehen!’
Jäger, die kucken 11<br />
Inzwischen ist der Fremde noch weiter auf die Bank zugerobbt.<br />
Er hat sich ein gutes Stück entfernt. Der Maler könnte<br />
fliehen. Aber er bleibt stehen.<br />
Der Riese richtet sich auf, sieht sich um und winkt. Ja, er<br />
winkt ihn zu sich heran! Angst bannt den Zwerg an seinen<br />
Platz. Aber dann, ganz plötzlich, sind da auch Neugier und<br />
Erlebnishunger. Tief <strong>im</strong> Leib zuckt es, zündelt empor. Sinnenlust<br />
flackert auf. Wie glühende Lava wälzt sich Triebhaftes<br />
durch den Körper. Zitternd umklammert der Maler den<br />
Geigenkasten, macht einen ersten Schritt. Rrrumms! Die<br />
schweißnasse Stirn rammt gegen einen Ast. Das schmerzt.<br />
Aber es bricht auch die innere Blockade. Ein Sinnessturm tobt<br />
los. Der Maler duckt sich. Er macht einen zweiten, einen<br />
dritten Schritt. Drängelt sich durch dicht stehende Büsche.<br />
Mit Schultern und Ellenbogen drückt er Zweige beiseite.<br />
Irgendetwas da vor ihm in der Dunkelheit zieht ihn mächtig<br />
an, greift nach ihm, zerrt ihn zu sich hin. Vorwärts!<br />
Des Malers Verhalten hängt am Augenblick. Dem Verstand<br />
Fremdes best<strong>im</strong>mt oft seine Reaktionen. Sinnenlust reitet<br />
ihn, Neugier gängelt ihn, Kreativität beflügelt ihn. Gnadenlos<br />
peitschen diese Kräfte auf ihn ein. Und jedesmal, wenn ihn<br />
die Peitsche trifft, surrt und dreht sich seine Seele wie ein<br />
Kreisel. Jeder Hieb zwingt ihn in eine andere Richtung. Wenn<br />
die Peitsche ruht, wenn der Drall versiegt, gerät er ins Taumeln.<br />
Dann regiert ihn die Angst. Noch weiß er es nicht:<br />
Angst, oftmals kostümierte, ist seine int<strong>im</strong>ste und anhänglichste<br />
Weggefährtin.<br />
Vorwärts!! Mit aufeinandergepreßten Wulstlippen, zusammengezerrten<br />
Brauen und geblähten Nüstern nähert sich der<br />
Zwerg dem Riesen. Jetzt ist er nur noch Auge, Ohr und Trieb,<br />
nur noch wildes, jagendes Tier. Das Herz hämmert gegen die<br />
Rippen. Vorwärts!! Neben dem Riesen angelangt, sieht nun<br />
auch er das Paar auf der Bank. Mondlicht entreißt dem Dunkel<br />
zwei sich umarmende Gestalten. Beide bewegen sich langsam.<br />
Wie von Sinnen starrt der Bucklige auf das blonde Mäd-
12 JÄGER<br />
chen. Und dann bersten in ihm die Schleusen. Gefühle stürzen<br />
ins Freie wie aufgestaute Wassermassen. ‘Das ist mein<br />
Engel!’, schreit es aus jeder Zelle seines Körpers. ‘Mein<br />
Engel!!!’ Der Maler verschlingt das Gesicht des Mädchens,<br />
ihren Körper, mit all seinen irrwitzig hüpfenden Sinnen. Mit<br />
Macht drängt es ihn hin zu der jungen Frau. Er tritt auf einen<br />
trockenen Zweig. Lautes Knacken!!<br />
Der Riese rammt ihm den Ellenbogen gegen die Schulter,<br />
packt den Taumelnden, zerrt ihn blätterraschelnd zurück. Immer<br />
weiter zurück. Weg von der Bank. Gebietet ihm schließlich,<br />
neben einer großen Buche auf ihn zu warten.<br />
Dann geht der große Mann, sich drehend und windend, erneut<br />
auf die Pirsch. Schlängelt durch Büsche, nähert sich<br />
abermals der Bank auf dem Hügel.<br />
Aber schon bald kommt er zurück. Noch <strong>im</strong>mer mit dem<br />
Blick zur Bank, macht er seiner Enttäuschung Luft: “Jetz leck<br />
mich doch am Arsch, Mann. Die gehn weg! Gehn einfach weg!!”<br />
Er rülpst und spuckt. Dann furzt er, diesmal energisch und<br />
weithin vernehmbar, voller Verachtung. Ein eindrucksvoller<br />
Protest. Seine Frau hat mal wieder zu viele Zwiebeln in die<br />
Suppe getan. Da macht der Magen nicht mit. Da will die Luft<br />
raus. Nach oben und nach unten. “Scheiße! Gestern nix<br />
gehabt. Heut nix gehabt. Gestern fünf Stundn auf Tour. Heut<br />
schon fast vier.” Der Riese starrt dem in der Ferne entschwindenden<br />
Paar nach. “Ne Leistung, wenn man um sechs ausse<br />
Federn muß!” Zornig zerrt er die Mütze in die Stirn. “Wir<br />
habn ‘n schweres Los, Fiedler! Ehrlich. Kein Wunder, daß<br />
man abn<strong>im</strong>mt. Meine Alte sagt: ‘Du wirst <strong>im</strong>mer weniger.<br />
Frißt wie’n Scheunendrescher. Aber wirst <strong>im</strong>mer weniger. Wo<br />
läßt du das bloß?’ Mann, die hat ja keine Ahnung, was hier los<br />
is. Wie schwer das alles is, bis man endlich mal wieder was<br />
gehabt hat und nach Hause kann!”<br />
Im Maler wallen Abscheu auf und Verachtung. Soviel Rohheit<br />
widert ihn an. ‘Was für ein Barbar! Ich muß hier weg!’ Mit<br />
geducktem Kopf forscht er aus den Augenwinkeln nach einem
Jäger, die kucken 13<br />
Fluchtweg. Aber wie, in Gottes Namen, kann er diesem Riesen<br />
davonlaufen? Ein Fluchtversuch würde seine Lage nur verschl<strong>im</strong>mern.<br />
Er muß den Abscheu unterdrücken.<br />
Und dann kriecht, wie eine böse Schlange, aus den Tiefen<br />
seines Leibes brennende Neugier hervor und wilde Erlebnissucht.<br />
Der Zufall hat ihn in eine fremde Welt geführt. Jetzt<br />
lockt es ihn, sich darin umzusehen. Diese Welt hat seine<br />
verdorrten Gefühle neu belebt. Und sie hat ihm den Engel gezeigt!<br />
Plötzlich flammt Hoffnung auf – Hoffnung, daß er hier<br />
den Schlüssel finden kann zur Wiedergewinnung seiner Kreativität.<br />
Riese voran, tasten die beiden den schmalen, dunklen Pfad<br />
entlang, auf dem der Maler gekommen war. Dann gehen sie<br />
hügelabwärts. “Das Gelaber von der Altn! Das geht ein’m aufn<br />
Keks. Das …” Der Riese verstummt, bleibt stehen. Über Büsche<br />
hinweg hat er etwas gesehen, das seine Aufmerksamkeit<br />
fesselt.<br />
Ohne den Blick vom Gegenstand seines <strong>Inter</strong>esses<br />
abzuwenden, n<strong>im</strong>mt er, leiser jetzt, das Gespräch wieder auf.<br />
Er ahmt eine hohe, schrille Frauenst<strong>im</strong>me nach: “Wo willst du<br />
schon wieder hin? Du warst doch gestern ers weg!” Die<br />
Augäpfel rollen nach oben rechts. Denn sag ich: “Heut kommt<br />
‘n dicker Pott. Be<strong>im</strong> dickn Pott, da muß ich hin!” In Richtung<br />
Fiedler fügt er hinzu: “Be<strong>im</strong> dickn Pott müssn <strong>im</strong>mer zwei<br />
hin. Einer für Vorderleine und Vorspring und einer für<br />
Achterleine und Achterspring.” Er rülpst. “Viele dicke Pötte<br />
machen fest <strong>im</strong> Hafn. Die komm’n aus Amerika, Rußland,<br />
Japan, China – von überall. Tag und Nacht.” Er grinst. “ ‘N<br />
Festmacher hat <strong>im</strong>mer ‘ne gute Ausrede.”<br />
Sie gehen wieder weiter. Nach einer Weile fragt der Festmacher:<br />
“Wie komms du mit deiner Altn klar?” Dem Maler ist<br />
nicht wohl in seiner Haut. Was, um H<strong>im</strong>mels willen, soll er<br />
sagen? Sie verlassen das dunkle Gebüsch. Stehen jetzt auf<br />
einem von schönen alten Laternen erleuchteten Kiesweg. Als<br />
der Maler nicht antwortet, wendet sich ihm der Festmacher
14 JÄGER<br />
zu. Sieht ihm ins Gesicht. Zum erstenmal an diesem Abend.<br />
In den klaren harten Augen blitzt es, funkelt Wut: “Du bis<br />
das ja gar nich! Du bis ja gar nich der Fiedler aus’m Waldschloß!”<br />
Mächtige Fäuste schütteln den Zwerg, daß die langen<br />
Haare flattern, daß der Geigenkasten gegen die Rippen rumpelt,<br />
daß es wie Messerstiche durch den Buckel fährt. “Wer bis<br />
du??”<br />
Panische Angst. Muskeln verkrampfen. Atem stockt.<br />
“Was suchst du hier?”<br />
Sie sind allein auf dem Kiesweg. Aber die Einsamkeit und<br />
den Festmacher fürchtet der Maler jetzt nicht einmal so sehr<br />
wie die Möglichkeit, daß Passanten die Szene beobachten könnten,<br />
ihn sehen, ihn erkennen. Mit hochgezogenen Schultern<br />
und ängstlich lauernden Augen sieht er sich um. Geduckt<br />
schielt er hoch zum Riesen. Hastig, beschwörend stößt er<br />
hervor: “Reg dich bitte nicht auf. Ich wollte nur mal sehen.”<br />
Diese ersten Worte, die der Maler <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong><br />
spricht, klingen wie Krächzen.<br />
“Wasss!?”<br />
“… Was hier los ist.”<br />
“Nur mal sehn, was hier los is, was? Neue komm’n hier nich<br />
rein. Das is unser Revier!” Der Festmacher mißt den Eindringling<br />
mit bohrendem Blick. “Is das klar, Mister?”<br />
“Ja”, gurgelt der Maler. Er zittert.<br />
“Kommst einfach mal so hierher, was? Willst nur mal sehn,<br />
was hier los is, was? Und denkst, das geht so einfach. Du hast<br />
doch ‘n Wurm <strong>im</strong> Keks! Nich mit mir, Mister, nich mit uns!<br />
Wenn der Fiedler aus’m Waldschloß dich erwischt, der haut dir<br />
sein’n Fiedelkastn auf die Rübe, daß dir die Augn auf’e Mandeln<br />
klatschn. Und der Schmied! Wir alle drei, wir dreschn<br />
dich so klein, da paßt du mit deiner gottsverdammtn Fiedel zusamm’n<br />
in dein’n Geigenkastn.”<br />
“Ich”, versucht der Maler abermals, den Festmacher zu<br />
besänftigen, “ich will niemandem ein Leid zufügen.”<br />
“Niemandem ein Leid zufügen”, echot der Festmacher voller
Jäger, die kucken 15<br />
Hohn. “Wo komms du denn her? Hat dich deine Mutti heut<br />
mal rausgelass’n? Mann, Mann, Mann!” Er zieht die Mundwinkel<br />
scharf nach unten und schüttelt fassungslos den Kopf.<br />
“Wenn ich sowas bloß hör!”<br />
“Ich meine”, stammelt der Maler verstört, “ich komm nicht<br />
wieder, wenn du das nicht willst. Nie!”<br />
“Das hört sich schon besser an.”<br />
Mit beiden Händen gibt der Riese dem Zwerg einen Schubs.<br />
“Los, leg ab! Schieß in’ Wind! Und kreuz hier nie wieder auf!”<br />
Der Maler taumelt und stolpert rückwärts. Schluckt. Holt<br />
Luft, mit hüpfendem Zwerchfell. Schwankend macht er kehrt.<br />
Er schüttelt sich und zittert zugleich. ‘Was muß ich hier an<br />
Demütigungen ertragen!’ schreit es in ihm. ‘Wie weit ist es<br />
mit mir gekommen!’ Ekel würgt die Kehle. Empörung pulst<br />
auf – Empörung über sich und über den Barbaren.<br />
Geschlagen schleicht der Zwerg davon. Um möglichst rasch<br />
aus dem Blickfeld des Riesen zu entkommen, beugt er den<br />
Kopf, läßt die Schultern hängen, macht sich so klein wie möglich.<br />
Wie ein geprügelter Hund verläßt ein großer Geist eine unwürdige<br />
Szene.<br />
Der Festmacher sieht ihm nach. Spuckt. Dann formt der<br />
fast lippenlose Mund ein O. Bedächtig wischen Daumen und<br />
Zeigefinger über die Mundwinkel. Schließlich zerrt die Faust<br />
die Mütze in die Stirn.<br />
‘Der hat sich überhaupt nich gewehrt’, wundert er sich.<br />
Der Festmacher sieht dem abgeschmetterten Konkurrenten<br />
hinterdrein, bis der hinter den Büschen der Wegbiegung entschwindet.<br />
Er schürzt den Mund. Rülpst. “So’n irrer Rudi”,<br />
sagt er. Und er denkt: ‘aber verdammt schnell hat der kapiert,<br />
wo’s langgeht hier. Der kommt nich wieder!’ Er macht ein paar<br />
Schritte. “So’n Arsch”, sagt er nun laut, “kommt einfach mal<br />
so hierher. Und denkt, das geht so einfach!” Noch <strong>im</strong>mer blickt
16 JÄGER<br />
er in die Richtung, in der der Maler abgezogen ist. Aber wie<br />
ist der abgezogen! Gebückt, total zerknirscht.<br />
Der Festmacher zuckt mit den Schultern. Dann sagt er:<br />
“Armer Sack!” Wieder schüttelt er den Kopf. Greift nach dem<br />
Schirm der Mütze. Allmählich wandelt sich Wut in Mitgefühl.<br />
‘Ganz schüchtern der Kleine. Ganz bescheidn. Nich so’n Angeber<br />
wie der Fiedler aus’m Waldschloß.’ Er nickt. ‘Paßt besser<br />
zu uns. Besser als dieser eingebildete Affe da.’ Aus den Augenwinkeln<br />
schielt er in die Richtung des <strong>Park</strong>restaurants und<br />
deutet nach dort mit dem Kopf. ‘Dieser krumme Paganini da!’<br />
Im Grunde seines Herzens ist der Festmacher gutmütig.<br />
Und er weiß: es ist nicht einfach für einen Neuen, ein Revier<br />
zu finden. Ganz und gar nicht einfach ist das.<br />
Plötzlich tut ihm der kleine Kerl leid. Er hebt die Brauen<br />
ganz hoch, spitzt die dünnen Lippen, wiegt den Kopf. Dann<br />
beginnt er, dem anderen nachzugehen. Zögernd zuerst und<br />
langsam, dann <strong>im</strong>mer entschlossener, <strong>im</strong>mer schneller.<br />
Als der Maler die Schritte hinter sich hört, das <strong>im</strong>mer<br />
schneller, <strong>im</strong>mer energischer werdende Knirschen <strong>im</strong> Kies<br />
des Weges, da schütteln ihn, zum dritten Mal in dieser Nacht,<br />
Angst und Schrecken. Wieder kriecht Gänsehaut über den<br />
Buckel.<br />
Es ist schwer für den sensiblen Maler, die in ihm wiedererwachten<br />
machtvollen Energien zu bändigen. Die Kontrolle<br />
der Kräfte, die sein Fühlen und Wirken hervorbringen, war<br />
schon <strong>im</strong>mer ein Problem für ihn. Schon ein Gedankensplitter,<br />
ein Gefühlsblitz, ein Zucken in der Tektonik seiner<br />
komplizierten Individualität können jede mühsam gefundene<br />
Balance augenblicklich zusammenbrechen lassen und einen<br />
Szenenwechsel herbeischleudern in der zerklüfteten, <strong>im</strong>mer<br />
unter Dampf stehenden Eruptionslandschaft seiner Seele.<br />
Wieder packt die Faust den Zwerg, dreht ihn herum. Aber<br />
die Augen neben der großen Nase strahlen jetzt Gönnerlaune<br />
aus. “He, Mister, nich so schnell!” Der Festmacher sagt das<br />
so sanft, wie ihm das möglich ist. “Ich hab mir das überlegt.
Jäger, die kucken 17<br />
Auch ‘n Neuer muß ja wo bleibn.” Er rückt die Mütze zurecht.<br />
“Der Fiedler aus’m Waldschloß, der kann nur auf Tour, wenn<br />
Vertretung da is. Der is schon lange nich gekomm’n.” Er<br />
räuspert sich. “Ich glaub, der fiedelt jetz woanders.” Ärgerlich<br />
schüttelt er den Kopf: “Der denkt, er is ‘n Großer. Ehrlich, der<br />
is eingebildet. Nich so bescheidn wie du.” Wieder schüttelt er<br />
den Kopf. “Der denkt, er is Paganini!” Und nun kann der Festmacher<br />
auch schon wieder scherzen: “Dabei fiedelt der wie ‘ne<br />
Schildkröte mit ‘n kaputtn Arm!” Er rülpst. “Ich sag dir, das<br />
is’n lahmer Hund. Zu wenig Musik <strong>im</strong> Blut. Kein’n Pfeffer <strong>im</strong><br />
Arsch. Aber eingebildet!”<br />
Der Festmacher sieht sich jetzt den neuen Fiedler erst<br />
einmal in Ruhe an. “So’n Kleiner is das, der Fiedler aus’m<br />
Waldschloß. Wie du. Und lange schwarze Haare hat der. Wie<br />
du.” Er grinst. “Und genau so ‘ne komische Figur.” Schließlich<br />
sagt er: “Ich komm so fünf-, sechsmal die Woche. Wie oft<br />
kommst du?”<br />
Der Maler zögert. Zögert lange.<br />
“Na? Wie oft?”<br />
“… Einmal die Woche … mittwochs.”<br />
“Das geht in Ordnung.” Der Festmacher zieht die Brauen<br />
hoch, spitzt den Mund, wiegt den Kopf. Nickt. “Ja, das geht<br />
in Ordnung. Der Schmied, der kommt so vier-, fünfmal die<br />
Woche. Das kann das Revier verputzn. Der <strong>Park</strong> is groß.”<br />
Langsam sagt er und nickt dabei mehrmals: “Der Schmied,<br />
das is ‘n Guter.” Ein Lächeln macht die herben Züge<br />
überraschend weich und läßt Wärme aufleuchten in den<br />
harten Augen. “Der hat viel Schl<strong>im</strong>mes erlebt. Auf den muß<br />
ich aufpassn. – Alles klar?” Der Festmacher wendet sich<br />
seinem neuen Kumpel zu, sieht ihm in die Augen, mit<br />
einem Ausdruck voll verpflichtendem Ernst und einem<br />
sonderbar stechenden Blick.<br />
“Ja”, sagt der Maler.<br />
Mit der strengen Würde aufrechter Einfachheit läßt der<br />
Riese seine mächtige, halbgeöffnete Faust schwer auf die
18 JÄGER<br />
schmale, zusammenzuckende Schulter des buckligen Zwerges<br />
fallen. Er durchbohrt ihn mit brennendem Blick. “Aber kein’n<br />
Scheiß! Handtaschn klaun, wenn die da bumsn, das is nich<br />
drin. Und auch sonst keine Kinken! Dies is ‘n sauberes Revier.<br />
Und das soll’s auch bleibn! Verbrecher will ich hier nich habn.<br />
Da bin ich glashart! Is das klar?”<br />
“Ja.”<br />
“Da versteh ich überhaupt kein’n Spaß!” Der Festmacher<br />
mißt den neuen Fiedler mit blitzenden Augen, voll dunkler<br />
Durchdringungskraft. “Und denn will ich hier kein’n Neu’n,<br />
der von Tutn und Blasn keine Ahnung hat. Wenn du Mittwoch<br />
kommst, denn zeig ich dir ersmal mein Revier.” Er nießt.<br />
“Denn erklär ich dir ersmal, was hier anliegt. Und wie man<br />
das macht.” Wieder nießt er. “Da gibts ‘ne Menge zu lern’n!”<br />
Mit schlotternden Schle<strong>im</strong>häuten zieht er geräuschvoll Rotz<br />
und Speichel hoch und spuckt splatschend knapp am Maler<br />
vorbei. “Also, bis Mittwoch.” Mit dem Zeigefinger tippt er an<br />
den Mützenschirm und wendet sich zum Gehen.<br />
Aber dann dreht er sich doch noch einmal um: “Und laß<br />
deine gottsverdammte Fiedel in dein’m Klub!”<br />
“Ja”, sagt der Maler, “… Bis Mittwoch.”<br />
Tief bewegt strebt der kleine Bucklige seiner großen weißen<br />
Villa entgegen. Das Bild des Engels! Wieder ist es ihm erschienen.<br />
Dieses verdammte Bild! Es hat seine Kreativität<br />
zerstört, ihn ganz plötzlich stürzen lassen in einen Abgrund<br />
innerer Erstarrung. Aber heute nacht haben ihn der dunkle<br />
<strong>Park</strong> und ein lebendes Ebenbild des Engels wieder in die Welt<br />
der Gefühle zurückgeschleudert. Der Maler hat den Schlüssel<br />
gefunden zum Tor der dunklen Höhle, in die seine Schaffenskraft<br />
so plötzlich entschwunden war. Der Sinnestaumel in<br />
dieser fremden Welt, die Möglichkeit geschlechtlicher Befriedigung<br />
auf eine neue Art, das wird ihm helfen, die größte Krise<br />
in seinem Leben zu überwinden, das wird ihn zurückführen<br />
in pulsierendes Schaffen. Das Wiedererwachen seiner kalt
Jäger, die kucken 19<br />
und leer gewordenen Gefühlswelt ist ein überwältigendes Erlebnis.<br />
Er kann das noch gar nicht fassen … und er kann es<br />
kaum erwarten, die Kräfte, die diesen Sinnestaumel ausgelöst<br />
haben, erneut zu beschwören.<br />
Der untersetzte kleine Maler ist ein großer, weltweit gefeierter<br />
Künstler. Noch vor kurzem hatten seine Bilder in Paris<br />
eine Sensation ausgelöst. Man feierte ihn als ein Geschenk<br />
des H<strong>im</strong>mels, als ein Jahrhundertgenie. Doch dann,<br />
unbemerkt von seiner Umwelt, erlosch der Vulkan seiner<br />
Kreativität. Stumpfheit überfiel ihn und Leere.<br />
Er war gescheitert. Ganz plötzlich. Die unmittelbare Ursache<br />
des Scheiterns war das Bild eines Engels. Nicht ein Bild<br />
<strong>im</strong> gegenständlichen Sinne, sondern ein Bild, das aufgestiegen<br />
war aus den Tiefen seines Leibes. In all seiner<br />
unschuldigen, unwiderstehlichen Schönheit und in all seiner<br />
erschreckenden, rätselhaft drohenden Unhe<strong>im</strong>lichkeit hatte<br />
sich das Bild auf die Bühne seines Bewußtseins gedrängt.<br />
Und es wollte nicht wieder weichen, nicht aus seinem Bewußtsein,<br />
nicht aus seinem Herzen, nicht aus seiner Seele. Ja,<br />
es wollte nicht einmal verblassen. Das Bild begann, ihn zu<br />
beherrschen. Es trieb ihn vor sich her, wie der Wind einen<br />
Ballon treibt, willenlos in jede Richtung, sanft mitunter und<br />
mit orkanhafter Gewalt ein andermal. Unter Qualen begriff<br />
er: ‘Ich muß ihn malen, diesen schönen, unhe<strong>im</strong>lichen Engel.<br />
Nur so kann ich ihn mir gefügig machen, nur so aus dem<br />
Beherrschten zum Beherrscher werden. Ich muß ihn in die<br />
Strukturen meiner Maltechnik zwingen!’ Durch sein Schaffen<br />
hindurchleuchtend, soll der Engel dann, gebändigt und neu<br />
geformt, als sein Meisterwerk die Welt bewegen: ein machtvoller<br />
Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Er muß<br />
diesen Engel zu einem Teil seines Könnens machen!<br />
Doch jedesmal, wenn er sich in der richtigen St<strong>im</strong>mung<br />
wähnte, wenn er sich eingeschlossen hatte in seinem großen<br />
Atelier, wenn alles in ihm danach schrie, das Meisterwerk in<br />
Angriff zu nehmen, verblaßte das Bild, und sein Genius ver-
20 JÄGER<br />
ließ ihn. Er wußte einfach nicht, wie er beginnen sollte, wie er<br />
das Bild, das so sehr in ihm brannte, auf die Leinwand zaubern<br />
könnte.<br />
Und so überfielen ihn Zweifel: an seinen künstlerischen<br />
Möglichkeiten, seinem schöpferischen Elan, seinem Genie.<br />
Während die Welt ihm zu Füßen lag, ihn vergötterte als strahlende<br />
Lichtfigur am Kunsth<strong>im</strong>mel, war es in ihm dunkel geworden.<br />
Er versank in der Leere seines Unvermögens. Schlafstörungen<br />
setzten ein und Kreislaufbeschwerden. Frustrationen<br />
folgten und Depressionen. Er war ausgebrannt.<br />
Abgrundtief verzweifelt beschloß er, seinem Leben ein Ende<br />
zu bereiten. Doch auch hier versagten seine Kräfte. Er<br />
vermochte es nicht.<br />
In seiner großen Not widmete sich der Maler tagelang ganz<br />
seiner Violine, ein kostbares Instrument, das er vor zwei<br />
Jahren in einem Vorort von Rom hatte erwerben können. So<br />
rettete ihn die Musik vor dem Tod, vor dem Ertrinken <strong>im</strong><br />
kalten Wasser seiner Hoffnungslosigkeit.<br />
Auch heute abend hatte der Maler musiziert, Mozart und<br />
Schubert. Er gehört einem Streichquartett an, das sich an<br />
jedem Mittwochabend in der Nähe des <strong>Park</strong>s der Kammermusik<br />
erfreut. Kurz nachdem er vor drei Monaten in diese<br />
Stadt gezogen war, hatte er eine Einladung erhalten, in einem<br />
neuen Quartett mitzuwirken. Die anderen drei sind Berufsmusiker<br />
– Mitglieder des Städtischen Orchesters. Er ist der<br />
einzige Laie. So hatten ihn die drei gebeten, vorzuspielen.<br />
Wenige Takte genügten. Die drei waren begeistert. Und schon<br />
war er der Erste Geiger.<br />
Bisher war er <strong>im</strong>mer mit seinem Wagen zum Musikabend<br />
gefahren. Heute hatte er sich entschlossen, zu Fuß zu gehen –<br />
in der Hoffnung, daß ihn ein Spaziergang ablenken möge von<br />
seinen Sorgen und Problemen. Bis zu seiner großen weißen<br />
Villa ist es nur eine knappe halbe Stunde zu Fuß.<br />
Sein He<strong>im</strong>weg führt am <strong>Park</strong> vorbei. In diesem Umstand,<br />
diesem Zufall, lauert sein Schicksal.
Wie ein Planet einen stürzenden Kometen, so hatte der dunkle<br />
<strong>Park</strong> den Maler angezogen, mit unerbittlicher Gewalt. In<br />
dem Maße, in dem er sich den finsteren Büschen und Bäumen<br />
näherte, verstärkte sich die Anziehungskraft. Unaufhaltsam<br />
erfaßte sie jedes Gewebe seines Körpers. Er spürte, daß ihn<br />
etwas unwiderstehlich in seinen Bann zwang. Ein<br />
merkwürdiges Ziehen und Zittern durchzog die Eingeweide.<br />
Die Ausstrahlung des nächtlichen <strong>Park</strong>s drängelte Niedergeschlagenheit<br />
beiseite und zwang den Maler, ganz gegen<br />
seinen Willen, <strong>im</strong>mer weiter in das finstere Gewirr von Blättern<br />
und Ästen, <strong>im</strong>mer weiter in gehe<strong>im</strong>nisvolles Dunkel. Bebende<br />
Sinne verwoben den Nachhall des Musikerlebnisses<br />
mit den merkwürdigen Geräuschen des finsteren <strong>Park</strong>s, mit<br />
fremden Gerüchen und Bildern. Eine neue, eine faszinierende<br />
Erlebnisqualität! Dieses wispernde Flüstern der Blätter.<br />
Diese verwehenden Lautfetzen. Diese umhergeisternden Silhouetten<br />
und huschenden Schatten. Und über all dem dieses<br />
schwere, betörende Parfüm blühender Nachtgewächse!<br />
Ein Sinnesorkan wirbelte sein Innerstes durcheinander,<br />
jagte Kribbelschauer bis in Teerschwarz-Verborgenstes. Aus<br />
der Tiefe dunkler Höhlen krochen an<strong>im</strong>alische Gelüste hervor.<br />
Laue Abendluft umschmeichelte die Haut wie Seide. Angestachelte<br />
Neugier, pulsierende Erwartung – und auch <strong>im</strong>mer<br />
wieder Angst, bis tief in seine Eingeweide.<br />
Jäger, die töten<br />
Jäger, die töten 21<br />
Der H<strong>im</strong>mel erwacht. Wird grau, dann silbern. Verbannt<br />
Finsternis. Gebiert rotgoldenes Licht und gießt es über den<br />
<strong>Park</strong>. Ein neuer Tag beginnt.<br />
Eine andere Welt! Andere Gerüche, andere Geräusche, andere<br />
Menschen. Selbst die Bänke sehen anders aus. Sonnenstrahlen<br />
durchfluten Büsche und Bäume, überfluten Wiese<br />
und Wege, verwöhnen alles überschwenglich mit Licht, spen-
22 JÄGER<br />
den Wärme und Wohlbehagen. Blumen, Büsche und Bäume<br />
saugen und pumpen Säfte. Blätter und Knospen bauen und<br />
formen neues Leben. Fröhlich prahlen Frühlingsblumen mit<br />
ihren bunten Farben.<br />
Die nächtlichen Darsteller, die Ursachen und Umstände ihres<br />
Treibens, wo sind sie? Es ist, als habe ein Bühnenmeister<br />
die Kulissen der Nacht, alle Gegenstände und Emotionen –<br />
den ganzen gesammelten Spuk – in den Bühnenh<strong>im</strong>mel hochgezogen.<br />
Der <strong>Park</strong> ist groß. So groß, daß die Hast und Hetze der nahen<br />
Großstadt mit ihrem Summen, Brummen, Krachen und<br />
Quietschen, ihrem Qualm, Staub und Gestank nur seine<br />
Peripherie zu erreichen vermag, nicht aber sein Kernareal –<br />
und schon gar nicht die Wildnis und den See. Im <strong>Park</strong> kann<br />
man der Natur ganz nah sein, die Schöpfung tief in sich<br />
hineinwirken lassen und mit offenen Sinnen ihrer Eigenarten<br />
gewahr werden. Hier kann man ungestört nachdenken über<br />
sich und die Welt. Wie nirgendwo sonst kann man sich <strong>im</strong><br />
<strong>Park</strong> seinen Träumen und Vorstellungen hingeben und nach<br />
dem Wesen und Sinn allen Seins suchen.<br />
Dort, hinter den großen Kiefern, wo der Fluß in den See<br />
einmündet, pulsiert buntes Leben. Forellen, Flußbarsche,<br />
Äschen und Aale lauern auf Beute. Zwischen Schilfstengeln<br />
steht, unbeweglich wie ein Denkmal, ein hungriger Hecht in<br />
seinem Jagdrevier. Vögel picken nach Nahrung, Frösche und<br />
Unken machen Jagd auf Insekten und Würmer, und werden<br />
gejagt von Reihern und Ratten. Ungezählte Wirbellose<br />
fressen, flüchten, flattern, wühlen, schlängeln und kriechen.<br />
Im freien Wasser, auf dem Boden und an Pflanzen krabbeln,<br />
hüpfen, treiben, bohren und haften Milliarden kleiner und<br />
kleinster Lebewesen.<br />
In diesem unentrinnbaren Netz von Jägern und Gejagten<br />
darf natürlich auch der Mensch nicht fehlen. Im Schatten<br />
großer Erlen, auf einem Klappstuhl nah dem Ufer, hockt ein
Jäger, die töten 23<br />
Mann. Bis zur Brust steckt er in einer dunkelgrünen Anglerhose,<br />
die in kräftigen Stiefeln endet. Breite Hosenträger überkreuzen<br />
einen braunen Pullover, und eine große Sonnenbrille<br />
schützt die Augen vor der Mittagssonne. Vor den Füßen steht<br />
ein geöffneter Metallkoffer mit allem, was man so zum Angeln<br />
braucht – Würmer, künstliche Fliegen, Blinker, Haken,<br />
Schnüre … Links neben dem Klappstuhl steht eine Thermosflasche<br />
mit heißem Kaffee, und unter ausgebreiteter Regenjacke<br />
wartet ein Picknickkorb darauf, daß dem Angler der<br />
Magen knurrt.<br />
Unruhige hellgraue Augen huschen hin und her unter dem<br />
weit über die Stirn hinausragenden Schirm einer grünen<br />
Sportmütze. Unablässig wandern sie von einem rot-weißen<br />
Schw<strong>im</strong>mer zum nächsten. Unter jedem Schw<strong>im</strong>mer treibt<br />
und tanzt in verschiedenen Tiefen des einmündenden Flußwassers<br />
eine Köstlichkeit: auf Haken aufgespießte, sich windende<br />
Regenwürmer und Kugeln aus Fruchtfleisch und Mehl.<br />
Die Jäger <strong>im</strong> Wasser und der Jäger über dem Wasser suchen<br />
Beute – die <strong>im</strong> Wasser aus Hunger, der über dem Wasser zum<br />
Zeitvertreib.<br />
“Schon was gefangen?” fragt der vorbeikommende Physiker<br />
den Ministerialrat.<br />
“Nein. Nichts los.”<br />
Die beiden hatten sich bei einem Konzert der Feuerwehrkapelle<br />
auf dem Spielplatz, in der Nähe vom Waldschloß, kennengelernt,<br />
und sie hatten sich sogleich in ein Gespräch<br />
vertieft über etwas, das sie beide interessiert: den <strong>Park</strong>.<br />
“Es ist nichts los”, sagt der MinRat, “hier nicht und auch da<br />
oben nicht, <strong>im</strong> nördlichen Teil meines Reviers. Weiß der Teufel,<br />
die Fische haben keinen Schwung mehr, keine Lust mehr<br />
zum Beißen.” Resignierend n<strong>im</strong>mt er die Sportmütze vom<br />
Kopf und fährt sich mit der anderen Hand langsam über die<br />
Stirn und den angrenzenden nackten Teil des Kopfes, als<br />
wolle er dort längst entschwundene Locken richten. Durch die<br />
dünne Haut der Schläfen sch<strong>im</strong>mern bläuliche Adern, und <strong>im</strong>
24 JÄGER<br />
langen Hals hüpft ein kantig vorspringender Adamsapfel.<br />
“Vielleicht haben die Fische dazugelernt”, lächelt der Physiker.<br />
“Wie meinen?”<br />
Mit dem Zeigefinger drückt der Physiker von unten gegen<br />
den Nasenbügel seiner Brille und schiebt das einfache Metallgestell,<br />
dessen Vorderteil kleine ovale Gläser umfaßt,<br />
exakt an seinen Platz. Schlank ist er, eher hager, mittelgroß<br />
und einfach gekleidet. Äußerliches gilt ihm wenig. Auch sonst<br />
treibt er keinen großen Aufwand, was seine Person betrifft.<br />
Seine gewölbte Stirn akzentuiert einen völlig kahlen, eindrucksvoll<br />
geformten Schädel. “Wer läßt sich schon gern umbringen?<br />
Fische haben ein gutes Gedächtnis.”<br />
“Ich bringe die Fische nicht um. Sobald ich einen Fisch geangelt<br />
habe, betrachte ich ihn, entferne den Haken, und werfe<br />
ihn zurück ins Wasser.”<br />
“Das werden sich die Fische merken, und sie werden sich<br />
hüten, an dieser Stelle des Sees einen ähnlichen Köder noch<br />
einmal anzurühren.”<br />
“Das glaube ich nicht. Außerdem behandle ich die Fische<br />
ganz vorsichtig, ganz fachmännisch.”<br />
“Wenn ich ein Fisch wäre”, schüttelt der Physiker verständnislos<br />
den Kopf, “würde ich auf eine derartige fachmännische<br />
Behandlung gern verzichten.” Es ist ihm unbegreiflich, daß<br />
jemand mit Substanz <strong>im</strong> Hirn sich so wenig vorzustellen vermag,<br />
was er den Fischen antut. “Ihre Haken sind doch nicht<br />
ohne Grund so konstruiert, daß sie sich fest in den Kiefern, <strong>im</strong><br />
Schlund oder <strong>im</strong> Fleisch der Fische verankern. Ohne Verletzungen<br />
kann das doch nicht abgehen. Auch das Drillen, das<br />
Herausziehen aus dem Wasser am Haken und das Zappeln an<br />
Land – all das verursacht doch Schock, Beschädigung der<br />
schützenden Schle<strong>im</strong>hülle, Prellungen, Wunden. Daran wird<br />
so mancher Fisch qualvoll zugrundegehen, zumal wenn er<br />
wirklich mehrfach geangelt wird.”<br />
“Haben Sie schon mal geangelt?”
Jäger, die töten 25<br />
“Nein.”<br />
“Sind Sie schon mal auf Entenjagd gegangen?”<br />
“Nein.”<br />
“Dann wissen Sie auch nicht, wovon Sie reden. Und Sie<br />
können nicht nachempfinden, was das für unsereins bedeutet.<br />
Ich würde Ihnen gern mal mein Revier zeigen, Ihnen gern mal<br />
erklären, wie man das macht. Da gibt’s eine Menge zu lernen!”<br />
“Enten töten Sie auch?”<br />
Der MinRat überhört den bohrenden Unterton, ja den Inhalt<br />
der Frage. “Erst wenn man das selbst erlebt hat, kann<br />
man sich ein Urteil bilden.” Im Grunde ist er froh, daß er sich<br />
unterhalten kann. Das lenkt ab vom Frust der Erfolglosigkeit.<br />
“Angeln und Jagen, das ist eine Mischung aus Sport und<br />
Freude am Erfolg. Und das ist auch <strong>im</strong>mer wieder Angst, daß<br />
<strong>im</strong> letzten Augenblick noch etwas danebengehen könnte.<br />
Fische und Enten sind nicht dumm. Die muß man mit Phantasie<br />
und Einfühlungsvermögen überlisten.”<br />
“Ich …”, der Physiker hat sich verschluckt. Er hustet.<br />
“Wie meinen?”<br />
“Ich halte nichts vom Angeln und Jagen als Zeitvertreib.”<br />
“Jagen ist ein Erlebnis!” Die hellgrauen Augen leuchten auf.<br />
Versonnen blickt der MinRat vor sich hin. “Im letzten Jahr”,<br />
erinnert er sich und befeuchtet mit breiter Zunge schmale<br />
Lippen, “war ich zur Jagd eingeladen bei einem Gutsbesitzer,<br />
einem Alten Herrn unserer studentischen Verbindung. Großartig<br />
war das! Schon be<strong>im</strong> Eröffnungsbankett <strong>im</strong> großen Saal<br />
des Gutshauses tanzte mir mein Jägerherz. Die hohen Wände<br />
waren über und über mit Hirschgeweihen und Wildschweinköpfen<br />
behängt: Jagdtrophäen von Generationen! An der<br />
Stirnseite des Saals prangten Geweihe von Sechzehnendern<br />
mit vollem, ausgestopftem Kopf daran und langem, kräftigem<br />
Hals.”<br />
Langsam schüttelt der Physiker den Kopf.<br />
“Wie aus dem Wald ragten diese herrlichen Tiere aus den sie<br />
tragenden mächtigen Eichenstammscheiben. Und sie blickten
26 JÄGER<br />
mit großen schwarzen Augen stumm und staunend in den Saal.”<br />
‘Knochensammler’, denkt der Physiker, ‘Trophäensüchtige.’<br />
“Plötzlich erklangen vom Hof her die Jagdhörner. Ihr vibrierender<br />
Klang fuhr mir durch Mark und Bein!” In den hellen<br />
Augen flammt die Leuchtkraft des Erlebten, funkeln Faszination<br />
und lebendiger Nachhall der damaligen Ergriffenheit.<br />
Der MinRat wendet den Kopf. Im Gesicht des anderen sucht<br />
er nach der Wirkung seiner Worte.<br />
Aber der Physiker zuckt nur mit den Schultern. Und er<br />
denkt: ‘Was für ein Theater um erbarmungslos erschossene,<br />
hilflose Tiere!’<br />
Da fährt der MinRat fort: “Dann erhoben wir uns, die<br />
ganze bunte Jagdgesellschaft, und führten die mit köstlichem<br />
Wein gefüllten Silberhumpen an die Lippen zum Begrüßungstrunk.”<br />
Wieder wendet er sich dem anderen zu. Der<br />
aber blickt unbeeindruckt geradeaus. “Am nächsten Morgen<br />
trafen wir uns in aller Herrgottsfrühe am Waldrand. Von<br />
dort ging’s, der aufgehenden Sonne entgegen, durch langsam<br />
sich auflösende Frühnebel auf die Jagd. Superb, sage ich<br />
Ihnen, absolut superb!” Der MinRat blickt vor sich hin.<br />
Dann sagt er langsam und best<strong>im</strong>mt: “Ich jage gern. Das<br />
bringt Abwechslung in mein Leben, Spannung, Aufregung,<br />
Angst, …”<br />
“Wovor haben Sie denn da Angst?”<br />
“Ich sagte es schon, man hat <strong>im</strong>mer auch Angst, daß etwas<br />
schiefgehen könnte. Daß einem <strong>im</strong> letzten Augenblick das<br />
Wild davonläuft, der Fisch vom Haken rutscht. Daß die Enten<br />
nach mühseligem Anpirschen plötzlich auffliegen, zu<br />
weit entfernt, um mit einiger Sicherheit treffen zu können.<br />
Bitte versuchen Sie mal, sich das vorzustellen. Ich frühstücke<br />
um fünf Uhr morgens, ziehe mir die Jagdkleidung<br />
an, nehme mein Gewehr und die Munition aus dem Schrank,<br />
fahre an den See, pirsche durch Büsche, Binsen und aufsteigende<br />
Morgennebel, <strong>im</strong>mer weiter, tief in den Schilfgürtel<br />
hinein. Und dann – ganz plötzlich – höre ich die En-
Jäger, die töten 27<br />
ten! Sehe auch mal was von ihnen. Für kurze Augenblicke<br />
nur. Und dann geht’s wieder weiter. Dichter ran. Immer mit<br />
der allergrößten Vorsicht, damit ich ja kein Geräusch<br />
verursache. Dann stehe ich da. Warte. Und dann geht’s<br />
wieder weiter. Noch näher ran an die Jagdbeute. Durch<br />
flaches Wasser, durch hohes Schilf, über bucklige<br />
Binsenwiesen. Und dann, endlich, bin ich in Schußposition.<br />
Versteckt <strong>im</strong> mannshohen Schilf. Mit entsichertem Gewehr.<br />
Da zuckt mir mein Abzugfinger! Und dann, auf einmal,<br />
fliegen die weg! Fliegen einfach weg!!”<br />
Der MinRat sieht den Physiker an, erwartet, erhofft Verständnis.<br />
Als der Physiker wiederum nichts sagt, fährt er fort:<br />
“Und die Krone ist, daß diese Viecher schön niedrig über dem<br />
Schilf fliegen und in wildem Hin und Her. Da ist man dann<br />
völlig hilflos. Und wenn man dann so richtig in St<strong>im</strong>mung ist,<br />
kann man auch nicht gleich wieder aufhören. Selbst dann<br />
nicht, wenn man das eigentlich möchte. Ich habe schon erlebt,<br />
daß ich unbedingt nach Hause wollte, weil da die<br />
Übertragung eines wichtigen Fußballspiels <strong>im</strong> Fernsehen<br />
angekündigt war. Aber ich hatte noch nicht schießen können,<br />
und so war es mir einfach nicht möglich, mich loszureißen<br />
vom See. Manchmal war ich schon auf dem Weg nach Hause,<br />
und dann hörte ich plötzlich wieder Enten quaken. Da mußte<br />
ich dann einfach nochmal zurück.”<br />
“Der uralte Jagdtrieb”, murmelt der Physiker, und er denkt:<br />
‘noch <strong>im</strong>mer spukt er zwangvoll in den Köpfen und Eingeweiden<br />
selbst kluger, moderner Menschen.’<br />
“Wie meinen?”<br />
Der Physiker schiebt die Brille hoch. Dann sagt er, ohne auf<br />
die Frage zu antworten: “Wenn Sie die Fische, die Sie angeln,<br />
anschließend wieder ins Wasser werfen, warum angeln Sie<br />
dann überhaupt?”<br />
Der MinRat ist erschüttert über soviel Unverstand. “So<br />
kann nur einer fragen, der noch nie geangelt hat!”<br />
“Was sagen Sie zu meiner Frage?”
28 JÄGER<br />
“Weil mir das Spaß macht!” Er dreht sich dem anderen zu.<br />
“Weil mir das Freude bereitet!”<br />
“Und die Enten, die Sie geschossen haben, die können Sie<br />
doch nicht einfach wieder in die Luft werfen und rufen, ‘nun<br />
fliegt mal schön weiter!’ Tot ist tot. Macht Ihnen denn das Töten<br />
Spaß?”<br />
“Ich bitte Sie! Wir müssen Bestände regulieren, nach den<br />
Regeln der Sportfischerei, des Jagdrechts, des Jagdbrauchs.<br />
Wir müssen das Gleichgewicht in der Natur erhalten. Es gibt<br />
zu viele Enten, zu viel Wild.”<br />
“Warum wird dann geduldet, daß Enten so viel gefüttert<br />
werden? Warum füttern Jäger das Wild in strengen Wintern?<br />
Warum setzen Angler Fische ein in Flüsse, Seen und Teiche?”<br />
Der Physiker schüttelt verärgert den Kopf. “Doch nur, um sie<br />
später wieder ‘rauzusangeln. All dieser ‘Sport’, all dies Sich-<br />
Vergnügen geschieht letztlich <strong>im</strong>mer auf Kosten der Natur.<br />
Eine gesunde Natur kann die Bestände besser regulieren als<br />
der tüchtigste Jäger.”<br />
“Bitte denken Sie mal an den Revierbesitzer. Ihm gehören<br />
die Enten, das Wild. Er kann …”<br />
“Kein Tier gehört einem Menschen.”<br />
“Wem sonst?”<br />
“Ein Tier gehört sich selbst.”<br />
“Sie verkennen völlig…”<br />
“Ich verkenne nicht die positiven Seiten der Jägerei und<br />
nicht, daß die Regulierung von Tierbeständen eine wichtige<br />
Aufgabe sein kann. Aber es gibt auch andere Regulierungsmethoden<br />
als Schießen und Angeln.”<br />
“Töten ist am einfachsten.”<br />
“Töten nur als Hegepflicht oder zur Nahrungsgewinnung.<br />
Nicht als Spaß, nicht als Sport! Wer jagt, bedroht Leben, und<br />
wer Leben bedroht, trägt Verantwortung. Der sollte einen<br />
guten Grund haben für sein Tun – einen besseren, als sich zu<br />
vergnügen.”<br />
Der MinRat will etwas entgegnen, aber ihm fehlen die Wor-
Jäger, die töten 29<br />
te. Er schluckt. Stumm hüpft der Adamsapfel.<br />
“Ich meine schon, daß Sie ehrlicher sein sollten, gegenüber<br />
anderen und sich selbst, daß Sie zugeben sollten, daß Sie zum<br />
Zeitvertreib Angeln und Jagen – und aus Spaß am Töten.”<br />
“Töten ist nicht das Wichtigste bei der Jagd.”<br />
“Nun, dann mache ich Ihnen einen Vorschlag.”<br />
“Ich höre.”<br />
“Montieren Sie ein Zielfernrohr auf Ihr Gewehr.”<br />
“Habe ich bereits.”<br />
“Gut. Dann lassen Sie das Zielfernrohr mit einer Kamera<br />
verbinden und diese mit dem Abzug Ihres Gewehrs. So können<br />
Sie sämtliche Einzelheiten Ihrer Jagderlebnisse genießen<br />
und auch schießen. Allerdings nur mit der Kamera, und daher<br />
nicht töten. Sie können genau überprüfen, ob und wie Sie die<br />
Ente getroffen haben. Das zeigt Ihnen das Fadenkreuz auf<br />
dem Foto exakt an. Sie können das Foto aufbewahren und<br />
sich und anderen <strong>im</strong>mer wieder nachweisen, was für ein guter<br />
Jäger und Schütze Sie sind. Der einzige Unterschied bei all<br />
dem ist: die Ente bleibt am Leben. Sie töten nicht.”<br />
Der MinRat wendet sich hin und her auf dem Klappstuhl.<br />
Das Gespräch hat unangenehme Formen angenommen. Der<br />
kantig vorstehende Adamsapfel hüpft wie eine abgemagerte<br />
Erdkröte, unvermittelt und ruckartig. So hatte er sich die<br />
Unterhaltung mit dem Physiker nicht vorgestellt. Natürlich<br />
wäre die Sache mit der Kamera keine akzeptable Lösung.<br />
“Bitte erlauben Sie mir”, sagt er schließlich, “auf etwas hinzuweisen:<br />
Sie verkennen völlig, daß bei der Jagd auch eine<br />
gewisse Fairneß mit <strong>im</strong> Spiel ist.”<br />
“Fairneß?”<br />
“Die Enten haben gewissermaßen eine fifty-fifty Chance.”<br />
“Das versteh ich nicht.”<br />
“Ja, sogar mehr als fifty-fifty. Sie sollten einmal selbst miterleben,<br />
wie oft die mir entkommen.”<br />
“Eine fifty-fifty Chance würde doch bedeuten, daß auch die<br />
Enten gern auf Jagd gehen, und zwar auf Menschenjagd, und
30 JÄGER<br />
daß auch sie ein Gewehr hätten und damit in vergleichbarer<br />
Weise umgehen könnten wie Sie. Sozusagen ein Duell Mensch<br />
gegen Ente, mit gleichen Waffen. Da gäbe es eine fifty-fifty<br />
Chance.”<br />
Jetzt lacht der MinRat: “Sie haben eine Phantasie!”<br />
“Macht Ihnen das denn wirklich überhaupt nichts aus, so<br />
einfach eine Ente abzuknallen, ein Leben auszulöschen?”<br />
“Daran denkt man nicht be<strong>im</strong> Jagen. Sie verstehen einfach<br />
nicht”, lächelt der MinRat nachsichtig, “was Jagen für den<br />
Menschen bedeutet.”<br />
“Oh doch, das verstehe ich sehr gut. Der Mensch jagt seit<br />
uralten Zeiten. Über Millionen von Jahren hat da ein mächtiger<br />
Trieb tiefe Spuren gegraben. Auch heute noch drängelt<br />
dieser Trieb bei vielen Menschen – und in vielen Formen –<br />
<strong>im</strong>mer wieder an die Oberfläche.”<br />
“Was ist dagegen einzuwenden?”<br />
“Nichts – solange die Folgen des Triebes <strong>im</strong> Einklang stehen<br />
mit unserem heutigen Leben. Früher war Jagen Nahrungserwerb.<br />
Und früher verursachte es nicht wesentlich mehr und<br />
nicht wesentlich andere Veränderungen in der Natur als das<br />
Jagen anderer Raubtiere.”<br />
“Und heute?”<br />
“Heute hat der Mensch neue Grundlagen geschaffen für<br />
seine Ernährung. Heute schädigt und schändet er die Natur<br />
auf so vielfältige und so grausame Weise, und er tötet in<br />
einem so unvorstellbaren Ausmaß, daß jedes zusätzliche Töten<br />
unterbleiben sollte, zumal, wenn es nur dem Vergnügen<br />
dient.”<br />
Der MinRat wischt sich über die feucht gewordene Stirn.<br />
“Mit geradezu stupendem Unverstand”, fährt der Physiker<br />
fort, “halten sich manche Menschen sogar noch zusätzliche<br />
Jäger und lassen sie auf die bereits unter den Vernichtungsschlägen<br />
der Menschheit taumelnde Natur los.”<br />
“Was für Jäger meinen Sie?”<br />
“Millionen Katzen, Millionen Hunde. Bedenkenlos lassen
Jäger, die töten 31<br />
einige Menschen sie jagen und töten. Zum Spaß, ist man<br />
versucht zu sagen, denn – wie die meisten Angler und Jäger –<br />
töten die meisten Katzen und Hunde ja nicht aus Hunger.”<br />
“Ich bitte Sie, so schl<strong>im</strong>m kann das doch nicht sein.”<br />
“Katzen verletzen, verstümmeln und töten jedes Jahr allein<br />
in unserem Lande Millionen und Abermillionen von Kleinsäugern,<br />
Vögeln, Fröschen, Unken, Kröten, Molchen … Alles,<br />
was sich bewegt und nicht zu groß ist, wird triebhaft verfolgt<br />
und, wenn es nicht rechtzeitig fliehen kann, grausam zu Tode<br />
gequält. Ein gewaltiges, stummes Leiden und Sterben! So<br />
manche der verfolgten Tiere sind vom Aussterben bedroht.<br />
Viele haben sich <strong>im</strong> Kampf ums Überleben in vom Menschen<br />
schwer erreichbare Biotope zurückgezogen. Aber oftmals<br />
folgen ihnen die Katzen selbst dahin. Katzen haben einen<br />
starken Jagdtrieb, sie müssen jagen. Aber die weitaus meisten<br />
Katzen spielen heute nicht mehr die ihnen ursprünglich von<br />
der Natur zugewiesene Rolle. Der Mensch hat ihren Rollenplan<br />
verfälscht. Er trägt die Verantwortung für ihr Zeitvertreib-Töten.”<br />
“Viele Menschen sehen in Katzen liebe Gefährten. Sie wären<br />
unglücklich, wenn sie auf Katzen verzichten müßten.”<br />
“Es geht nicht ums Verzichten. Es geht um Verantwortung.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Es geht darum, sich nicht nur der Katzen zu erfreuen,<br />
sondern auch die Konsquenzen der Katzenhaltung zu tragen.<br />
Dazu gehört Schadensvermeidung.”<br />
“Sie meinen allen Ernstes, daß ich nicht mehr jagen sollte?”<br />
“Ich meine, Sie sollten so jagen, daß dabei kein Tier gequält<br />
oder getötet wird.”<br />
“Wie stellen Sie sich das vor?”<br />
“Ich sagte es schon, jagen mit den Augen, mit der Kamera.”<br />
“Da spielen die Jäger nicht mit und nicht die Angler!”<br />
“Warum nicht? Denken Sie mal an die Safaris in Afrika. Was<br />
ist da früher geschossen und gemordet worden. Heute gibt es<br />
Fotosafaries. Das habe ich selber schon dre<strong>im</strong>al mitgemacht.
32 JÄGER<br />
Ein herrliches Erlebnis! Und ganz ohne den Tieren Schaden<br />
zuzufügen, ohne sie zu verletzen, ohne sie zu töten. Eine solche<br />
Safari mit den Augen, mit der Kamera, zählt zu den<br />
schönsten Dingen, die wir Menschen heute noch erleben<br />
können. Auch bei dem grausamen Geschäft des Walfangs hat<br />
sich eine Wende angebahnt. Vor allem in Amerika begegnet<br />
man diesen wundervollen Tieren heute mit Respekt und Zuneigung.<br />
Dort gibt es Safaris zum Beobachten und Photographieren<br />
von Walen. Wenn da einer eine Harpune mitbringen<br />
würde oder ein Gewehr, auf so eine Augenjagd, der könnte<br />
was erleben!”<br />
“Das st<strong>im</strong>mt doch so alles nicht. Japaner und Norweger<br />
jagen auch heute noch Wale. Und mein Vetter jagt seit Jahren<br />
Großwild in Tansania – vor allem Leckerbissen wie Löwen<br />
und Leoparden. Als aktiver und sehr erfolgreicher Geschäftsmann<br />
braucht der das zur Abwechslung und Entspannung.”<br />
“Entspannung?”<br />
“Sein neuester Leopard hängt an der Wand neben seinem<br />
Kamin. Ein großes, wunderschönes Tier! Das zeigt er jedem,<br />
der in sein Haus kommt. Und dann erzählt er von seinen<br />
Jagderlebnissen. Spannend, sage ich Ihnen. Aufregend! So<br />
manch ein Jäger ist ein schlechter Schütze, hat er mir erzählt.<br />
Der trifft die Beute in den Bauch. Das ist gefährlich. Ein angeschossenes<br />
Tier ist unberechenbar. Nächstes Jahr will er<br />
mich mitnehmen.”<br />
“Soviel Lust am Töten ist für mich unfaßbar.”<br />
“Das sehen Sie völlig falsch. Auch heute noch fühlen Großwildjäger<br />
wie Hemingway. Lesen Sie mal dessen große Afrika-<br />
Romane!”<br />
“Ich habe das nie verstehen können.”<br />
“Was?”<br />
“Wie ein großer Schriftsteller so fühlen kann. Wie sich feinsinnige<br />
Kreativität mit grobschlächtiger Lust am Lebenauslöschen<br />
verbinden kann – mit Lust am Stierkampf, Hochseeangeln,<br />
Großwildjagen.”
Trampelpfade<br />
Trampelpfade 33<br />
Im Hüter des <strong>Park</strong>s, dem Gärtner, gärt Ärger. Es geht um<br />
Trampelpfade. Schon mehrfach hatte er seine Mitarbeiter angewiesen,<br />
den Pfad zu bepflanzen, der durch dichtes Gebüsch<br />
von hinten her zu der Bank führt, die auf dem Hügel steht,<br />
der Bank unter der großen uralten Eiche. Nie ist etwas<br />
daraus geworden.<br />
Gestern hatte er <strong>im</strong> Eingangsbereich des Pfades kriechende<br />
Rosen mit kräftigen Dornen gepflanzt. Heute morgen wollte<br />
er sich vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Alle Rosen sind<br />
verschwunden. Spurlos!<br />
“Dieser Kerl!”, ruft der Gärtner. Er forscht nach Verdächtigem.<br />
Und da bemerkt er, daß alle Zweige, die es gewagt<br />
hatten, von den Seiten her in den Pfad hineinzuwachsen,<br />
sorgfältig abgeschnitten und alle abgeschnittenen Teile<br />
ebenso sorgfältig entfernt worden sind. Das ist zuviel! ‘Es geht<br />
nicht anders’, denkt der Gärtner, ‘ich muß ihm einen<br />
Denkzettel verpassen.’<br />
Er läuft den schmalen Kiesweg hinunter. Als er den Bach<br />
überquert, dröhnt die Holzbrücke. Er startet das Gärtnereifahrzeug,<br />
wendet und fährt zurück zur Werkstatt. Dort kramt<br />
er in alten Kisten. Schließlich liegen drei Marderfallen auf<br />
dem Boden. So eine Falle kann einem Bein Wunden<br />
beibringen, die Wochen benötigen, um zu verheilen. Vor<br />
einigen Jahren hatte er diese Fallen einsetzen müssen, als die<br />
Marder überhandnahmen und großen Schaden anrichteten<br />
unter Vögeln und Eichhörnchen.<br />
Er wählt die kleinste Falle aus.<br />
Der Gärtner will warten, bis Kinder und Tagesbesucher mit<br />
Sicherheit den <strong>Park</strong> verlassen haben. Heute abend steht ein<br />
Theaterbesuch auf seinem Programm. Danach wird er tun,<br />
was er nun tun muß.<br />
Er sieht nach seinen Aquarien. Die neuen Fische haben<br />
gelaicht! Jetzt schmunzelt er. Und das geht bei ihm nicht
34 JÄGER<br />
ohne eindrucksvolle Verwerfungen in der von tiefen Falten<br />
und Furchen durchzogenen Landschaft seines Gesichtes.<br />
Hier hat ein ereignisreiches Leben mit einzigartigen Höhen<br />
und Tiefen unauslöschbare Spuren hinterlassen. Die<br />
zerklüftete Gesichtslandschaft hat die Sonne gebräunt, haben<br />
Wind und Wetter gegerbt: ein Gesicht, das man nicht<br />
vergißt. Und was könnte besser dazu passen als die langen,<br />
rotblonden, gewellten Haare und der kräftige Kinnbart?<br />
Vom Theater zurückgekehrt, wickelt der Gärtner die Falle<br />
in Ballentücher, klemmt sie auf den Gepäckträger seines<br />
Fahrrads und holt die große Lampe hervor, die man sich umhängen<br />
kann. Dann radelt er zur Bank auf dem Hügel. An der<br />
Brücke angelangt, lehnt er das Rad ans Geländer, n<strong>im</strong>mt die<br />
Falle vom Gepäckträger und geht damit den schmalen Kiesweg<br />
hinauf. Er wickelt die Falle aus und stellt sie auf den<br />
Boden. Mit dem Fuß drückt er den Spannhebel nach unten,<br />
ergreift mit beiden Händen die Fallenbacken und preßt sie<br />
auseinander bis sie einrasten. Dann sichert er die gespannte<br />
Falle, indem er mit der Fußspitze die beiden Sicherungen,<br />
eine nach der anderen, herumschwenkt. So, diese kitzlige<br />
Phase wäre überstanden. Vorsichtig plaziert er die Falle <strong>im</strong><br />
vorderen Teil des Pfades, dort, wo die Rosen waren.<br />
Sein Gewissen plagt ihn. Aber der Ärger ist stärker: ‘Ich<br />
muß es tun.’ Er n<strong>im</strong>mt einen Zweig vom Boden und dreht<br />
damit die Sicherungen herum. Nun ist die Falle scharf!<br />
Rasch geht er zurück zur Bank, läuft den Kiesweg hinunter<br />
zum Fahrrad und radelt nach Hause.<br />
Er ist todmüde.<br />
Aber aus dem Schlafen wird nichts in dieser Nacht. ‘Ich<br />
hätte das nicht tun sollen!’, denkt der Gärtner, ‘das ist doch<br />
gefährlicher Unfug.’ Er steht auf. Geht ziellos umher. Und<br />
nun entdeckt er auch noch, daß ein für ihn sehr kostbares<br />
Erbstück verloren gegangen ist. Lange sucht er herum. Vergebens.
2 KÖNIGSKINDER<br />
Brückenbau<br />
Brückenbau 35<br />
“Es war kein Mensch.<br />
Es war ein Tier”<br />
Wie das Läuten einer Silberglocke, so schwingt Lachen<br />
durch den abendlichen <strong>Park</strong>. Das offene, befreiende Lachen<br />
einer jungen Frau. Peter hat Inge ein lustiges Kompl<strong>im</strong>ent<br />
gemacht, über das sie sich so recht von Herzen freuen kann.<br />
Die beiden sitzen auf einer von Büschen umstandenen Bank.<br />
Die steht auf einem Hügel, unter einer großen uralten Eiche.<br />
Inges Augen strahlen. “Ach, du!”, ruft sie und versetzt Peter<br />
einen Schubs mit der Schulter. Ein kecker Kopfwurf, und ihr<br />
blonder Zopf fliegt von der Schulter in den Nacken. Vor sich<br />
hin lächelnd entn<strong>im</strong>mt sie ihrer Tragetasche ein geblümtes<br />
Taschentuch und betupft damit die Augen.<br />
Dann aber bedrückt sie wieder Unsicherheit. Peters Art, die<br />
Welt zu sehen, ist neu für sie, fremd und beunruhigend. Die<br />
beiden kommen aus sehr verschiedenen Traditionen.<br />
Inge ist in einer Welt aufgewachsen, in der seit Generationen<br />
das Christentum <strong>im</strong> Mittelpunkt steht. Ihre Welt, das ist die<br />
Welt ihres Vaters, des Pastors – eine Welt, die <strong>im</strong> Glauben ruht,<br />
die voller Harmonie ist und warmer Geborgenheit. Im Wirkungsfeld<br />
ihres Vaters und unter seinem Einfluß ist sie zu<br />
einer tiefgläubigen Christin geworden. Wie ein Wall hat das<br />
bedingungslose Vertrauen in ihren Gott sie abgeschirmt und<br />
beschützt vor kritischen Existenzfragen. Jetzt trifft sie die<br />
Kälte unvorbereitet, die ihr aus den Gesprächen mit Peter<br />
entgegenweht.<br />
Vor drei Wochen ist sie Peter zum ersten Mal begegnet,<br />
während einer Sportveranstaltung der Universität. Aus dieser<br />
Begegnung ist eine Freundschaft geworden, und die ist aufgeblüht<br />
zu einer ihr ans Herz gehenden Beziehung, der ersten
36 KÖNIGSKINDER<br />
Beziehung zu einem jungen Mann in ihrem Leben.<br />
Mit Bestürzung erlebt Inge, daß ihr Freund vieles völlig<br />
anders sieht als sie. Peter verunsichert sie. Er stellt fast alles<br />
in Frage, was ihre Welt ausmacht – und das mit oft schwer zu<br />
widerlegenden Argumenten.<br />
Peter ist in einer Großstadt aufgewachsen, als Sohn eines<br />
Schrankenwärters. Leben, das war für ihn von Anfang an<br />
Kampf und oft auch Hunger. Es gab Prügeleien mit Altersgenossen<br />
und rücksichtslos ausgetragene Revierkämpfe mit<br />
Jugendgruppen aus der Umgebung. An so manchem Monatsende<br />
wußte seine Mutter nicht, wie sie ihn satt kriegen sollte.<br />
Vater und Mutter sind früh gestorben, nahezu gleichzeitig.<br />
Mit Zähigkeit und Fleiß hat er sich ein eigenes Leben<br />
aufgebaut. Er ist ein kritischer Realist geworden und ein<br />
kompromißloser Sucher nach der Wahrheit. Unter harter<br />
Schale verbirgt sich aber ein weicher Kern. Mitunter fühlt er<br />
sich sehr einsam in seinem vom Drang nach Erkenntnis beherrschten<br />
Dasein. Und dann kann er, ohne jeden ersichtlichen<br />
Grund, ganz plötzlich in tiefer Wehmut versinken. Als<br />
Wissenschaftler arbeitet Peter mit Eifer und wachsendem Erfolg<br />
<strong>im</strong> Botanischen Institut. Wie ein leuchtender Sonnenstrahl<br />
ist Inge in seine graue Welt gekommen.<br />
Zum erstenmal in ihrem Leben hat Inge und Peter ein<br />
wundersamer Zauber erfaßt. Mit staunenden Sinnen erahnen<br />
die beiden die zaghaft in ihnen aufblühende große Liebe.<br />
Große Liebe baut auf Einander-Kennen. Große Liebe braucht<br />
Vertrauen und Verständnis. So suchen sie einen Weg zueinander.<br />
Peter hebt den Kopf. Sein Blick wandert in den die Nacht<br />
erwartenden <strong>Park</strong>. Langsam gleitet er über die weite Wiese,<br />
die sich vor ihnen ausbreitet und deren Gräser jetzt das noch<br />
matte, fahle Licht des Vollmondes streichelt und verfremdet.<br />
Am fernen Ende der Wiese erkennt er die alte riesige Rotbuche.<br />
Während er gestern abend mit Inge auf dieser Bank ge-
Brückenbau 37<br />
sessen hatte, war ihm die Rotbuche ein Ruhepunkt gewesen<br />
für seine suchenden Gedanken.<br />
Peter legt den Arm um seine Freundin, versucht, sie an sich<br />
zu ziehen. Aber Inge entwindet sich ihm mit langsamen,<br />
kaum wahrnehmbaren Bewegungen. Sie muß erst diese Erörterung<br />
weiterführen. Das ist sehr wichtig für sie. Die Art, in<br />
der Peter von Religion spricht, und von Gott, ist fremd für sie,<br />
ja verletzend.<br />
Zögernd n<strong>im</strong>mt sie das Gespräch wieder auf: “Was du da<br />
vorhin gesagt hast, … das überzeugt mich nicht. So einfach<br />
können wir uns das meiner Ansicht nach nicht machen.”<br />
Behutsam rückt sie etwas ab von Peter. Streicht mit beiden<br />
Händen ihre Haare glatt und zieht die schwarze Samtbandschleife<br />
fest, die ihre langen blonden Strähnen zum Zopf<br />
bändigt. “Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne Religion.<br />
Sie bietet den Menschen Zuversicht, Halt und Kraft.”<br />
Inge überlegt einen Augenblick. Dann sagt sie: “Und für mich<br />
ist das Christentum, eine uns durch Jesus Christus zuteil<br />
gewordene göttliche Offenbarung, die höchste Form der Religion.”<br />
“Wie meinst du das, die höchste Form der Religion? Und wie<br />
willst du das begründen?” Peter stopft sich eine Pfeife.<br />
“Ich hatte heute ein langes Gespräch mit meinem Vater. Er<br />
hat sich eingehend mit der Verbreitung der Religionen befaßt.<br />
Weil mich das alles sehr interessiert, hat er mir Einzelheiten<br />
erläutert. Dabei hat er mir auch Zahlen genannt. Es gibt<br />
sechs Religionen auf der Welt …”<br />
“Viel mehr.”<br />
“Nun gut, sechs große.”<br />
“Du meinst zur Zeit.”<br />
“Ja. Vor kurzem hat man deren Mitgliederzahlen geschätzt.”<br />
Inge fixiert einen großen hellen Stern. “Mal seh’n, ob ich das<br />
jetzt richtig zusammen bekomme.” Gewissenhaft zählt sie auf,<br />
unter Zuhilfenahme ihrer wunderschönen schlanken Finger:<br />
“33 Prozent sind Christen, 15 Prozent Mohammedaner, 13
38 KÖNIGSKINDER<br />
Prozent Hindus, 11 Prozent Konfuzianer … Hmm. Wie geht’s<br />
weiter? Ach ja, 7 Prozent sind Buddhisten, 4 Prozent machen<br />
Stammesreligionen aus und An<strong>im</strong>isten. Rund 17 Prozent gehören<br />
kleineren Religionsgmeinschaften an oder haben keine<br />
Religion.”<br />
“Bravo, macht genau 100 Prozent.”<br />
“Ach, du!” Inge knufft ihren Freund mit dem Ellenbogen.<br />
“Mir ist es wirklich ernst! Eineinhalb Milliarden Menschen<br />
sind getaufte Christen. Darum verkörpert für mich das Christentum<br />
die höchste Form der Religion.”<br />
Peter schüttelt den Kopf. “Das Christentum macht<br />
verhängnisvolle Fehler.”<br />
“Fehler? Was für Fehler?”<br />
“Die Mißdeutung der Rolle, die die Natur dem Menschen zuweist.<br />
Die Förderung von Verhaltensweisen, die dem Drehbuch<br />
der Schöpfung zuwiderlaufen. Die Blockade einer Lösung<br />
so entstehender Probleme durch doktrinäres Festklammern am<br />
einmal eingeschlagenen Weg.”<br />
“Peter!”<br />
“Im Verlaufe der Zeit haben Kirchenobere auf dem Boden<br />
der Lehren Christi ein egoistisch-patriarchalisches Machtgefüge<br />
errichtet, diplomatisch diskret nach außen, aber anmassend<br />
aggressiv <strong>im</strong> Kern. Die Strategie ihrer Machtgier<br />
basiert auf fehlgeleiteten Ängsten der Gläubigen, perfektionierter<br />
Menschenbeherrschung und einem autoritären Führungsstil,<br />
der sich jeder demokratischen Kontrolle hartnäckig<br />
widersetzt. Kirchenobere haben das Vermächtnis Christi entweiht.<br />
Sie haben aus den Wegweisern Christi eine Dokumentation<br />
menschlicher Irrwege gemacht.”<br />
“Peter! Du tust mir sehr weh, wenn du so sprichst.”<br />
“Inge!” Er legt seine Hand auf ihren Arm. “Ich will dir nicht<br />
weh tun. Bitte, laß uns von etwas anderem reden. Sieh nur,<br />
der große Stern dort. Sieh nur, wie schön der Nachth<strong>im</strong>mel<br />
ist! Komm, laß uns …” Er versucht abermals, sie in den Arm<br />
zu nehmen.
Brückenbau 39<br />
“Nein, Peter! Nein! Bitte!! … Ich kann nicht. Jetzt nicht. Du<br />
und ich, wir haben sehr verschiedene Lebenserfahrungen. Wir<br />
haben sehr große Schwierigkeiten damit,<br />
zueinanderzufinden. Wir stehen an ganz verschiedenen<br />
Ufern. Wir sind Königskinder.”<br />
“Ja”, sagt Peter. “Ja, das ist wahr.”<br />
“Wir müssen gemeinsam versuchen, eine Brücke zu bauen<br />
… eine Brücke, die uns beide trägt, die es uns ermöglicht, über<br />
tiefes Wasser zueinanderzugelangen. Dabei mußt auch du<br />
helfen. So helfen, daß nichts zerschlagen wird, daß eine Konstruktion<br />
entsteht, die uns beide zu tragen vermag – mit all<br />
unseren Verschiedenheiten.”<br />
“Aber wie können wir das tun, ohne unsere Verschiedenheiten<br />
zu kennen?”<br />
Inge nickt. “Ich will mich sehr bemühen, dir zuzuhören. Bitte<br />
sag mir offen, was du denkst, was du fühlst, wie du die Welt<br />
siehst.”<br />
Langsam zieht Peter seine Arme zurück. Dann greift er in<br />
die Jackentasche, holt sein Feuerzeug hervor und entzündet<br />
paffend den Tabak in seiner Pfeife. “Also, was ist eine Religion?<br />
Sie ist der Glaube an eine transzendente Macht, die das<br />
Weltgeschehen lenkt, an die Existenz übersinnlicher Kräfte,<br />
die in besonderem Maße auf den Menschen ausgerichtet sind.”<br />
Peter saugt an seiner Pfeife. Aus zugespitzten, von kurzgeschnittenem<br />
Backenbart eingerahmten Lippen entläßt er<br />
blau-graue Rauchwolken. “Eine Religion verleiht der menschlichen<br />
Existenz einen Sinn, eine Berechtigung, und sie<br />
vermittelt dem Gläubigen einen Seinsgrund. Auf dieser Basis<br />
entwickelt der religiöse Mensch Verhaltensregeln, Tabus und<br />
Rituale. Er betet und opfert. Er formuliert Antworten auf die<br />
großen Fragen der Menschheit. Er belehrt sich und andere<br />
über Pflichten, Geheiligtes und Verbotenes.” Peter pafft. “All<br />
dies, einmal verkündet, darf dann nicht mehr in Frage gestellt<br />
werden. Ja, man darf nicht einmal mehr kritisch darüber diskutieren.”<br />
Er schmunzelt. “Zuallererst müssen wir versuchen,
40 KÖNIGSKINDER<br />
uns von derartigen Tabus zu befreien. Wenigstens für die<br />
Dauer dieses Gespräches.” Er sucht Inges Augen. Die hat den<br />
Blick auf ihre <strong>im</strong> Schoß gefalteten Hände gerichtet. Nachdenklich<br />
nickt sie.<br />
Wieder läßt Peter Rauch entweichen, ganz bedächtig, gen<br />
H<strong>im</strong>mel. Dann spricht er weiter. “Wo liegen die Antriebskräfte?<br />
Sie liegen in uralten, unerfüllbaren Sehnsüchten und<br />
Hoffnungen der Menschen. Der Sehnsucht, über den Zaun sehen<br />
zu können, und der Hoffnung, jenseits des Zaunes Trost,<br />
Sinn, Hilfe und Erlösung zu finden. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte<br />
hat es Hunderttausende verschiedener Religionen<br />
gegeben. Innerhalb des Christentums gibt es Hunderte<br />
von Sekten. Nicht selten bekämpfen sie einander. Weltweit<br />
werden in jeder Woche neue Religionen geboren und alte begraben.<br />
Überall kommt nur das heraus, was Menschen denken<br />
und empfinden, wünschen und wollen. Jede Gruppe legt<br />
sich ihren Messias zurecht und ihre Vorstellungen über die<br />
Entstehung der Welt und des Menschen. Religionen sind vergänglich.<br />
Die erste ist mit dem Menschen entstanden, die letzte<br />
wird mit ihm vergehen. Solange sie leben, sind Religionen<br />
ein Teil des Menschen, und <strong>im</strong>mer sind sie das, was er aus<br />
ihnen macht.”<br />
Peter schweigt und streichelt Inges <strong>im</strong>mer noch gefalteten<br />
Hände. Dann sagt er: “Du hast vom Christentum gesprochen.<br />
Die Repräsentanten dieser Religion beanspruchen <strong>im</strong> Namen<br />
Jesu die Absolutheit ihrer Lehren. Das ist eine Anmaßung.<br />
Jesus kann uns auch heute noch, nach fast zweitausend Jahren,<br />
in so manchem Vorbild sein, vor allem in seiner Bescheidenheit<br />
und Rechtschaffenheit, aber auch in seiner Lebensweisheit<br />
und Lebensfreude. Was ist aus seinen Lehren<br />
geworden? Das heutige Christentum hat mit diesem Mann<br />
nur noch den Namen gemeinsam. Viele Menschen, die sich<br />
Christen nennen, haben die Lehren Jesu – die andere erst<br />
lange nach seinem Tod niedergeschrieben und ausgeschmückt<br />
haben – längst verraten. Das von den Nachfolgern formulierte
christliche Glaubensgut steht <strong>im</strong> Widerspruch zu fast allem,<br />
was die Menschheit an neueren Einsichten in Naturgeschehen<br />
erarbeitet hat. Unser heutiges Weltbild läßt sich eher mit dem<br />
alten Ideengut fernöstlicher Religionen verbinden als mit den<br />
oft sehr merkwürdigen Vorstellungen des wesentlich jüngeren<br />
Christentums. Du hast gesagt, eineinhalb Milliarden Menschen<br />
seien Christen. Sind sie es wirklich? Sie schreiben auf<br />
Fragebögen ‘katholisch’, ‘protestantisch’, ‘evangelisch’. Meist<br />
schreiben sie das, ohne darüber nachzudenken.”<br />
Prägung<br />
Prägung 41<br />
Peter n<strong>im</strong>mt einen tiefen Zug aus der Pfeife. “Viele Menschen<br />
bezeichnen sich als Christen, weil sie entsprechend<br />
geprägt worden sind, lange bevor sie das Rüstzeug hatten, selber<br />
darüber nachzudenken. Die meisten haben sich niemals<br />
selbst entscheiden können. Sie sind Gefangene einer Welt, die<br />
ihnen Geistliche, Eltern und Lehrer übergestülpt haben.”<br />
“Niemand läßt sich so leicht eine Welt überstülpen.”<br />
“So manche religiöse Kaderschmiede hat ein treffsicheres,<br />
wirkungsstarkes System von Prägungsmechanismen entwikkelt.<br />
Eine ausgefeilte Mischung aus Indoktrination, ritualisierten<br />
Verhaltensnormen, Schurigelei, Strafe und Lob: Meisterwerke<br />
der Prägungspädagogik. Kaum einer der dort Erzogenen,<br />
der nicht ein lebenslanges Stigma davonträgt. Kaum<br />
einer, der be<strong>im</strong> Versuch, auszubrechen, ohne Beschädigung<br />
davonkommt. Stark Geprägte werden das ihnen Eingetrichterte<br />
nur schwer wieder los. Sie leben in einem geistigen<br />
Gefängnis. Viele leiden unter Konflikten. Nur wenigen gelingt<br />
es, sich zu befreien. Ich halte das von egoistischen <strong>Inter</strong>essen<br />
ausgehende Prägen junger, hilfloser Menschen, sei es in Religion<br />
oder Politik, für unmoralisch.”<br />
“Was verstehst du unter Prägung?”
42 KÖNIGSKINDER<br />
“Wenn eine Gans die Eihülle bricht und erstmals das Licht<br />
der Welt erblickt, lernt sie ihre Eltern kennen. In diesem Augenblick<br />
erfolgt eine Prägung: Unauslöschbar prägt sich die<br />
frisch geschlüpfte Gans das Bild der Eltern ein und watschelt<br />
von nun an diesen nach.”<br />
“Wer prägt? Das Junge oder das Alte?”<br />
“Die Prägung geht vom Alten aus, aber sie vollzieht sich <strong>im</strong><br />
Jungen.”<br />
“Und wenn man die Eltern vor dem Schlüpfen entfernt?”<br />
“Dann prägen sich die jungen Gänse das Bild des Wesens<br />
ein, das ihnen zuerst begegnet.”<br />
“Und wenn das ein Mensch ist?”<br />
“Dann folgen sie von nun an diesem Menschen. Sie merken<br />
sich sein persönliches Aussehen und versuchen, ihm<br />
überallhin zu folgen. Von dieser Prägung lassen sie sich nicht<br />
abbringen, auch dann nicht, wenn ihnen jetzt ihre eigenen<br />
Eltern vorgestellt werden. Ähnlich verhalten sich einige andere<br />
Tiere.”<br />
“Welche?”<br />
“In seiner Vorlesung bringt Professor Frische <strong>im</strong>mer das<br />
Beispiel von dem jungen Purpurreiher. Der war unmittelbar<br />
nach dem Schlüpfen von einem Zoologen aus dem Nest<br />
genommen worden und auf dessen Person geprägt. Der Reiher<br />
verteidigte später den Zoologen gegen jeden vermeintlichen<br />
Feind. Als er herangewachsen war, machte er seinem Pfleger<br />
einen Heiratsantrag – nach Reiherart – und baute mit<br />
ihm zusammen ein Nest. Der Zoologe kannte die Nestbaugewohnheiten<br />
der Purpurreiher und half, so gut es ging.<br />
Immer wieder verlangte der Reiher von ihm das Zureichen<br />
von Ästen, die er dann mit Eifer und Geschick zum Horst<br />
verflocht. Als der Nestbau vollendet war, forderte der Reiher<br />
den Zoologen auf, sich mit ihm zu paaren. An dieser Stelle der<br />
Vorlesung fügte Frische lakonisch hinzu: Womit das Verhältnis<br />
der beiden Partner die Grenze des Möglichen erreicht<br />
hatte.”
Prägung 43<br />
“Armes Tierchen!”<br />
“Prägung hat eine wichtige biologische Funktion.”<br />
“Auch be<strong>im</strong> Menschen?”<br />
“Alle Menschen sind Kinder ihrer Epoche. Das fördert den<br />
Zusammenhalt, aber es kann auch die Entfaltung des Einzelnen<br />
behindern.”<br />
“Behindern? Wie?”<br />
“Individuen werden in die Vorstellungswelt einer vorurteilsverhafteten<br />
Gesellschaft gedrängt. Sie können zu Gefangenen<br />
des Zeitgeistes werden.”<br />
“Gefangene? Davon kann man sich doch befreien.”<br />
“Der Weg aus dem Labyrinth geprägter Abhängigkeiten, das<br />
Sich-Befreien aus einem psychischen Gefängnis, ist zu allen<br />
Zeiten schwer gewesen.”<br />
“Gibt es auch be<strong>im</strong> Menschen – wie bei dem Reiher – durch<br />
best<strong>im</strong>mte Personen verursachte Prägungen?”<br />
Peter nickt.<br />
“Durch wen?”<br />
“Vor allem durch Lehrer und Priester.”<br />
Inge fühlt plötzlich, daß hier etwas angesprochen wird, das<br />
sie betrifft. Sie wird unsicher. Vergebens sucht sie nach Gegenargumenten.<br />
Ihre Unsicherheit raubt ihr für einen Moment<br />
klares Denken. “Priester? Verzerrst du das nicht?”<br />
“Wer einem Kind das Bild des qualvoll am Kreuz sterbenden<br />
Christus <strong>im</strong>merfort vor Augen führt, wer ihm die Schmerzen<br />
des Gekreuzigten tief ins Herz pflanzt, wer ihm wieder und<br />
wieder die merkwürdig-mittelalterlichen Zeremonien und Beschwörungsformeln<br />
des Gottesdienstes zumutet, der fesselt<br />
die kindliche Seele.”<br />
“Das Kreuz ist das Herz des Evangeliums!”<br />
“Das Wort vom Kreuz ist der Kern der Botschaft des Paulus,<br />
eines Mannes von unnatürlicher, ja abartiger Sittlichkeit.<br />
Eines Mannes von despotisch-autoritär prägender Agressivität.”<br />
“Paulus war ein Mann von überragender geistiger Brillianz.
44 KÖNIGSKINDER<br />
Und er war ein begnadeter Redner!”<br />
“Ja. Und so hat er die Voraussetzungen dafür geschaffen,<br />
daß aus einer kleinen, zunächst wenig beachteten jüdischen<br />
Konfession die Weltreligion der Christen entstehen konnte –<br />
eine Weltreligion, an deren zum Teil recht merkwürdigen Botschaften<br />
wir noch heute leiden.”<br />
“ ‘Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren<br />
werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.’<br />
So steht’s in der Bibel.”<br />
“Das Kreuz war vor Jesus und vor der Bibel. Für mich ist<br />
das Kreuz ein Stück gewachsener Humanität. Für mich repräsentiert<br />
es nicht nur christliche Glaubenselemente<br />
sondern abendländische Tradition, Kultur und Freiheit. So<br />
wird es auch für mich zu einem Symbol, mit dem ich mich<br />
identifizieren kann, mit und unter dem ich leben kann.”<br />
“Ja”, sagt Inge, “so könnte auch ich das sehen. Hier finde ich<br />
ein Stück Weg, auf dem wir uns näher kommen können.”<br />
Nach einer Weile fügt sie hinzu: “Warum lehnst du dich so<br />
sehr auf gegen das, was Christus uns lehrt?”<br />
“Ich lehne mich auf gegen das, was die Ausdeuter und Nachfolger<br />
aus seinen Lehren gemacht haben. Gegen die Art, in<br />
der sie ihre eigenen <strong>Inter</strong>essen und Ziele in den Vordergrund<br />
gerückt haben. Und gegen die Rücksichtslosigkeit ihrer Methoden<br />
des Missionierens und Unterdrückens.”<br />
“Die ersten Europäer, die den Indianern begegneten, haben<br />
in ihnen wilde Tiere gesehen und sie entsprechend behandelt.<br />
Aber der Papst hat sie schon sehr früh zu Menschen erklärt.”<br />
“Ja, und wie lautete seine Begründung? ‘Da sie fähig sind,<br />
den christlichen Glauben anzunehmen!’” Peter schüttelt den<br />
Kopf. Dann sagt er: “Wer <strong>im</strong>merfort die Sünde beschwört, wer<br />
ständig mit Schuld und Strafe droht, wer dem Menschen <strong>im</strong>mer<br />
wieder die Angst vor den Fürchterlichkeiten des Fegefeuers<br />
ins Hirn hämmert, der prägt in verderblichem Ausmaß.<br />
Der baut …”<br />
“Selig ist der Mensch, den Gott strafet; darum weigere dich
Prägung 45<br />
der Züchtigung des Allmächtigen nicht.”<br />
“… der baut dem Menschen eine Hölle schon auf Erden.”<br />
Peter blickt hinüber zur Rotbuche. Nachdenklich sagt er:<br />
“Ich möchte dir etwas aus meiner Kindheit erzählen. Ich hatte<br />
einen Freund. Er war <strong>im</strong>mer sehr korrekt angezogen, <strong>im</strong>mer<br />
wie aus dem Ei gepellt. Er hat nie an unseren Kinderkriegen<br />
teilgenommen. Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Er war<br />
ohne Fehl und Tadel. Für mich war er ein kleiner Gott.<br />
Eines Tages wurden wir auf freiem Feld von einem Gewitter<br />
überrascht. Wir fanden Schutz in einem alten Schweinestall.<br />
Dort hockten wir eng beisammen. Nach einem gewaltigen<br />
Blitz und einem kurz darauf folgenden fürchterlichen Donnerschlag<br />
fing er plötzlich an zu weinen. Und dann brach es<br />
aus ihm heraus: ‘Meine Eltern haben einen Pakt mit Gott’,<br />
schluchzte er. ‘Gott sieht alles. Gott hört alles. Tag und Nacht.<br />
Und er erzählt Mama und Papa alles.’ Wieder schluchzte er.<br />
‘Gott kann sogar meine Gedanken lesen. Nirgends kann ich<br />
mich verstecken. Nichts kann ich vor denen verbergen.’ Er<br />
weinte. ‘Jeden morgen muß ich nach dem Frühstücksgebet<br />
laut fragen: Habe ich meinen Eltern Böses gewünscht? Habe<br />
ich sie belogen? Bin ich zornig gewesen? Habe ich mich <strong>im</strong><br />
Haus und in der Schule unartig betragen? – Und dann sagt<br />
meine Mutter <strong>im</strong>mer: Gott bringt den guten Kindern Segen<br />
und Seligkeit. Bösen Kindern aber bringt er ewige Verdammnis.<br />
– Ich habe Angst’, sagte er und zitterte. ‘Mein ganzes Leben<br />
ist Angst. Angst vor den Eltern. Angst vor Gott. Es gibt<br />
kein Entrinnen.’<br />
Am nächsten Tag war er tot. Es hieß, er sei aus einem<br />
Fenster <strong>im</strong> zehnten Stock gestürzt. Ich bin sicher: er ist gesprungen.”<br />
“Das ist ja eine furchtbare Geschichte!”<br />
“Das ist die Geschichte einer furchtbaren Prägung. Gott als<br />
h<strong>im</strong>mlischer Voyeur. Gott als Belauscher und Zukucker!”<br />
Inge ist erschüttert. Stumm irrt ihr Blick herum <strong>im</strong> dunklen<br />
<strong>Park</strong>. Nach langem Schweigen sagt sie leise: “Wer seine Sünde
46 KÖNIGSKINDER<br />
leugnet, dem wird’s nicht gelingen; wer sie aber bekennt und<br />
läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.”<br />
“Barmherzigkeit nur für Bekenner?”<br />
“Gott kann streng sein. Seine Gedanken sind nicht unsere<br />
Gedanken, und unsere Wege sind nicht seine Wege.”<br />
“Wo bleibt das Lachen? Wo die Freude? Wo der Genuß des<br />
Lebens, der Natur, des Geschlechtlichen? Werden die von den<br />
Kirchenoberen Erzogenen und Geprägten nicht betrogen? Um<br />
die fröhlichen, die guten Seiten des Lebens? Um Seiten, die<br />
sie angesichts der zahlreichen Probleme menschlicher<br />
Existenz heute mehr brauchen als je zuvor?”<br />
“So darfst du nicht fragen! Du weißt zu wenig über unseren<br />
Glauben. Christen werden in reichem Maße beschenkt.”<br />
Nach einigem Überlegen fragt Inge: “Ist Prägung nicht auch<br />
Lernen?”<br />
“Im Grunde ja.” Peter klopft seine Pfeife aus, steckt sie in<br />
einen Lederbeutel und diesen in seine Jackentasche. “Prägung<br />
ist eine intensive, langdauernde Variante des Lernens.<br />
Sie ist besonders mächtig in jungen Individuen. Be<strong>im</strong> Prägen<br />
rollt der Ball des Lerninhalts rasch bergab und bleibt in einer<br />
Mulde liegen. Be<strong>im</strong> Lernen muß der Ball mühsam bergauf<br />
gerollt werden. Sobald das Mühen nachläßt, droht der Ball<br />
zurückzurollen, das Erlernte in Vergessenheit zu versinken.”<br />
“Du wirst doch zugeben, Peter, daß junge Menschen lernen<br />
müssen: Schreiben, Lesen, Rechnen, Sprachen, korrektes Verhalten.<br />
Warum …”<br />
“Und lernen, wie die Natur funktioniert! Das weithin fehlende<br />
Verständnis für ökologische Prozesse dokumentiert ein<br />
kolossales Versagen unseres Bildungssystems!”<br />
“… Warum sollte dabei die Religion ausgenommen werden?<br />
Junge Menschen brauchen Vorbilder und Führung. Sie haben<br />
ein Recht darauf, von den Erfahrungen der Älteren zu profitieren.<br />
Sie brauchen Informationen und Anleitungen. Sie können<br />
sich nicht aus eigener Kraft für eine Religion entscheiden.<br />
Ihnen fehlt noch das Rüstzeug für eine kritische Ausein-
Prägung 47<br />
andersetzung mit verschiedenen Religionsvorstellungen.<br />
Müssen wir ihnen nicht helfen? Müssen wir ihnen nicht den<br />
Weg zeigen? Dürfen wir sie <strong>im</strong> Stich lassen auf einem Gebiet,<br />
auf dem selbst Ältere <strong>im</strong>mer wieder Schwierigkeiten haben,<br />
oftmals straucheln?”<br />
“Belehrung junger Menschen, Erziehung und Beratung, ja.<br />
Das ist ein vornehmes Anliegen der Älteren. Aber dieses Anliegen<br />
muß mit Verantwortung und Zurückhaltung ausgeübt<br />
werden. Es darf nicht zur Durchsetzung eigener <strong>Inter</strong>essen<br />
mißbraucht werden. Stets muß ein Tor offengehalten werden,<br />
durch das die jungen Menschen später einmal hinausgehen<br />
können, wenn sie das nach reiflicher Überlegung wünschen.<br />
Kinder sind <strong>im</strong> besonderen Maße bereit, Älteren zu vertrauen,<br />
ihnen Glauben zu schenken, sie zu kopieren. Mit Hilfe<br />
ihrer blühenden Phantasie rollen die Bälle Aberglauben,<br />
Glauben und Märchen mühelos zu Tal, auf weit offenen Bahnen.<br />
Ein psychologisch geschickter Politiker – oder ein Pastor<br />
– kann seine Lehren wie Samen tief in junge Seelen senken.<br />
Die …”<br />
“Ein Pastor hilft, daß die Seele sich recht entwickle. Er ist<br />
ihr Hüter, ihr Hirte. Er …”<br />
“… die Saat geht auf. Wie Gänse und Purpurreiher sind<br />
stark geprägte Menschen Gefangene ihres Betreuers. Sie<br />
verharren <strong>im</strong> Bannkreis der ihnen eingeredeten oder<br />
aufgezwungenen Vorstellungen. Sie können sich nicht mehr<br />
an der Wahrheitssuche beteiligen. Sie können nicht mehr ans<br />
andere Ufer.”<br />
“Das kann man doch ändern.”<br />
“Prägung kann sehr stark sein. Manchmal so stark, daß sie<br />
nur schwer veränderbar ist, daß sie zu Erstarrungen führt.<br />
Wer sich nicht mehr biegen kann, der bricht.”<br />
“Wie kann Prägung einen Menschen so erstarren lassen?”<br />
“Sehr starke Prägungserlebnisse können dauerhaft die<br />
Stoffwechselvorgänge in den Nervenzellen verändern und so<br />
Denkstrukturen umprogrammieren.”
48 KÖNIGSKINDER<br />
“Lernen setzt Gedächtnis voraus.”<br />
“Ja.”<br />
“Gedächtnis ist ans Gehirn gebunden. Wie also kommt<br />
da …”<br />
“Gedächtnis ist nicht nur ans Gehirn gebunden.”<br />
“Nanu! Was verstehst du unter Gedächtnis?”<br />
“Gedächtnis ist die Spur eines Geschehens – eine Spur, die<br />
gespeichert und wieder abgerufen werden kann. Unser Körper<br />
hat ein Gedächtnis, ein Bakterium, ein Virus.”<br />
“Eine sehr weite Begriffsauslegung!”<br />
“Gedächtnis und Vergessen – also das Verwehen der Spuren –<br />
sind allem Leben eigen.”<br />
“Aber man muß doch unterscheiden zwischen verschiedenen<br />
Gedächtnisleistungen.”<br />
“Ja. Es gibt ein ererbtes Gedächtnis und ein angelerntes.<br />
Ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis. Es gibt ein Gedächtnis<br />
für Gesehenes, Gehörtes, Geschmecktes, Gerochenes,<br />
Gefühltes. Unser Abwehrsystem hat ein Gedächtnis, unser<br />
Magen. Nahezu jede Zelle unseres Körpers kann Informationen<br />
speichern, abrufen und verlieren.”<br />
“Ich meine jetzt mehr das Gedächtnis für Wissen und religiöse<br />
Erfahrungen.”<br />
“Wissen wird dem ‘Schalenbereich’ zugeordnet. Religiöse Erfahrungen<br />
sprechen tiefe Bereiche an – Bereiche, in denen<br />
Prägungen Triumphe feiern. Schwer kontrollierbar kann das<br />
in den Tiefen Gespeicherte das Wollen und Wirken der Menschen<br />
beeinflussen. Es kann eine gehe<strong>im</strong>nisvolle Macht auf<br />
sie ausüben.”<br />
Und nun lassen Peters bittere Kindheit und seine daraus gespeiste<br />
harte Kritikfähigkeit ihn wieder einmal etwas sagen,<br />
das er so nicht hatte sagen wollen: “Kirchenbauten können als<br />
Prägungsinstrumente wirken. Mit ihrer Großartigkeit verkleinern<br />
sie den Menschen und setzen ihn einer besonderen<br />
Umwelt aus: verbrämtem Dämmerlicht, dumpfhallend-verfremdeten<br />
Tönen und seelenlosem Glänzen von Gold und
Prägung 49<br />
Reichtum. Knien, beten, beichten, büßen: <strong>im</strong>mer die gleichen<br />
Sprüche, die gleiche Musik, die gleichen Gesänge, die gleichen<br />
Beschwörungsformeln. Geprägt, gefangen, gefesselt. Erstarrt<br />
in mittelalterlichem Geist.”<br />
Peter erschrickt über seine Worte. Er streichelt Inges Hände.<br />
Noch <strong>im</strong>mer ruhen sie gefaltet in ihrem Schoß. Sie sind<br />
ganz kalt geworden.<br />
Das Gespräch hat wieder eine Wende genommen, die ganz<br />
und gar nicht geeignet ist, den Brückenbau voranzutreiben.<br />
Während Peters letzter Sätze war Inge <strong>im</strong> Begriff, laut aufzubegehren<br />
und ‘Peter!’ zu rufen – wie vorhin. Aber sie fühlt sich<br />
gebunden an ihr Versprechen. Mit großer Anstrengung hält<br />
sie ihre Empörung zurück.<br />
“In meiner Welt”, sagt sie schließlich, “gibt es auch anderes.”<br />
“Was?”<br />
“Glauben und Vertrauen. Ich glaube an Gott den Allmächtigen<br />
und ich vertraue ihm – grenzenlos.” Schweigend<br />
schweift Inges Blick über die dunkle Wiese. “ ‘Gott vergilt dem<br />
Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach<br />
seinem Tun.’ So steht es in der Bibel. Und da steht auch: ‘Gott<br />
tut niemals unrecht, und der Allmächtige beugt das Recht<br />
nicht.’”<br />
Nach einer Weile sagt Inge: “Früher mußte ich öfter mal für<br />
Vater Bücher vom Boden holen, die er für Nachforschungen<br />
über die Frühgeschichte des Christentums benötigte. Der<br />
Boden in unserem alten Haus war mir unhe<strong>im</strong>lich. Da gibt es<br />
kein elektrisches Licht. Da mußte ich mit einer Kerze herumsuchen.<br />
Die Dielen knarrten, das Gebälk ächzte. Manchmal<br />
pfiff der Wind. Da habe ich gezittert vor Angst. Als ich das<br />
nicht mehr aushalten konnte, habe ich gesungen. Etwas von<br />
Gott, und daß ich ihm blind vertraue. Plötzlich war alle Angst<br />
wie weggeblasen. Seitdem habe ich keine Angst mehr, auf den<br />
Boden zu gehen.” Ihr Blick sucht und findet Peters Augen.<br />
“Seitdem weiß ich, wie stark die Kraft des Glaubens ist, und<br />
was es bedeutet, Gott grenzenlos zu vertrauen.”
50 KÖNIGSKINDER<br />
Stumm blicken die beiden in die Nacht. Erst nach einer langen<br />
Pause n<strong>im</strong>mt Inge den Faden des Gesprächs wieder auf:<br />
“Kinder bedürfen der Unterweisung. Möglichst frühzeitig sollte<br />
ihnen das Gedankengut des christlichen Glaubens<br />
nahegebracht werden.”<br />
“Kinder sollten über alle Weltreligionen informiert werden.<br />
Eine sachliche, kritische Unterrichtung in der vergleichenden<br />
Religionskunde, das wäre eine vernünftige Lösung. So kann<br />
später jeder selber wählen.”<br />
“Und wie steht es mit der Politik?”<br />
“Auch da keine Prägung! Auch da sollte verglichen, sachlich<br />
argumentiert und mit Tatsachen überzeugt werden.”<br />
“Die Demokratie ist abhängig von ihren Wählern. Die Bedeutung<br />
einer Partei wird von der Zahl der Wählerst<strong>im</strong>men best<strong>im</strong>mt.<br />
Ist es dabei nicht gleichgültig, ob der Wähler geprägt<br />
oder ungeprägt dieser oder jener Partei seine St<strong>im</strong>me gibt?”<br />
“Was ist für dich Demokratie?”<br />
“Herrschaft des Volkes.”<br />
“Eine Herrschaft des Volkes hat es in der Geschichte der<br />
Menschheit nur selten gegeben. Und wo es sie gab, da errichtete<br />
das Volk meist eine Diktatur, eine Herrschaft der Willkür<br />
und des Schreckens. Volksherrschaft, Volksbegehren, Bürgerwille<br />
– da kommt das Sachliche oft zu kurz.”<br />
“Demokratie fußt auf einer in freier Wahl best<strong>im</strong>mten, dem<br />
Wähler gegenüber verantwortlichen Regierung.”<br />
Peter nickt. “Eine Regierung sollte sich an Sachfragen<br />
orientieren. Sie sollte Augenblickswünschen und <strong>Inter</strong>essenegoismen<br />
mit kritischer Distanz begegnen. Wenn das die<br />
Sachlage erfordert, müssen Politiker den Mut aufbringen,<br />
unpopulär zu handeln und gegen die <strong>Inter</strong>essen einer Gruppe<br />
zu entscheiden. Sie sind dem ganzen Volk verantwortlich.”<br />
“Was also ist mit Prägung in einer Demokratie?”<br />
“Prägung zementiert Meinung. Versteckt Probleme hinter<br />
Schablonen. Reduziert eigenes Denken und lanciert ungeprüfte<br />
Überzeugungen. Geprägte Wähler verfälschen die Idee der
Prägung 51<br />
Demokratie. Sie werden leicht zu Marionetten totalitärer Verführer.”<br />
“Demokratisch gewählte Politiker …”<br />
“Auch die Demokratie hat ihre Schwächen. Aber nur sie<br />
gewährt Möglichkeiten zur Kontrolle des Machtgebrauchs.<br />
Wo die Möglichkeiten nicht genutzt werden, können auch demokratisch<br />
gewählte Politiker das Phänomen der Prägung<br />
mißbrauchen. Die Geschichte beweist es: Ohne Kontrollen<br />
haben Machtsüchtige – Politiker wie Kleriker – indoktriniert,<br />
manipuliert, emotional versklavt, Morde angestiftet und Kriege<br />
entfesselt.”<br />
Inge wiegt den Kopf. Dann nickt sie.<br />
“Machtbesessenheit ist eine verhängnisvolle Eigenschaft, eine<br />
Gefahr für den Fortbestand zivilisierten menschlichen Lebens!<br />
Ich verabscheue die egozentrischen Ungeheuer mit der<br />
Herrschsucht bösartiger Affen. Ich verdamme den psychischen<br />
Terror religiöser Eiferer und Bekehrungsideologen. Ich<br />
hasse das Liebäugeln aggressiver Militärs mit dem gewaltigen<br />
Vernichtungspotential moderner Technik.”<br />
Auf ihren linken Arm gestützt, hatte Inge es sich mit angezogenen<br />
Beinen bequem gemacht auf der Bank. Plötzlich weht<br />
eine merkwürdige Kühle aus dem Dunkel der nahen Büsche<br />
zu ihr herüber, dringt durch die Haut ins Herz. Es fröstelt sie.<br />
Es ist ihr, als habe sich ein Tor geöffnet zu einer kalten,<br />
großen, dunklen Höhle. Schaudernd richtet sie sich auf.<br />
Peter zieht seine Jacke aus und legt sie ihr um die Schultern.<br />
Nach einer Weile sagt er: “Demokratie kann nur funktionieren,<br />
wenn die Mehrzahl der Wähler über die zur Abst<strong>im</strong>mung<br />
anstehenden Probleme ausreichend informiert ist, und<br />
wenn genügend Menschen in der Lage sind, sich ein eigenes<br />
Urteil zu bilden. Sonst verkommen demokratische Rechte und<br />
Pflichten zum Spielball von <strong>Inter</strong>essengruppen, die durch ausgefeilte<br />
Beeinflussungsmethoden, Propaganda und Prägung<br />
die Wähler in ihre Richtung drängen.” Er holt sein Feuerzeug<br />
hervor, läßt dessen Flamme aufleuchten und pafft den Tabak
52 KÖNIGSKINDER<br />
in seiner neugestopften Pfeife in Glut. “Ansonsten hast du<br />
natürlich recht: wo frei gewählt wird, da hängt die politische<br />
Macht von der Anzahl der Wählerst<strong>im</strong>men ab.” Er streichelt<br />
Inges Arm und schmunzelt plötzlich: “Aber es gibt einen<br />
wichtigen Unterschied zwischen Religion und Demokratie.”<br />
“Welchen?”<br />
“In der Demokratie gibt es Erfolgskontrolle, in der Religion<br />
nicht. Was passiert, wenn die von mir gewählte Partei<br />
versagt? Ich wähle eine andere Partei. Ähnlich werden sich andere<br />
Wähler verhalten und so eine Veränderung der Machtverhältnisse<br />
herbeiführen. Was aber passiert, wenn die Religion<br />
versagt?” Wieder schmunzelt er. “Stell dir vor, ich bin tot, will<br />
in den H<strong>im</strong>mel und muß feststellen, daß es keinen gibt!”<br />
“Du!” Inge knufft ihren Freund in die Seite. “Außerdem<br />
kommst du sowieso nicht in den H<strong>im</strong>mel.” Sie lacht. “Du Ketzer!”<br />
“Das wäre schade. Nicht, daß ich auf den H<strong>im</strong>mel scharf bin.<br />
Mir wär die Hölle auch recht. Aber ich möchte bei dir sein.<br />
Und dich kann ich nur <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel wiedersehen. Du bist ja<br />
schon ein Engel hier auf Erden.”<br />
“Findest du?”<br />
“Ja … Ich bewundere alles an dir … die Reinheit deiner<br />
Seele, das Engelhafte deiner Schönheit, deine Art zu sprechen,<br />
dich zu bewegen, deine Figur … einfach alles.”<br />
Inge lächelt.<br />
Da legt Peter seinen Arm um ihre Schulter und zieht sie<br />
sanft zu sich heran.<br />
Sie läßt es geschehen.<br />
Peters Finger streicheln ihren Scheitel, ihre Wange, ihren<br />
Nacken. Behutsam, innig. Erneut erfaßt ihn tiefe Zuneigung<br />
zu diesem schönen, empfindsamen Mädchen.<br />
Zärtlichkeit blüht auf. Langsam, ganz langsam neigt Inge<br />
den Kopf, lehnt ihn an Peters Schulter. Ihr Herz öffnet sich.<br />
Scheu noch sch<strong>im</strong>mert und scheint etwas so noch niemals<br />
Gefühltes in ihrem Innersten. Und dann, ganz unerwartet, ist<br />
da ein zartes Drängen, ein allererstes Erahnen von Verlangen,
ein zögernd heraufdämmerndes Zittern von Leidenschaft.<br />
Ängstlich gewahrt sie die Andeutung einer Bereitschaft zur<br />
Hingabe. Sie fühlt, sie weiß es: Sie liebt Peter, liebt ihn mit<br />
ihrer ganzen unberührten Mädchenseele. Eine Liebe noch, die<br />
nicht frei ist von Unsicherheit und Angst vor dem Anderssein<br />
des Geliebten, eine Liebe aber auch, die um die Ehrlichkeit<br />
und Ernsthaftigkeit des Freundes weiß. Eine tiefe Liebe, die<br />
Eros verklärt und veredelt, zu der aber auch Verlangen gehört<br />
und Erfüllung. Zu dieser Liebe findet sie Zust<strong>im</strong>mung in ihrer<br />
Religion, ja, überall in Gottes Natur.<br />
<strong>Suchen</strong>de Hände berühren sich, finden den Körper des anderen.<br />
Zärtlich tastende Lippen vereinigen sich zaghaft zum<br />
ersten Kuß. Der <strong>Park</strong> versinkt in einem Blütenmeer. Schwereloses<br />
Schweben in einem weiten, wogenden Ozean von Seligkeit.<br />
Zum erstenmal sind Inge und Peter ganz und gar<br />
glücklich.<br />
Wie elektrisiert schrecken beide hoch. Im nahen Gebüsch<br />
hat es laut geknackt – als habe dort jemand auf einen<br />
trockenen Ast getreten. Dann rascheln Blätter.<br />
“Da ist jemand!” ruft Inge.<br />
“Ein Tier”, versucht Peter sie zu beruhigen.<br />
“Nein, nein, ein Mensch!”<br />
Peter steht auf. Geht zu den Büschen, aus denen die Geräusche<br />
kamen. Er sucht herum <strong>im</strong> Dunkel. Biegt einen Zweig<br />
zur Seite, einen zweiten. Es ist nichts zu sehen.<br />
“Es war kein Mensch. Es war ein Tier.”<br />
Religiosität<br />
Religiosität 53<br />
Inge n<strong>im</strong>mt ihre Tragetasche von der Bank. Peter sammelt<br />
Pfeife und Tabakbeutel ein. Sacht aneinandergelehnt schreiten<br />
die beiden den schmalen Kiesweg hinunter zur Brücke<br />
und überqueren den Bach.
54 KÖNIGSKINDER<br />
“Gehen wir noch ein bißchen?”<br />
“Ja”, sagt Inge und hakt sich bei ihrem Freund ein. Langsam<br />
schlendern sie den Hauptweg entlang.<br />
Nach einer Weile sagt Inge: “Ich habe mir schon oft Gedanken<br />
darüber gemacht, …”<br />
“Worüber?”<br />
“Wie Religiosität wohl in die Welt gekommen sein mag.” Sie<br />
ordnet ihre Bluse. “Im ganzen Tierreich gibt es keine Vorläufer<br />
religiöser Verhaltensweisen. Kein Tier betet.”<br />
“Nanu! Und die Gottesanbeterin?”<br />
“Bitte! Mich bewegt das alles sehr.”<br />
“Ich würde gern mal mit dir <strong>im</strong> <strong>Park</strong> sein, ohne zu<br />
diskutieren. Dich streicheln, dich liebhaben.”<br />
“Aber … das können wir doch später noch tun, wenn unsere<br />
Gedanken sich besser kennen. Wenn nichts Dunkles mehr<br />
zwischen uns steht.” Sie setzen sich auf eine Bank am Hauptweg.<br />
“Sieh mal, da liegt doch sehr Bedeutsames drin: von den<br />
Millionen verschiedener Lebensformen, die unsere Erde bevölkern,<br />
hat nur eine, nur der Mensch, die heilige Bereitschaft<br />
zur Hingabe an eine höhere Macht, zur bedingungslosen<br />
Gläubigkeit. Mit der Wissenschaft ist das anders. Im Grunde<br />
ist Wissenschaft doch eigentlich nichts anderes als<br />
kompliziert organisiertes Neugierverhalten.”<br />
“Das hast du gut gesagt.”<br />
“Ach, du.”<br />
“Nein, Inge, wirklich, du machst Fortschritte.”<br />
“So so, ich mache Fortschritte. Wie schön! Und wie steht’s<br />
mit dir? Machst du auch Fortschritte? Oder hast du schon den<br />
Stein der Weisen gefunden? Wartest du nur, bis das kleine<br />
Mädchen die Kraft gefunden hat, den Bannkreis der Prägung<br />
zu durchbrechen und dir auf deinem Höhenflug zu folgen?<br />
Nein, Peter, ich sehe das anders. Jeder von uns muß an der<br />
Brücke bauen. Keiner kann am Ufer stehen bleiben und rufen:<br />
Komm hierher, ein bißchen mehr links, etwas mehr<br />
rechts, so ist’s richtig! Du machst Fortschritte.”
Religiosität 55<br />
“Bitte verzeih mir!” Tastend berührt er ihre Hand. “Ich durfte<br />
das so nicht sagen.” Peter ärgert sich über seine Worte.<br />
Immer wieder verletzt er seine Gesprächspartner! “Es tut mir<br />
leid. Ich … ich bin oft zu ungeduldig, zu taktlos, … zu<br />
kompromißlos. Ich will mir große Mühe geben be<strong>im</strong> Bau einer<br />
Brücke, die uns beide tragen kann.”<br />
Er schweigt eine Weile. Dann sagt er: “Mein Problem ist,<br />
daß mich nur eine Brücke trägt, die fest gefügt ist aus<br />
nachprüfbaren Fakten.”<br />
“Glaubst du denn an gar nichts, Peter? Kannst du nicht erkennen,<br />
daß Milliarden religiöser Erfahrungen eine gemeinsame<br />
Qualität zugrundeliegt? Ein Milliarden von Menschen<br />
gemeinsames Erleben, Hoffen, Glauben, Vertrauen? Kannst<br />
du nicht begreifen, daß allein schon dadurch eine neue Qualität<br />
von Wahrheit entsteht?”<br />
Peter senkt den Kopf.<br />
“Ich habe große Achtung vor der Wissenschaft, vor ihrer Art,<br />
die Dinge auf eine ganz best<strong>im</strong>mte Weise zu untersuchen, sie<br />
miteinander in Beziehung zu setzen. Ich habe Achtung vor<br />
dem unbestechlichen Exper<strong>im</strong>ent. Ich stehe bewundernd vor<br />
den Gehe<strong>im</strong>nissen, die der Natur auf diese Weise bereits<br />
entlockt worden sind. Ich habe Respekt vor den Männern und<br />
Frauen, die sich den strengen Regeln unterwerfen, nach denen<br />
sie ihre Erkenntnisse gewinnen. Vor ihrer Fähigkeit, liebgewordene<br />
Vorstellungen fallen zu lassen, wenn neue Erkenntnisse<br />
das erforderlich machen. Aber ich glaube nicht,<br />
daß das alles ist, Peter! Ich glaube nicht, daß der Mensch nur<br />
auf diesem Weg zu sich, zu seiner Welt, zu Gott finden kann.<br />
Die Wissenschaft ist ein Weg. Es gibt andere Wege.”<br />
“Welche?”<br />
“Kunst, Philosophie, Religion.”<br />
“Das ist wahr. Aber ist es denn nicht auch wahr, daß Kunst,<br />
Philosophie und Religion letztlich auf unserem jeweiligen<br />
Weltbild fußen? Und ist es nicht so, daß dieses Weltbild zum<br />
großen Teil aus wissenschaftlichen Erkenntnissen erwächst,
56 KÖNIGSKINDER<br />
und daß es sich unter dem Einfluß der Wissenschaft wandelt?<br />
Beginnt Religiosität nicht da, wo nachprüfbare Erkenntnisse<br />
enden? Ist es nicht so, daß sich die Grenze zwischen gesichertem<br />
Wissen und Glauben ständig weiter nach außen<br />
verschiebt, und daß der Verlauf dieser Grenze von der Wissenschaft<br />
best<strong>im</strong>mt wird? War nicht früher einmal das Feuer ein<br />
Gott? Der Wind? Die Sonne? Hat nicht auch der Christengott<br />
zwischen oder auf den Wolken gewohnt? War die Erde nicht<br />
eine Ebene? Und waren die Sterne nicht Laternen, die Gott<br />
zum Pläsier der Menschen aufgehängt hatte?”<br />
Inge blickt zum H<strong>im</strong>mel. Stumme Tränen lassen den großen<br />
Stern zum riesigen, gleißenden Kreuz werden. Sie faltet ihre<br />
Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet. Ganz fest preßt sie<br />
die Hände zusammen, so fest, daß das Blut aus den Fingern zu<br />
entweichen beginnt. Sie sucht ihren Gott. ‘Warum hilfst Du<br />
uns nicht? Warum bleibst Du stumm? Siehst Du uns nicht?<br />
Hörst Du uns nicht? Warum gibst Du Peter nicht Augen, Dich<br />
zu sehen, nicht Ohren, Dich zu hören? Bitte, bitte hilf uns!!’<br />
Nur langsam, ganz langsam, verliert sich das große gleißende<br />
Kreuz am H<strong>im</strong>mel, versiegen die Tränen. Mit großer<br />
Kraftanstrengung gewinnt Inge ihre Fassung zurück, streicht<br />
über die Haare und dann über das Gesicht. Endlich bringt sie<br />
es fertig, wieder zu sprechen, kaum hörbar: “Und die Entstehung<br />
der Religiosität? Wie siehst du das?”<br />
“Ich sagte es schon, Religiosität ist mit dem Menschen entstanden.<br />
Tiere leben in einer enger begrenzten Welt.” Peter<br />
n<strong>im</strong>mt noch einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife, dann klopft<br />
er sie aus an der Sitzfläche der Bank. “Über Milliarden von<br />
Jahren entwickelte sich das Leben in naturgewollter Harmonie.<br />
Dann aber entwuchs den Ordnungsprinzipien des Lebendigen<br />
ein Geschöpf, das zu abstrahieren lernte, zu sprechen, zu<br />
analysieren und gezielt Wissen zu erarbeiten. Ein Geschöpf,<br />
das seinen Mitkreaturen gegenüber <strong>im</strong>mer stärker überlegen<br />
wurde, schließlich so stark, daß es die Harmonie des Miteinanders<br />
störte.”
Religiosität 57<br />
“Kann der Mensch die Harmonie nicht wiederherstellen?”<br />
“Nein. Er kann nur versuchen, die Entwicklung einer neuen,<br />
naturverträglichen Harmonie zu fördern. Im Naturgeschehen<br />
gibt es kein zurück.”<br />
Peter n<strong>im</strong>mt seinen Gedankenfaden wieder auf. “Wie aber<br />
sollte ein Geschöpf, das sprechen, denken, forschen und nach<br />
dem Sinn seines Lebens fragen kann, die Spannungsfelder<br />
ertragen zwischen brennender Neugier und tiefer Unwissenheit;<br />
zwischen Sehnsucht nach Ordnung und dem Unvermögen,<br />
den Sinn irdischer Ordnung zu begreifen; zwischen<br />
Hoffnung auf Geborgenheit und dem Wissen um den unentrinnbaren<br />
eigenen Tod? Wie sollte ein Geschöpf, das aufgrund<br />
seines Wesens für jede erkannte Wirkung eine Ursache suchen<br />
muß, überleben können in einer Welt voller Wirkungen<br />
aber mit meist unbekannten Ursachen? Das Geschöpf konnte<br />
es nicht. Es vermochte diese Spannungsfelder nicht zu ertragen.<br />
So produzierte das große Hirn Vorstellungen, die geeignet<br />
waren, die Spannungen abzubauen, die unerträglichen<br />
Wissenslücken zu füllen oder zu überbrücken. Das große Hirn<br />
beantwortete seine eigenen Fragen und besänftigte seine eigenen<br />
Ängste: Es schuf sich seine eigene Harmonie. Eine Ideenharmonie.<br />
Es wurde behauptet, daß die Wirkungen, für deren<br />
Ursachen es keine Erklärung gab, auf göttliche Wesen zurückgehen,<br />
deren Gunst man durch Gebete, Opfer und gutes Verhalten<br />
erdienen müsse. Je nach Kultur, Erfahrung und Geschichte<br />
wurden unterschiedliche religiöse Vorstellungen geboren.<br />
Sie bescherten den Menschen eine falsche Erklärung<br />
für ihre Existenz, aber sie bescherten den Religionsoberen<br />
einen richtigen Beruf.”<br />
“Aber …”<br />
“Religiosität ist in der Innenwelt der Menschen entstanden.<br />
Dort ist sie zu Hause.”<br />
“Aber es hat Entwicklungen gegeben.”<br />
“Die meisten religiösen Vorstellungen sind Dogmen. Daher<br />
können sie einer sich verändernden Welt langfristig nicht
58 KÖNIGSKINDER<br />
gerecht werden.”<br />
“Du versuchst zu sehr, alles aus deiner Sicht zu deuten. Es<br />
gibt Außergewöhnliches, das sich nicht von der Warte her verstehen<br />
läßt, von der aus du die Welt siehst. Es gibt Wunder.”<br />
“Wunder? Nichts als Ereignisse jenseits menschlicher Erfahrung.”<br />
“Für Wunder muß man empfänglich sein. Wunder kann nur<br />
erleben, wer tief aus seiner Seele heraus empfinden und staunen<br />
kann. Viele Menschen erleben Wunder, oftmals recht<br />
ähnliche.”<br />
“Viele Menschen haben ähnliche Ängste und Sehnsüchte.<br />
Viele haben ähnliche Wünsche und Hoffnungen. Daraus erwächst<br />
die Verwandschaft spiritueller und religiöser Vorstellungen.<br />
Und daraus erwächst auch die allen Menschen gemeinsame,<br />
nahezu unstillbare Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen,<br />
nach übermächtigen Gestalten, nach Geistern,<br />
Göttern, Teufeln. Die Menschen wünschen sich Wunder. Aber<br />
es gibt keine Wunder. So erfinden sie welche.”<br />
“Geister und Götter sind etwas Verschiedenes.”<br />
“In der Frühgeschichte waren Geister und Götter so<br />
ziemlich dasselbe. Da gab es furchtbare Geister und böse<br />
Götter. Einen Gottvater, zu dem man spricht und betet, dem<br />
man Güte nachsagt und Barmherzigkeit, den gibt es erst seit<br />
weniger als zweitausend Jahren.”<br />
“Wenn Religion das Einzige ist, das den Menschen vom Tier<br />
unterscheidet – wird dann der Mensch ohne Religion nicht<br />
wieder zum Tier?”<br />
“Religion ist nicht das Einzige, das den Menschen vom Tier<br />
unterscheidet.”<br />
“Aber das hast du doch selbst gesagt.”<br />
“Nein. Ich habe gesagt: Tiere haben keine Religion. Vor allem<br />
darin unterscheiden sie sich vom Menschen.”<br />
“Ist das nicht Haarspalterei?”<br />
“Nein, Inge. Es gibt Menschen, die nicht religiös sind. Sie<br />
bestreiten die Existenz jeden Gottes, jeder göttlichen Welt-
Religiosität 59<br />
ordnung. Sie behaupten, daß die Freiheit und die Würde des<br />
Menschen mit der Anerkennung der Existenz eines Gottes<br />
unvereinbar sind. Manche von ihnen halten Religiosität gar<br />
für eine schädliche, die Existenz des Menschen, ja die Weltordnung<br />
bedrohende Verirrung und treten ihr mit Entschiedenheit<br />
entgegen.”<br />
“Und wie siehst du das?”<br />
“Ich bin der Ansicht, daß der Mensch endlich aufwachen<br />
muß, endlich erkennen muß, daß er für all das, was er hier auf<br />
Erden anrichtet, selbst verantwortlich ist. Das Motiv für den<br />
Kampf gegen Böses sollte nicht länger die Furcht sein vor<br />
einem rächenden Gott oder die Hoffnung, bei gutem Verhalten<br />
in den H<strong>im</strong>mel zukommen, sondern die Einsicht, daß wir nur<br />
überleben können, wenn wir uns entsprechend verhalten. Wir<br />
müssen endlich begreifen, daß da nichts ist, das uns vergibt.<br />
Daß es niemanden gibt, der uns beschützt.”<br />
“Gott hat mich mein ganzes Leben hindurch beschützt. Ich<br />
habe gelernt, mich ihm anzuvertrauen, mich ganz in seine<br />
Hände zu legen.”<br />
“Weh dem, der sich auf einen Schutz verläßt, den es nicht<br />
gibt!”<br />
“ ‘Der Herr wacht über uns, <strong>im</strong>merfort. Des Herrn Wort ist<br />
mächtig und wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiß.’<br />
Eine Abwendung von Gott wäre unser aller Untergang.<br />
Denn bei Gott ist die Quelle allen Lebens. Erst in seinem Licht<br />
sehen wir das Licht. Daß sich heute so mancher von Gott lossagt,<br />
das liegt daran, daß zu viele Menschen alles mit Logik<br />
und wissenschaftlichen Methoden durchleuchten wollen.”<br />
“Schon das Alte Testament berichtet von Gottlosen, von<br />
Atheisten: Sokrates, Xenophanes, Euphemeros und Epikur.<br />
Gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit wandte Epikur ein:<br />
‘Nicht wer die Götter des Volkes beseitigt ist gottlos, sondern<br />
wer die Vorstellungen der Menge den Göttern zuschreibt.’<br />
Später sah Nietzsche <strong>im</strong> Atheismus das Bekenntnis des vom<br />
theologischen Gottesglauben emanzipierten Menschen. Und
60 KÖNIGSKINDER<br />
in neuerer Zeit haben Existenzphilosophen wie Sartre einen<br />
Humanismus verkündet, in dem der Mensch erst zu sich<br />
selber frei wird durch den Tod Gottes.”<br />
Peter fühlt Inges Erregung. Wieder ist er zu weit gegangen!<br />
“Bitte, Peter, laß uns zurückgehen zu unserer Bank.”<br />
“Ja … Natürlich … Gern.”<br />
Sie stehen auf. Peter legt seinen Arm um Inges Taille. Und<br />
so gehen sie nachdenklich ihrer Bank auf dem Hügel entgegen.<br />
Während des ganzen Weges spricht keiner ein Wort. An<br />
der Bank angekommen, versucht Peter abermals, Inges Aufmerksamkeit<br />
auf die unmittelbare Gegenwart zu lenken. Aber<br />
es gelingt ihm nicht, das Thema zu wechseln. Zwar widersetzt<br />
sie sich nicht seiner Umarmung, und sie duldet auch einen<br />
flüchtigen Kuß, ihre Gedanken aber sind woanders.<br />
Kirche<br />
Kaum haben sie wieder auf ihrer Bank Platz genommen, da<br />
fragt Inge: “Und was hältst du von der Kirche?”<br />
“Welche Kirche?”<br />
“Die christliche Kirche. Warum fragst du?”<br />
“Es gibt viele Kirchen. Für eine Diskussion ist es wichtig,<br />
genau zu wissen, worüber man spricht. Oft werden Unterschiede<br />
verwischt.”<br />
“Was für Unterschiede?”<br />
“Zum Beispiel zwischen dem Begriff ‘Kirche’ und dem, was<br />
ein Christ unter ‘Kirche’ versteht. Zwischen Religion und<br />
christlicher Religion. Zwischen Gott und Christengott. Wenn<br />
ihnen der Atem ausgeht, flüchten viele Christen ins Allgemeine.”<br />
“Für mich ist der Begriff ‘christliche Kirche’ eindeutig definiert.”<br />
“Es gibt viele christliche Kirchen. Nichts ist da eindeutig<br />
definiert. Große Unterschiede gibt es da, ja harte Gegensätze.”
Kirche 61<br />
“Ich meine die Kirche, der ich angehöre. Warum wendest du<br />
dich gegen sie?”<br />
“Ich wende mich gegen das, was einige der Oberen deiner<br />
Kirche aus dem gemacht haben, was Jesus offenbar gewollt<br />
hat.”<br />
“Was kritisierst du da?”<br />
“Vieles! Zunächst einmal stelle ich fest: Nach dem Verständnis<br />
der Christenoberen ist ihre Kirche eine Gemeinschaft<br />
von Menschen, die sich unter Jesus Christus zum überlieferten<br />
Glauben bekennt. Jesus aber wollte keine Kirche.”<br />
“Das st<strong>im</strong>mt nicht.”<br />
“Das ergibt sich aus Nachforschungen.”<br />
Inge schüttelt den Kopf. Sie ist irritiert.<br />
“Jesus hat das Kommen des Gottesreiches prophezeit. Er<br />
hat sich geirrt. Gekommen ist die Kirche.”<br />
“Aber sieh mal, …”<br />
“Nach der Bibel hat Jesus gesagt: ‘Mein Reich ist nicht von<br />
dieser Welt.’ Das mißfiel vielen Kirchenoberen. Wie hätten sie<br />
da ihr eigenes Reich aufbauen können? So haben sie diese<br />
Botschaft, wie so manche andere, nach ihren eigenen <strong>Inter</strong>essen<br />
ausgelegt.”<br />
“Die Kirche dient dem Heiland.”<br />
“Die christliche Kirche dient vor allem sich selbst. Sie hat<br />
sich organisiert wie eine Behörde, aber eine ganz und gar<br />
unmoderne. In unglaublicher Arroganz erhebt sie …”<br />
“Arroganz? Ich sehe nur Demut.”<br />
“In unglaublichem Hochmut, gepaart mit kindlicher Naivität,<br />
erhebt sie den Anspruch, Gott von amtswegen auf Erden<br />
zu vertreten.”<br />
“Du …”<br />
“Die Geschichte beweist, daß die Kirchenoberen die Lehren<br />
Christi mißbraucht haben – zur Beherrschung von Menschen<br />
und zur Ausbreitung ihrer Macht.”<br />
“Die Geschichte widerlegt dich!”<br />
“Die Geschichte ist voll vom Blut, das Christenobere ver-
62 KÖNIGSKINDER<br />
gossen haben. Denk mal an die Religionskriege. Angeblich<br />
wurden sie <strong>im</strong> Namen Christi geführt, tatsächlich aber <strong>im</strong><br />
machtpolitischen <strong>Inter</strong>esse der Kirche. Diese Kriege verhöhnen<br />
die von Jesus gepredigte Toleranz und Nächstenliebe.<br />
Und die Inquisition? Wie haben die Kirchenoberen in blindem<br />
Eifer die Gebote ihres Herrn pervertiert! Noch bis in die<br />
Neuzeit hinein hat die christliche Kirche Andersdenkende<br />
gnadenlos verfolgt. Zuerst kamen ihre Bücher auf die Scheiterhaufen,<br />
dann die Andersdenkenden. Es ist unglaublich,<br />
mit was für Foltermethoden die Inquisitoren Geständnisse<br />
erpreßt, was für Qualen sie Menschen zugefügt haben, nur<br />
weil die ihren Glauben nicht teilen konnten oder weil die<br />
ihnen suspekt waren. Friedrich von Spee schrieb damals, der<br />
einzige Grund, daß nicht alle Menschen Hexen oder Zauberer<br />
sind, sei der, daß sie nicht alle gefoltert wurden. Ein Inquisitor<br />
soll behauptet haben, wenn er seiner habhaft werden<br />
könnte, würde er selbst den Papst zu dem Geständnis<br />
bringen, ein Zauberer zu sein.”<br />
“Das sind …”<br />
“Oft stand der Angeklagte allein vor seinem Richter, ein<br />
Anwalt wurde nicht zugelassen, entlastende Aussagen galten<br />
nichts. Sogar Reue bedeutete einigen Kirchenoberen wenig.<br />
Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts entschied Papst<br />
Innozenz VIII, daß Hexen, die Reue gezeigt hatten, dennoch<br />
verbrannt werden sollten. In Portugal und Spanien waren<br />
Verbrennungen lebender Hexen und Zauberer bis zum Ende<br />
des 18. Jahrhunderts ein feierliches Ritual. Selbst 1814 noch<br />
hat die Inquisition in Spanien Häretiker verfolgt. Mit Folter<br />
und Feuer gegen Andersdenkende! Was für eine Kirche!”<br />
“Das sind sehr schl<strong>im</strong>me Fehler!” Inge ist ganz blaß<br />
geworden. “Der reformierte Christ lehnt so etwas aus tiefstem<br />
Herzen ab. Das ist nicht das wahre Christentum!”<br />
“Auch Martin Luther war dafür, Hexen zu verbrennen.”<br />
Wieder schüttelt Inge den Kopf. “Du darfst die christliche<br />
Lehre nicht daran messen. Die eigentliche Idee des Christen-
Kirche 63<br />
tums ist etwas anderes. Sie wird durch dieses Fehlverhalten<br />
nicht berührt.”<br />
“Dieses Fehlverhalten, wie du das nennst, entwickelte sich<br />
aus christlichem Glaubensinhalt und Machtanspruch.”<br />
“Aber die Kirche hat auch unendlich viel Gutes getan! Sie<br />
hat …”<br />
“Weder die karitativen Dienste der christlichen Kirche, noch<br />
deren Leistungen auf den Gebieten der Musik, Malerei und<br />
Architektur können diese Verbrechen am Menschen aufwiegen.”<br />
“Die größte Kunst, die die Menschheit je hervorgebracht<br />
hat, ist die religiöse Kunst!”<br />
“Die einzige angemessene Reaktion der christlichen Kirche<br />
auf ihre vielen Sünden wäre ein Schuldbekenntnis und Reue<br />
vor Gott und den Menschen. Dinge also, die sie von ihren sündig<br />
gewordenen Gläubigen verlangt. Davon aber habe ich noch<br />
nie etwas gehört.”<br />
“Du darft nicht so in Bausch und Bogen urteilen. Du mußt<br />
differenzieren. Die Kirche hat nicht nur zur Verbreitung und<br />
Achtung ihrer Lehren aufgerufen, sondern auch zur Liebe. Sie<br />
hat …”<br />
“Man kann nicht die Forderung der christlichen Kirche nach<br />
absoluter Autorität anerkennen und gleichzeitig essentielle<br />
Inhalte dieser Autorität beiseite lassen. Da hilft auch kein<br />
Differenzieren.”<br />
“Absolute Autorität?”<br />
“Nicht nur absolute Autorität, auch absolute Verbohrtheit.”<br />
“Die Kirche übt Nachsicht. Sie fördert Menschen.”<br />
“Einige christliche Sekten und Gehe<strong>im</strong>bünde vereinnahmen<br />
und versklaven Menschen.”<br />
“Welche?”<br />
“Zum Beispiel das römisch-katholische ‘Opus Dei’, das ‘Werk<br />
Gottes’. Opus-Führer verdammen alles, was nicht in ihre ideologischen<br />
Schablonen paßt. Sie haben ihre versteckten Methoden<br />
der Unterdrückung und Beherrschung von Menschen
64 KÖNIGSKINDER<br />
perfektioniert. Erfolgreich verhindern sie die Entwicklung<br />
einer eigenen Urteilsfähigkeit, einer eigenen Verantwortlichkeit.<br />
Schon so mancher hat seine Selbstachtung an den Pforten<br />
dieses Syndikats abgeben müssen. Opus Dei fördert Entmündigung.<br />
So bereitet es – sicherlich ungewollt – den Weg für<br />
Diktaturen.”<br />
“Das ‘Werk Gottes’ fördert das Gute. Es bekämpft Frivolität<br />
und Brutalität.”<br />
“Es ist selber frivol und brutal. Nach bitterem Kampf ist ein<br />
Freund von mir dem Opus entkommen. Er hat gesagt: ‘Sie<br />
haben mir mein Lachen genommen, meine Selbstachtung und<br />
meine Würde. Sie haben meine Seele vergiftet, meine Gesundheit,<br />
ja mein Leben. Warum tun sie das? Wozu brauchen sie<br />
soviel Macht über Menschen?’ Peter schweigt eine Weile.<br />
Dann sagt er: “Die christliche Kirche hat über Jahrhunderte<br />
mehr Kraft für Menschenbeherrschung und Abwehr von ‘Irrlehren’<br />
verbraucht als für die Verkündung der Botschaften<br />
Jesu.” Peter beschäftigt sich mit seiner Pfeife. Er n<strong>im</strong>mt nicht<br />
wahr, wie sehr er Inge verletzt.<br />
Mit bebender St<strong>im</strong>me fragt sie: “Hast du schon einmal einen<br />
Pastor kennengelernt? Hast du schon einmal erlebt, mit welcher<br />
Selbstlosigkeit, mit wieviel Hingabe und mit wieviel<br />
Demut ein Pastor seiner Gemeinde dient? Vielen Menschen<br />
ermöglicht er, zu Gott zu finden – und zu sich selbst. Vielen<br />
hilft er, dem eigenen Tod mit größerer Stärke entgegenzusehen<br />
und den Tod geliebter Menschen leichter zu ertragen.”<br />
“Ja”, sagt Peter leise, “es gibt Menschen, bei denen der Tod<br />
eines geliebten Nächsten eine so mächtige Trauer auslöst, daß<br />
sie ohne Hilfe daran sterben.” Und er denkt: ‘So ein Mensch<br />
war mein Vater.’<br />
“Um wieviel ärmer wären wir”, fährt Inge fort, “um wieviel<br />
schl<strong>im</strong>mer sähe es aus in unserer Welt, wenn es den Pastor<br />
nicht gäbe! Nein Peter”, Inge schüttelt den Kopf, so heftig, daß<br />
ihr blonder Zopf von einer Schulter auf die andere fliegt,<br />
“deine Darstellung ist nicht objektiv. Sie ist verzerrt. Sie be-
Kirche 65<br />
leuchtet nur eine Seite – nur die Seite, die du sehen möchtest,<br />
die dir Argumente liefert.”<br />
“Sicherlich gibt es viele Pastoren, die in vorbildlicher Weise<br />
ihre Gemeinden betreuen, die die Lehren des Religionsstifters<br />
in seinem Sinne verkünden, und die mit großem Ernst bestrebt<br />
sind, auch selbst danach zu leben.”<br />
“Ist denn der Pastor nicht ein Grundelement der Kirche?<br />
Findet nicht in seinem Wirkungskreis die eigentliche Religionsausübung<br />
statt? Die Gläubigen gehen doch zum Gottesdienst<br />
in die Kirche. Und den Gottesdienst versieht der Pastor.”<br />
“Ja, Inge. Aber bei dem Begriff ‘Kirche’ müssen wir doch<br />
unterscheiden zwischen der Kirche als einem Bauwerk, einem<br />
Ort für den Gottesdienst auf der einen Seite und der Kirche<br />
als Institution auf der anderen. Ich spreche von der Kirche als<br />
Institution. Es st<strong>im</strong>mt, daß der Pastor in dieser Institution<br />
das unmittelbare Bindeglied zur Gemeinde ist. Es st<strong>im</strong>mt<br />
aber auch, daß er auf der untersten Ebene der Kirchenhierarchie<br />
steht und daß die <strong>Inter</strong>essen der Kirche, von denen ich<br />
gesprochen habe, auf höheren Ebenen der klerikalen Rangordnung<br />
festgelegt und vertreten werden.”<br />
“Die Kirche …”<br />
“Die Kirche ist alt geworden. Sie hat nicht mehr die Kraft,<br />
sich zu erneuern. Sie wird sterben. Aber Jesus und die Essenz<br />
seiner Botschaften, sie werden leben.”<br />
“Die Kirche fördert den Menschen. Sie hilft ihm.”<br />
“Die Kirche benutzt und unterdrückt den Menschen. Termini<br />
wie ‘Kirchengehorsam’, ‘Kirchenrecht’, ‘Kirchenverfassung’,<br />
‘Kirchenstaat’, ‘Kirchenstrafen’, ‘Kirchensteuer’ und ‘Kirchenpolitik’<br />
sprechen da ihre eigene Sprache: Die Sprache des<br />
Machtanspruchs der Kirche, eines ganz handfesten, eines<br />
ganz irdischen Machtanspruchs. Denk nur einmal an die Forderung<br />
nach Kirchengehorsam! Das ist eine teuflische Sache.<br />
Gehorsam macht blind und taub. Unterdrückt eigenes Denken.<br />
Verbiegt die eigene Entwicklung. Gehorsam verweigert dem<br />
Gedankengut anderer den Zugang. Bringt die St<strong>im</strong>me des
66 KÖNIGSKINDER<br />
eigenen Gewissens zum Schweigen.”<br />
“Die Kirche meint Gehorsam gegenüber Gott.”<br />
“Die Kirchenoberen behaupten, <strong>im</strong> Auftrag Gottes zu handeln.<br />
Daraus leiten sie das Recht ab, statt seiner zu befehlen<br />
und Gehorsam zu fordern. Sie haben sich selbst legit<strong>im</strong>iert.<br />
Mit Hilfe ihrer Selbstermächtigung erzeugen sie Abhängigkeit<br />
und fördern dumpfe Ergebenheit. In der Kirche kann der<br />
Geist nur gehorchen oder weggehen.”<br />
“Die Gottesmänner dienen Gott und dem Menschen. Sie helfen<br />
uns allen!”<br />
Peter betrachtet seine Pfeife und steckt sie kopfschüttelnd<br />
in den Lederbeutel. Er möchte das Thema wechseln. Er möchte<br />
das Gespräch beenden, das ihn von Inge zu entfernen droht.<br />
Das so gar nicht geeignet ist, das tiefe Wasser zwischen ihnen<br />
zu überbrücken. Dennoch hört er sich plötzlich sagen: “So<br />
manch ein Pastor, Pfarrer oder Priester hat seine Mitmenschen<br />
verunsichert, ihnen Ängste und Schuldgefühle ins Herz<br />
gepflanzt. Dadurch hat er Abhängigkeiten geschaffen und<br />
daraus Macht gewonnen für seine eigenen Belange und die<br />
seiner Kirche. So mancher von ihnen ist ein Meister geworden<br />
auf dem Gebiet der seelischen Erpressung. Heutzutage muß<br />
er darüber hinaus auch noch ein Meister werden auf einem<br />
zweiten Gebiet: Er muß lernen, in gezielter Unschärfe zu<br />
formulieren und in virtuoser Vieldeutigkeit. Nur so kann er<br />
versuchen, die wachsenden Risse zu kitten, die <strong>im</strong>mer<br />
größeren Brüche und Verwerfungen zu überspielen zwischen<br />
seinem Glauben und der heute erkennbaren Wirklichkeit.”<br />
Peter sieht Inge an. Die aber sieht geradeaus. Obwohl sie<br />
merkt, daß er ihre Augen sucht, verwehrt sie ihm den Blickaustausch.<br />
Da sagt Peter: “Ich vermute, daß so manch ein Pfarrer<br />
diesen Konflikt fühlt oder doch ahnt, daß er das aber nach außen<br />
hin nicht zugeben will. So manch einer ist be<strong>im</strong> Gottesdienst<br />
nicht wirklich mit seinem Innersten dabei. So mancher<br />
betet nur mit den Händen, nur mit den Knien, nur mit der
Kirche 67<br />
St<strong>im</strong>me, nicht aber mit dem Herzen. In seiner Demut versteckt<br />
sich Eitelkeit, in seinem Dienen Hoffen auf Belohnung.<br />
Gebärden dominieren, nicht aber Gefühle. Richter wollen sie<br />
sein, die Priester, und Gerechte, aber so manch einer von ihnen<br />
ist eher ein Pharisäer.”<br />
“Auch Pastoren sind Menschen! Aber sie streben stärker<br />
nach dem Guten als die meisten von uns. Und wenn sie es auch<br />
nicht <strong>im</strong>mer erreichen, sie haben es versucht!!” Inge kommt<br />
sich plötzlich sehr verlassen vor und hilflos. Diese Gewitter der<br />
Kritik an ihrem Glauben, diese unnötig harten Formulierungen,<br />
sie rauben ihr buchstäblich den Atem. Es ist kalt<br />
geworden <strong>im</strong> <strong>Park</strong> und dunkel in ihrer Seele.<br />
Peter fühlt, daß er Wunden schlägt. Er weiß, er sollte jetzt<br />
aufhören. Aber er vermag es nicht. Irgendetwas zwingt ihn, seinen<br />
Gedankengang zu Ende zu führen, auch wenn es schmerzt,<br />
dem geliebten Menschen damit weh zu tun. “Im Verlauf der<br />
Menschheitsgeschichte haben religiöse Männer mit Mystik<br />
und Magik andere oft hinters Licht geführt. Sie gaben vor, <strong>im</strong><br />
Besitz besonderer Kräfte, Gewißheiten und Gehe<strong>im</strong>nisse zu<br />
sein. Sie arbeiteten mit Zauberei und Blendwerk, und sie<br />
beherrschten die dunkle Kunst der Geisterbeschwörung. Im<br />
Grunde aber waren sie <strong>im</strong>mer nur sich selber treu. Sie waren<br />
Charismatiker mit der Fähigkeit, unbeirrbar an die eigenen<br />
Lügen zu glauben. Mit souveräner Hemmungslosigkeit suggerierten<br />
sie sich und anderen die eigene göttliche Berufung<br />
und die Fähigkeit, irrtumslos zu entscheiden. Doch ihr<br />
Wissen war gering und ihre Weisheit war nicht groß.”<br />
Inge will widersprechen. Aber der zitternde Mund versagt<br />
ihr den Dienst.<br />
“Diese selbsternannten Heilsbringer vermögen andere zu<br />
prägen, sich selber aber jeder Prägung durch andere zu<br />
entziehen. So wächst in ihnen die Überzeugung heran, etwas<br />
Besonderes zu sein. Diese Überzeugung ist der Boden, aus<br />
dem sie ihre Gewißheiten gewinnen, Gewißheiten, über die sie<br />
aber objektiv nicht verfügen. Daher erbauen sie mit unter-
68 KÖNIGSKINDER<br />
schiedlichsten Mitteln eine Autorität, hinter der sie ihre Anfechtbarkeit<br />
verbergen können. Eine Autorität, die ihre ‘Gewißheiten’<br />
formal beglaubigt. Aus dieser Beglaubigung<br />
saugen sie ihre Kräfte – ihre Glaubenskraft, ihre Ausstrahlungskraft,<br />
ihre Überzeugungskraft. Wenn die Macht der Beglaubigung<br />
erlischt, wenn die Überzeugung von der eigenen<br />
Besonderheit verblaßt, dann stirbt auch ihr Charisma. Dann<br />
stehen sie nackt da. Dann sind sie auf einmal Menschen – wie<br />
du und ich.”<br />
Inge schluckt. Sie schüttelt den Kopf. Dann legt sie ihre<br />
Hand auf Peters Arm: “Peter! Du verkürzt die Problematik zu<br />
sehr. Bis zur Verzerrung. Gottesmänner sind so sehr von ihrem<br />
Glauben erfüllt, daß da kaum Platz ist für anderes. Kein<br />
Platz für Zweifel, keiner für Kritik.” Sie schweigt einen Augenblick.<br />
Dann fährt sie fort: “Wenn innere Harmonie,<br />
Hoffnung, Trost und Bejahung der eigenen Welt Maßstäbe<br />
sind für eine glückliche Lebenseinstellung, dann haben diese<br />
gläubigen Menschen etwas gefunden, nach dem die meisten<br />
noch suchen. Diese Menschen sind Opt<strong>im</strong>isten aus innerster<br />
Überzeugung. Sie leben in einer wunderschönen, in sich<br />
widerspruchslosen Welt. Man muß sie mit einer anderen Elle<br />
messen als Menschen, die wissen wollen, <strong>im</strong>mer mehr, die<br />
zweifeln und kritisieren.”<br />
Nach langem nachdenklichen Schweigen sagt Inge: “Jesus<br />
hat gewaltfreie Gerechtigkeit gepredigt. Das ist ein hohes Ziel.<br />
Wir haben es noch <strong>im</strong>mer nicht erreicht.”<br />
Peter nickt.<br />
“Und bitte bedenke einmal: Die Glaubenden bekennen sich<br />
zu ihrem Glauben. Viele der Zweifelnden aber verleugnen ihre<br />
Überzeugungen – aus Bequemlichkeit oder um eigener Vorteile<br />
willen.”<br />
Wieder nickt Peter.<br />
“Zwischen Glaubenden, Zweifelnden und Nichtglaubenden<br />
gibt es viele Übergänge. Eine faire Beurteilung des menschlichen<br />
Verhaltens verlangt nach individueller Würdigung des
Kirche 69<br />
Einzelfalles. Mit deinen Pauschalurteilen fügst du vielen ungerechtfertigt<br />
Verletzungen zu.”<br />
“Ja. Ich darf das nicht aus den Augen verlieren. Bitte glaub<br />
mir, ich kritisiere nicht aus Lust am Kritisieren. Ich bin zutiefst<br />
davon überzeugt, daß die Richtung, in die die moderne<br />
Menschheit segelt, in äußerst gefährliche Gewässer führt. Da<br />
bieten Hoffnung und Trost keinen Schutz. Auch nicht der<br />
Glaube, daß wir in einer wunderschönen Welt leben. Und<br />
nicht das bloße Bekenntnis zum Opt<strong>im</strong>ismus. Den dringend<br />
erforderlichen Kurswechsel kann nur unbeirrtes <strong>Suchen</strong> bewirken:<br />
Nach unseren Unzulänglichkeiten und Fehlern. Nach<br />
den Ursachen, die sich hinter unseren maßlosen Wünschen<br />
und Begehrlichkeiten verbergen. Und nach den Konsequenzen,<br />
die sich daraus ergeben. Für solches <strong>Suchen</strong> kann ich mir<br />
nur dann den Blick schärfen, wenn ich mich auf das Grundsätzliche<br />
konzentriere, wenn ich den Einzelfall beiseite lasse.”<br />
Wortlos blicken die beiden in die Nacht.<br />
Peters Gedanken schleichen sich zurück zu dem, was er<br />
zuvor gesagt hatte. Dort bohrt sein Geist unermüdlich weiter.<br />
Schließlich zwingt er ihn, Dinge zu sagen, die er gar nicht<br />
hatte sagen wollen. “Medizinmann, Magier und Zauberer, das<br />
sind die Vorformen des Pastoren- und Priestertums. Schon<br />
frühzeitig bildeten sie eine besondere Zunft – die Priesterzunft.<br />
Für diese Zunft waren Zauberei und Magie, Zeremoniell<br />
und gezielte Verunsicherung das gleiche wie die astronomische<br />
Navigation für den Seefahrer: Berufswissen und<br />
Einnahmequelle. Aber anders als in den meisten Berufen<br />
blieb das Wissen der Priester sorgsam gehütetes Gehe<strong>im</strong>nis.<br />
Wie sonst hätten sie fortfahren können, aus Unwissen und<br />
Furcht der Menschen Kapital zu schlagen? Die dunkle Kunst<br />
der Priester wurde als Mittel der Herrschaft über die Gläubigen<br />
ausgebaut, verfeinert und vertieft. Und oft von weltlichen<br />
Herrschern bedenkenlos für ihre eigenen Ziele genutzt.<br />
Herrschaftskalkül hat seine eigene Moral und seine eigene<br />
Logik. Angesichts der Unwissenheit und Unsicherheit vieler
70 KÖNIGSKINDER<br />
Bürger bewirkte die unantastbare Autorität der Priester und<br />
der Kirche einerseits, und der weltlichen Herrscher andererseits<br />
oft mehr als militärische Machtentfaltung und drakonische<br />
Strafen. Warum sollten Kirche und Staat diesen Zustand<br />
ändern? Die Bürger aufklären, ihre geistige Weiterentwicklung<br />
betreiben, sie zur Wahrheitssuche ermuntern? Wer sägt<br />
schon den Ast ab, auf dem er sitzt, dazu noch so bequem?<br />
Machtentfaltung, Massenbeherrschung und Massenausbeutung<br />
haben Triumphe gefeiert unter der gemeinsamen Herrschaft<br />
von Königen und Priestern.”<br />
Abrupt steht Inge auf.<br />
“Willst du schon gehen?”<br />
Inge nickt. Unbemerkt von Peter sickern Tränen – sanft und<br />
lautlos – aus gequält verschlossenen Augen wie Blut aus einer<br />
Fleischwunde. Kein Zucken, kein Schluchzen. Mit gesenktem<br />
Kopf geht sie stumm an Peters Seite den Kiesweg hinunter.<br />
Während des Gehens löst sie ihren seidenen Schal vom Hals<br />
und bindet ihn fest um den Kopf. So verbirgt sie das tränenüberflossene<br />
Gesicht.<br />
Schweigend stehen die beiden nebeneinander auf der<br />
Brücke. Zuerst lehnt sich Peter, später auch Inge mit den<br />
Ellenbogen auf das Geländer. Tief bewegt blicken beide auf<br />
das unter ihnen dahinfließende Wasser. Jeder in eine andere<br />
Richtung.<br />
Peters gefühlskalte Worte haben Inge verletzt. Ihr ganzes<br />
Empfinden und Fühlen stemmt sich gegen das, was Peter da<br />
alles gesagt hat. Viele seiner Gedanken sind neu für sie.<br />
Vieles muß sie erst einmal durchdenken und abwägen. Vieles<br />
läuft Amok gegen das, was ihr heilig ist. Vieles darf sie ihrem<br />
Vater gar nicht sagen, sonst würde es niemals zur Begegnung<br />
kommen können zwischen ihm und Peter – einer Begegnung,<br />
die sie sich so sehr wünscht.<br />
Aber, merkwürdig, ihr Verstand geht eigene Wege. Er ist<br />
nicht, wie sonst, uneingeschränkt auf seiten ihres Herzens. Er<br />
n<strong>im</strong>mt nicht bedingungslos teil am Aufbegehren gegen Peter.
Kirche 71<br />
Ja, er hat damit begonnen, sich mit ihm zu verbünden. Hinter<br />
Peters verbalem Ungestüm macht der Verstand handfeste<br />
Argumente aus und historisch belegbare Tatsachen. Wichtiger<br />
noch: er weiß, daß Peter ihrer Liebe nicht schaden,<br />
sondern nutzen will. Der Verstand sucht nach einem eigenen<br />
Weg zu Peter.<br />
Inge erkennt, daß der Kern ihres Schmerzes nicht wirklich<br />
in Inhalt, Härte und Art von Peters Worten liegt, sondern <strong>im</strong><br />
beginnenden Zerbrechen der bisherigen Einheit ihres<br />
Empfindens und Erkennens. In ihr ist ein Konflikt entbrannt<br />
zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Glauben und Geist.<br />
Doch der Glaube wurzelt tief. Sehr tief.<br />
Zärtlich legt sie ihre Hand auf die ihres Freundes. “Weißt<br />
du, Peter, in der Welt, in der ich lebe, gibt es Träume.”<br />
“Ich träume nur selten.”<br />
“Niemand kann <strong>im</strong>mer nur in der Wirklichkeit leben. Träume<br />
gleichen aus, arbeiten Angst auf.”<br />
“Angst muß man mit wachen Sinnen aufarbeiten. Träumen<br />
fesselt. Ein Träumer ist schutzlos.”<br />
“Ohne Täume kann ich nicht sein. Einen Traum habe ich<br />
<strong>im</strong>mer wieder. Ich träume von einem großen uralten Baum.<br />
Sein Stamm ist mächtig, seine Krone riesengroß. Der Baum<br />
ist ein Wunder an Harmonie und Schönheit. Kein Ast zuwenig,<br />
keiner zuviel. Für mich ist der Baum die heile Welt. Ich habe<br />
nach ihm gesucht. Überall. Ich weiß nicht ob es ihn gibt. Aber<br />
ich glaube” – sie hebt den Kopf und blickt zurück zur Bank<br />
und dann hinauf zur uralten Eiche – “ich glaube, daß dies<br />
mein Baum ist. Noch <strong>im</strong>mer träume ich von ihm. Vielleicht<br />
sollten wir es so auch mit der Religion halten. Einfach daran<br />
glauben, einfach davon träumen. Nicht alles zu genau wissen<br />
wollen. So würde es sich ganz gut leben lassen.”<br />
“Ja”, nickt Peter. “Ja, ich kann dich gut verstehen. Aber Träumen<br />
löst unsere Probleme nicht. Die Menschen hatten viel<br />
Zeit zum Träumen. Hunderttausende von Jahren. Heute<br />
stehen wir am Scheideweg. Nur wenige Schritte weiter ge-
72 KÖNIGSKINDER<br />
radeaus, und wir stürzen in den Abgrund. Wir müssen aufwachen,<br />
die Augen öffnen. Wir müssen uns umsehen, nachdenken,<br />
den Kurs ändern.”<br />
Ein Traum kennt keine Logik. Er kennt Ängste und Ahnungen,<br />
Wünsche und Hoffnungen. Im Traum tanzt das Unbewußte.<br />
Unser von Zensur befreites Selbst.<br />
Ohrring<br />
Langsam richtet Inge sich auf. Mit beiden Händen streicht<br />
sie über ihr Gesicht. Dann n<strong>im</strong>mt sie den Schal vom Kopf und<br />
beginnt, ihr Haar zu ordnen. In heller Aufregung ruft sie<br />
plötzlich: “Ich hab’ einen Ohrring verloren! Einen meiner schönen<br />
goldenen Ohrringe! Vater hat sie mir geschenkt. Der Ohrring<br />
muß bei der Bank liegen. Als wir zurückkamen, hatte ich<br />
ihn noch. Ich muß den Ohrring unbedingt wiederfinden! Ein<br />
Geschenk von Vater bedeutet mir unendlich viel!!”<br />
“Ich helfe dir. Wir werden den Ohrring finden.”<br />
Inge und Peter gehen zurück zu ihrer Bank.<br />
Tastend gleiten ihre Finger über den dunklen Boden. Sie suchen.<br />
Vor der Bank, neben der Bank, hinter der Bank. Das<br />
<strong>Suchen</strong> ist schwierig in dieser Finsternis. Doch plötzlich findet<br />
Peter etwas. Er befühlt seinen Fund: “Ich hab ihn!” Merkwürdig:<br />
zur gleichen Zeit findet auch Inge etwas. Sie n<strong>im</strong>mt<br />
ihren Fund an sich und verbirgt ihn in der Faust. Beide zur<br />
Faust geschlossenen Hände auf dem Rücken, geht sie auf<br />
Peter zu, sieht ihren Ohrring und strahlt. “Oh, wie<br />
wunderbar!” Lächelnd läßt sie sich den Ohrring anlegen.<br />
“Danke!!” Mit einem ‘Mmmhh!’ küßt sie Peter auf die Wange,<br />
dort, wo der Bart in weiche Haut übergeht.<br />
“Rate mal, was ich hier hab!” Inge streckt Peter die Rücken<br />
ihrer Fäuste entgegen. Aber sie kann die Antwort nicht<br />
abwarten. “Deinen Manschettenknopf!”, ruft sie, ihre Fäuste<br />
drehend und öffnend.
Ohrring 73<br />
“Das ist nicht meiner. Ich trage keine Manschettenknöpfe.”<br />
“Dann nehme ich ihn mit als Erinnerung an diesen Abend.”<br />
Mit beiden Händen führt sie den Manschettenknopf an die<br />
Lippen und hält ihn dort für einen Augenbick. Dann gehen<br />
die beiden abermals den Kiesweg hinunter, überqueren<br />
die Holzbrücke, biegen nach links ab und wandern den<br />
Hauptweg entlang. Unter der ersten Laterne bleibt Inge<br />
stehen: “Ich muß mir den Manschettenknopf noch einmal bei<br />
Licht ansehen.” Sie öffnet die Hand. “Mein Gott, ist der<br />
schön! Aus purem Gold. Sieh mal, diese wundervolle Filigranarbeit<br />
und dieser große, herrliche Diamant! Das ist ein<br />
wertvolles Schmuckstück, ein Kunstwerk! Den darf ich nicht<br />
behalten. Sieh nur!”<br />
“Ja, der ist offenbar sehr kostbar.”<br />
“Ich muß ihn zurückbringen.”<br />
“Aber wohin? Du weißt doch gar nicht, wem er gehört.”<br />
“Zu unserer Bank.”<br />
“Dort wird ihn irgendjemand an sich nehmen. Wie willst du<br />
je den wirklichen Besitzer ermitteln?”<br />
“Ich schreibe ein paar Zeilen dazu. Es gibt viele ehrliche<br />
Finder. Der Manschettenknopf wird wieder in die Hände seines<br />
rechtmäßigen Besitzers gelangen. Da bin ich mir ganz sicher.”<br />
Peter ist anderer Meinung. Aber das behält er für sich. “Also<br />
gut, gehen wir zurück.”<br />
An der Bank angekommen, läßt Inge ihre Tragetasche von<br />
der Schulter gleiten, sucht darin herum und findet einen Papierbogen:<br />
Ihre Aufzeichnungen von einer Vorlesung über<br />
‘Hebbels Tagebücher’. Den Papierbogen in der Hand, setzt sie<br />
sich. Dann schreibt sie, die Tasche als Unterlage benutzend,<br />
auf die leere Rückseite:<br />
Diesen Manschettenknopf habe ich gefunden. Ich möchte,<br />
daß er wieder in die Hände seines rechtmäßigen Besitzers
74 KÖNIGSKINDER<br />
kommt. Bitte, bitte lassen Sie ihn liegen, falls er Ihnen nicht<br />
gehört. Danke!<br />
Mit beiden Händen legt sie den Papierbogen auf die Bank<br />
und streicht glättend darüber. Dann legt sie den Manschettenknopf<br />
darauf.<br />
Stein<br />
Inge steht auf, senkt den Kopf. Langsam umherschreitend<br />
beginnt sie, den Boden abzusuchen.<br />
“Was ist?”<br />
“Ich suche einen Stein. Er soll meinen Fund behüten. Und<br />
meine Botschaft.”<br />
Erneut tasten Finger über den Boden. Bei der Bank finden<br />
sie nichts. Aber etwas weiter links, unter einem blühenden<br />
Fliederbusch, da liegt ein Feldstein. Gleichzeitig entdecken<br />
sie ihn. Ihre Hände berühren sich auf seiner rauhen, kalten<br />
Oberfläche. Ganz dicht beieinander sind jetzt ihre Köpfe. Sie<br />
erheben ihr Antlitz, sehen sich an, mit ernsten Augen voller<br />
Liebe.<br />
Der Stein ist beinahe so groß wie ein Kinderkopf. Aber er<br />
hat eine Verjüngung in seiner Mitte, so als habe ihn in grauer<br />
Vorzeit jemand behauen, damit man ihn besser als Werkzeug<br />
benutzen kann.<br />
Erst vor wenigen Stunden war der Stein hin und her gereicht<br />
worden zwischen Pastor, MinRat und Physiker. Alle<br />
drei hatten ihn abwechselnd in ihren Händen gehalten und<br />
dabei Überlegungen darüber angestellt, wie der Stein wohl in<br />
den <strong>Park</strong> gekommen sei. Und wie die merkwürdige Form wohl<br />
zustandegekommen sein mochte. Aber weder auf die erste<br />
noch auf die zweite Frage konnten sie eine für alle drei befriedigende<br />
Antwort finden.
Der MinRat hatte den Pastor um ein Gespräch gebeten.<br />
Angesichts des herrlichen Frühlingswetters hatten sich die<br />
beiden entschlossen, das Gespräch unter freiem H<strong>im</strong>mel zu<br />
führen, auf der Bank unter der großen Eiche. Den MinRat beschäftigt<br />
das Töten, genauer gesagt, das Töten als Freizeitsport:<br />
Angeln und Schießen. Darüber hatten die beiden lange<br />
diskutiert. Als dann plötzlich der Physiker dazukam, verstummte<br />
das Gespräch. Da hatte der Pastor die Aufmerksamkeit<br />
auf den Stein gelenkt.<br />
Schließlich erhoben sich die drei und machten sich auf den<br />
Weg. Der Pastor hatte noch gesagt: “Selbst der Stein gibt uns<br />
Rätsel auf, wie vieles andere in Gottes Natur.” Dann hatte er<br />
den Stein vorsichtshalber zur Seite gerollt.<br />
Im Stein gefrieren die Gesetze der Schöpfung. Ein Stein<br />
kann schlafen, hunderttausend Jahre, Teil eines Berges. Ein<br />
Stein kann stürzen: ins Meer, in der Brandung rollend rund<br />
werden; vor den Fuß eines Wanderers, in den Boden rammend<br />
eine Mulde stampfen. Ein Stein kann treffen oder nicht. Ein<br />
Stein kann töten.<br />
Peter und Inge heben den Stein gemeinsam und legen ihn<br />
auf den Papierbogen.<br />
3 FREUNDE<br />
Explosion<br />
Explosion 75<br />
“Das is wirknich nich zuvien vernangt.”<br />
Schon bald nach Einbruch der Dunkelheit betritt ein großer<br />
schlanker Mann den <strong>Park</strong>. Mürrisch spuckt er zur Seite. Der<br />
Festmacher ist schlecht drauf. Letztes mal ist nichts so richtig<br />
gelaufen. Und dann noch dieser neue Fiedler!<br />
‘Na ja’, denkt er, ‘ganz bescheidn der Kleine.’ Und dann
76 FREUNDE<br />
denkt er: ‘Muß noch ‘ne Menge lern’n. Als Jäger nix auf’e<br />
Latte.’ Der Festmacher spitzt den Mund und n<strong>im</strong>mt die Mütze<br />
vom Kopf. Ein strammer Schopf mittelblonder Schnittlauchhaare<br />
springt ins Freie. Der linke Mittelfinger kratzt in den<br />
Haaren herum. ‘Aber irgendwie isser auch ‘n Happn komisch.’<br />
Nachdenklich setzt er die Mütze wieder auf. Dann rückt er sie<br />
zurecht.<br />
Eine tief aus dem Unterleib aufsteigende Unruhe verbietet<br />
jede weitere Beschäftigung mit Dingen, die nicht unmittelbar<br />
etwas zu tun haben mit der Jagd, die jetzt wieder beginnt.<br />
Machtvoll drängelt Unruhe in die Schaltstellen seines Handelns.<br />
Rücksichtslos drückt sie anderes beiseite, beherrscht<br />
schließlich alles Denken und Empfinden. Er neigt sich nach<br />
vorn und hebt die Schultern. Mit eingezogenem Kopf,<br />
ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern gleitet er, den<br />
Oberkörper leicht windend, ins dunkle Gebüsch.<br />
Nach einer Weile teilen sich am Rande eines schmalen<br />
Sandweges Zweige dichtstehender Büsche. Lautlos tritt der<br />
Festmacher ins Freie. Er will sich jetzt erst mal eine<br />
Übersicht verschaffen. Will wissen, was heute los ist, will eine<br />
Runde drehen, wie er das nennt. Nur scheinbar entspannt<br />
schlendert er der nächsten Biegung des Weges entgegen. Ein<br />
Spaziergänger wie andere auch, aber mit witternden Sinnen,<br />
mit auf’s Höchste alarmierten Augen und Ohren.<br />
Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />
Zur gleichen Zeit erhebt sich wankend und augenreibend<br />
eine untersetzte, dunkelgekleidete Gestalt von einer zerfransten<br />
alten Matte. Die liegt <strong>im</strong> Gebüsch versteckt. Querab vom<br />
mittleren Teil des Trampelpfades hinter der Bank auf dem<br />
Hügel. Wenn der Schmied von seiner anstrengenden Tagesarbeit<br />
besonders ermüdet ist, macht er erst einmal ein Nickerchen<br />
auf dieser Matte, bevor er den Festmacher sucht und mit<br />
ihm zusammen auf die Jagd geht. Auf einer alten Matte zu<br />
schlafen, ist für ihn nichts Ungewöhnliches. Er entstammt<br />
einer sehr armen Familie. Noch heute weiß er, was Entbeh-
Explosion 77<br />
rung ist. Noch heute hat er den bitteren Geschmack des Hungers<br />
und der Armut <strong>im</strong> Mund.<br />
Er reckt beide Arme in die Höhe und rudert damit in der<br />
Luft herum. Leise stöhnt er vor sich hin, legt gespreizte Finger<br />
auf die mächtige Brust, drückt die Schultern nach hinten,<br />
lehnt den Kopf in den Nacken und gähnt. Dann hebt er erneut<br />
die Arme, winkelt sie ab, verschränkt die Finger hinter seinem<br />
mit dunklen Locken bedeckten Kopf und macht mit den<br />
Ellenbogen Bewegungen, als wollte er davonfliegen. Mit breitgeschnittenem,<br />
narbenverziertem Mund und rundlicher Nase<br />
strahlt sein Gesicht Gutmütigkeit aus. Unter buschigen Brauen<br />
spähen lustige Augen in die Dunkelheit. Er stellt die Matte<br />
hochkant auf zwei tiefgelegene Äste, damit sie lüften kann,<br />
streicht eine Locke aus der Stirn und windet sich durch dichtes<br />
Buschwerk. Mit einem großen Schritt betritt er den<br />
hinteren Teil des Trampelpfades.<br />
Weniger geschickt als sein hochgewachsener Freund, aber<br />
ebenfalls mit langjähriger Jagderfahrung, schlängelt sich der<br />
Schmied vorbei an Sträuchern und Büschen. Sein Ziel ist der<br />
Spielplatz. Er sucht den Festmacher. Plötzlich entdeckt er,<br />
über Büsche hinweg, ein Liebespaar auf der Bank vor der Hekke.<br />
In großem Bogen pirscht er sich von hinten an die Bank<br />
heran.<br />
Mit einem Ruck hält er inne, bleibt stehen, schüttelt ärgerlich<br />
den Kopf. Die Rechte streicht über den Unterleib. Aufeinmal<br />
hat er es sehr eilig. Geschwind stelzt er zurück durch<br />
hohes Gras. Sein Darm rebelliert. Er schüttelt den Kopf.<br />
“Geht das schon wieder nos!” Es ist <strong>im</strong>mer das gleiche: Die<br />
frische Abendluft und die Jagdst<strong>im</strong>mung regen seinen Stuhlgang<br />
an. Und wie so oft hat er auch heute vergessen, Papier<br />
mitzunehmen. Gras oder Pflanzenblätter tun’s natürlich<br />
auch. Aber da kann man Pech haben. Einmal hat er sich mit<br />
einem Bündel scharfer Grashalme geschnitten. Ein anderes<br />
Mal erwischte er in der Dunkelheit einen Brennesselzweig.<br />
“Verfnucht!”, hat er da gezischt, “das brennt ja wie der Teu-
78 FREUNDE<br />
fen!” Eilig war er zum Bach gehüpft und hatte sich mit kaltem<br />
Wasser Erleichterung verschafft. Der Schmied ist eine<br />
kenntnisreiche, verläßliche Arbeitskraft auf der Werft, aber er<br />
ist ein schlechter Botaniker. Papier ist sicherer.<br />
Vor nicht langer Zeit ist auf der Werft ein Druckkessel explodiert.<br />
Das hat sein Leben verändert. Umherfliegende Kesselteile<br />
schlugen ihm die Vorderzähne raus, beschädigten<br />
Oberkiefer und Lippe und beraubten ihn seiner Zungenspitze.<br />
Nun waren seine Vorderzähne niemals eine Zier. Schon in<br />
den ersten Lebenstagen hatten Mittelfinger und Ringfinger<br />
der linken Hand den Weg zum Mund gefunden. Hier verbrachten<br />
sie fortan viele Stunden. Tagaus, tagein. Jahraus,<br />
jahrein. Mit Hingebung lutschte er auf den beiden Fingern<br />
herum, während die noch zur freien Verfügung stehenden anderen<br />
beiden, der Zeigefinger und der kleine Finger, genüßlich<br />
die Wangen massierten.<br />
Sicher keine schl<strong>im</strong>me Sache an sich. Aber <strong>im</strong> Laufe der<br />
Jahre führte das ständige Nuckeln dazu, daß die zweite Generation<br />
seiner Schneidezähne geradezu abenteuerlich aus<br />
dem Mund hervorragte. Das hatte ihm sogleich nach der<br />
Einschulung den Necknamen ‘Mäuschen’ eingebracht. Später<br />
war der Schmied dann für seine Arbeitskollegen der<br />
‘Raffzahn’. Nach der Kesselexplosion fand alle Neckerei ein<br />
Ende. Ein tüchtiger Zahnarzt verpaßte ihm wunderschöne<br />
neue Zähne. Als Erinnerung an die Explosion blieb aber eine<br />
kleine sprachliche Besonderheit: mit der Zungenspitze hatten<br />
den Schmied auch alle seine Ls verlassen. Dieser Verlust<br />
wurde aber dadurch ausgeglichen, daß ihm seine genesende<br />
Zunge genau die gleiche Anzahl zusätzlicher Ns bescherte.<br />
Auch die Oberlippe erlitt durch die Kesselexplosion Schaden:<br />
einen fast drei Zent<strong>im</strong>eter langen Riß. Seit dessen Vernarbung<br />
ziert den Schmied ein ansehnlicher Schmiß. Der könnte<br />
einem Angehörigen einer schlagenden Studentenverbindung<br />
das Herz höher schlagen lassen. Aber der Schmied weiß das<br />
nicht zu würdigen.
Viel Zeit hat er jetzt nicht mehr zu verlieren. Auf der von<br />
dringender Not beflügelten Suche nach Papier erreicht er den<br />
Spielplatz. Dort hatte er schon des öfteren Papier gefunden.<br />
Und siehe da, dort liegt, neben dem Sandkasten, ein großes<br />
Stück Papier. Schnell reißt er es an sich und rennt damit ins<br />
Gebüsch. Weit genug weg von der nächsten Bank. Das hat<br />
ihm der Festmacher eingebleut. ‘Daß du ja nich unsere Kundschaft<br />
vergraulst!’, hatte der gesagt. Und was der Festmacher<br />
sagt, das ist Gesetz <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Jedenfalls nachts.<br />
Erleichtert strebt der Schmied nun dem Hauptweg zu. Dort<br />
wendet er sich nach rechts.<br />
Quatsch<br />
Quatsch 79<br />
Auch der Festmacher hat den Hauptweg erreicht. Nur einen<br />
Steinwurf weit ist er gegangen, da kommt ihm aus der Dunkelheit<br />
ein untersetzter Mann entgegen. Leicht watschelnd<br />
vertraut der, mehr als das aus Gründen der Statik<br />
erforderlich wäre, sein Gewicht ganz dem jeweiligen Standbein<br />
an. Das kann nur einer sein: sein Freund, der Schmied.<br />
“Halloh!”<br />
“Hannoh!”<br />
Die beiden begrüßen einander wie <strong>im</strong>mer. Sie lassen die<br />
offenen Handflächen ihrer erhobenen Rechten gegeneinander<br />
klatschen und knuffen sich gleichzeitig mit der linken Faust<br />
in die Seite.<br />
“Was gehabt?”<br />
“Nee.”<br />
Seite an Seite gehen die beiden in die Richtung weiter, die<br />
der Festmacher eingeschlagen hatte.<br />
“Schmied!”, ruft der plötzlich. “Was is? An dein Watscheln<br />
hab ich mich ja gewöhnt. Aber da is heut noch so’n extra Dreh<br />
drin. Was’s los?”<br />
Der Schmied duckt sich, zieht die Mundwinkel nach unten.
80 FREUNDE<br />
Wiegt den Kopf. Zuckt mit den Schultern. Dann endlich – er<br />
weiß, wenn der Festmacher eine Frage stellt, dann muß man<br />
antworten – rollt es aus ihm heraus: “Hab ‘n Virus am Arsch.<br />
Obn auf’e Backe. Virus s<strong>im</strong>pnex sagt der Doktor. Krieg ich <strong>im</strong>mer<br />
man wieder.” Erneut zucken Schultern. “Der Doktor verschreibt<br />
annes Mögniche. Nix hinft.”<br />
“Tschaaa”, macht der Festmacher gedehnt. “Warum hast du<br />
mich nich gefragt?”<br />
“Dich? Wieso dich? Ach so, knar, Festmacher weiß annes,<br />
wa?”<br />
“Nich alles. Aber manches. Das nächste Mal, wenn dein<br />
Virus wieder in See sticht, sofort Zahnpasta drauf!”<br />
Wwass??”<br />
“Kein Wundermittel. Aber nich schlechter als Chemiezeug.<br />
Zuerst warmes Seifnwasser. Abwaschn. Mit Kleenex abtupfn<br />
bis alles trockn is. Denn Zahnpasta drauf. Gut verstreichn.<br />
Ganz eintrockn’n lassn. Wenn du hast, n<strong>im</strong>m ‘n Fön. Das<br />
machst du jedn Tag ‘n paarmal. Zahnpasta killt Bakterien, ärgert<br />
den Virus.”<br />
“Das hinft?”<br />
“Nix hilft <strong>im</strong>mer. Du mußt das mal probiern.”<br />
Einmal in Fahrt gekommen, ist es für den Festmacher nicht<br />
so leicht, gleich wieder aufzuhören. “Ich sag dir, die Viren,<br />
die werdn uns noch zu schaffn machn! Schnupfn, Aids, genau<br />
dasselbe. Viele Mittel. Keins hilft. Weißt du, wie lange ‘n<br />
Schnupfn dauert, wenn du zum Doktor gehst? Zwei Wochn.<br />
Und wenn du nich zum Doktor gehst? Vierzehn Tage.” Er<br />
nickt. “Gegn Viren hilft nur Natur. Natur gegn Natur. Und<br />
das auch nich <strong>im</strong>mer. So’n Virus is klüger als der ganze Polizeiverein<br />
in unserm Körper. Menschengrips? Versager! Ich<br />
sag dir: die großn Tiere, die hat der Mensch runtergeschraubt.<br />
Aber die Klein’n, die schafft er nich. Die sind zu gewitzt. Die<br />
werdn uns noch zu schaffn machn. Die sind Meister <strong>im</strong> Anpassn<br />
und Versteckspiel. Kein’n Kopf, keine Arme, keine<br />
Beine, keine Ohrn, keine Augn. Aber ich sag dir, so’n Virus
Quatsch 81<br />
hat mehr auf’n Kasten als das ganze gesammelte Gesundheitswesn!”<br />
Schweigend gehen sie weiter. ‘Jupp’, denkt der Schmied, ‘der<br />
Festmacher. Das ‘n Typ! Mit ninks könnte der Professor sein.<br />
Aber ich gnaub, da hätt der gar kein’n Spaß dran.’<br />
Sie drehen eine Runde. Nichts los. Eine Zeitlang spricht<br />
keiner ein Wort. Dann werden Gedanken des Schmieds zu<br />
Worten: “Das wird <strong>im</strong>mer weniger. Die jungen Neute habn<br />
kein’n Schwung mehr. Weißt du, was ich gnaub? Ich gnaub,<br />
die sind zu faun zum fickn.”<br />
“Na ja, Mann. Ganz so läuft das ja auch nich. Vorhin da<br />
war’n da zwei zugange.”<br />
“Wo?”<br />
“Aufn Spielplatz.”<br />
“Wo da?”<br />
“Auf’e Kante vom Sandkastn.”<br />
“Auf’e Kante vom Sandkastn”, wiederholt der Schmied voller<br />
Hochachtung. “Wahnsinn! Im Niegn?”<br />
“Im Liegn.”<br />
“Akrobaten, wa?” Der Schmied grient und hebt den Kopf in<br />
den Nacken. “Seintänzer, wa?”<br />
Beide lachen.<br />
“Scheint mehr nos zu sein auf’n Spienpnatz jetzt.”<br />
“Scheint.”<br />
“Nos, nass fitschn, Festmacher! Vienneicht gib’s da noch<br />
mehr. Nos, komm!”<br />
Aber auch auf dem Spielplatz ist nichts los.<br />
So gehen sie weiter.<br />
“Okay”, sagt der Festmacher schließlich, “setzn wir uns mal<br />
auf die Bank da.”<br />
Die Bank, das ist eine von den schönsten <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ganz<br />
frisch lackiert. Gestiftet von der Stadtsparkasse. Eine Bank,<br />
die nicht zu übersehen ist und die ein noch weniger zu übersehendes,<br />
großes, blitzendes Messingschild ziert. In die Rükkenlehne<br />
eingelassen, informiert das Schild jeden Rast-
82 FREUNDE<br />
suchenden darüber, wem er diese Wohltat zu verdanken hat.<br />
Doch das Sitzen währt nicht lange. Aus den Tiefen ihrer<br />
Leiber quillt Jagdfieber. Sie drehen eine Runde. Nach angespanntem<br />
aber erfolglosem <strong>Suchen</strong> betreten sie einen halbkreisförmigen<br />
Weg. Da stößt der Festmacher den Freund mit<br />
dem Ellenbogen in die Rippen. Beide sehen sich an, mit hochgezogenen<br />
Brauen, gespitztem Mund und blitzenden Augen.<br />
Der Festmacher nickt und kneift ein Auge zu. Auf der ersten<br />
Bank sitzt ein Paar. Auf der zweiten Bank sitzt ein Paar. Und<br />
ein drittes Paar, das vor ihnen auf dem Weg spaziert, schickt<br />
sich gerade an, auf einer Bank Platz zu nehmen.<br />
“Endnich wieder was an’ne Angen!”<br />
Lautlos verschwinden ihre gebückten Gestalten hinter Büschen,<br />
werden Teil der Finsternis. Von hinten pirschen sie<br />
sich an ihr Wild. Erste Bank. Vier aufgerissene Augen. Nichts<br />
geschieht. Nur leise dahinfließende Unterhaltung. Enttäuscht<br />
machen sich die beiden auf den Weg zur zweiten Bank. “Hast<br />
du gehört”, flüstert der Festmacher, “wie der Herr Gehe<strong>im</strong>rat<br />
da die Menschn hochgejubelt hat?” Leise <strong>im</strong>itiert er das gestelzte<br />
Reden: “Wirklich, meine Liebe, es ist erstaunlich, was<br />
die Menschen alles können. Und wie phantastisch ihr Körper<br />
konstruiert ist. Eine würdige Krone der Schöpfung!”<br />
“Wenn ich ‘n Menschn baun würde”, flüstert der Schmied<br />
zurück, “das erste wär ‘ne zweite Pumpe. Zwei Augn, Ohrn,<br />
Niern, Nungn – aber nur eine Pumpe. Das’s doch ‘ne Fehnkonstruktion!<br />
Wenn die Pumpe ausfännt is annes hin.”<br />
Der Festmacher nickt. Dann flüstert er: “Da gibt’s aber auch<br />
Gutes.”<br />
“Was?”<br />
“Jeder Mensch is so gebaut, dasser mit’m Arsch nich an’n<br />
Kantstein haut.”<br />
Der Schmied prustet. Nur mit Mühe kann er lautes Lachen<br />
unterdrücken. So signalisiert er seinen Beifall mit heftigem<br />
Kopfnicken, schuckelnden Schultern und nach oben abgespreiztem<br />
Daumen der wippenden Faust.
Quatsch 83<br />
Jetzt haben sie die zweite Bank erreicht. Nur leise<br />
dahinplätschernder Gedankenaustausch. Und auch auf der<br />
dritten Bank spielt sich nichts ab.<br />
“Da näuft nix.” Sie tasten zurück zum Weg. “Theater is aus.<br />
Die komm’n direkt ausm Theater. Redn nur genehrtes Zeug.”<br />
Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken quer über den<br />
breiten Mund. “Da näuft nix. Annes ganz kuntivierte Neute.<br />
Vien zu kuntiviert zum Bumsn.”<br />
“Quatsch!” sagt der Festmacher. “Reiner Quatsch!!” Er hebt<br />
den Kopf, zieht die Brauen ganz hoch, schürzt bedeutungsvoll<br />
die dünnen Lippen, bereitet eine Verkündigung vor.<br />
Sie haben eine Bank erreicht. “Setz dich!”<br />
Sitzend fixiert der Festmacher den Mond, saugt eine große<br />
Portion würziger Nachtluft in sich hinein und läßt sie mit leisem<br />
Pusten aus gespitzten Lippen wieder entweichen. Er lüftet<br />
die Schiffermütze und rückt sie wieder an ihren Platz.<br />
Dann hebt er den kräftigen Zeigefinger und verkündet: “Alle<br />
fickn. Junge, Alte, Arme, Reiche. Alle. Auch die ganz kultiviertn<br />
Leute!” Er macht eine Pause. Zieht das Kinn an, so<br />
wie einer, der über eine Halbbrille einen Gegenstand fixiert.<br />
Dann vollendet er seine Verkündigung: “Und ich und du und<br />
der Fiedler – und all die sechs Milliardn Typn, die auf dieser<br />
Erde rumhopsn – alles Bumsprodukte! Eine Riesnfickerei,<br />
sag ich dir. Riesig!” Er spuckt und wischt bedächtig mit<br />
Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. Schließlich<br />
sagt er: “Das ist der Weisheit letzter Schluß. Frei nach<br />
Goethe.”<br />
Der Schmied prustet und hustet. Mit hochrotem Kopf ringt<br />
er nach Luft. “Du und Goethe!”, bricht es aus ihm hervor,<br />
“das’n Ding, wa?” Er schluckt und würgt. Dann lehnt er den<br />
Kopf zurück und lacht, ganz laut, ganz hell, ganz rein. Wie<br />
Quellwasser springt das Gelächter aus seinem Mund. “Festmacher<br />
und Goethe!” Abermals prustet er. “Das’n Paar, wa?<br />
Das’n ...”<br />
Der Festmacher kennt Kritik nur aus dem Munde seiner
84 FREUNDE<br />
Frau. Daß der Schmied es wagt, über etwas, das er sagt, zu<br />
lachen, das ist neu für ihn. Mit gewölbtem Mund und zusammengezerrten<br />
Brauen dreht er sich dem Kleineren zu. Aus den<br />
klaren harten Augen springt ein vernichtender, ein funkensprühender<br />
Blick wie ein Peitschenhieb. Augenblicklich läßt<br />
der Schmied die Schultern fallen, ist mucksmäuschenstill.<br />
Da hebt der Festmacher den Kopf und starrt zum Mond.<br />
Abermals saugt er eine große Portion klarer Nachtluft in sich<br />
hinein und entläßt sie wieder, diesmal mit leisem Zischen.<br />
Dann sagt er, jedes Wort voll wuchtigem Ernst: “Unser Problem<br />
is nur, wir wolln da auch mal was von sehn, von dieser<br />
Riesnfickerei. Nur ganz wenig. Niemand störn.” Dann denkt<br />
er an den neuen Fiedler und grinst: “Niemandem ein Leid zufügen.”<br />
Er spuckt. “Und das is doch wirklich nich zu viel<br />
verlangt. Oder?”<br />
“Right!” ruft der Schmied. “Das is wirknich nich zuvien<br />
vernangt.” Beide blicken stumm in die Nacht. Dann nickt der<br />
Schmied. Mehrmals. Eine Mundbewegung zwingt die Narbe<br />
auf der Oberlippe zum Schlängeln. “Ein richtiger Phinosoph<br />
bist du.” Er fährt mit dem Handrücken über den Mund, blickt<br />
auf zu seinem großen Freund: “Wahnsinn! Festmacher for<br />
President!”<br />
Die beiden stehen auf, recken und strecken sich, rudern mit<br />
den Armen. Dann machen sie sich auf den Weg.<br />
Der Festmacher erzählt dem Freund vom neuen Fiedler.<br />
“Bnoß nich! Bnoß nich noch so ein’n!!” Energisch schüttelt<br />
der Schmied den Kopf.<br />
“Nich noch so ein’n. Der Fiedler aus’m Waldschloß, der fiedelt<br />
jetz woanders. Und der neue Fiedler, das is’n ganz Bescheidener.”<br />
‘Aber’, fügt er in Gedanken hinzu, ‘irgendwie<br />
isser auch ‘n Happn komisch. Weiß der Klabattermann, wo<br />
der Rudi herkommt.’<br />
Dem Schmied ist das gar nicht recht. Er hat die Nase voll<br />
von Fiedlern. Und er hat ein sehr merkwürdiges, ja, ein sehr<br />
schlechtes Gefühl bei dieser Sache.
Aber bevor er seine Bedenken äußern kann, sagt der Festmacher:<br />
“Der spielt in so’m Klub.” Kopfwiegend fügt er hinzu:<br />
“Aber so’n richtiger Nachtklub kann das auch wieder nich<br />
sein, sonst hätt der ja nachts keine Zeit.” Er denkt einen Augenblick<br />
nach. “Vielleicht is das ja auch so’n armer Sack, der<br />
da nur mal ein’n vertretn darf.” Er nickt. “So isses vielleicht ...<br />
Ich sag dir, der is ganz schüchtern. Und der hat soviel Angst,<br />
der tut ein’m richtig leid.”<br />
Das beeindruckt den Schmied. Er hat ein großes Herz. Da<br />
ist viel Platz drin für viel Mitleid. “Ja wenn das so is ...”<br />
“Wir wolln mal ‘n Happn nett sein zu dem”, entscheidet der<br />
Festmacher.<br />
Wunder<br />
Wunder 85<br />
Wiederum sind die beiden Freunde am Spielplatz<br />
angelangt. Aber noch <strong>im</strong>mer ist da nichts los. So gehen sie<br />
weiter, Richtung See.<br />
Zögernd formt sich <strong>im</strong> Schmied ein Gedanke zu einer für ihn<br />
wichtigen Frage. Er senkt den Kopf, starrt auf seine<br />
dahinstapfenden Füße. Überlegt. Druckst. In stummer<br />
Vorübung des zu Fragenden beginnen seine Lippen sich zu<br />
bewegen. Dann wird die Frage zu gesprochenen, zunächst<br />
noch einleitenden Worten: “Du bist einer von den Großn. Du<br />
weißt <strong>im</strong>mer wo’s nang geht. Du bist der König hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />
Jedenfanns nachts.” Wieder druckst er. Fährt sich durch die<br />
üppigen Lokken. Noch <strong>im</strong>mer traut er sich nicht so recht.<br />
Aber dann sagt er: “Ich hab da man ‘ne Frage.”<br />
“Schieß los!”<br />
“Gnaubst du an Gott?”<br />
“Was für ‘ne Frage! Ich glaub nich nur an Gott. Ich seh ihn.<br />
Immerzu. Gott is hier. Im <strong>Park</strong>. Die Blum’n, die Büsche, die<br />
Bäume, die Tiere, die Menschn. Das is Gott.” Mit ernster Miene<br />
fügt der Festmacher hinzu: “Ich sag dir, Gott is ein Wunder.
86 FREUNDE<br />
Ein wundersames Wunder. Und auch wir Spanner”, er tickt<br />
an seinen Mützenschirm, “auch wir mit alln unsern Fehlern,<br />
auch wir sind Gottes Kinder.”<br />
Der Schmied nickt. Mehrmals. Ganz bedächtig. Dann deutet<br />
er mit dem Kopf zum Kirchturm. “Und der da?” Er sieht seinen<br />
Freund an. “Der Gott da in der Kirche?”<br />
“Aus dem bin ich noch nich so richtig schlau gewordn. So wie<br />
die Kirchenfritzn den sehn, is das ‘n Komischer.”<br />
“Wieso?”<br />
“Der is so komisch, ich glaub den habn die Kirchenfritzn<br />
selbstgemacht.”<br />
“Wieso?”<br />
“Die sagn, ihr Gott kann alles. Aber der tut nix. Und was die<br />
Kirchenfritzn sagen, das der tut, das is komisch.” Er schüttelt<br />
den Kopf. “Der hat zwei Maschn, Menschn zu machn. Einmal<br />
aus Erde und einmal mit ‘ner Frau. Aber ohne die anzufassn.”<br />
Er grinst und schüttelt wieder den Kopf.<br />
“Kirchenneute kümmern sich auch um Menschen.”<br />
“Die meistn kümmern sich um ihre Kirche.”<br />
“Die gebn den Menschen vien.”<br />
“Meist nur leere Luft.”<br />
“Und die wissen vien.”<br />
“Meist nur das, was se selber wolln. Aber ihr Gott, der weiß<br />
nich mal wasser selber will. Ich sag dir, der is komisch. Einmal<br />
haut der den Leutn ein’n auf’e Rübe, dasses knackt. Und<br />
einmal macht der wieder auf Barmherzigkeit und vergibt<br />
denen. Stell dir vor: Adam und Eva essen ‘n Apfel. Was macht<br />
der? Der schmeißt se raus aus sein’m Paradies. Für <strong>im</strong>mer<br />
und ewig. Und auch alle ihre Kinder und Kindeskinder, die<br />
doch gar nix dafür könn’n. Aber als die Kindeskinder sein’n<br />
Sohn umbringn, was macht der da? Da bleibt der ganz freundlich<br />
und vergibt den’n. Da st<strong>im</strong>mt doch was nich. Oder?”<br />
“Aber die Kirchenneute ...”<br />
“Die labern. Auch bei ‘ner Beerdigung labern die. ‘Ruhe sanft!<br />
Ewige Liebe!’ Nix wie leere Luft. Nach ‘n paar Dutzend Jahrn
Wunder 87<br />
hol’n se alles wieder raus, weil se den Platz brauchn für die<br />
Nächstn. ‘Ruhe sanft!’ Und nach ‘n paar Tausend Jahrn hol’n<br />
se Reste raus und stelln die ins Museum, und den Totn klaun<br />
se ihre Geschenke. ‘Ewige Liebe!’”<br />
“Aber die Kirchenneute predign schön.”<br />
“Ich hör da nur labern. Nix wie leere Luft. Die müßtn doch<br />
jubeln, wenn ihre Kumpels krepiern. Oder wenn se selbst ins<br />
Gras beißn. Denn kommn se endlich in ihr Gottesreich. Denn<br />
könn’n se endlich in Freudn ewig lebn. Gesund und ohne<br />
Sorgn. Aber die habn Schiß. Genau wie alle andern. Und die<br />
heuln. Genau wie alle andern. Warum? Ich sag dir warum:<br />
weil se ihr eigenes Labern nich glaubn. Weil se ganz tief da<br />
drinnen wissn, daß das alles leere Luft is.”<br />
Der Festmacher schüttelt den Kopf und zuckt die Schultern:<br />
“Und wer hat den Sohn von ihr’m Gott verratn und gekreuzigt?<br />
Die Männer. Wer is bei ihm gebliebn, hat ihm die Treue<br />
gehaltn? Die Frauen. Aber wer is nun sein Vertreter auf Erdn,<br />
und wer hat das Sagn in seiner Kirche? Die Männer! Kriegst<br />
du das auf die Reihe?”<br />
“Nee”, sagt der Schmied, “das krieg ich nich man auf’n Punkt.”<br />
“Warum is Gott ein Mann? Warum keine Frau? Warum<br />
schickt der sein’n Sohn? Warum nich seine Tochter?”<br />
“Warum?”<br />
“Weil die Kirchenfritzn Männer sind!”<br />
“Und die Frauen?”<br />
“Für so manche Kirchnfritzn gibts nur drei Frauen: Heilige,<br />
Nonnen und Nutten.” Der Festmacher spuckt und fährt sich<br />
mit Daumen und Zeigefinger langsam über die Mundwinkel.<br />
“Und was bist du für die? ‘N Bösewicht. Dauernd drohn die dir<br />
mit Strafe. Dauernd mußt du um Vergebung bittn. Alles Mögliche<br />
bring’n die dir bei, nur nich das Lachn.”<br />
“Ja”, sagt der Schmied, “nachn und sich freu’n, das tun die<br />
nicht da in der Kirche. Überhaupt sonnt’n die Neute sich<br />
mehr freu’n und mehr nachn. Wer nacht und sich freut, tut<br />
andern weniger weh.”
88 FREUNDE<br />
Der Festmacher hebt den Zeigefinger. “Und noch was. Die<br />
Kirchenfritzn sagn, ihr Gott is allmächtig, weiß alles, kann<br />
alles, hat unsere Welt gemacht. Ja verdammt noch mal,<br />
warum hat der das denn nich besser gemacht? Sieh dich um.<br />
Das meiste is doch Scheiße! Und warum duldet der so viel<br />
Leid und so viel Ungerechtigkeit? Immer wieder und <strong>im</strong>mer<br />
weiter? Warum n<strong>im</strong>mt der das Leid nich weg, wenn der das<br />
doch kann? Und warum haßt der die Menschn, die den<br />
Kirchenfritzn nich glaubn könn’n oder wolln? Warum verfolgt<br />
der die Ungläubign mit so viel Härte und Haß, dieser<br />
allgütige Gott? Wo is denn da die Güte? Und hat der die denn<br />
nich auch selbst gemacht, die Ungläubign? Das is doch alles<br />
unlogisch. Und auch unwürdig für so’n allerhöchstes Wesen!<br />
Oder?”<br />
“Yes, sir!” Der Schmied ist beeindruckt. “Güte und Niebe<br />
sind wichtig. Härte und Haß nur gegn Böses!”<br />
“Und was is das fürn Gott, der sein’n Sohn für die Sünden<br />
von andern ans Kreuz nageln läßt! Und der den da nich<br />
runterholt, wenn der das doch kann. Und was sind das für<br />
Kirchenfritzn, die so ein’n auch noch anbetn!”<br />
“Right!”<br />
“Ich sag ja, das is’n Komischer.” Der Festmacher zieht die<br />
Mundwinkel nach unten und nickt. “Und das is’n Zauberkünstler.<br />
Der offenbart sich mit links und versteckt sich mit<br />
rechts. Und das alles auf einmal.”<br />
“Jupp!” macht der Schmied. “Und wir soll’n den niebn und<br />
fürchtn. Und das auch annes auf einman.”<br />
Der Festmacher denkt nach. Dann sagt er: “Und die Kirchenfritzn?<br />
Die fordern Freiheit – Freiheit für ihr Gewissn,<br />
Freiheit für ihre Meinung, Freiheit für ihrn Glaubn. Aber<br />
selbst? Die duldn keine Freiheit! Ich sag dir, die sind genau<br />
wie Diktatoren. Nur sie habn recht. Alles andere is falsch. Was<br />
richtig is und was falsch is, das best<strong>im</strong>m’n sie. Ganz allein.<br />
Und weh dir, du bist andrer Meinung!”<br />
Der Schmied verzieht den Mund, daß die lange Narbe sich
windet. Mit geneigtem Kopf nach vorn starrend nickt er. Dann<br />
hebt er den Kopf und lehnt ihn zurück. “So isses.” Wieder<br />
nickt er. “Festmacher weiß <strong>im</strong>mer wo’s nang geht. Festmacher<br />
for President!”<br />
Buschkrieg<br />
Buschkrieg 89<br />
Die beiden haben den See erreicht. Ein Gebiet, das außerhalb<br />
ihres Reviers liegt, in das sie nur selten gehen, sozusagen<br />
nur <strong>im</strong> äußersten Notfall. Aber auch am See ist nichts los. Es<br />
ist kalt geworden. Und es hat zu nieseln begonnen. Das vertreibt<br />
ihr Wild. Sie gehen zurück in ihren Teil des <strong>Park</strong>s.<br />
Zunehmend verdrossen, drehen sie eine weitere Runde.<br />
Die Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche<br />
scheint leer zu sein. Aber in der Dunkelheit kann man das<br />
nicht so genau sehen. So gehen sie am Bach entlang. An der<br />
Stelle, wo der Bach am schmalsten ist, springen sie ans<br />
andere Ufer. Dann pirschen sie sich in weitem Bogen von hinten<br />
an die Bank. Jetzt haben sie den Trampelpfad erreicht,<br />
den der Festmacher <strong>im</strong>mer wieder in Ordnung bringen muß,<br />
weil der Gärtner ihm da <strong>im</strong>mer wieder ins Handwerk pfuscht.<br />
Der hat da sogar dornige Rosen gepflanzt!<br />
Vorsichtshalber holt der Festmacher die Taschenlampe<br />
hervor. Man weiß ja nie, was der Gärtner da wieder angestellt<br />
hat. ‘Hier hat der Arsch nix verlorn. Hier is unser Revier!’ Das<br />
hat der Festmacher nun schon oft gesagt. Auf der Taschenlampe<br />
klebt eine Kappe. Ein schmaler Schlitz läßt nur einen<br />
Sch<strong>im</strong>mer von Licht durch. Gerade genug für die scharfen<br />
Eulenaugen. “Was is das?” Am Ende des Pfades, nahe der<br />
Bank liegt etwas. Der Festmacher bückt sich. Da reißt ihn der<br />
Schmied zurück: “Das’s ‘ne Fanne! ‘Ne dicke fette Fanne! Laß<br />
man ‘n Fachmann ran, wa.”<br />
Der Schmied bricht einen Zweig von einem Busch. Vorsichtig<br />
nähert er sich damit der Falle. Und dann löst er mit dem
90 FREUNDE<br />
Zweig den gespannten Fallenmechanismus aus. Bbbenggg!!<br />
Mit großer Wucht schlagen die Eisenbacken aufeinander. Die<br />
ganze schwere Falle macht einen Luftsprung.<br />
“Mann, Mann, Mann!”, ruft der Festmacher. “Dies gottsverdammte<br />
Arschloch! Stellt da so’n Ding hin. Ohne Absperrung!”<br />
“Bis du sicher, daß das der Gärtner war?”<br />
“Klar war der das. Der kriegt sein Fett!”<br />
“Was winnst du tun?”<br />
“Das wirst du schon sehn. Ersmal schreib ich dem ‘n freundlichn<br />
Brief.”<br />
“ ‘N Brief?”<br />
“Hast du was zu schreibn?”<br />
“ ‘N Kugenschreiber, aber kein Papier.”<br />
“Such was! Geh du da lang. Ich geh Richtung Bank.”<br />
An der leeren Bank angekommen, sieht der Festmacher Papier.<br />
Mitten auf der Bank liegt es, darauf ein großer Stein.<br />
Und ein Manschettenknopf. Er legt den Stein beiseite. Dann<br />
ergreift er erneut die Taschenlampe und betrachtet staunend<br />
den Manschettenknopf. Er steckt ihn in die Hosentasche und<br />
wendet sich dem Blatt Papier zu. Darauf steht etwas geschrieben.<br />
Er liest.<br />
“Das geht in Ordnung”, sagt er und legt Papier, Manschettenknopf<br />
und Stein zurück auf die Bank.<br />
Nun setzt er die Papiersuche fort. Aber er findet nichts. So<br />
kehrt er zurück zur Falle. Dort wartet bereits der Schmied.<br />
“Kein Papier”, meldet der, “aber ‘n Stück Karton.”<br />
“Zeig her. Genau richtig. Den Schreiber!”<br />
Der Festmacher schreibt:<br />
Sie gefährden Tier und Mensch. Sie Unmensch!<br />
Er zwingt die Fallenbacken etwas auseinander und gibt<br />
seinem Freund einen Wink mit dem Kopf. Der schiebt das<br />
Kartonstück dazwischen. Langsam läßt der Festmacher die<br />
Eisenbacken wieder zusammenklappen.
“Der hat ja noch man Schwein gehabt.”<br />
“Denkst du. Jetzt geht’s zur Gärtnerei.”<br />
Dort angekommen, inspiziert der Festmacher den Fuhrpark.<br />
Seine Wahl fällt auf das Gärtnereifahrzeug. Er zieht sein großes<br />
Taschenmesser aus der Seitentasche seiner Hose, klappt<br />
die Schneide auf, arretiert sie und ... zack, zack, zack, sticht er<br />
in den linken Vorderreifen. Ppschschsch sackt das Fahrzeug<br />
nach vorne links ab. Dann n<strong>im</strong>mt er sich den linken Hinterreifen<br />
vor. Zack, zack, zack. Wiederum entweicht zischend die<br />
Luft. Jetzt hat das Fahrzeug eine abenteuerliche Schlagseite –<br />
und der Buschkrieg einen neuen Höhepunkt.<br />
Die beiden gehen zurück in ihr Revier. Nochmals drehen sie<br />
eine Runde.<br />
Nichts los. Gar nichts.<br />
“Ich mach fünfzehn. Bin totan kaputt. Tschüß.”<br />
Auch der Festmacher entschließt sich, nach Hause zu<br />
gehen. Auch er ist todmüde. Ihn wurmt das alles maßlos. Aufkommender<br />
Wind bläht seine Jacke, läßt sie flattern. Er greift<br />
zum Mützenschirm und zerrt ihn in die Stirn.<br />
“Du hast O-Beine!”, ruft er dem Schmied hinterher.<br />
Der hebt nur den linken Arm. Sieht sich nicht um.<br />
“So’n Rattenzirkus!”, sch<strong>im</strong>pft der Festmacher. “Wieder nix<br />
Reelles gehabt. Mann, Mann, Mann!!”<br />
4 WANDERER<br />
Kunst und Wissenschaft 91<br />
“In letzter Konsequenz ist<br />
alles Energie: Masse, Lebloses,<br />
Lebendes, Universum, Gott.”<br />
Kunst und Wissenschaft<br />
Weit draußen am See, auf der weißen Bank am Rande des<br />
verwaisten Bootsanlegers, sitzen zwei Männer. Seit langem
92 WANDERER<br />
wußten sie voneinander aus den Medien. Beide hatten auf<br />
eine Begegnung gehofft. Aber jeder hatte sich gescheut, den<br />
ersten Schritt zu tun. Als der Zufall sie gestern <strong>im</strong> <strong>Park</strong><br />
zusammenführte, stürzten sie sich geradezu aufeinander.<br />
Und schon bald begannen sie ein gehaltvolles Gespräch.<br />
Bevor sie sich am späten Abend trennten, verabredeten sie<br />
sich für den heutigen Tag zum Treff auf der weißen Bank: Der<br />
kahlköpfige Naturwissenschaftler, einfach und salopp<br />
angezogen, und der langhaarige Künstler, in sorgfältig<br />
zusammengestellter Kleidung – heller Sommeranzug,<br />
breitkrempiger weißer Hut und weiße handgefertigte Schuhe<br />
mit schwarzen Wappen auf dem Oberteil. Die Enden eines<br />
locker geknoteten weißen Seidenschals hängen über Brust<br />
und Rücken. Dünne Finger, an denen viele kostbare Ringe<br />
funkeln, umklammern den silbernen Griff eines weißen<br />
Handstocks. Im Verlauf des heutigen Gesprächs hat die Metallspitze<br />
des Stocks schon ein kleines Loch gebohrt in eine<br />
morsche Holzbohle zu seinen Füßen.<br />
Bei dem eleganten, hellgekleideten Herrn handelt es sich<br />
um den krummrückigen Zwerg, der sich mit einem barbarischen<br />
Riesen zu dunklen Abenteuern verabredet hat: den<br />
Maler. Sein neuer Schneider hat es vermocht, den Buckel des<br />
prominenten Kunden völlig unter einem Kunstwerk von<br />
sorgfältig in die Jacke eingearbeiteten Polsterungen verschwinden<br />
zu lassen. Auch die untersetzte Gestalt hat der<br />
Schneider kunstvoll verhüllt und optisch gestreckt.<br />
Schon bei seiner gestrigen Begegnung mit dem Physiker<br />
hatte der Maler mit tief dringendem Gespür Besonderes gelotet.<br />
Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Hoffnung, daß er <strong>im</strong> Hirn<br />
seines neuen Bekannten den Schlüssel finden könnte für die<br />
volle Entfaltung seiner künstlerischen Möglichkeiten und für<br />
eine Befriedung seines zerstrittenen Wesens.<br />
Sexuelle Anregungen in der Finsternis des nächtlichen<br />
<strong>Park</strong>s haben das Feuer seiner Sinneswelt neu entfacht, sein<br />
Genie aus grauer Erstarrung erlöst. Nun will er den elemen-
Kunst und Wissenschaft 93<br />
taren Emotionen aus den Tiefen seines Leibes Geistiges<br />
entgegensetzen. Er strebt einen Ausgleich an zwischen Leib<br />
und Kopf. Dabei soll ihm der Physiker helfen. Durch den will<br />
er sich Zugang verschaffen zu neuestem naturwissenschaftlichen<br />
und philosophischen Wissen, zu den letzten Wahrheiten<br />
und Weisheiten. Der Maler will das große Hirn anzapfen.<br />
Er weiß, der andere hat tief nachgedacht – als Physiker über<br />
Lebloses und als Biologe über Lebendes. Gezielt will er das<br />
fremde Wissen für die eigenen Zwecke nutzbar machen. Vorsichtig<br />
will er dabei vorgehen und geschickt, auf eine solche<br />
Weise, daß der andere seine wirklichen Absichten nicht wird<br />
erkennen können. Bis in die letzten Winkel des großen Hirns<br />
will er sich schleichen, ja bis in die fernsten Bereiche von<br />
Ahnungen und Visionen.<br />
Auch für den Physiker ist die neue Bekanntschaft ein<br />
besonderes Erlebnis. Seit Jahren hat er <strong>im</strong> <strong>Park</strong> – in den<br />
abgeschiedenen Teilen des Sees – nachgedacht über die<br />
Menschen, die Natur und Gott. Jetzt haben seine<br />
Vorstellungen eine Reife erlangt, die nach Mitteilung drängt.<br />
Für ihn ergibt sich hier die Möglichkeit, seine Erkenntnisse<br />
und Gedanken mit einem großen Geist aus einer anderen<br />
Sphäre der Menschenwelt zu erörtern: der Sphäre der Kunst.<br />
So kreuzen sich <strong>im</strong> <strong>Park</strong> die Lebenswege zweier Männer,<br />
die sich wie ungleichnamige Magneten mit der ganzen Kraft<br />
ihrer Verschiedenartigkeit gegenseitig anziehen. Große Geister<br />
sind sie und ständig auf der Suche: Nach den Grenzen<br />
ihrer Möglichkeiten; nach dem Sinn ihres Seins; nach den<br />
Dingen hinter den Dingen; nach den Kräften, die die Welt<br />
gebären, dirigieren und reifen lassen. Dem Physiker geht es<br />
dabei vor allem um die Sache, dem Maler vor allem um sich<br />
selbst.<br />
Auch heute haben die beiden wieder mit zunehmender<br />
Intensität und Tiefe diskutiert. Ihr Geist und ihre Phantasie<br />
sind aufs Höchste angeregt. Ihre Köpfe rauchen.
94 WANDERER<br />
Plötzlich durchzuckt den sensiblen Künstler ein unerklärliches<br />
Gefühl ernster innerer Bewegtheit. Etwas Fremdes<br />
zieht seinen Blick kraftvoll und unwiderstehlich in das Wasser<br />
zu seinen Füßen. Ihn schaudert. Es ist ihm, als sähe er auf<br />
einmal sein Leben vor sich, dort unten <strong>im</strong> klaren, kalten<br />
Wasser – als begegne er sich dort selbst. Eisig kriecht Gänsehaut<br />
über den Buckel. Fassungslos starrt er mit fahl werdendem<br />
Faltengesicht in den gefährlich-gehe<strong>im</strong>nisvoll lockenden<br />
See.<br />
“Ist Ihnen nicht wohl?” fragt der Physiker besorgt.<br />
“D … doch doch. – I … ich …” Mit vor Angst flatternden<br />
Sinnen beginnt der Bucklige plötzlich zu stottern. “E … es<br />
kam auf einmal eine ganz merkwürdige St<strong>im</strong>mung über mich.<br />
Völlig unerwartet. Aus heiterem H<strong>im</strong>mel.” Mit vereister St<strong>im</strong>me<br />
fügt er leise hinzu: “Wie eine schreckliche Vorahnung.” Der<br />
Maler schluckt. Er wendet sich hin und her auf der weißen<br />
Bank, als träfen ihn unsichtbare Peitschenhiebe. Langsam<br />
schwebt, noch <strong>im</strong> Schlierennebel ungewisser Formen, ein Bild<br />
empor aus dem Grün des tiefen Wassers. Allmählich gewinnt<br />
es Konturen und Farbe. Dann leuchtet es auf in all seiner<br />
Schönheit und in all seiner Bedrohlichkeit: das Bild des Engels!<br />
Der bezaubernde Mund lächelt, aber die traurigen<br />
Augen mahnen und drohen. Und jetzt flüstert auch der Mund<br />
Drohendes – etwas von Schuld und auch von Sühne.<br />
Alle Versuche des Künstlers, aus dem vom Engel Beherrschten<br />
zum Beherrscher des Engels zu werden, sind fehlgeschlagen.<br />
Er hat es nicht vermocht, den Engel zu einem Teil<br />
seines kreativen Könnens zu machen. Wie oft hat er nun<br />
schon vor leerer Leinwand gehockt; wie oft schon war seine<br />
Hand nach dem ersten Pinselstrich erstarrt!<br />
Der Maler hat starke äußere und innere Augen. Überhaupt<br />
ist er vor allem und zuallererst Auge. Das Auge aber, das<br />
äußere wie das innere, baut Bilder. Und das Bild ist mächtig.<br />
Für den Maler ist es mächtiger als das Wort, mächtiger als die<br />
Musik, mächtiger als der Geist. Für ihn ist das Bild vor allem
Kunst und Wissenschaft 95<br />
anderen. Es ist der Quell, aus dem sein Wesen sich formt.<br />
Mit aller Kraft reißt er sich los von dem Bild <strong>im</strong> Wasser. Erst<br />
nach einer ganzen Weile gelingt es ihm, die Gedanken wieder<br />
zu ordnen und zurückzuzwingen in das Gespräch: “W … was,<br />
was sagen Sie … zu meinen Ausführungen?”<br />
“Sie haben völlig recht. Kunst und Wissenschaft gehören<br />
zusammen, wenn es darum geht, die Welt mit all unseren<br />
Sinnen unmittelbar und intensiv zu erleben. Sowohl für die<br />
Kunst als auch für die Wissenschaft gilt: dem Kreativen gehört<br />
die Bühne. Wie Sie, so probiere auch ich mich <strong>im</strong>mer<br />
wieder aus, taste mich vor an meine Grenzen. Immer wieder<br />
exponiere ich mich Neuem, setze ich mich extremen Situationen<br />
aus. Gespannt beobachte ich dann, wie ich darauf reagiere,<br />
ob mir das weiterhilft bei meiner Suche nach einem<br />
besseren Verständnis der Welt in mir und um mich. Und <strong>im</strong>mer<br />
wieder bedrängt mich dabei die Frage: Was eigentlich<br />
verbirgt sich hinter dem, was ich sehe, was hinter dem, was<br />
ich fühle?”<br />
Noch <strong>im</strong>mer starrt der Maler in das Wasser vor und unter<br />
sich. Abrupt ruft er: “D … darf ich Sie zu einer Tasse Tee<br />
einladen?”<br />
“Gern.”<br />
Nach einer stummen Wanderung erreichen die beiden das<br />
Waldschloß. Rasch öffnet der Maler die Tür und strebt, mit<br />
federnden Schritten dem anderen davonlaufend, einem für<br />
besondere Gäste reservierten Nebenraum zu. Erst nachdem<br />
er dessen Tür hinter dem überrascht hinterdrein eilenden<br />
Physiker geschlossen hat, fühlt er sich wieder sicher. Aufatmend<br />
läßt er sich in einen der drei buntgepolsterten Korbsessel<br />
fallen. Bei dem diskret eintretenden Kellner bestellt er<br />
zwei Portionen schwarzen Tee.<br />
Und dann stürzen sich Künstler und Wissenschaftler geradezu<br />
hungrig in die Fortführung ihres Gesprächs. “Mich”,<br />
sagt der Physiker, “hat unser Thema, Kunst und Wissenschaft,<br />
schon seit langem beschäftigt.” Mit Daumen und Fin-
96 WANDERER<br />
gern umklammert er sein eckiges Kinn und gewährt den<br />
Gedanken einen Exkurs in die Vergangenheit. Schweigend<br />
streicht er über den kahlen Schädel. Auf völlig haarloser Haut<br />
glänzt dünner Schweiß unter den Strahlen der Hängelampe.<br />
“Als ich gestern abend, noch ganz eingefangen von unserem<br />
Gespräch, nach Hause kam, da passierte etwas Merkwürdiges.<br />
Ich öffnete die Tür zu meinem Wohnz<strong>im</strong>mer, und da<br />
sprang mir, in des Wortes ureigenster Bedeutung, ein Bild<br />
entgegen. Viele Jahre hatte es unbeachtet an der Wand neben<br />
meinem Kamin gehangen. Aber jetzt, auf einmal, hatte es<br />
seine alte feurige Faszination zurückgewonnen.” Er schiebt<br />
die Brille hoch und macht eine Pause. Man sieht ihm an, daß<br />
seine Gedanken eine weite Reise antreten. “Mit diesem Bild<br />
hat es eine besondere Bewandtnis.”<br />
“Ach, ja?”<br />
“Und diese Bewandtnis hat eine enge Beziehung zu unserem<br />
Thema.”<br />
“Sie machen mich neugierig!” Nur flüchtig nickt der Maler<br />
dem Kellner zu, der jetzt den Tee bringt. “Bitte spannen sie<br />
mich nicht auf die Folter!”<br />
“Vor drei Jahrzehnten habe ich an einem Physikerkongreß<br />
in Paris teilgenommen. Ein großer, ein großartiger Kongreß!<br />
Ich war ein blutjunger Wissenschaftler. Für mich wurde der<br />
Kongreß zu einem Schlüsselerlebnis. Ich war begeistert von<br />
den neuen Erkenntnissen, die dort vorgetragen wurden. Bis<br />
tief in die Nacht hinein haben wir darüber mit Feuereifer diskutiert.<br />
In unseren erhitzten Köpfen feierten die Fortschritte<br />
der Wissenschaft glanzvolle Triumphe. Was waren das für<br />
phantastische Möglichkeiten, die uns eine Anwendung der<br />
neuen Methoden erschließen würden!<br />
Und dann passierte es. Ich lernte eine junge, hübsche Rumänin<br />
kennen: dunkelhaarig, mit einer faszinierenden Figur.<br />
Sie war Malerin.”<br />
“Oho! Schon damals Physik und Malerei!” lacht der Maler<br />
und lehnt sich zurück in seinen Sessel. “Freilich”, schmunzelt
Kunst und Wissenschaft 97<br />
er, “da endet der Vergleich. Ihre damalige Bekannte war unendlich<br />
viel attraktiver als Ihr heutiger Gesprächspartner.”<br />
“Das kommt auf die Perspektive an. Aber ich leugne nicht,<br />
daß das Weibliche seine besonderen Reize hat.” Versonnen<br />
lächelt der Physiker vor sich hin. Dann sagt er: “Da ich großes<br />
<strong>Inter</strong>esse an den Arbeiten der Rumänin hatte – korrekter<br />
gesagt, zu diesem Zeitpunkt vorgab zu haben – lud sie mich<br />
für den nächsten Abend in ihre Wohnung ein. Dort wollte sie<br />
mir ihre Arbeiten zeigen.”<br />
“Sie machen mich wirklich neugierig!”<br />
“Ich kann Ihnen sagen! So was hatte ich noch nie erlebt. In<br />
dem kleinen, einzigen Z<strong>im</strong>mer der Rumänin war alles, aber<br />
auch alles vollgestellt, in dem wildesten Durcheinander, mit<br />
Kisten, Kochtöpfen, Tellern, Tassen, Farbtöpfen, Pinseln,<br />
leeren Leinwänden, Ölbildern, Schuhen, Röcken, Blechdosen,<br />
Blusen. Nur zwei wackelige Stühle und eine zerwühlte,<br />
durchgelegene Couch erinnerten daran, daß hier auch<br />
gewohnt wurde. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Die<br />
Gastgeberin rührte das überhaupt nicht. Fröhlich fragte sie –<br />
ohne meinen Schock auch nur <strong>im</strong> mindesten zur Kenntnis zu<br />
nehmen: ‘Trinken wir eine Flasche Rotwein?’<br />
‘Jjj … ja’, stotterte ich.<br />
Da nahm sie mehrere Töpfe, einen Plattenspieler und eine<br />
Bratpfanne, an der noch die Überreste der letzten Malzeit zu<br />
erkennen waren, von einer großen alten Kiste. Hob deren<br />
Deckel in die Höhe und kramte darin herum mit tief gebeugtem<br />
Kopf und hängenden schwarzen Haaren. Schließlich förderte<br />
sie eine Flasche und zwei Gläser zu Tage. Mit den<br />
Zähnen zog sie den Korken. Dann schenkte sie ein, reichte mir<br />
ein Glas und prostete mir zu.<br />
Der Wein schmeckte vorzüglich. Das sagte ich ihr. ‘Pr<strong>im</strong>a’,<br />
meinte sie. Und dann sagte sie, mit dem rechten Arm ausholend,<br />
‘und nun wollen wir uns mal meine Arbeiten ansehen.<br />
Das Z<strong>im</strong>mer ist zu klein. Die Bilder brauchen Abstand, Perspektive.<br />
Darum haben mein Freund, er wohnt nebenan, und
98 WANDERER<br />
ich einen breiten Durchgang durch die Wand geschlagen. Als<br />
der Hauswirt gerademal nicht da war. Vor drei Jahren.’<br />
Sie begann damit, einen großen alten Teppich, der mit zahlreichen<br />
angenähten Ösen an ebensovielen kräftigen Wandhaken<br />
befestigt war, Öse für Öse aus den Haken zu heben, bis<br />
er vollends zu Boden gesunken war. Dann zog sie ihn beiseite.<br />
Jetzt blickten wir durch das riesige Loch in der Mauer auf<br />
die Rückseite eines ähnlichen Teppichs, der den Durchgang<br />
von der anderen Seite, also vom Z<strong>im</strong>mer ihres Freundes<br />
her, verdeckte. Mit diesem Teppich verfuhr sie auf die gleiche<br />
Weise. Sie ging hinüber in das andere Z<strong>im</strong>mer. Für einen<br />
Augenblick war sie meinen Blicken entschwunden. Dann erstrahlten,<br />
in gleißendem Scheinwerferlicht, an der gegenüberliegenden<br />
Wand neun Ölbilder. Sofort beeindruckten<br />
mich diese Bilder sehr stark. Ich konnte weder sagen wodurch<br />
noch warum. Die Bilder machten, jedenfalls für mich, keinerlei<br />
Sinn. Aber alle waren in ihrer Figuration, ihrer Farbkomposition<br />
und in ihrer Flächenaufteilung absolut faszinierend.<br />
Die Rumänin stand <strong>im</strong> hellen Licht neben ihren<br />
Werken.<br />
Ich sagte ihr, daß ich die Bilder überwältigend eindrucksvoll<br />
fände. Da entblößte ein strahlendes Lächeln ihre schneeweißen,<br />
<strong>im</strong> Licht der Scheinwerfer blitzenden Zähne. ‘Es freut<br />
mich’, sagte sie, ‘daß meine Arbeiten Ihnen gefallen.’ Sie ging<br />
von einem Bild zum anderen und erläuterte Einzelheiten.<br />
‘Wie machen Sie das?’ fragte ich.<br />
‘Das sag ich nicht! Das hat ja auch mit unserem Thema<br />
nichts zu tun. Sie haben gestern abend behauptet, daß nur die<br />
Wissenschaft dem Kern der Dinge nahe kommen kann. Ich<br />
aber sage Ihnen, wenn ich diese Bilder erschaffe, wenn ich sie<br />
sehe, dann habe ich Empfindungen, die mir keine Wissenschaft<br />
vermitteln kann. Während ich male und ganz besonders<br />
am Ende – wenn alles richtig ist, alles st<strong>im</strong>mt – fühle ich<br />
mich der Schöpfung, meinem tiefstinneren Wesen, meinem<br />
Gott so nahe, wie mir das kein anderes Erlebnis je ermöglicht
Kunst und Wissenschaft 99<br />
hat. Ich habe gedichtet, musiziert und als Biologin drei Jahre<br />
lang wissenschaftlich gearbeitet. All das hält überhaupt keinen<br />
Vergleich aus mit dem Erlebnis des Malens, mit diesem<br />
einmaligen Mich-Selbst-Erfahren, das mir aus dem Erschaffen<br />
meiner Bilder erwächst. Diese visuelle und emotionale<br />
Urkraft! Diese Wucht der Farben, diese Gewalt der Formen!<br />
Dieser vibrierende Aufruhr bis in meine verborgensten Tiefen!<br />
Ich sage Ihnen’, fuhr sie fort, ‘ihr Wissenschaftler seid arme<br />
Wichte. Ihr seht <strong>im</strong>mer nur einen winzigen Ausschnitt von<br />
dem, was wir Menschen mit unseren Sinnen erfahren können.<br />
Ihr seid Nachtwandler. Mit einer Taschenlampe in der Hand,<br />
seht ihr nur einen kleinen Auschnitt aus einer gewaltigen<br />
Szene. Wir Künstler aber, insbesondere wir Maler, wir sind<br />
Sonnenkinder, wir können, wenn alles st<strong>im</strong>mt, eine Landschaft<br />
sehen – eine Landschaft von unerhörter Leuchtkraft, von<br />
überwältigender Schönheit und von riesigen D<strong>im</strong>ensionen, bis<br />
hin zum Herrgott.’<br />
Abermals war ich beeindruckt und sprachlos.<br />
Dann versuchte ich, der Rumänin klar zu machen, daß die<br />
Wissenschaft allgemeinverbindliche, nachprüfbare und reproduzierbare<br />
Erkenntnisse zu gewinnen vermag. Erkenntnisse,<br />
auf denen ganze Weltbilder aufgebaut worden sind, auf denen<br />
letztlich unsere Gesellschaftsordnung basiert. Erkenntnisse,<br />
die unser heutiges Leben, unsere Kultur, Medizin, Technik,<br />
Ernährungsgrundlage und, und, und – überhaupt erst ermöglicht<br />
haben. Erkenntnisse, die …<br />
‘Ja natürlich’, unterbrach sie mich. ‘Auch mein Radio, mein<br />
Auto, meine Farben … all das wäre ohne Wissenschaft nicht<br />
möglich.’ Sie verteilte den Rest des Rotweins auf unsere<br />
Gläser. ‘Aber mich kümmert das wenig. Ich suche etwas ganz<br />
anderes. Ich suche mich! Ich will mich, mich ganz persönlich,<br />
erfahren – mich, als einen einmaligen Wurf der Schöpfung.<br />
Und ich will mich in direkte Beziehung bringen zu dieser<br />
Schöpfung. Ich will wissen, wo meine ganz persönlichen Mög-
100 WANDERER<br />
lichkeiten liegen. Ich will meine ganz persönlichen Eigenarten<br />
erforschen, meine ganz persönlichen Reaktionen und Empfindungen<br />
austesten und auskosten. Das geht nicht mit dem Verstand<br />
allein, das braucht den ganzen Menschen, mit all seinen<br />
Sinnen, all seinem Herzen und all seiner Seele.’<br />
Sie schaltete die Scheinwerfer aus. Dann nahm sie einen<br />
großen Schluck Rotwein zu sich, bewegte den Wein <strong>im</strong> Mund<br />
herum und ließ ihn in kleinen Portionen über die Zunge gleiten.<br />
‘Ich will meinen Schöpfer fühlen!’, fuhr sie fort. ‘Ich weiß, ich<br />
kann ihn nicht begreifen, also will ich ihn fühlen, empfinden,<br />
mit jeder Zelle meines Körpers. Und das kann ich nur, wenn<br />
ich male, und auch nur dann, wenn ich so male, wie ich male.<br />
Früher’, sie kramte unter einem Stapel von Sperrmüll –<br />
anders kann ich das wirklich nicht bezeichnen – bemalte Leinwände<br />
hervor: wunderbare Landschaften, Akte, Portraits.<br />
Gekonnt gemalt, jedenfalls nach meiner Laienmeinung. ‘Früher,<br />
da hab ich so was gemacht. Genügt mir nicht mehr.<br />
Zündet keinen Funken mehr.’<br />
Vor sich hinblickend, strich sie sich Haar aus der Stirn. ‘In<br />
meinen Bildern fange und banne ich den absoluten Höhepunkt<br />
meiner Erlebnisfähigkeit. Be<strong>im</strong> Malen taste ich mich<br />
vor an die Grenzen dessen, was Menschen überhaupt<br />
erfahren können. Ein gelungenes Bild reicht weit hinaus über<br />
den Augenblick.’ Sie schüttelte langsam den Kopf. ‘Unsere<br />
tiefsten Gefühle lassen sich nicht analysieren, nicht einmal<br />
beschreiben. Wir können sie nur erleben, empfinden und<br />
sehen, in inneren und äußeren Bildern’.<br />
Die Rotweinflasche war jetzt leer. Ohne mich zu fragen holte<br />
sie eine zweite Flasche aus der alten Kiste. Als auch die leer<br />
war, hatte unser Gespräch eine Tiefe erreicht, die mich erschütterte.<br />
Und dann fragte ich sie doch noch einmal: ‘Wie machen Sie<br />
das? Wie malen Sie Ihre Bilder?’<br />
Sie sah mich an, als wollte sie sagen: Sie sind ja ein ganz
Kunst und Wissenschaft 101<br />
Schl<strong>im</strong>mer! Ich hab Ihnen doch schon gesagt, das sag ich<br />
nicht. Aber dann bewirkte der Wein doch ein Wunder. Plötzlich<br />
kniff sie kokett ein Auge zu, stand auf und sagte: ‘Ich mag<br />
dich, du komischer Physiker.’ Sie räumte den Fußboden ab,<br />
legte eine große leere Leinwand darauf und beschwerte sie an<br />
jeder Ecke mit einem Stein. Dann sagte sie: ‘Und weil ich dich<br />
mag, laß ich dich jetzt einen Blick tun hinter die Kulissen, einen<br />
Blick tief in meine Malerseele.’<br />
Sie verschloß die Tür, auch die nebenan, <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer ihres<br />
Freundes. ‘Das ist absolut notwendig, ich muß das sichere<br />
Gefühl haben, allein zu sein, nicht gestört zu werden. Und<br />
du’, sagte sie und hob warnend den Zeigefinger, ‘du setzt dich<br />
jetzt da hinten in die dunkle Ecke auf den Boden. Und wenn<br />
du dich bewegst oder auch nur hustest oder dich räusperst,<br />
dann ist alles zuende. Dann höre ich sofort auf. Schluß. Aus.<br />
Vorbei!’<br />
Als ich aus ihrem unmittelbaren Blickfeld verschwunden<br />
war, mit angezogenen Knien in der dunklen Ecke auf dem<br />
Boden hockte, brachte sie Töpfe herbei mit Ölfarben. Sorgfältig<br />
überlegend, verteilte sie die Töpfe um die Leinwand herum.<br />
Sie legte Platten auf. Ganz merkwürdige, rhythmische, allmählich<br />
<strong>im</strong>mer schneller und <strong>im</strong>mer lauter werdende Musik.<br />
Vielleicht indisch. Sie zündete zahlreiche Kerzen an und<br />
löschte das elektrische Licht. Dann zog sie sich aus. Splitterfasernackt.<br />
Langsam ging sie um die Leinwand herum. Zunächst<br />
stockend, <strong>im</strong>mer wieder pausierend, dann schneller, <strong>im</strong>mer<br />
schwungvoller. Schließlich tanzte sie <strong>im</strong> Takt der<br />
fremdartigen Musik. Plötzlich bückte sie sich. Griff mit beiden<br />
Händen in einen der Farbtöpfe und knetete die breiig-flüssige<br />
Farbmasse. Und dann, etwas in die Knie gehend, so wie einer,<br />
der kegelt, schleuderte sie, erst mit der Rechten, dann mit der<br />
Linken, kllatsch, kllatsch, Farben in verschiedene Richtungen<br />
über die Leinwand. Immer rascher, <strong>im</strong>mer ekstatischer sprang<br />
sie von Topf zu Topf, warf in wechselnde Richtungen, klllattsch,
102 WANDERER<br />
klllatttschsch, Farbmasse nach Farbmasse. In wildem Durcheinander<br />
und Übereinander begannen die Ölfarben Schichten<br />
und Hügel zu bilden. Das ging so eine ganze Weile. Dabei geriet<br />
sie zunehmend in einen Zustand äußerster Erregtheit, ja<br />
Besessenheit.<br />
Und dann! Dann nahm sie ein großes, in wilden Kurven gebogenes<br />
Bandeisen von der Wand, stürzte sich damit auf die<br />
Leinwand und begann, <strong>im</strong> Farbbrei kniend, das Bandeisen<br />
kreuz und quer und quer und kreuz zu schieben, hin und her<br />
und her und hin. Zwischendurch machte sie <strong>im</strong>mer wieder<br />
eine Pause und betrachtete das Ergebnis. Dann ging es wieder<br />
weiter. Plötzlich hielt sie inne. Schrie markerschütternd!!<br />
Sackte in sich zusammen. Ihr nackter Körper, in wildem<br />
Durcheinander mit Farbspritzern bekleckert, lag zuckend neben<br />
der Leinwand. Dann schob sie sich zitternd und erschöpft<br />
rückwärts und verschwand schließlich <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer ihres<br />
Freundes.<br />
Ich hockte da, in der dunklen Ecke, und starrte vor mich<br />
hin. Mein Blick sog sich fest an der Leinwand. Ich war wie<br />
gelähmt. Mein Kopf war unendlich schwer. Es stank<br />
fürchterlich nach Öl und nach anderen Dingen, die ich nicht<br />
kannte. Der Raum war irrsinnig leer, nachdem die Rumänin<br />
ihn verlassen hatte. Ganz langsam gewann das, was ich da<br />
vor mir sah, eine andere Qualität. Der Plattenspieler hatte<br />
aufgehört, den Raum mit seinen Rhythmen zu peitschen. Die<br />
flackernden Kerzen warfen stumme, huschende Muster aus<br />
Licht und Schatten über eine unwirkliche, eine phantastische<br />
Szene. Alles erschien mir plötzlich fremd und gespenstisch.<br />
Ich war wie hypnotisiert. – Unmerklich verging die Zeit.<br />
In die unendliche Stille meiner Verlorenheit drängte sich<br />
das Geräusch klirrenden Porzellans. Und dann stand die<br />
Rumänin <strong>im</strong> Mauerdurchbruch, lustig anzusehen in ihrem<br />
bunten Kleid und dem weißen, mit roten Punkten übersäten<br />
Tuch über ihren Schultern. Sie duftete nach Frische, und sie<br />
trug ein Tablett mit Kaffee, französischem Langbrot und
Kunst und Wissenschaft 103<br />
Käse. Sie öffnete das Fenster. Die hereinströmende Nachtluft<br />
tat mir gut. Sie schenkte Kaffee ein. Wir tranken und aßen.<br />
Schweigend.<br />
Dann sagte sie ganz ruhig: ‘Siehst du, so mach ich das. Von<br />
zehn Bildern, die so entstehen, werfe ich später neun weg. Sie<br />
genügen nach genauerem Hinsehen und kritischer Bewertung<br />
nicht meinen Ansprüchen. Leinwand und Farben sind teuer.<br />
So komme ich nie auf einen grünen Zweig, auch wenn ich jetzt<br />
schon ganz gut verkaufe.’<br />
Und dann sagte sie noch einmal: ‘Du hast es nun gesehen.’<br />
‘Ja’, sagte ich. ‘Das hat mich sehr beeindruckt … Mir war<br />
als hattest du am Ende einen Orgasmus.’<br />
‘Natürlich!’ rief sie. ‘Das ist ein emotionaler Vulkanausbruch.<br />
Genauso wie wenn man Liebe macht. Aber das kommt<br />
mehr aus der Höhe als aus der Tiefe.’ Sie sah mich an. ‘Das<br />
läuft auf einer anderen Ebene, in einer anderen Landschaft.’<br />
Und dann haben wir Liebe gemacht, die ganze Nacht. Es<br />
war wundervoll. Zwischendurch habe ich gefragt: ‘Was ist,<br />
wenn dein Freund uns überrascht?’<br />
‘Wieso?’ hat sie zurück gefragt, ‘er ist doch mein Freund, er<br />
liebt mich doch. Also freut er sich, wenn ich glücklich bin. Eifersucht<br />
kennen wir nicht. Aber eine Liebe, von der andere<br />
nur träumen können.’<br />
Am nächsten Morgen hat mir die Rumänin zum Abschied<br />
ein Bild geschenkt. Ich habe es rahmen lassen. Es hängt neben<br />
dem Kamin in meinem Wohnz<strong>im</strong>mer.”<br />
Lange verharrt der Künstler stumm <strong>im</strong> Korbsessel, mit vorgeneigtem<br />
Oberkörper und aufeinander gepreßten Wulstlippen.<br />
Dann schiebt er die Unterlippe vor und nickt. Gedankenverloren<br />
streicht er über lange schwarze Haare. Steifrückig<br />
richtet er sich auf und wendet das Gesicht dem<br />
Wissenschaftler zu: “Die Rumänin kann ich gut verstehen. Ich<br />
male zwar auf eine andere Art, aber vieles von dem, was sie<br />
fühlt, das empfinde auch ich. Und vieles von dem, was sie ge-
104 WANDERER<br />
sagt hat, das sehe ich ganz ähnlich … Und ich hätte das nicht<br />
besser sagen können.”<br />
Der Maler betrachtet seine grazilen, ringverwöhnten Finger.<br />
“Freilich”, sagt er dabei, “Kunst und Wissenschaft sind<br />
zwei verwandte Seiten unseres Wesens. Erst gemeinsam ermöglichen<br />
sie uns, weit vorzudringen in das, was in und um<br />
uns ist.”<br />
Wenig später wandern Künstler und Wissenschaftler den<br />
Pfad entlang, der an seinem Ende einmündet in den großen<br />
Rundweg um den See. Listig flüstert der Maler, und tut dabei<br />
so, als spräche er zu sich selbst: “Ich wünschte mir, ich hätte<br />
wie die Rumänin eine Ausbildung in den Wissenschaften genossen.<br />
So muß ich versuchen, mein Weltverständnis mit dem<br />
Wissen anderer zu vervollkommnen.” Als der Physiker nichts<br />
sagt, überlegt er, wie er es am besten anstellen könnte, tief in<br />
das Hirn des anderen vorzudringen.<br />
Mit einem Ruck bleibt er stehen und dreht sich etwas in<br />
der Hüfte. Aus schräggestellten Augen sieht er den Größeren<br />
von unten her an. Mit gezielter Nachdrücklichkeit sagt er,<br />
seine Worte sorgfältig wählend: “Sie sind ein in allen Kulturnationen<br />
hochgeachteter Physiker, Biologe und Philosoph. Ich<br />
weiß, daß Sie über die Welt viel und intensiv nachgedacht<br />
haben.” Er fixiert den silbernen Handgriff des am Schaft emporgehobenen<br />
Spazierstocks. “Ich wäre Ihnen außerordentlich<br />
dankbar, wenn ich da einmal hinter Ihre Kulissen sehen<br />
dürfte. Wenn Sie mir, wie das die Rumänin für Sie getan hat,<br />
einen Blick tief in Ihre Wissenschaflerseele eröffnen würden.”<br />
Er läßt den Handstock durch seine locker geschlossene Hand<br />
zügig nach unten gleiten, fängt ihn am Griff und stößt die<br />
Stockspitze in den Boden. “Wenn Sie mir offen darlegen<br />
würden, wie Sie, Sie ganz persönlich, den Menschen sehen,<br />
das Universum und Gott.”<br />
“Das ist eine weite Wanderung, eine abenteuerliche Expedition!<br />
Da gibt es wenige fundierte Antworten, weite Wissenslücken<br />
und riesige Wissenswüsten. Da gibt es Hypothesen
Kunst und Wissenschaft 105<br />
und gewagte Visionen.”<br />
“Werden Sie dennoch meine Bitte erfüllen? Das bedeutet<br />
unendlich viel für mich!”<br />
“Ja”, sagt der Physiker.<br />
Der Maler triumphiert. Er ist auf dem Wege! Er wird das<br />
fremde Hirn aussaugen. Er wird es sich nutzbar machen!<br />
Der Physiker spürt die Erregung des anderen. Aber er mißdeutet<br />
dessen Absicht. “So große Themen erfordern Zeit für<br />
eine angemessene Erörterung.”<br />
“Ich habe Zeit!” ruft der Maler. “Ich nehme mir Zeit, alle<br />
Zeit, die wir benötigen. Sie ahnen nicht, was das für mich bedeutet.”<br />
“So manches Bild hinter den Kulissen wird Sie überraschen.<br />
Und so mancher Blick in meine Wissenschaftlerseele wird Sie<br />
erschrecken.”<br />
“Ich denke mir mal”, grinst der Maler, “ich werde den Mut<br />
aufbringen, mich erschrecken zu lassen! – Gehen wir ganz um<br />
den See herum?”<br />
“Ja.”<br />
In der Absicht, das Auskundschaften des Physikerhirns<br />
sorgfältig vorzubereiten, sagt der Maler: “Zunächst einmal<br />
habe ich da eine grundsätzliche Frage.”<br />
“Nämlich?”<br />
“Wie funktioniert und was will Wissenschaft?”<br />
Da der Physiker nicht sogleich antwortet, sagt der Maler:<br />
“Bei uns in den visuellen Künsten gibt es drei Grundfaktoren:<br />
das schöpferische Gestalten erlebter Gefühle und<br />
Erfahrungsinhalte durch den Künstler, die Macht des Kunsthandels,<br />
der durch sein Trendsetting und seine Geschäftsinteressen<br />
maßgebliche Akzente setzt, und die ‘Verbraucher’:<br />
Staat, Kirche, Wohlhabende. Die Bewertung der Leistung<br />
eines Künstlers ist letztlich eine Kombination aus diesen drei<br />
Faktoren. Eine allgemeinverbindliche Geschmacksnorm gibt<br />
es nicht.”<br />
Als der Physiker nichts sagt, fährt der Maler fort: “Große
106 WANDERER<br />
Kunst gebiert Ehrfurcht und Staunen – über die Großartigkeit<br />
der Natur und ihres Schöpfers. Sie läßt den Beschauer<br />
nachdenken über die Vergänglichkeit des Menschen und seiner<br />
Werke. So wird der Künstler zum Künder seiner Zeit und<br />
zum Deuter der Schöpfung. Von allem Menschlichen kommt<br />
große Kunst dem Wesen Gottes am nächsten. Kleine Kunst<br />
dagegen wird nicht selten durch Betrüger groß in Szene gesetzt.<br />
Mit glasharten Verdummungskampagnen und geschickten<br />
Werbe- und Verkaufsstrategien machen Scharlatane auf<br />
diese Weise vermutliche Kunst zur Spekulationsware und<br />
verdienen daran Millionen.”<br />
Der Physiker bleibt stumm. Da fügt der Maler hinzu: “Dem<br />
Künstler, der von seiner Kunst leben will, weht der Wind hart<br />
ins Gesicht. Nur der überlebt, der in den Augen der Betrachter<br />
bestehen kann. Der Mittelmäßige muß darben, der Schwache<br />
sterben.”<br />
“Ein weites Feld”, sagt der Physiker.<br />
“Freilich. Kunst reicht von Malerei über Tanz, Theater, Film,<br />
Literatur bis hin zur Musik. Hier manifestiert sich die Vielgesichtigkeit<br />
der menschlichen Seele.”<br />
“Was ist für Sie der Kern von Kunst und Wissenschaft?”<br />
“Beide lieben den Geist des <strong>Suchen</strong>s”, antwortet der Maler.<br />
“Aber beide suchen auf verschiedene Weise. Kunst sucht<br />
nach individuellen Formen der Wahrnehmung und deren Umsetzung,<br />
Wissenschaft nach allgemeinverbindlichen Tatsachen<br />
und Theorien.”<br />
“Kunst und Kitsch – wo liegt der Unterschied?”<br />
“Da spielt die eigene Sicht eine Rolle, der eigene<br />
Geschmack. Eine formale Unterscheidung gibt es nicht.” Der<br />
Maler überlegt, dann sagt er: “Kunst ist ein Ergebnis starker<br />
emotionaler Kräfte, Kitsch ein Produkt oberflächlicher, oft<br />
kommerziell gefärbter Planungen.”<br />
“Mehr vorgetäuschte Tiefgründigkeit?”<br />
“Freilich! Kitsch ist der Versuch, mit s<strong>im</strong>plen Mitteln oder<br />
grobem Abklatsch Bewunderung oder Rührung zu erzeugen.
Kunst und Wissenschaft 107<br />
Kitsch ist wertlos – vor allem in den Augen der Künstler. Das<br />
breite Publikum ist da oft weniger kritisch.”<br />
“Woher kommt Kunst?”<br />
“Aus der Seele, aus dem Bauch. In ihren Wurzeln ist Kunst<br />
verwandt mit Religion, in ihrem Wirken mit Träumen. Wenn<br />
ich male, versuche ich, einen traumartigen Zustand herbeizuführen.<br />
So kann ich das kontrollierende, zensierende Bewußtsein<br />
einschläfern. Wenn das Bewußtsein schläft, vermag<br />
sich das Unterbewußte zu entfalten. Dann kann die Phantasie<br />
wilde, bunte Blüten treiben. – Was ist Kunst für Sie?”<br />
“Schöpfungen menschlicher Individuen, die Teilen ihrer Erlebniswelt<br />
Bedeutung, Wert und Tiefe verleihen. Kunst versinnbildlicht<br />
ein Gefühl, eine Erfahrung, eine Idee.”<br />
Der Maler nickt. “In der Kunst ist die Kreativität des Individuums,<br />
die aus seinem Innersten hervordrängende Einbildungs-<br />
und Ausdruckskraft, in hohem Maße auf sich selbst<br />
gestellt.”<br />
“Und was ist mit der Muse?” lächelt der Physiker.<br />
“Ohne Anregung läuft nichts. Jedenfalls nicht bei mir. Da<br />
stirbt der schöpferische Elan. Bei mir beginnt alles mit einer<br />
Anregung. Dann folgt deren innere Umsetzung. Wenn ich dabei<br />
Erfolg habe, wirkt alles wieder nach außen. Dann wachse<br />
ich meinem Schöpfer entgegen. Kunst schöpft und zeugt <strong>im</strong><br />
Menschen durch Gottes Geist.”<br />
“Dann ist ein Kunstwerk für Sie also eine Art …”<br />
“Ein Kunstwerk ist für mich ein Symbol, ein Bedeutungsträger.<br />
Ich denke mir mal, es ist oft auch so etwas wie eine<br />
gehe<strong>im</strong>nisvolle Botschaft.” Nach längerem Schweigen sagt der<br />
Maler: “Kunst und Kunstbetrachtung geben sich ihre eigenen<br />
Gesetze. Kunst kennt keine Verantwortung. Ich grüble nicht<br />
darüber, ob mein Malen Folgen hat für das Handeln, Wohlergehen<br />
oder Leiden anderer.”<br />
Als der Physiker wiederum schweigt, bohrt der Maler nach:<br />
“Wie also funktioniert und was will Wissenschaft?”<br />
“Wie in der Kunst, so dominiert auch in der Wissenschaft
108 WANDERER<br />
die Leistung des Einzelnen.”<br />
“Freilich! Künstler und Wissenschaftler erleben die Welt als<br />
Individuen. Sie sind Seele und Auge der Menschheit. Ein<br />
Staat, der Kunst und Wissenschaft ausreichende Förderung<br />
und Freiheit versagt, läßt Humanes verdorren und erblinden.”<br />
“Wissenschaftliche Informationen”, fährt der Physiker fort,<br />
“werden zwar in Individuen geboren, in Solisten. Aber Wissenschaft<br />
wird, wächst und reift erst <strong>im</strong> Orchester. Wenn ein<br />
Forscher Ergebnisse vorlegt, Ideen gebiert oder Theorien<br />
formuliert, dann können diese falsch sein und daher wertlos,<br />
gewisses Gewicht besitzen oder große Bedeutung. In keinem<br />
Fall aber sind sie schon Wissenschaft. Um Teil der Wissenschaft<br />
zu werden, muß das Erkannte der kritischen Überprüfung<br />
zugänglich sein, sich mit konkurrierendem Gedankengut<br />
messen und – meist nach Veränderungen – eingebaut<br />
werden in das Gesamtgebäude wissenschaftlicher Erkenntnisse.”<br />
Der Maler nickt.<br />
“Wie in der Kunst, kann Ansehen in der Wissenschaft weder<br />
vererbt noch verliehen werden.”<br />
“Das gilt offensichtlich für alle Wissenschaften.”<br />
“Ja, aber ich will mich hier auf die Naturwissenschaften<br />
beschränken. Sie liegen mir näher. In den Geistes-, Rechts-,<br />
Wirtschafts- oder Politikwissenschaften liegen die Akzente<br />
anders. Da gibt es besondere Bezogenheiten: kulturelle, nationale,<br />
regionale.”<br />
“Wovon gehen die Naturwissenschaften aus?”<br />
“Von der Annahme, daß das Weltgeschehen, jedenfalls<br />
teilweise, vom Menschen erkennbar und beschreibbar ist.”<br />
“Woraus erwächst das Wertesystem der Wissenschaft?”<br />
“Das von allen Naturwissenschaftlern anerkannte System<br />
der Werte erwächst aus dem Bemühen, Ordnung und Gesetzmäßigkeit<br />
in und um uns vorurteilsfrei zu erforschen, gedanklich<br />
zu durchdringen und zu beschreiben, und zwar unter Anwendung<br />
anerkannter Methoden der Nachprüfbarkeit.”
Kunst und Wissenschaft 109<br />
“Auf weltweiter Basis.”<br />
“Ja. Das ist ein alle Grenzen von Ländern, Ideologien und<br />
Konfessionen überschreitendes, weltweites Spiel des Geistes.”<br />
“Wie heißt das Spiel?”<br />
“Die Ausreifung des Übergehirns der Menschheit.”<br />
“Wie arbeitet das Übergehirn?”<br />
“Es produziert, widerlegt, bestätigt und verwendet Informationen,<br />
Ideen und Theorien.<br />
“Widerlegt? Muß eine wissenschaftliche Theorie<br />
widerlegbar sein?”<br />
“Sie muß irgendwann überprüfbar sein. Eine a priori Forderung<br />
nach Widerlegbarkeit schränkt die Wahl der Fragestellung<br />
ein. Eine Antwort hängt auch von der Frage ab. Eingeschränkte<br />
Fragen provozieren eingeschränkte Antworten.<br />
Die Überprüfbarkeit einer Theorie kann sich erst aus einer<br />
Erkenntnis ergeben, die viel später, vielleicht gar aus eben<br />
dieser Theorie, erwächst.”<br />
“Eine Antwort hängt auch vom Gehirn ab, das die Frage<br />
stellt.”<br />
“Ja. Das Übergehirn produziert seine eigenen Einseitigkeiten<br />
und seine eigenen Seh- und Denkfehler.”<br />
“Wie die Hirne einzelner Individuen.”<br />
“So ist es.”<br />
“Hirne sind verschieden.”<br />
“Menschenhirne sind so verschieden voneinander wie Menschengesichter.”<br />
“Wonach sucht das Übergehirn?”<br />
“Nach der für Menschen erkennbaren Wahrheit. Angeregt<br />
von Intuition und geleitet vom kritischen Denken pendelt es<br />
hin und her zwischen einer Hypothese und deren Überprüfung,<br />
zwischen einer Theorie und deren Verbesserung, zwischen<br />
Versuch und Irrtum. Im Prinzip ist das nicht viel<br />
anders als bei anderen Lebensformen. Selbst eine Amoebe, ein<br />
Bakterium, ein Virus – sie alle funktionieren nach der Methode<br />
von Versuch und Irrtum.”
110 WANDERER<br />
“Ein Virus?”<br />
“Alles Leben evolviert nach dem Grundsatz ‘Probieren und<br />
lernen aus Fehlern’. Die einzelnen Schritte lauten: Probieren,<br />
Erfolg haben oder Mißerfolg, Erfolg ausnutzen, aus Mißerfolg<br />
lernen, erneut probieren. In der Wissenschaft laufen<br />
Versuch und Irrtum aber methodischer ab. Probieren und<br />
Lernen werden zielgerichteter durchgeführt. Das Probieren,<br />
der Versuch, wird geplant, die Irrtumsmöglichkeiten, die<br />
Widerlegbarkeiten einer Hypothese, werden sorgfältig getestet.”<br />
“Das ist der einzige Unterschied?”<br />
“Nicht der einzige, aber ein wichtiger. In der Wissenschaft<br />
sind Versuch und Irrtum vorwiegend eine Sache des Geistes.<br />
In der Natur bedeutet Irrtum oft unmittelbare Existenzbedrohung.<br />
Der probierende Wissenschaftler stirbt nicht, wenn<br />
sein Versuch zum Mißerfolg führt. Die Amoebe aber muß das<br />
unter Umständen mit dem Leben bezahlen. Die Natur vergibt<br />
da nichts.”<br />
“Wie wertet Naturwissenschaft?”<br />
“Sie unterwirft Erkenntnisse, Theorien und Hypothesen den<br />
von ihr entwickelten analysierenden und synthetisierenden<br />
Methoden der kommunikativen Überprüfbarkeit.”<br />
“Wonach strebt sie?”<br />
“Nach einem verstehenden Erfassen der Erscheinungen und<br />
Wirkungen von Energie und Materie.”<br />
“Das ist mir zu allgemein.”<br />
“Wissenschaft versucht, die Welt zu beschreiben, wie sie sich<br />
darstellt aus der Sicht von Menschenhirnen. Das Erkennen<br />
und Verstehen dessen, was wirklich ist, bleibt ihr versagt.”<br />
“Ach, ja?” Der Maler ist überrascht. “Ich habe geglaubt, daß<br />
die Wissenschaft so gut wie alles in Erfahrung zu bringen<br />
vermag, sofern sie nur genügend Zeit und Mittel zur Verfügung<br />
hat.”<br />
“Da haben Sie der Wissenschaft mehr zugetraut, als sie zu<br />
leisten vermag. Dem menschlichen Geist sind Grenzen ge-
Kunst und Wissenschaft 111<br />
setzt, die er nicht überschreiten kann.”<br />
“Niemals?”<br />
“Nie.”<br />
“Wie arbeitet das Hirn?”<br />
“Nicht sehr effektiv. Nicht selten gibt’s da Ungere<strong>im</strong>tes. Das<br />
Hirn verarbeitet seine Nahrung stückchenweise. Es zwingt<br />
uns, Erkennnbares in hirngerechte Happen zu zerlegen. Danach<br />
müssen wir dann versuchen, die Happen wieder zusammenzufügen.<br />
Das ist ein langsamer und fehlerbeladener Prozeß.”<br />
“Hmm”, macht der Maler, “da lob ich mir das Fühlen! Da<br />
geht’s schneller und ganzheitlicher zu.”<br />
“In der Wissenschaft läuft das anders. Da muß dauernd<br />
Ganzes in Teile zerlegt und Teile zum Ganzen gefügt werden.”<br />
“Was ist der Samen, was der Acker der Wissenschaft?”<br />
“Der Samen ist die einzelne wissenschaftliche Arbeit, der<br />
Acker die Summe wissenschaftlichen Gedankenguts.”<br />
“Die wissenschaftliche Publikation ist also der Kern des<br />
Ganzen.”<br />
“So ist es. Sie ist die weltweit gültige Währung der Wissenschaft.<br />
Sie schweißt das Denken und Wissen der Forscher zusammen<br />
– über Raum und Zeit. Sie ist der elementare Baustein<br />
<strong>im</strong> Gewebe wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie ist eine<br />
der ungezählten Zellen, aus denen sich das Übergehirn der<br />
Menschheit formt.”<br />
“Das ist in der Tat völlig anders als in der Kunst.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Sie haben auf die Bedeutung von Ideen hingewiesen. Ideologie<br />
spielt da aber wohl keine Rolle?”<br />
“Nein. Ideologie ist der Wissenschaft fremd. Sie bringt oft<br />
verzerrende, gefahrbringende Elemente hervor. Sie kann Köpfe<br />
verdrehen, das Miteinander belasten. Wir sollten Ideologien<br />
mit kritischen Augen sehen.”<br />
“Aber das Sich-Zu-Eigen-Machen einer Ideologie bringt auch<br />
Vorteile.”
112 WANDERER<br />
“Nämlich?”<br />
“Es befreit von Unsicherheit und Zweifel. Es n<strong>im</strong>mt den<br />
Menschen Entscheidungen ab. Es gibt ihnen – innerhalb des<br />
Wirkungsbereiches der Ideologie – Freiheit und Sicherheit.”<br />
“Das ist die Freiheit und Sicherheit des Gefängnisses.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf.<br />
“Fast jede Ideologie hat am Ende enttäuscht, oftmals selbst<br />
ihre leidenschaftlichsten Verfechter.”<br />
“Freilich.”<br />
“Naturwissenschaft”, fährt der Physiker fort, “gedeiht am<br />
besten, wenn sie frei bleibt von ihrem Wesen Fremdem, und<br />
wenn sie sich aus einer Vielzahl von Talenten und Erfahrungen<br />
nährt. Eine Gesellschaft, die <strong>im</strong> internationalen<br />
Konzert intellektueller, technologischer, ökonomischer und<br />
ökologischer Aktivitäten erfolgreich bestehen will, muß ein<br />
geistiges Kl<strong>im</strong>a schaffen, das Entdeckergeist und Kreativität<br />
fördert und deren Freiräume schützt. Wissenschaft benötigt<br />
einen weltweiten, freien Austausch von Erfahrungen und<br />
Meinungen. Nur so kann sie wirklich erfolgreich sein in ihrem<br />
Bemühen, in sich schlüssige Vorstellungen in unseren Köpfen<br />
aufzubauen und zu perfektionieren über die Welt um und in<br />
uns – offen für Diskussion und Kritik und begrenzt durch die<br />
Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane und unseres Hirns.”<br />
“Nach Ihrer Darstellung ist Wissenschaft dann also <strong>im</strong> Grunde<br />
eine Reflexion der Art menschlichen <strong>Suchen</strong>s und Denkens,<br />
nicht aber eine Reflexion der Welt an sich.”<br />
“So ist es. Die Wissenschaft spiegelt nicht die Vielfalt und<br />
das Wesen der Schöpfung, sondern die Möglichkeiten der Menschen,<br />
die Vielfalt und das Wesen der Schöpfung zu beschreiben,<br />
zu begreifen und zu deuten.”<br />
“Kann ein Wissenschaftler die Welt verändern?”<br />
“Aus der Stille des Labors oder Studierz<strong>im</strong>mers können die<br />
Erkenntnisse eines Wissenschaftlers die Welt der Menschen<br />
stärker und nachhaltiger verändern als die donnernde Militärmacht<br />
eines Feldherrn.”
Kunst und Wissenschaft 113<br />
“Und ein Philosoph?”<br />
“Der hat es da schwerer. Es gibt nur wenige Menschen, die<br />
tief denken, und noch weniger, die daraus Konsequenzen ziehen.<br />
So kann ein Denker wohl am ehesten versuchen, die Welt<br />
zu verändern, indem er Mitmenschen wachrüttelt, indem er<br />
sie mit seinen Ideen herausfordert.”<br />
“Ideen sind wichtig.”<br />
“Sehr wichtig. Ideen formen sich in Individuen. Aber sie<br />
können weit über das Individuum hinauswirken. Ideen sind<br />
potentiell die mächtigsten und langlebigsten Manifestationen<br />
ausreifenden Menschseins.”<br />
“Wer setzt die Wertmaßstäbe der Wissenschaft?”<br />
“Die Wissenschaft selber. Grundwertmaßstab sind die Qualität<br />
und Quantität der Publikationen eines Wissenschaftlers.<br />
Die aus den ständigen gegenseitigen Bewertungsmaßnahmen<br />
hervorwachsenden Stars – ganz wenige Elite-Wissenschaftler<br />
– best<strong>im</strong>men die jeweiligen Hauptstoßrichtungen<br />
der Wahrheitsfindung. Naturwissenschaft ist in hohem Maße<br />
leistungsorientiert, erfolgskontrolliert und methodennormiert.”<br />
“Es gibt keine Demokratie in der Wissenschaft?”<br />
“Allenfalls <strong>im</strong> administrativen Randbereich, nicht aber <strong>im</strong><br />
Kernbereich, also <strong>im</strong> Ringen um Erkenntnis, in der Suche<br />
nach der erkennbaren Wahrheit. Da gibt es keine Mehrheitsbeschlüsse,<br />
da regieren die Minderheiten, extreme Minderheiten<br />
sogar, die sich durch hervorragende fachliche Leistungen<br />
qualifiziert haben.”<br />
“Das klingt elitär.”<br />
“Die Wissenschaft ist elitär.”<br />
“Das klingt auch idealisiert.”<br />
“Ich habe nur die großen Linien skizziert. Auch in der Wissenschaft<br />
gibt es Fehlentwicklungen, Bösewichte und Verstöße<br />
gegen intellektuelle Redlichkeit. Aber insgesamt gesehen<br />
gehören derartige Dinge eher zu den Ausnahmen, und sie<br />
werden hart geahndet.”
114 WANDERER<br />
“Wie werten Sie die Beziehungen zwischen Wissenschaft<br />
und Religion?”<br />
“In der westlichen Welt war die Wissenschaft in ihren Anfängen<br />
darauf gerichtet, Gott in seinen Werken zu suchen und<br />
zu preisen. So war sie eng verknüpft mit der Religion und mit<br />
der Entwicklung der christlichen Philosophie.”<br />
“Wie ging’s weiter?”<br />
“Die Wissenschaft entwuchs der Mystik. Nationale <strong>Inter</strong>essen<br />
kamen hinzu, kommerzielle und militärische. Die Kombination<br />
von Wissenschaft und Technologie entfachte eine rasante<br />
Entwicklung, die hier und da aus dem Ruder zu laufen<br />
droht.”<br />
“Wie steht’s da mit der Verantwortung?”<br />
“Wissenschaft muß sich, anders als Kunst, der Verantwortung<br />
für ihr Tun stellen.”<br />
“Ich denke mir mal, der Wissenschaft kommt dabei sogar<br />
eine Schlüsselrolle zu.”<br />
“Verantwortung ist nicht an einen best<strong>im</strong>mten Berufsstand<br />
gebunden. Sie ist etwas, das alle Menschen hervorbringen<br />
müssen. Dennoch: In der viele Gebiete des Lebens beeinflussenden<br />
Wissenschaft gewinnt der kategorische Imperativ eine<br />
besondere Bedeutung.”<br />
“Und die Politik?”<br />
“Auch die Politik ist gefordert. In dem Maße, in dem sie<br />
durch Richtungsvorgaben, Finanzierungsschwerpunkte und<br />
Anwendungsentscheidungen in den Wissenschaftsprozeß<br />
eingreift, wächst ihre Mitverantwortung.”<br />
“Was sind die Hauptanliegen der Wissenschaft?”<br />
“Ständiges <strong>Suchen</strong> nach der erkennbaren Wahrheit, verbunden<br />
mit der Hoffnung, daß Erkenntnis und Wahrheit dem<br />
Menschen dienlich sein mögen. Daß sie ihm geistige Reifung<br />
bescheren. Daß sie ihm zusätzliche Möglichkeiten eröffnen<br />
zur Weiterentwicklung seiner Welt. Und daß sie ihn befreien<br />
mögen von erniedrigenden Abhängigkeiten – vom bedrükkenden<br />
Dunkel des Unwissens und von den Alpträumen des
Kunst und Wissenschaft 115<br />
Aberglaubens. So gesehen, fördert Wissenschaft das Wohl der<br />
Gesellschaft, ihre geistige Gesundheit und ihre Möglichkeiten<br />
zur Entfaltung und Zukunftsgestaltung.”<br />
Die Wegabzweigung vor ihnen bietet zwei Möglichkeiten:<br />
direkt am Seeufer entlang zu wandern, das könnte an dieser<br />
Stelle, angesichts des zur Zeit hohen Wasserstandes, nasse<br />
Füße bedeuten; oder weiter oberhalb, dann würden sie durch<br />
trockenes aber wildes Terrain in einem Bogen wieder auf den<br />
Rundweg zurückgelangen. Der Physiker sieht den Maler<br />
fragend an. Der entscheidet sich für den oberen Weg. So<br />
biegen sie ab nach halb rechts.<br />
“In abendländischen Kulturkreisen”, n<strong>im</strong>mt der Physiker<br />
das Gespräch wieder auf, “wurzelte die Wissenschaft zunächst<br />
in theologischen Überlegungen. So war die Religion ursprünglich<br />
so etwas wie die Mutter der Wissenschaft, dann wurde sie<br />
deren Schwester, und heute ist sie Objekt – Gegenstand<br />
kritischer Nachdenklichkeit.”<br />
“Und in den asiatischen Kulturkreisen?”<br />
“Die fernöstlichen Religionen des ewigen Weltgeschehens<br />
gründen nicht auf einer geschichtlichen Offenbarung eines<br />
personifizierten Gottes. Sie benötigen daher keinen individualisierten<br />
Schöpfer wie die wesentlich jüngeren Religionen des<br />
Christentums und des Islams. Aus ihren andersartigen Glaubensquellen<br />
erwuchsen den Menschen in Ostasien andere<br />
Weltanschauungen, andere Wertvorstellungen und andere<br />
Beziehungen zur Wissenschaft.”<br />
“Abendländisches”, sagt der Maler, “erwuchs aus hebräischer<br />
Religiosität und griechischer Vernunft. Beide verleihen<br />
unserem Empfinden und Denken mehr Enge, als einer angemessenen<br />
Reaktion auf die Notwendigkeiten unserer Zeit<br />
bekömmlich ist. Hebräische Religiosität wurde meist von -<br />
namenlosen Künstlern nach vorgegebenen Denk- und<br />
Empfindungsmustern interpretiert und umgesetzt. Nur das<br />
handwerkliche Können war etwas wirklich Individuelles.<br />
Der Autor wirkte in der Dunkelheit der Anonymität. Er
116 WANDERER<br />
spielte seine Rolle hinter einem Vorhang mittelalterlicher<br />
Schablonen. Erst mit dem Öffnen des Vorhangs wurde der<br />
Blick auf das schöpferische Individuum frei.”<br />
Künstler und Wissenschaftler bleiben stehen. Stumm genießen<br />
sie den herrlichen Blick über den See.<br />
Erinnerungen schweben ins Bewußtsein des Physikers. Erst<br />
gestern Nacht hatte er hier gestanden. Stundenlang. Wieder<br />
waren ihm gehe<strong>im</strong>nisvolle Erscheinungen begegnet. Nebelhaft<br />
nur, mehr geahnt als gesehen. Aber in konsequenter<br />
Fortsetzung dessen, was er hier in den vergangenen Nächten<br />
erlebt hat. Seine Vermutungen und Erwartungen gewinnen<br />
<strong>im</strong>mer mehr Form und Gewicht. In seinem Innersten haben<br />
die Erscheinungen ein Feuer entfacht. Tief da drinnen fiebert<br />
er einer baldigen Begegnung mit Außergewöhnlichem entgegen.<br />
Auch der Maler versinkt in Erinnerungen. Ihm erscheint das<br />
Bild seiner Frau. Es macht ihn zittern. Seine Frau ist vor<br />
kurzem ganz plötzlich verstorben. Sie war eine milchhäutige<br />
Schönheit mit grünen Augen. Mit einer einzigen Bewegung<br />
ihres Körpers, einem einzigen lässigen Kopfwurf ihrer langen<br />
roten Haare konnte sie zum Gravitationszentrum einer Gesellschaft<br />
werden. Sie war eine rätselhafte Frau, deren Aura<br />
zugleich unnahbaren Stolz und lockende Hingebungsbereitschaft<br />
ausstrahlte. Eine Frau, die, scheinbar unbewußt, Männer<br />
anzog mit der gleichen Naturgewalt wie der Mond die Flut.<br />
Kein Bekannter, keiner der Freunde dieses ungleichen<br />
Paares hatte je verstehen können, was diese Frau zu dem<br />
häßlichen, buckligen Zwerg hinzog. Jeder aber wußte, daß er<br />
sie abgöttisch verehrte. Mancher ahnte, daß es schl<strong>im</strong>me<br />
Schwierigkeiten gab in dieser Beziehung. Und einige wußten,<br />
daß die Ursache des Todes dieser Frau niemals wirklich aufgeklärt<br />
werden konnte. Gerüchte kamen auf. Böse Gerüchte.<br />
Sie wollten nicht verstummen. Über viele Wochen nicht. Da<br />
entschloß sich der Maler, in eine andere Stadt zu ziehen.
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 117<br />
Nach dem Tod seiner Frau erlosch der kreative Vulkan. Er<br />
konnte nicht mehr malen. Und er konnte sich nicht mehr auf<br />
normale Weise sexuell befriedigen. Zwar erregten ihn schöne<br />
Frauen, aber er mochte sie nicht anfassen. Und da tauchte es<br />
plötzlich auf aus den dunklen Tiefen seines Leibes: das schöne,<br />
gehe<strong>im</strong>nisvolle, drohende Bild des Engels. Dieses leuchtende<br />
Bild, das ihn ganz und gar ausfüllen konnte, das ihm<br />
<strong>im</strong>mer häufiger erschienen war. Das nicht wieder weichen<br />
wollte. Dieses Bild zerbrach seine Welt. Es wurde leer in ihm<br />
und dunkel und kalt.<br />
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen<br />
“Wie ist das Universum entstanden?” fragt der Physiker ins<br />
Leere. “Wie die Materie, wie die Naturgesetze, wie die Kräfte,<br />
welche die Mannigfaltigkeit der Strukturen und Funktionen<br />
<strong>im</strong> Universum entstehen lassen und steuern? Gibt es einen<br />
Anfang, ein Ende? Sind die Naturgesetze unveränderlich?<br />
Sind sie wirklich ewige Gesetze? Kein Mensch weiß, wie es<br />
wirklich war, wie es wirklich ist. Auf keine dieser Fragen haben<br />
wir eine definitive Antwort.”<br />
“Wie könnte es möglich sein, daß Naturgesetze nicht ewige<br />
Gesetze sind?”<br />
“Der Zustand des Universums wechselt zwischen Geburt,<br />
Reifung und Zerfall. Das sind unfaßbar komplizierte und unfaßbar<br />
gewaltige Prozesse. Über Milliarden von Jahren<br />
ändert sich da fast alles, wohl nicht grundsätzlich, aber in<br />
Einzelheiten.”<br />
“Wie weit ist die Wissenschaft vorgedrungen?”<br />
“Im letzten Jahrzehnt wurden phantastisch anmutende<br />
Entdeckungen gemacht, aufregende Untersuchungen angestellt<br />
und neue Gedankengebäude errichtet, die sich offenbar<br />
<strong>im</strong>mer mehr der letzten von Menschen begreifbaren Wahrheit<br />
nähern.”
118 WANDERER<br />
“Und jetzt ist das Haus der Wissenschaft festgefügt?”<br />
“Noch <strong>im</strong>mer gibt es mehr Fragen als Antworten. Neue Einsichten<br />
ergeben sich aber nur, wenn man trotz der Unsicherheiten<br />
voranschreitet.”<br />
“Aber das Fundament der Wissenschaft steht auf festem<br />
Boden?”<br />
“Nichts steht auf festem Boden.”<br />
“Oho! Das Fundament meines Hauses liegt fest an einem<br />
Ort!”<br />
“Nichts liegt fest an einem Ort.”<br />
“Alles nur eine Wolke, wie?”<br />
“Ja. Auch ein Stein ist letztlich nichts anderes als ein best<strong>im</strong>mter<br />
Zustand von Energie, nichts anderes als eine Wolke<br />
aus Teilchen – wie alles Materielle <strong>im</strong> Universum.”<br />
“Auch der Mensch?”<br />
“Das gilt auch für alles Lebende.”<br />
“Alles in Bewegung?”<br />
“Ja. Ein scheinbar fest an einem Ort liegender Stein bewegt<br />
sich mit den Erdschollen, die auf dem flüssigen Erdinnern<br />
treiben und mit den Bewegungen der Erde <strong>im</strong> Universum. Ihr<br />
Haus rast mit etwa 30 Kilometern pro Sekunde um die Sonne<br />
und diese mit hunderten von Kilometern pro Sekunde um das<br />
Zentrum unserer Galaxie. Es gibt keinen festen Punkt <strong>im</strong><br />
Universum. Und es gibt keine feste Beziehung zwischen Punkten.<br />
Alles fließt. Alles ist auf dem Wege.”<br />
“Dann hängt auch die Wissenschaft in der Luft?”<br />
“In letzter Konsequenz ist Wissenschaft der Versuch des<br />
Menschen, Zusammenhänge herzustellen in seiner Vorstellungswelt<br />
zwischen bewegten Punkten in bewegten Wolken.<br />
Wissenschaft sucht nach Regelhaftem in einem rasenden, sich<br />
entwickelnden, vield<strong>im</strong>ensionalen Gewebe von Energie und<br />
Materie. Sie spürt den Prinzipien nach, welche Organisation<br />
und Ausreifung von Energie und Materie über Milliarden von<br />
Jahren regeln. Dabei kann Wissenschaft an verschiedenen<br />
Punkten <strong>im</strong> Gewebe ansetzen. Nichts in der Wissenschaft läßt
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 119<br />
sich bis zum Grundstein zurückverfolgen. In diesem Sinne<br />
hängt die Wissenschaft in der Luft, hat sie kein festes Fundament.<br />
Und sie braucht auch keines.”<br />
“Wenn alles auf dem Wege ist, dann zieht es den Raum und<br />
die Zeit mit sich?”<br />
“Ja.”<br />
“Wo kommen sie her, der Raum und die Zeit?”<br />
“Raum entsteht mit der Formung der Materie aus Energie,<br />
Zeit mit der Bewegung der Materie.”<br />
“Unsere Welt ist eine Welt in Raum und Zeit.”<br />
“Ja. Ohne die beiden existiert sie nicht.”<br />
“Ziemlich phantastisch, das alles.”<br />
“Wenn Sie so wollen.”<br />
“Muß ein Wissenschaftler Phantastisches nicht vor der Tür<br />
lassen?”<br />
“Ein Wissenschaftler darf von einer Information nicht mehr<br />
ableiten, als diese zu leisten vermag. Er muß unterscheiden<br />
zwischen Erkanntem, Vermutetem und Erahntem. Wer das<br />
nicht beherzigt, riskiert, sich als Sucher nach der Wahrheit<br />
zu disqualifizieren. Ich muß Sie daher bitten, das, was ich<br />
Ihnen eben gesagt habe und das, was ich Ihnen noch sagen<br />
werde, mit kritischem inneren Abstand zur Kenntnis zu nehmen.”<br />
Der Physiker sieht seinen Gefährten fragend an. Als<br />
der nickt, fährt er fort: “Nach unseren gegenwärtigen Vorstellungen<br />
begann alles mit einer ungeheuren, unvorstellbar<br />
gewaltigen Explosion, dem Urknall. Sicher haben Sie davon<br />
gehört.”<br />
“Ja. Aber ich möchte Ihre Wertung kennenlernen, Ihre Meinung<br />
dazu hören.”<br />
“Ich gehe von der Annahme aus, daß der Urknall nicht der<br />
Anfang war, sondern die Folge vorausgegangener Prozesse.”<br />
“Was war am Uranfang? Woher kommt die Urenergie? Woher<br />
die Urgesetze, die dies und all das spätere Geschehen<br />
hervorbringen?”<br />
“Das <strong>Suchen</strong> nach Von-Anfang-An-Geschehen übersteigt die
120 WANDERER<br />
menschliche Vorstellungskraft. Hier läßt uns unser Hirn <strong>im</strong><br />
Stich.”<br />
“Sie verlegen die Schöpfungsgeschichte weiter zurück?”<br />
“Ja.”<br />
“Sie glauben an Gott!”, ruft der Maler überrascht.<br />
“Ja. Aber für mich ist Gott etwas anderes als für die meisten<br />
Menschen.”<br />
“Was ist Gott für Sie?”<br />
“Das werde ich Ihnen später darlegen. Zunächst zurück zum<br />
Urknall. Warum sollte es nicht auch Folgeknalls geben?<br />
Warum sollten kleinere Knalls nicht <strong>im</strong>mer einmal wieder<br />
stattfinden, auch heute noch? Zum Beispiel als Endphase der<br />
Materieverdichtung in einem Schwarzen Loch?”<br />
“Was ist das?”<br />
“Ein Schwarzes Loch ist ein von der Physik postulierter<br />
Freßgigant <strong>im</strong> Universum, der mit Hilfe seiner extrem hohen<br />
Materiedichte und daher einer außerordentlich starken Anziehungskraft<br />
ständig Materie aus seiner Umgebung in sich<br />
hineinsaugt.”<br />
“Wie ist es möglich”, fragt der Maler erregt, “daß Materie<br />
sich so stark verdichten kann?”<br />
“Wenn die Masse eines Sterns einen Grenzwert übersteigt,<br />
werden die Elektronen in den Atomkern gedrückt. Dann können<br />
die Atomkerne nicht mehr Distanz zueinander halten.<br />
Sie legen sich dicht aneinander. So stürzt alles zusammen.<br />
Be<strong>im</strong> Zusammenstürzen des Sternkerns explodiert die äußere<br />
Sternhülle wie eine riesige kosmische Wasserstoffbombe.<br />
Wenn das In-Sich-Zusammenbrechen des Sterns eine kritische<br />
Grenze, einen kritischen Radius, unterschreitet, den<br />
Ereignishorizont, dann wird nach den Berechnungen der Physik<br />
dessen Materiedichte und damit dessen Anziehungskraft<br />
so groß, daß er sogar das Licht festhält. Er leuchtet dann nicht<br />
mehr. Er ist zum alles verschluckenden Schwarzen Loch geworden.<br />
Das kann Milliarden Sonnenmassen in sich vereinigen.<br />
In ihm steht die Zeit still, hört auf zu existieren.”
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 121<br />
Ratlos zuckt der Maler mit den Schultern.<br />
“Im Universum gibt es fortwährend Geburts-, Reifungs- und<br />
Sterbevorgänge. In der Sonne zum Beispiel stirbt und wird<br />
Materie <strong>im</strong>merfort: Atome zerfallen in ihre Bestandteile,<br />
andere werden durch Kernfusion geboren. Auch Sterne sterben<br />
<strong>im</strong>merfort und werden neu geboren. Entlang des Milchstraßenbandes<br />
gibt es Hunderte von Sternentstehungsnestern.”<br />
“Das ist dann aber doch etwas anderes als Leben und Sterben,<br />
wie wir es gemeinhin verstehen.”<br />
“Ja, aber nicht grundsätzlich anders. Ich werde darauf noch<br />
zurückkommen. Also, die Physik macht folgende Annahmen:<br />
Der Urknall ereignete sich vor etwa zwanzig Milliarden<br />
Jahren. Seither dehnt sich das Universum ständig aus. Jeden<br />
Tag wächst der Raum zwischen den Galaxien um Milliarden<br />
von Kubikkilometern. Und <strong>im</strong>mer wieder verlegen elektromagnetische<br />
Felder und Gravitationskräfte neue Kreise, neue<br />
Ordnungslinien und neue Organisationsmuster durch Raum<br />
und Zeit.”<br />
“Wie groß ist das Universum?”<br />
“Die am weitesten von uns entfernten, gerade noch erkennbaren<br />
H<strong>im</strong>melskörper sind zwölf oder fünzehn Milliarden<br />
Lichtjahre von uns entfernt. Bitte bedenken Sie, Licht<br />
wandert mit einer Geschwindigkeit von rund 300 000<br />
Kilometern pro Sekunde. Ein einziges Lichtjahr bedeutet also<br />
eine Kilometerstrecke, die der Summe aller Sekunden pro<br />
Jahr entspricht, multipliziert mit 300 000.”<br />
“Unglaublich! Was war nach dem Urknall?”<br />
“Mit dem Urknall begann die Zeit. Teilen Sie eine Sekunde<br />
durch eine Milliarde. In der ersten milliardstel Sekunde nach<br />
dem Urknall wuchs das Universum von der Größenordnung<br />
eines Atoms zur Größe eines Fußballs.”<br />
“Das gesamte Universum in einem Atom?”<br />
“In einer unvorstellbar kleinen, fast ausdehnungslosen Kugel<br />
von nahezu unendlicher Energie.”<br />
“Was enthielt die Kugel?”
122 WANDERER<br />
“Aufgelöst in Superstrahlung enthielt sie bereits alle Grundbedingungen<br />
für die Ausreifung des späteren Universums.”<br />
“Das ist…”<br />
“In dieser Kugel verbarg sich die Urform aller Materie und<br />
die Urinformation, das Urprogramm, für die Entfaltung aller<br />
Erscheinungen, die wir heute erleben.”<br />
“Superstrahlung? Was ist das?”<br />
“Die Wiege von allem.”<br />
Der Maler schluckt. Dann drängelt er: “Wie ging es weiter?”<br />
“Nach einem Millionstel der ersten Sekunde war das Universum<br />
ein riesiger Feuerball mit einem Durchmesser von<br />
dreißig Milliarden Kilometern. Und es war bereits voll von<br />
Bausteinen der Atome. Nach sechzig Sekunden betrug der<br />
Durchmesser 10 hoch 15 Kilometer. Nach mehreren hunderttausend<br />
Jahren sank die Temperatur auf 4000 Grad. Erst<br />
jetzt konnten Atome entstehen. Das frühe Universum war offenbar<br />
weitgehend unstrukturiert.”<br />
“Gibt es Beweise? Fossilien, wie bei der Entwicklung des Lebendigen?”<br />
“Ein Fossil aus der Urzeit des Universums ist die heute<br />
noch meßbare kosmische Hintergrundstrahlung – das Nachleuchten<br />
des Urknall-Feuerballs.”<br />
“Wie ging’s weiter?”<br />
“Die gleißend helle Mischung aus Strahlung und Materie<br />
wurde dunkler. Schwerkraft begann zu wirken und die Materieteilchen<br />
örtlich zu verdichten. So entstanden in riesigen<br />
Gaswolken Milliarden von Sternen, und es formten sich die<br />
Galaxien.”<br />
“Entstehen auch heute noch Galaxien?”<br />
“Offenbar nicht. Alle bekannten Galaxien sind in den ersten<br />
Jahrmilliarden nach dem Urknall entstanden. Bisher sind<br />
keine wirklich jungen Galaxien gefunden worden.”<br />
“Wie stellen sich uns die Galaxien heute dar?”<br />
“Als Superhaufen von H<strong>im</strong>melskörpern, die 100 bis 400 Millionen<br />
Lichtjahre voneinander entfernt sind.”
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 123<br />
“Wieviele Galaxien gibt es?”<br />
“Milliarden.”<br />
“Aus wievielen Sternen besteht eine Galaxie?”<br />
“Meist aus vielen Milliarden.”<br />
“Wann ist unser Sonnensystem entstanden?”<br />
“Vor etwa fünf Milliarden Jahren.”<br />
“Und wo steckt die Erde?”<br />
“Außerhalb des Zentrums der Milchstraße, einer Spiralgalaxie<br />
mit etwa hundert Milliarden Sternen. Die Milchstraße<br />
hat eine Ausdehnung von hunderttausend Lichtjahren. Sie<br />
dreht sich um ihre eigene Achse. Dabei hat unser Sonnensystem,<br />
und damit auch die Erde, eine Umlaufzeit von 200<br />
Millionen Jahren.”<br />
“Dann st<strong>im</strong>mt es also, was die Sternforscher sagen: Jeder<br />
Blick in den H<strong>im</strong>mel ist ein Blick in die Vergangenheit?”<br />
“Ja. Und so manch ein verträumter Blick in den Nachth<strong>im</strong>mel<br />
enthält wohl auch ein Stück unbewußter Sehnsucht –<br />
Sehnsucht nach unserem Ursprung, nach unserer Urhe<strong>im</strong>at.”<br />
“He<strong>im</strong>at?”<br />
“He<strong>im</strong>weh nach der Urwiege. Nach dem Anfang von allem.”<br />
“So habe ich das bisher nicht gesehen.”<br />
“Die Galaxien, deren Licht uns heute erreicht, enthüllen uns<br />
den Zustand des Universums vor Milliarden von Jahren. Die<br />
Physik spricht hier von Rückblickzeit. Je weiter ein beobachtetes<br />
H<strong>im</strong>melsobjekt entfernt ist, desto tiefer taucht der Blick<br />
des Beobachters ein in die Vergangenheit, desto mehr nähert<br />
er sich dem Beginn des Universums.”<br />
Staunend steht der Künstler vor dem kosmischen Bild, das<br />
der Wissenschaftler da vor ihn hinmalt. “Wie sieht die Zukunft<br />
aus?”<br />
“Die Wissenschaft erwägt zwei Möglichkeiten. Die erste:<br />
Das Universum dehnt sich endlos aus; nach dem Verbrauch<br />
des nuklearen Brennstoffs erlöscht das Licht der Sterne; das<br />
Universum wird dunkel, erkaltet und stirbt. Die zweite:<br />
Die Ausdehnung des Universums findet eine Grenze, kommt
124 WANDERER<br />
zum Stillstand und kehrt sich um. Alles stürzt wieder zusammen,<br />
wird wieder zu einem winzigen Punkt und verschwindet<br />
völlig oder entsteht neu durch einen abermaligen<br />
Urknall.”<br />
“Wie könnte es zu einer Umkehrung kommen?”<br />
“Eine Umkehrung der Ausdehnung des Universums ist nach<br />
gegenwärtigen Berechnungen nicht möglich. Dazu reichen<br />
Materiedichte und Schwerkraft nicht aus. Aber meiner Ansicht<br />
nach ist eine Hauptmasse der Universum-Materie noch<br />
nicht erfaßt worden. Wo wir derzeit riesige Räume gähnender<br />
Leere ausmachen, vermute ich riesige Massen kleinster Materieteilchen,<br />
einer besonderen Art von Materie, die für<br />
den Entwicklungszyklus des Universums von grundlegender<br />
Bedeutung ist und letzten Endes auch für Stoffwechselprozesse<br />
und Intelligenzleistungen, die ich dem Universum zuspreche.”<br />
“Intelligenz?!”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Bitte erklären!”<br />
“Später. Meiner Ansicht nach würde die Masse dieser<br />
Kleinstteilchen ausreichen, um den Ausdehnungsprozeß des<br />
Universums anzuhalten, den Vorgang des Schrumpfens einzuleiten<br />
und schließlich eine neue Explosion auszulösen.”<br />
“Alles dacapo, wie?”<br />
“Ich erkenne in der Natur nur vorwärts Gerichtetes. Aber<br />
ich sehe nirgends gerade Linien, nirgends starr geradeaus<br />
Verlaufendes. Überall entdecke ich Gebogenes, <strong>im</strong> Kreis sich<br />
Drehendes.”<br />
“Also alles Wiederholung?”, insistiert der Maler.<br />
“Nur <strong>im</strong> Prinzipiellen, nicht <strong>im</strong> Einzelnen.”<br />
“Haben die Kleinstteilchen weitere Wirkungen?”<br />
“Meiner Ansicht nach beeinflussen sie nicht nur die Entwicklung<br />
des Universums, sondern auch dessen Gestalt. Sie<br />
krümmen das Universum. So wird seine Ausdehnung endlich.”<br />
“Wodurch?”
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 125<br />
“Durch die in der Raumzeit enthaltene Materie und Energie.”<br />
“Dann würde ein scheinbar geradeaus gerichteter Lichtstrahl<br />
also irgendwann wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehren?”<br />
“So wäre es.”<br />
“Das ganze eine Kugel?”<br />
“Vermutlich. Die Raumzeit wird durch die drei Raumrichtungen<br />
und die <strong>im</strong>aginäre Zeit gebildet. Da gibt es keinen Anfang<br />
und kein Ende, sowenig wie die Oberfläche einer Kugel<br />
einen Anfang und ein Ende hat.”<br />
“Demnach sind die Kleinstteilchen das Wichtigste von allem?”<br />
“In der Kleinstteilmaterie und in ihrer unauflöslichen Wechselbeziehung<br />
zur Energie vermute ich das größte Gehe<strong>im</strong>nis<br />
Gottes.” Der Physiker bleibt stehen, umfaßt mit Daumen,<br />
Zeige- und Mittelfinger sein eckiges Kinn. Senkt das Haupt.<br />
Schweigt. Dann hebt er den Kopf, läßt den Arm sinken und<br />
sagt: “Und dabei sollte es auch bleiben.” Nach weiterem<br />
Schweigen setzt er hinzu: “Für uns Menschen wird das auf<br />
ewig unerkennbar bleiben.”<br />
Die Reise durch die Vorstellungswelt des Physikers erregt<br />
den Maler maßlos. Er wird das große Hirn aussaugen! Er wird<br />
sich alles für ihn Nutzbare aneignen! Endlich wird er ein<br />
stabilisierendes geistiges Gegengewicht finden. Endlich wird<br />
er seine überstarke Gefühlswelt in den Griff bekommen. Und<br />
endlich wird er seinen Glauben auf eine naturwissenschaftliche<br />
Basis stellen können. ‘Nur nichts tun’, denkt er, ‘das den<br />
Gedankenfluß des anderen unterbrechen könnte. Nur nicht<br />
den Physiker verärgern!’<br />
Die beiden wandern weiter. Nach einer Weile sagt der<br />
Physiker: “Ich glaube an einen <strong>im</strong>merwährenden Kreis von<br />
Geburt, Wachstum, Reifung, Tod und Neugeburt des Universums.”<br />
“Wie ist die Welt <strong>im</strong> Kleinen aufgebaut?”<br />
“Alle Materie <strong>im</strong> Universum, leblose und lebende, besteht
126 WANDERER<br />
aus den gleichen Urbausteinen. Sie sind verwandte gewachsene<br />
Strukturen. Die kleinsten Bausteine der Materie, die<br />
wir bisher mit hinreichender Sicherheit identifizieren konnten,<br />
sind die Quarks und die Elektronen. Die Quarks bilden<br />
die Protonen und Neutronen, die Bausteine der Atomkerne.<br />
Die Elektronen formen die Atomhüllen. Es gibt viele andere<br />
Teilchen, zum Beispiel Photonen, Mesonen, Neutrinos, Gluonen.<br />
Weitere Teilchen werden vermutlich mit fortschreitender<br />
Forschung entdeckt werden.”<br />
“Wie organisieren sich diese Teilchen? Ich meine, wie<br />
verhalten sie sich zueinander? Wie entsteht aus ihnen unsere<br />
Welt?”<br />
“Stellen Sie sich vor, ein Atomkern hätte die Größe einer<br />
Haselnuß. Dann rasen die Elektronen, welche die Atomhülle<br />
bilden, <strong>im</strong> Abstand von hundert Metern um ihn herum.<br />
Der Kern ist schwer. Seine Masse macht über 99 Prozent<br />
der Masse des Atoms aus. Wenn Sie von außen zum Kern vordringen<br />
wollen, stoßen Sie hundert Meter von ihm entfernt<br />
auf die Atomhülle – nichts anderes, als die Folge der effektiven<br />
Omnipräsenz der Elektronen, die so schnell herumrasen,<br />
daß sie praktisch überall zur gleichen Zeit zur Stelle sind.<br />
In dem riesigen scheinbaren Nichts zwischen Kern und Hülle<br />
schwirren unvorstellbar viele, unvorstellbar kleine Teilchen<br />
umher, die dauernd aus dem ‘Nichts’, aus Energie, entstehen<br />
und unvorstellbar schnell wieder darin verschwinden, Grenzgänger<br />
zwischen Energie und Materie. Vermutlich halten<br />
diese Teilchen alles zusammen, die Welt <strong>im</strong> Großen und die<br />
Welt <strong>im</strong> Kleinen. Alles Materielle besteht aus Kernen, rasenden<br />
Teilchen und Grenzgängern: H<strong>im</strong>melskörper, Stein,<br />
Metall, Wasser, Luft, Pflanze, Tier, Mensch.”<br />
“Diese Teilchen sind also der Kern von allem?”<br />
“Nein. Der Kern von allem, das ist das Geschehen, welches<br />
die Teilchen entstehen läßt, ihre Bewegungen, ihre Dynamik<br />
steuert und ihre Kombinationsmöglichkeiten best<strong>im</strong>mt.<br />
Dieses Geschehen enthält, entfaltet und gestaltet das Welt-
Welt <strong>im</strong> Großen, Welt <strong>im</strong> Kleinen 127<br />
programm. In ihm liegt das wirkliche Wesen dessen, was das<br />
Universum ausmacht – <strong>im</strong> Großen wie <strong>im</strong> Kleinen. Ich nenne<br />
dieses Phänomen ‘Gestaltungsgeschehen’.”<br />
Mit halb geöffnetem Mund schüttelt der Maler langsam den<br />
Kopf. Er setzt an zu einer Frage. Aber da sagt sein Gefährte<br />
auch schon: “Bisher konnten wir drei Hauptkräfte erkennen,<br />
welche die Welt formen und zusammenhalten: die elektroschwache<br />
Kraft, die starke Kraft und die Schwerkraft. Möglicherweise<br />
sind die elektroschwache Kraft und die starke<br />
Kraft Manifestationen einer einzigen Grundkraft. Möglich ist<br />
auch, daß Schwerkraft, wie Masse, letztlich aus elektromagnetischen<br />
Phänomenen hervorgeht.”<br />
“Was ist …”<br />
“Das Zauberwort aber heißt Energie. Alle Materie ist ja<br />
nichts anderes als gefrorene Energie, gefrorene Strahlung,<br />
gefrorenes Licht. Energie ist die Basis aller Dinge und aller<br />
Kräfte. Sie kann weder erzeugt noch vernichtet werden.”<br />
“Nanu! Wir sprechen doch dauernd von Energieerzeugung,<br />
Energievergeudung, Energieverlust, Energievernichtung.”<br />
“Physikalisch sind das alles falsche Begriffe.”<br />
“Alles nur Wortfloskeln?”<br />
“So ist es. Kein Mensch kann Energie erzeugen oder<br />
vernichten. Menschen können nur vorhandene Energie umwandeln<br />
und daraus Nutzen ziehen. Die Erzeugung und<br />
Vernichtung von Energie liegt außerhalb menschlicher Möglichkeiten.”<br />
Der Maler ist verwirrt.<br />
“Aus Energie können Materieteilchen entstehen, sozusagen<br />
aus dem ‘Nichts’. Aber Energie kann niemals aus dem<br />
‘Nichts’ entstehen. Energie bleibt ewig erhalten. Sie wird ewig<br />
gestalten.”<br />
“Das muß doch irgendwo ein Ende haben, sich irgendwann<br />
erschöpfen.”<br />
“Der Energieumwandlungsprozeß, der das Ausreifen der<br />
Schöpfung ermöglicht, beginnt mit jedem Urknall von neuem.”
128 WANDERER<br />
“Energie ist dann aber doch mehr, als in unserem Umgangsdenken<br />
zum Ausdruck kommt.”<br />
“Ja. Und für mich ist das auch mehr, als wir in der Physik<br />
darunter zu verstehen gewohnt sind. Für mich ist Energie vor<br />
allem eine ordnende Urkraft, enthalten <strong>im</strong> Gestaltungsgeschehen,<br />
auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Energie<br />
und elektrische Spannung repräsentieren, bewahren und entwickeln<br />
das Urprogramm aller Dinge und Vorgänge, den Code<br />
für die Struktur und Funktion von allem. In letzter Konsequenz<br />
ist alles Energie: Masse, Lebloses, Lebendes, Universum,<br />
Gott.”<br />
Der Maler schluckt. Dieses Feuerwerk von Vorstellungen<br />
und schwer verständlichen Zusammenhängen verschlägt ihm<br />
die Sprache. Er fühlt sich plötzlich sehr bedeutungslos.<br />
Da sagt der Physiker: “Die Welt <strong>im</strong> Großen und die Welt <strong>im</strong><br />
Kleinen sind <strong>im</strong> Prinzip einfach aufgebaut. Die Vielfalt, die<br />
wir erleben, ergibt sich erst aus den nahezu unendlichen<br />
Kombinations- und Funktionsmöglichkeiten, aus den unfaßbar<br />
großen und vielschichtigen Gestaltungsmöglichkeiten, die<br />
der ordnenden Energie und den sich ausformenden Bausteinen<br />
der Materie innewohnen. Diese Möglichkeiten können<br />
aber erst <strong>im</strong> Verlauf von Milliarden von Jahren ausreifen.<br />
Dabei entsteht <strong>im</strong>mer wieder Neues.”<br />
Ethik und Moral<br />
“Eine kalte Welt”, sagt der Maler. “Wie kamen Ethik und<br />
Moral da rein?”<br />
“In urmenschlichen Kleingruppen hat sich kooperatives<br />
Verhalten zu Moral entwickelt, zur Kleingruppenmoral.”<br />
“Entwickelt? Wie?”<br />
“Die Kleingruppenmoral besitzt einen positiven Selektionswert.<br />
Bei der Jagd, bei Kämpfen gegen Konkurrenten, bei der<br />
Besetzung und Verteidigung eines Reviers sind Gruppen <strong>im</strong>
Ethik und Moral 129<br />
Vorteil, die eine straffe, mit Härte durchgesetzte Moral entwickeln<br />
können.”<br />
‘Revier!’ Der Maler fährt zusammen. Aber dann denkt er:<br />
‘Straffe Kleingruppenmoral? Ist das nicht etwas, das der Festmacher<br />
praktiziert?’ – “Worum geht es bei der Kleingruppenmoral?!”<br />
“Um gegenseitige Unterstützung be<strong>im</strong> Jagen. Und <strong>im</strong> Krieg.<br />
Um Teilung und Nutzung von Revier, Beute, Nahrung und<br />
Besitz. Um Aufrichtigkeit, Disziplin, Einschränkung von Egoismen<br />
und Lenkung von Agressionen nach außen. Es geht<br />
um gruppenverträgliche Kontrolle von Emotionen und potentiell<br />
gefährlichen Trieben. Um die Regelung der Beziehungen<br />
zwischen den Geschlechtern. Und es geht um Aufgabenteilung,<br />
etwa bei der Erziehung von Kindern oder der Herstellung<br />
von Gebrauchsgegenständen. Die moralischen Forderungen<br />
der Kleingruppe wurden später präzisiert, begründet<br />
und umgesetzt durch religiöse und weltliche Kräfte. Nur wer<br />
die moralischen Forderungen der Gruppe akzeptierte, wurde<br />
in ihr aufgenommen, durfte in ihr leben.”<br />
“Gruppe, Gruppe! Wo bleibt das Individuum?”<br />
“In unserer Welt empfinden wir ethisches Denken und moralisches<br />
Handeln letztlich <strong>im</strong>mer als Ausdruck individueller<br />
Eigenarten: des eigenen Gewissens, der eigenen Persönlichkeit.”<br />
“Wo bleibt Raum für die Befriedigung eigener Wünsche?”<br />
“Die Befriedigung eigener Wünsche ist nie ein Ziel der Moral<br />
gewesen.”<br />
“W … was ist der Unterschied zwischen Ethik und Moral?”<br />
“Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied. Beide Begriffe<br />
bezeichnen ein sittliches Empfinden und Verhalten, das von<br />
der Mehrheit einer Gruppe als verbindlich angesehen wird.<br />
Dabei meint Ethik oft mehr die theoretisch-wissenschaftliche<br />
Perspektive, Moral mehr das in der Praxis Verwirklichte. Den<br />
Begriffen ‘Ethik’ und ‘Moral’ liegen Gesinnungen und Wertschätzungen<br />
zugrunde, welche örtlichen Differenzen und zeit-
130 WANDERER<br />
lichen Veränderungen unterworfen sind.”<br />
“Was ist mit der Moral heute?”<br />
“Die in Hunderttausenden von Jahren evolvierten Grundwerte<br />
der steinzeitlichen Kleingruppenmoral formen auch<br />
heute noch die Basis menschlichen Verhaltens. Heute aber ist<br />
der Selektionswert der Steinzeitmoral nicht mehr wirksam.<br />
Heute beruht menschliches Miteinander nicht mehr auf dem<br />
persönlichen Sichkennen der Gruppenmitglieder, ihrem unmittelbaren<br />
Zusammenleben und ihrem kompromißlosen Vorgehen<br />
gegen Fremdes. Heute müssen wir moralische Regeln<br />
formulieren und durchsetzen für Milliarden von Menschen,<br />
die unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen entwickelt<br />
haben und in unterschiedlichen Lebensräumen zu<br />
Hause sind. Heute gilt es, bewährte Werte der Steinzeitmoral<br />
einzubringen in eine global ausgerichtete Neuzeitmoral. Archaisch-egoistisches<br />
Hordenführerdenken darf nicht persistieren.<br />
Es muß weiterentwickelt werden zu weltumspannendem<br />
kooperativem Planen und Handeln. Das ist die zentrale Aufgabe<br />
der Politik und der Religion heute. Hier hilft uns die<br />
Natur nicht weiter. Hier können wir uns nur selber helfen.”<br />
“Das sollte doch nicht so schwer sein.”<br />
“Das ist eine gewaltige Aufgabe. Größer als alles, was die<br />
Menschen bisher bewältigt haben.”<br />
“Denken Sie an unsere kulturellen, wissenschaftlichen und<br />
ökonomischen Errungenschaften!”<br />
“Das war ein langer, verschlungener Weg. Im Kern war das<br />
soviel anders nicht als bei der evolutiven Ausreifung neuer<br />
Lebensformen.”<br />
“Aber das ging doch noch viel langsamer vor sich.”<br />
“Ja. Die Menschen haben <strong>im</strong>mer schnell erkannt, was ihnen<br />
nützlich ist bei ihrem Streben nach Wachstum, Raum und<br />
Macht, was ihre <strong>Inter</strong>essen und Bedürfnisse am besten befriedigt,<br />
was ihrer Selbstverwirklichung am förderlichsten ist.<br />
Dem sind sie dann gefolgt.”<br />
“Nichts von Ethik und Moral in unserem Erbgut?”
Ethik und Moral 131<br />
“Der Mensch hat nicht nur angeborene Triebe, er hat auch<br />
eine angeborene Bereitschaft zum ethischen und moralischen<br />
Denken und Handeln.”<br />
“Dann müßten sich Instinkte und Triebe auf der einen Seite<br />
und Ethik und Moral auf der anderen doch das Gleichgewicht<br />
halten können!”<br />
“Über Milliarden von Jahren hat es so etwas wie Ethik und<br />
Moral in der Entfaltung des Lebens auf der Erde nicht gegeben.<br />
Bei der Entwicklung der Pr<strong>im</strong>aten sind Ethik und Moral<br />
weit zurückgeblieben hinter den Instinkten und Trieben.<br />
Ethik und Moral sind etwas Neues, etwas für das Leben auf<br />
der Erde Fremdes – wie der Mensch selbst.”<br />
“Aber der Mensch kann nicht überleben ohne Ethik und<br />
Moral.”<br />
“So ist es. Angesichts der Komplexität seiner Gemeinschaftsstrukturen<br />
und seines ins Enorme gesteigerten Veränderungsund<br />
Vernichtungspotentials würde er sonst rasch zugrunde<br />
gehen. Die Stärkung der aus Wissen und Einsicht gewollten<br />
Moral, das ist die zentrale Aufgabe für die heutige Menschheit.<br />
Wir müssen sie lösen. Oder vergehen.”<br />
“Und da geht der Wissenschaftler voran?”<br />
“Nein. Ein Wissenschaftler kann zwar möglicherweise die<br />
Notwendigkeit moralischen Verhaltens klarer erkennen als<br />
manch ein anderer, aber er ist deshalb noch nicht moralischer.”<br />
“Ich denke, der Wissenschaftler ist der Ethik schon von berufswegen<br />
in besonderem Maße verpflichtet.”<br />
“Die Berufsethik verlangt vom Wissenschaftler Exaktheit,<br />
Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit bei der forschenden Suche<br />
nach der erkennbaren Wahrheit. Da geht er voran.”<br />
“Färbt die ständige Beschäftigung mit der Wahrheit nicht<br />
ab auf die Person?”<br />
Der Physiker schüttelt nachdenklich den Kopf. Dann sagt er:<br />
“Allenfalls wenig. Die größte Enttäuschung in meinem Studentenleben<br />
war diese: ich mußte erkennen, daß meine von<br />
mir so bewunderten und verehrten Professoren – diese Sucher,
132 WANDERER<br />
Bekenner und Hüter der Wahrheit – in ihrem privaten Leben<br />
nicht wahrhaftiger waren als andere Menschen. Damals habe<br />
ich mich verzweifelt gefragt: ‘Wenn nicht die, wer denn?’” Der<br />
Physiker wendet sich dem Maler zu. “Die Weiterentwicklung<br />
von Ethik und Moral ist eine Aufgabe für alle Menschen.”<br />
“Aber ein Chemiker …”<br />
“Ein Chemiker, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit glasharte<br />
Logik praktiziert, unbeirrt die Wahrheit sucht und<br />
unnachgiebig auf der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher<br />
Ergebnisse beharrt, ist dennoch fähig, sich quer durch die<br />
Welt zu lügen und sich unbeirrt unüberprüfbaren mystischen<br />
oder religiösen Vorstellungen hinzugeben. Hier wird er schizophren.”<br />
Unfehlbarkeit<br />
“War die Religion dem Menschen nicht eine Richtschnur,<br />
eine Hilfe? Hat sie nicht das Los der Menschen erleichtert,<br />
verbessert?”<br />
“Richtschnur, ja. Hilfe, nur wenigen. Verbessert, nichts.”<br />
“Darüber denke ich anders.”<br />
“Das ist Wunschdenken. Keine der gegenwärtig<br />
existierenden Religionen hat die Menschheit wirklich<br />
verbessert. Kein Gebot kann eine Änderung <strong>im</strong> Verhalten der<br />
Menschheit bewirken ohne Einsicht, ohne Orientierung an<br />
der Realität, ohne den aus Angst und Leid geborenen und vom<br />
Menschen akzeptierten Zwang der Notwendigkeit.”<br />
“Angst und Leid lassen die Seele schrumpfen.”<br />
“Angst und Leid vermögen zu verändern – mehr als Glauben<br />
und Sicherheit.”<br />
“Sind da nicht Strenge und Autorität wirksamere Kräfte?”<br />
“Mit Strenge und Autorität haben Staats- und Religionsführer<br />
selten gespart. Der Erfolg blieb mäßig. Ich hoffe, daß für moderne<br />
Menschen Einsicht als Basis für Moral wirksamer sein
Unfehlbarkeit 133<br />
kann als von Politikern oder Klerikern verordneter Zwang.”<br />
“Offenbar ist die katholische Kirche da anderer Ansicht. Der<br />
Papst hat ja gerade wieder Fundamentalistisches in den Vordergrund<br />
gerückt, die Zügel straffer gezogen. Und er hat<br />
erneut seinen Anspruch auf Unfehlbarkeit bekräftigt.”<br />
“Unfehlbarkeit für einen Menschen??”<br />
“Freilich, das klingt merkwürdig.”<br />
“Merkwürdig? Der Anspruch eines Menschen auf Unfehlbarkeit<br />
ist der Gipfel narzißtischer Selbstüberhöhung.”<br />
“Ein hartes Urteil.”<br />
“Ein Mensch, der in unseren Tagen für sich Unfehlbarkeit<br />
proklamiert – und sei es auch nur <strong>im</strong> Rahmen seiner Religion<br />
– disqualifiziert sich als geistige und geistliche Autorität.”<br />
“Der Papst”, widerspricht der Maler, “ist der oberste Repräsentant<br />
einer riesigen Glaubensgemeinschaft, einer weltweit<br />
sehr erfolgreichen Kirche. Einer Kirche, die auf geistigen und<br />
geistlichen Gebieten über zahlreiche Generationen unerhört<br />
viel geleistet hat.”<br />
“Wenn der Papst weiterhin unbeirrt an mittelalterlichen<br />
Vorstellungen festhält – Zölibatsgebot für Priester, Sexualkodex<br />
für Gläubige – wird seine große Kirche bald zu einer<br />
kleinen Sekte werden.”<br />
“Kann eine harte Hand nicht manchmal Wunder wirken?<br />
Richtpfosten einrammen? Gutes bringen?”<br />
“Nicht die harte Hand autoritärer Vermessenheit.”<br />
“Sie! Der Papst …”<br />
“Der Papst steht vor sehr schwierigen Aufgaben und Entscheidungen.<br />
Er muß vieles in einem sein. Die Anforderungen<br />
an ihn sind gewaltig. Den Menschen, der so viel auf sich<br />
n<strong>im</strong>mt, bewundere ich. Den Ausschöpfer einer überkommenen,<br />
übergroßen Machtfülle kritisiere ich.”<br />
“Machtfülle?”<br />
“Jurisdiktionspr<strong>im</strong>at, Pr<strong>im</strong>atialgewalt! Und den Märchenkönig,<br />
den selbsternannten Stellvertreter Gottes, für den<br />
habe ich nur Kopfschütteln.”
134 WANDERER<br />
“Sie sollten mehr Verständnis aufbringen!”<br />
“Das kann ich nicht.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil es keine Moral geben kann ohne Wahrhaftigkeit und<br />
keine Würde ohne Widerstand gegen Tyrannei – religiöse oder<br />
staatliche.”<br />
Der Physiker schweigt eine Weile. Dann sagt er: “So manch<br />
ein Führer so manch einer Religion n<strong>im</strong>mt für sich mit der<br />
gleichen Selbstverständlichkeit in Anspruch, zwischen Wahrheit<br />
und Unwahrheit unterscheiden zu können, zwischen<br />
Richtigem und Falschem, mit der er anderen diese Fähigkeiten<br />
abspricht.”<br />
Jetzt nickt der Maler.<br />
“Und wer von denen denn meint, die Wahrheit gefunden zu<br />
haben, der will sie anderen oft verordnen. Wo ein solcher Wahrheitsverordner<br />
über Macht verfügt, da verbindet sich<br />
vermeintliche Wahrheit schnell mit Gewalt. Und dann<br />
beginnen furchtbare Entwicklungen.”<br />
“Freilich!”<br />
“So manch ein Religionsführer betrachtet sich als offizielles<br />
Bindeglied zwischen Mensch und Gott. Welch Anmaßung!”<br />
“Wie können Sie das Verhältnis eines Religionsführers zu<br />
seinem Gott beurteilen? Ist das nicht Anmaßung?”<br />
“Es gibt nicht einen einzigen nachprüfbaren Hinweis für die<br />
Existenz irgendeiner Ex-officio-Beziehung zwischen einem<br />
Religionsführer und seinem Gott – außer in seinem Kopf oder<br />
in seinem Herzen. Das aber ist keine Beziehung, sondern eine<br />
Einbahnstraße menschlichen Denkens, Fühlens und Hoffens.<br />
Es gibt nicht einen einzigen überzeugenden Beweis dafür, daß<br />
auch nur ein einziges Gebet eines Menschen, gleich welcher<br />
Glaubensrichtung, jemals erhört worden wäre von einem<br />
Gott.”<br />
“Woher wollen Sie das wissen? Woher nehmen Sie das Recht<br />
für eine solche Behauptung? Warum überhaupt kommen Sie<br />
zu solchen Schlußfolgerungen?”
Unfehlbarkeit 135<br />
“Weil sonst die Welt der Menschen anders aussehen müßte.<br />
Weil sonst das harte Los von Milliarden letztlich nichts anderes<br />
wäre als die Konsequenz der Nichtinanspruchnahme<br />
der besonderen Beziehungen der Religionsführer zu ihrem<br />
Gott, nichts anderes also als unterlassene Hilfeleistung!” Der<br />
Physiker fährt sich kopfschüttelnd über den kahlen Schädel.<br />
“Oder all das wäre ein Beweis dafür, daß dem Gott der Religionsführer<br />
der Mensch vollkommen wurscht ist. Oder dafür,<br />
daß deren Gott überhaupt nicht existiert. Überlegen Sie doch<br />
mal: die oft ans Herz gehenden Gebete der Gläubigen – meist<br />
nichts als Hilferufe und Bitten …”<br />
“Beten ist nicht nur Hilferufen, nicht nur Bitten. Beten ist<br />
auch Anbeten, Verehren!”<br />
“Nun gut. Aber das Anbeten und Verehren geschieht doch in<br />
der Hoffnung, daß der Angebetete den Betenden mit Wohlwollen<br />
begegnen möge, daß er die Verehrung mit Zuwendung<br />
und Hilfe vergelten möge.”<br />
Der Maler zieht die Mundwinkel nach unten. Widerstrebend<br />
nickt er.<br />
“Also: aus meiner Sicht haben Gebete die Sorgen und Leiden<br />
der Gläubigen, außer in ihren Vorstellungen, niemals mehr<br />
gelindert als Zufall oder eigenes Tun die Sorgen und Leiden<br />
der Nichtbetenden oder Nichtgläubigen.”<br />
Dem Maler kommen Bedenken: ‘Kann der mir wirklich<br />
helfen? Wie kann ich mich am Glauben aufrichten, wenn der<br />
das Beten entzaubert? Wie kann ich vorankommen, wenn der<br />
meine Lasten so schwer macht, daß sie mich <strong>im</strong>mer wieder in<br />
den Sumpf drücken?’ Von unten her starrt er den Physiker an:<br />
“Was Sie da so alles sagen! Woher wollen Sie wissen, daß Gebete<br />
den Gläubigen nichts genutzt haben?”<br />
“Weil sonst die Religionsführer längst die Wirksamkeit<br />
von Gebeten auf Grund handfester Tatsachen und objektiver<br />
Statistiken zweifelsfrei hätten belegen können, also längst etwas<br />
hätten tun können, wonach sie sich seit Jahrhunderten<br />
sehnen.”
136 WANDERER<br />
“Statistik! Was besagt sie schon!”<br />
“Sie ist das wichtigste Werkzeug der Wahrscheinlichkeitstheorie.”<br />
“Rrmm”, knurrt der Maler.<br />
“Trotz vielen Betens bleibt keinem Religionsführer Leid erspart.<br />
Ein Religionsführer lebt vermutlich nicht glücklicher,<br />
und sicher nicht länger, als ein Gottloser. Denken Sie mal darüber<br />
nach: Aus Milliarden leidender, schluchzender Münder<br />
und weinender Herzen ein unablässiges Bitten, W<strong>im</strong>mern<br />
und Stöhnen – ein weltweiter, erschütternder, nie versiegender<br />
Chor hilflos Hilfesuchender, ein Ozean des Rufens und<br />
Flehens – ohne jedes Echo!”<br />
“Willkür also heißt der Herrscher?”<br />
“Ein menschenähnlicher Gott schon.”<br />
“Sie dürfen nicht alles nur aus der Sicht der Naturwissenschaft<br />
deuten. Hier sind auch andere Felder menschlichen<br />
Wirkens beteiligt.”<br />
“Bei meiner Suche nach Antworten auf die großen Fragen<br />
der Menschheit messe ich der Wissenschaft keinen Sonderstatus<br />
bei. Ich stelle die …”<br />
“Wer große Fragen fragt, riskiert auch große Fehler.”<br />
“Ich stelle die Tragfähigkeit der Wissenschaft ebenso <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf den Prüfstand wie die der Philosophie, Kunst und<br />
Religion. Jedenfalls versuche ich das.”<br />
Der Maler sieht das anders. Kritisch wiegt er den Kopf. “Sie<br />
schw<strong>im</strong>men gegen den Strom! Der Mensch muß die Natur aus<br />
sich heraus deuten.”<br />
“Das ist der Kardinalfehler vieler Philosophen und aller Religionsführer.”<br />
“Ich sehe da keinen Fehler. Der Mensch ist ein Produkt der<br />
Natur.”<br />
“Und?”<br />
“Also kann er die Natur auch in sich suchen und deuten.”<br />
“Ein in sich selbst <strong>Suchen</strong>der sieht sein Spiegelbild.”<br />
Der Maler ärgert sich über den Begriff ‘Spiegel’. “Ihre Ent-
Unfehlbarkeit 137<br />
gegnung ist mir zu substanzlos.”<br />
“In sich selbst begründete Kathederweisheit schneidet nur<br />
ins Fleisch einer Problematik. Wenn sie auf einen Knochen<br />
stößt, schnippelt sie darum herum, dann argumentiert sie ihn<br />
weg. Übrig bleibt Breiiges, das ebenso leicht runtergeht wie es<br />
bedeutungsarm ist.”<br />
“Wir suchen nach einer uns gemäßen Antwort”, insistiert<br />
der Maler, “also müssen wir auch von uns ausgehen. Danach<br />
folgt alles andere.”<br />
“Ganz falsch! Zuerst muß der Mensch versuchen, die Rolle<br />
zu erkennen, welche die Natur ihm zuweist.”<br />
“Was soll das heißen?”’<br />
“Daß wir mehr darüber wissen müssen, wer wir wirklich<br />
sind.”<br />
“Und wer sind wir wirklich?”<br />
“Teil des Universums, verwurzelt in der irdischen Natur,<br />
der toten wie der lebendigen. Aus der Natur und ihren Geschöpfen,<br />
auch anderen Menschen, und aus dem, was wir Natur<br />
und Geschöpf antun, wie sie auf uns reagieren, erst daraus<br />
formt sich ein Spiegel, in dem wir mehr sehen können als<br />
nur uns selbst.”<br />
‘Wieder Spiegel!’, hämmert es <strong>im</strong> Hirn des Malers. ‘Spiegel!!’<br />
Blitzschnell schlägt die St<strong>im</strong>mung um. Schweiß bricht aus.<br />
Rinnt in tiefe Wangenfurchen. Salzt die Lippen. Da! Aus dem<br />
Dunkel, aus den Tiefen seiner Eingeweide, schwebt es wieder<br />
empor, das Bild des Engels. Das Bild, das so leise kommt und<br />
das so laut in ihm schreit. Der Mund lächelt, aber die<br />
wissenden Augen drohen. ‘Spiegel!!!’<br />
Gebannt verharrt der Bucklige mit geschlossenen Augen<br />
auf der Stelle. Er starrt in sein Innerstes. Es dauert eine<br />
Weile, bis er sich wieder zu bewegen vermag. Er atmet tief.<br />
Reißt den Hut vom Kopf, lockert den Schal.<br />
Nur mit Mühe findet er zurück in das Gespräch. “S…Sie sehen<br />
vieles zu einseitig”, krächzt er. “Der Mensch hat sich eine<br />
völlig neue Welt geschaffen!”
138 WANDERER<br />
“So völlig neu ist die nicht. Da ist viel Uraltes drin. Und viel<br />
Unabänderliches. Die Art unseres Empfindens und Denkens<br />
ist uns ebenso angeboren wie die Strukturen und Funktionen<br />
unseres Körpers. Unsere Hand greift, wie sie greifen kann<br />
und muß. Unser Hirn denkt, wie es denken kann und muß.<br />
Dieses unwiderbringlich festgezurrte Können und Müssen<br />
und die sich daraus ergebenden Richtungsvorgaben und Einschränkungen<br />
sind von vielen Philosophen und den meisten<br />
Religionsführern nicht erkannt worden.”<br />
Tricks<br />
‘Dieser Wissenschaftler’, denkt der Künstler, ‘der hat sein<br />
eigenes Fenster zur Welt. Der sieht Dinge, die ich nicht sehe.<br />
Und der empfindet so manches anders als ich. Kann der mir<br />
wirklich helfen? Wo versteckt sich der Teufel? Ich muß ihn<br />
entlarven! Wir müssen ihn be<strong>im</strong> Namen nennen!’ – “Wie paßt<br />
der heutige Mensch in die Natur?”<br />
“Schlecht.”<br />
“Warum?”<br />
“Er hat sich in ein Dilemma hineinentwickelt.”<br />
“Was für ein Dilemma?”<br />
“Das Leben auf der Erde ist mehrere Milliarden Jahre alt.<br />
In dieser unermeßlichen Zeitspanne haben sich die verschiedenen<br />
Lebensformen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander<br />
ausgebildet und in enger Bindung zu ihrer Umwelt. Keine<br />
der Millionen verschiedener Lebensformen kann für sich allein<br />
existieren, auch nicht der Mensch.”<br />
“Ich weiß. Sie alle leben in Ökosystemen.”<br />
“So ist es.”<br />
“Wo liegt das Dilemma?”<br />
“Im zunehmenden Hinauswachsen des Menschen aus seinem<br />
Ökosystem.”<br />
“Hinauswachsen? Wie sieht’s innen aus? Wie ist das Zu-
Tricks 139<br />
sammenleben innerhalb von Ökosystemen geregelt?”<br />
“Durch unerbittliche Gesetze.”<br />
“Was für Gesetze?”<br />
“Man kann ihre Essenz in vier Punkten zusammenfassen.”<br />
Der Physiker holt Zettel hervor aus seiner Jackentasche. Er<br />
hat stets Zettel bei sich und einen Schreiber. Wenn ihm etwas<br />
einfällt, das ihm wichtig erscheint, macht er sich sogleich darüber<br />
Notizen. Er sortiert die Zettel. Und nun beginnt er:<br />
“Rücksichtslosigkeit: Genetische Programmierung jedes<br />
Systemmitglieds auf erbarmungslose Konkurrenz, Ausbeutung<br />
und Ausnutzung aller Möglichkeiten der eigenen Vorteilsnahme.<br />
Koevolution: Eingliederung und Einbindung aller Mitglieder<br />
in die Fließmuster der Energie und das Zirkulieren der<br />
Materie.<br />
Reifung: Förderung des Eigenschaftsreichtums, Zunahme<br />
von Diversifikation. Ausbau eines vernetzenden Beziehungsgewebes.<br />
Absicherung: Entwickeln von Selbstregulation. Vermeiden<br />
einer Anreicherung systemgefährdender Substanzen und Vermeiden<br />
der Ausformung einer systemgefährdenden Art.”<br />
“Ich sehe kein Dilemma.”<br />
“Nach Millionen von Jahren völliger Einbindung in die Systemgesetze<br />
ist der Mensch eigene Wege gegangen. Ursprünglich<br />
ein voll integriertes Systemmitglied, hat er Regulationsmechanismen<br />
unterlaufen und ist zu einer systemgefährdenden<br />
Art geworden.”<br />
“Was sind das für Mechanismen?”<br />
“Sie basieren auf Kontroll- und Korrekturkräften, die in<br />
ihrer Wirkung den Mechanismen vergleichbar sind, welche in<br />
Einzelorganismen Ganzheit und Harmonie herstellen. Im Bereich<br />
von Ökosystemen ist das noch weitgehend wissenschaftliches<br />
Neuland. Ich sehe jedoch Ansatzpunkte für ein Eindringen<br />
in diese Problematik.”<br />
“Welche?”
140 WANDERER<br />
“Überall da, wo eine Art das ihr gemäße ökologische Potential<br />
überhöht und so die Systemharmonie kritisch deformiert,<br />
schlägt das System zurück.”<br />
“Wie?”<br />
“Das System stärkt Kräfte, die den Ausbrecher schwächen.<br />
So zwingt es ihn wieder zurück in die natürliche Dynamik<br />
oder läßt ihn aussterben. Außer Kontrolle geratene Systemkomponenten<br />
…”<br />
“Was ist das?”<br />
“Lebensformen, welche systemtypische Energie- und<br />
Materieströme deformieren.”<br />
“Deformieren? Wie?”<br />
“Durch explodierendes Populationswachstum, durch systemschädigendes<br />
Verhalten.”<br />
“Zum Beispiel?”<br />
“Im Verlaufe des letzten Jahrhunderts hat die Menschheit<br />
die Atmosphäre mit etwa 150 Milliarden Tonnen zusätzlichen<br />
Kohlenstoffs belastet. Hinzu kommen in jüngerer Zeit riesige<br />
Mengen giftbeladener Luft von Industrie, Autos und Haushalten.<br />
Dadurch werden Veränderungen verursacht, nicht zuletzt<br />
auch <strong>im</strong> Kl<strong>im</strong>a. Das wird auf den Menschen zurückschlagen.”<br />
“Freilich! Und das ist sicherlich ähnlich mit anderen vom<br />
Menschen verursachten Umweltschäden.”<br />
“So ist es. Für alle Wunden, die der Mensch der Schöpfung<br />
schlägt, muß er früher oder später die Schmerzen ertragen.”<br />
“Aber Schäden durch Technik könnten doch auch durch Technik<br />
wieder beseitigt werden.” Der Maler grinst. “Ich erinnere<br />
mich da an eine Story. Zwei Unternehmer stehen an einem<br />
Fluß. Fragt der eine: ‘Wie läufts?’ Sagt der andere: ‘Könnte<br />
nicht besser sein. Da oben verunreinigen wir den Fluß, da<br />
unten reinigen wir ihn wieder. Beidesmal verdienen wir.’”<br />
“Und beidesmal leidet die Natur.”<br />
Der Maler nickt. “Und beidesmal müssen wir die Rechnung begleichen.”<br />
Dann fragt er: “Gibt es andere Regulationskräfte?”
Tricks 141<br />
“Hormone und Mikroorganismen. Hormone, also chemische<br />
Regulationsstoffe, treiben und dirigieren Stoffwechselprozesse,<br />
in einzelnen Lebensformen und in Ökosystemen. Wenn<br />
der Mensch die Chemie durcheinander bringt, kann das sehr<br />
nachteilig auf ihn zurückwirken. Mikroorganismen beeinflussen<br />
in erheblichem Maße das erdweite Fließen von Energie<br />
und das Rezirkulieren von Materie. Ich halte es für möglich,<br />
daß Mikroorganismen auf diese Weise – und als Krankheitserreger<br />
– Kontrollfunktionen wahrnehmen, daß sie langfristig,<br />
durch eine Schwächung oder Auslöschung einer in Anzahl<br />
und Einfluß zu stark werdenden Art, mithelfen, die<br />
Harmonie wiederherzustellen.”<br />
“Ich sehe das umgekehrt: Menschengemachte Antibiotika<br />
kontrollieren Bakterien!”<br />
“Das Bakterium, welches Tuberkulose hervorruft, konnte<br />
früher mit einem Antibiotikum ausgeschaltet werden. Dann<br />
wurden zwei verschiedene Antibiotika erforderlich und schließlich<br />
drei oder gar vier. Bakterien entwickeln Abwehrmechanismen<br />
gegen Antibiotika oft schneller als der Mensch neue<br />
Antibiotika erfinden kann.”<br />
“Wie machen das die Bakterien? Hier kämpft doch hochentwickelter<br />
Verstand gegen hirnlose Dummheit.”<br />
“Das sind Noten, die Menschen sich und den Bakterien geben.<br />
Eine solche Einschätzung geht an der für uns heute erkennbaren<br />
Realität vorbei.”<br />
“Wie also machen das die Bakterien?”<br />
“Sie nutzen etwas, das ich als Universalverstand bezeichne.”<br />
“Was ist das?”<br />
“Ein Verstand, der allem Leben eigen ist.”<br />
“Und was bewirkt dieser Verstand für die Bakterien?”<br />
“Er ermöglicht ihnen, dem antibiotischen Angriff der Mediziner<br />
zu begegnen.”<br />
“Wie?”<br />
“Über viele Generationen verändern die Bakterien ihren<br />
Stoffwechsel so, daß er auch in Anwesenheit der Antibiotika
142 WANDERER<br />
funktioniert. Sie produzieren Enzyme, die Antibiotika<br />
abbauen, noch bevor diese in die Bakterienzelle eindringen<br />
können. Sie konstruieren Moleküle, die Antibiotika ‘auffressen’,<br />
nachdem diese in die Zelle eingedrungen sind. Sie<br />
entwickeln Pumpen, die eingedrungene Antibiotika wieder<br />
aus ihrer Zelle hinausbefördern. Sie verändern die Struktur<br />
eines Moleküls, an das Antibiotika andocken müssen, um wirksam<br />
werden zu können. Der Erfindungsreichtum der Bakterien<br />
scheint unerschöpflich zu sein.”<br />
“Aber die Medizin hat die meisten krankheitserregenden<br />
Mikroben unter Kontrolle und viele von ihnen bereits vernichtet.”<br />
“Das ist ein frommer Wunsch. Wir erleben einen für uns<br />
<strong>im</strong>mer gefährlicher werdenden Krieg. Einen Krieg des Erfindungsvermögens<br />
der Mikroben gegen das Erfindungsvermögen<br />
unseres Immunsystems und unseres Gesundheitswesens.<br />
Die Mikroben müssen sich gegen Immunsystem und<br />
Gesundheitswesen durchsetzen, sonst kommen sie nicht an<br />
ihre Energie- und Materialresourcen. Wir müssen sie abwehren,<br />
sonst schädigen oder vernichten sie uns.”<br />
“Wie stehen unsere Chancen?”<br />
“Wir haben keine guten Aussichten, diesen Krieg zu gewinnen.<br />
Der ständig wachsenden und <strong>im</strong>mer besser ausgerüsteten<br />
Angriffsarmee haben wir <strong>im</strong>mer weniger entgegenzusetzen.<br />
Die Angreifer haben den Vorteil einer sehr kurzen<br />
Generationszeit und damit einer großen genetischen Beweglichkeit.<br />
Sie formen <strong>im</strong>mer wieder neue genetische Linien und<br />
zwingen unseren Körper, für jede Angriffseinheit eine Abwehreinheit<br />
hervorzubringen. Das ist eine gewaltige Aufgabe,<br />
umsomehr als wir unser Immunsystem durch eigene Unvernunft<br />
<strong>im</strong>mer stärker und in der vielfältigsten Weise schwächen<br />
und schädigen. Längst besiegt geglaubte Seuchen kehren<br />
zurück. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet in <strong>im</strong>mer<br />
kürzer werdenden Zeitabständen von neu entdeckten, für den<br />
Menschen potentiell gefährlichen Mikroben. Global geht be-
Tricks 143<br />
reits ein sehr hoher Prozentsatz aller Todesfälle auf mikrobielle<br />
Erreger zurück – vor allem auf Viren, Bakterien und Pilze.<br />
Milliarden Menschen leiden an Infektionskrankheiten. Einige<br />
Kenner der Szene warnen sogar vor einem Mikroben-GAU.”<br />
“Was ist das?”<br />
“Eine weltweite Infektion durch einen neuen Super-<br />
Mikroorganismus, der in kurzer Zeit Milliarden Menschen<br />
tötet.”<br />
“Ein Horrorszenario!!”<br />
“Ein weiteres Beispiel für Kontrollmöglichkeiten der Natur<br />
ist das mit der Ausreifung einer Art einhergehende Nachlassen<br />
ihres evolutiven Elans. Das führt zu einer Verringerung<br />
ihres Vermögens, auf Veränderungen zu reagieren. Und<br />
schließlich gibt es da auch noch die Möglichkeit der Selbstvernichtung<br />
eines Harmoniebrechers.”<br />
“Wer vernichtet sich selbst?”<br />
“Der Mensch.”<br />
“Der Mensch?!”<br />
“Wir sind ja schon kräftig dabei. Da gibt’s verschiedene<br />
Möglichkeiten zusätzlich zur militärischen Eigenvernichtung<br />
und zur Umweltdegradierung. Zum Beispiel<br />
Beeinträchtigung der natürlichen Selektion – nicht nur bei<br />
Organismen, die wir für unsere eigenen Zwecke nutzen,<br />
sondern auch bei uns selbst.”<br />
“Bei uns selbst? Das verstehe ich nicht.”<br />
“Unsere Erfolge in der Bekämpfung von Krankheiten feiern<br />
wir als Fortschritt.”<br />
“Freilich!”<br />
“Aber kaum jemand hat begriffen, was das langfristig bedeutet.”<br />
“Was?”<br />
“Krankheiten gibt es bei allen Lebewesen, vom Virus bis<br />
zum Wal.”<br />
“Und?”<br />
“Krankheiten sind ein natürliches ökologisches Korrektiv,
144 WANDERER<br />
ein Instrument der Selektion und ein Motor der Evolution.<br />
Erfolge in der Bekämpfung von Krankheiten auf der Ebene<br />
des Individuums führen langfristig zu einer Schwächung der<br />
Entwicklungs- und Abwehrkräfte auf der Ebene der Art.”<br />
“Das … Ist das eine Kritik an den Ärzten?”<br />
“Ärzte sind bestrebt, menschliches Leben zu erhalten. So<br />
unterstützen sie ein übermäßiges Wachstum der Weltpopulation.<br />
So ermöglichen sie manchem Kranken, sein Erbgut<br />
weiterzugeben. Die Resultate sind eine Überbeanspruchung<br />
unserer Lebensgrundlagen und eine Verformung der arterhaltenden<br />
Kräfte der Selektion. Beides schadet uns.”<br />
“Schadet? Wodurch?”<br />
“Dadurch, daß der Mensch in naturgewolltes Geschehen eingreift.<br />
Das wird langfristig die Lebensfähigkeit der Menschheit<br />
verringern. Also: Ärzte unterstützen das Individuum,<br />
aber sie schwächen, natürlich ohne das zu wollen, die Art.<br />
Hier wird, wie so oft, durch die Bekämpfung eines Problems<br />
ein neues Problem erzeugt.”<br />
“Aber …”<br />
“So manche Aktivitäten der Menschen schädigen nicht nur<br />
ihre Umwelt, sondern auch ihre Innenwelt. Nachteilige Veränderungen<br />
<strong>im</strong> Genpool sind nicht wieder gutzumachen.”<br />
“Ja wollen Sie denn kranke Menschen, denen einen Arzt<br />
helfen könnte, lieber leiden, lieber sterben lassen?”<br />
“Natürlich nicht! Aber eben hier liegt ja ein weiterer, unauflöslicher<br />
Aspekt des Dilemmas.”<br />
“Ärzte heilen! Das ist…”<br />
“Nicht Ärzte heilen, sondern die Natur. Der eigentliche<br />
Vorgang der Heilung entzieht sich ärztlicher Kunst. Was da<br />
wirklich passiert, das weiß der Arzt auch heute noch nicht.<br />
Ein Arzt kann den kranken Körper, die geschädigte Psyche<br />
unterstützen. Er kann den Heilungsprozeß fördern. Das Heilen<br />
aber, das vollbringt der Körper selbst. Heilen liegt außerhalb<br />
der Grenzen menschlicher Möglichkeiten – wie das Verhindern<br />
von Altern und Sterben.”
Tricks 145<br />
“Aber die Medizin hat enorme technische Fortschritte erzielt.<br />
Sie verfügt jetzt über machtvolle Behandlungsmethoden,<br />
von denen wir noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen<br />
wagten.”<br />
“Ja”, lächelt der Physiker, “manche davon sind so machtvoll,<br />
daß man sie als ‘Körperverletzung mit gutem Vorsatz’ einstufen<br />
könnte.”<br />
“Glauben Sie nicht, daß Genmanipulationen helfen können?<br />
Daß die Genforschung unerwünschte Erbgutveränderungen<br />
durch gezielte Eingriffe wieder in Ordnung bringen kann?”<br />
“Allenfalls in besonderen Situationen.”<br />
“Aber andere Wissenschaftler behaupten, daß sich da sogar<br />
Möglichkeiten ergeben werden, die Natur zu verbessern.”<br />
“Der Mensch weiß noch <strong>im</strong>mer nicht, wie die Natur funktioniert.<br />
Wie kann er sie da verbessern?”<br />
“Viele Fortschritte schienen zuerst unmöglich.”<br />
“Fast alle Fortschritte haben neben Vorteilen auch Nachteile<br />
gebracht. Bei aller Freude über Fortschritte sollten wir<br />
potentiellen Nachteilen und Gefahren größere Aufmerksamkeit<br />
widmen. Bescheidenheit steht dem Menschen besser an<br />
als euphorische Überschätzung der eigenen Möglichkeiten.”<br />
“Früher waren die Menschen bescheidener.”<br />
“Die Menschen waren nie bescheiden. Sie waren nur weniger<br />
mächtig.”<br />
Der Maler schweigt einen Augenblick. Dann sagt er: “Dem<br />
Menschen ist eine Sonderrolle zugedacht. Könnte Gott daher<br />
nicht einen erneuten Ausgleich <strong>im</strong> Naturgeschehen herbeiführen,<br />
ohne dem Menschen Schaden zuzufügen?”<br />
“Ich sehe keine Sonderrolle.”<br />
“Oho!”<br />
“Alles Leben auf der Erde hat gleiche Wurzeln. Alles<br />
funktioniert auf die gleiche Weise. Alles unterliegt den<br />
gleichen Gesetzen. Die modernen Menschen allerdings …”<br />
“Was verstehen Sie darunter?”<br />
“Die Menschen der letzten Jahrzehnte, die Menschen, wel-
146 WANDERER<br />
che begonnen haben, die Erdoberfläche rücksichtslos nach<br />
ihren einseitigen <strong>Inter</strong>essen zu verändern. Diese Menschen<br />
allerdings spielen eine Sonderrolle: die Rolle des gefährlichsten<br />
Wesens, das die Evolution bisher hervorgebracht hat.”<br />
Der Maler knurrt. Ihm paßt das alles nicht. “Wenn es keine<br />
prinzipiellen Unterschiede gibt, worauf beruht dann die gewaltige<br />
Macht des modernen Menschen?”<br />
“Auf ein paar Tricks.”<br />
“Tricks? Was für Tricks?”<br />
“Der Mensch hat die langsame, sich selbst <strong>im</strong>mer wieder<br />
harmonisierende ökologische Koevolution ergänzt durch eine<br />
selbstgemachte, sich ständig beschleunigende ökonomische<br />
Soloevolution.”<br />
“Was ist das?”<br />
“Das Ergebnis ökonomischer, technologischer, wissenschaftlicher<br />
und kultureller Faktoren.”<br />
“Was für Faktoren?”<br />
“Entwicklung von Sprache und Schrift und somit der Fähigkeit,<br />
kommunikativ zu beschreiben und zu argumentieren.<br />
Organisation von Neugier und Vorteilsgewinnung in Wissenschaft<br />
und Technologie. Perfektionieren der Erarbeitung und<br />
Weitergabe individuell gewonnener Erfahrungen und Informationen<br />
durch Forschungsinstitute, Universitäten, Schulen,<br />
Druckwerke und Elektronik. Erschließung zusätzlicher Ressourcen.<br />
Aufbau eines komplexen Sozialgefüges, das Arbeitsteilung<br />
ermöglicht, und Spezialisierung. Das sind die fünf<br />
Tricks, mit denen sich der Mensch unglaubliche Konkurrenzvorteile<br />
verschafft hat gegenüber seinen Mitkreaturen. Das<br />
sind die Tricks, mit denen er sich aus seinem Ökosystem<br />
hinausentwickeln konnte, jedenfalls ein Stück.”<br />
“Schulen? Universitäten? Sie sind …”<br />
“Lern- , Lehr- und Forschungsorgane der Gesellschaft.”<br />
“Und die Mitkreaturen, was ist mit denen?”<br />
“Bei denen können von Individuen gemachte Erfahrungen<br />
nur in beschränktem Umfang an die nächste Generation wei-
Tricks 147<br />
tergegeben werden. Vor allem dann, wenn sie ihren Niederschlag<br />
finden <strong>im</strong> Erbmaterial, wenn sie also der neuen Generation<br />
als angeborene Verhaltensmuster zur Verfügung<br />
stehen. Das ist ein langsamer Prozeß. Wo eine Weitergabe individuell<br />
gewonnener Erfahrungen fehlt, da müssen Neugeborene<br />
mit dem Eingemachten anfangen.”<br />
“Bei Tieren.”<br />
“Auch bei Menschen. Was glauben Sie, wie sich ein neugeborenes<br />
Kind entwickeln würde ohne Informationsbelieferung,<br />
ohne Erziehung, ohne Vorbild, also – außer Nahrungszufuhr<br />
– in völliger Isolation? Es wäre seinen Mitgeschöpfen<br />
hoffnungslos unterlegen. Bitte bedenken Sie: Diese gewaltige<br />
Reduktion des Konkurrenzpotentials eines Menschen erfolgt<br />
bei gleicher genetischer Ausstattung. Ergo: Die Macht des<br />
modernen Menschen gegenüber seiner Mitkreatur beruht vor<br />
allem auf nicht-genetisch Dazugekommenem: Erlerntem und<br />
gezielt in Erfahrung Gebrachtem, sowie dessen Auswertung,<br />
Weitergabe, Anwendung und Speicherung.”<br />
“Es ist wirklich ganz unglaublich, wie Sie das s<strong>im</strong>plifizieren!”<br />
“Ich habe das so einfach wie möglich dargestellt. Daher muß<br />
ich den Vorwurf akzeptieren, manches vor der Tür gelassen zu<br />
haben. Aber der Kern ist korrekt: kleine Veränderungen<br />
hatten <strong>im</strong>mense Folgen.”<br />
“Der Mensch ist nicht nur ein Produkt seines Ökosystems,<br />
sondern auch seiner Kultur und Zivilisation!”<br />
“Die hängen nicht in der Luft. Auch sie wurzeln <strong>im</strong> harten<br />
Boden der Ökosystemgesetze. Auf diesem harten Boden sind<br />
sie zarte Pflanzen geblieben.”<br />
“Kultur und Zivilisation haben dem Menschsein eine völlig<br />
neue Qualität verliehen!”<br />
“Ich sehe keine völlig neue Qualität. Allenfalls zarte Blüten<br />
an den zarten Pflanzen. Auch Kulturen bekämpfen einander.”<br />
“Sie sehen das zu negativ.”<br />
“Ungeachtet kultureller und zivilisatorischer Errungenschaf-
148 WANDERER<br />
ten führt die gewaltige Veränderungsmacht von mehreren<br />
Milliarden Menschen und deren horrendes militärisches<br />
Vernichtungspotential zu massiven Deformationen <strong>im</strong> Haushalt<br />
der Natur und zu einer kolossalen Bedrohung irdischer<br />
Lebensformen. Diese gefährliche Entwicklung wird noch<br />
angeheizt durch Rivalitäten zwischen konkurrierenden politischen<br />
und wirtschaftlichen Machtgruppierungen, durch<br />
wachstumsorientierte Politik und Wirtschaft, durch eine explosive<br />
Vermehrung der Anzahl an Menschen und durch<br />
deren steigenden Pro-Kopf-Umsatz an Energie und Materie.<br />
Hier haben Sie eine Kurzbeschreibung des ganzen Ausmaßes<br />
des Dilemmas.”<br />
Der Maler will etwas sagen, aber die Gedanken des Physikers<br />
überschlagen sich. “Im Theaterspiel der Schöpfung gibt<br />
es für den Menschen nur zwei prinzipielle Rollenpläne: Ökosystemmitglied<br />
oder Ökosystemkontrolleur. Ein normales<br />
Ökosystemmitglied ist der Mensch nicht mehr, ein<br />
funktionsfähiger Kontrolleur noch nicht. Ob er das jemals<br />
werden kann, bezweifle ich.”<br />
“Warum?”<br />
“Die Rolle eines Ökosystemkontrolleurs erfordert – neben<br />
umfassendem Wissen – Eigenschaften, die sich grundsätzlich<br />
unterscheiden von denen eines Ökosystemmitglieds: Selbstbeschränkung,<br />
Verantwortlichkeit, Achtung vor der Mitkreatur.<br />
Für derartige Eigenschaften gibt es in der Natur keine<br />
Selektionsmechanismen.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil sie für ein Ökosystemmitglied, das ja mit koexistierenden<br />
Arten <strong>im</strong> gnadenlosen Wettbewerb steht, tödlich wären.”<br />
Wieder knurrt der Maler. Er überlegt. “Das ist eine Betrachtungsweise,<br />
die neu für mich ist.” Er wiegt den Kopf. Schließlich<br />
sagt er: “Mir scheint, Ihre Darstellung ist in sich logisch.<br />
Durchaus plausibel. Die Essenz …”<br />
“Die Essenz ist diese: In jeder seiner Milliarden Zellen ist
Tricks 149<br />
der Mensch genetisch programmiert für seine Rolle als Ökosystemmitglied.<br />
Aber <strong>im</strong> nichtgenetischen Bereich hat er<br />
gewaltige, die Systemharmonie sprengende Konkurrenz-,<br />
Veränderungs- und Vernichtungspotentiale entwickelt.”<br />
“Sehen Sie eine Lösung für dieses Problem?”<br />
“Die Menschen müssen die gefährlichen Auswirkungen ihrer<br />
selbstgemachten ökonomischen Soloevolution kompensieren<br />
durch eine ebenfalls selbstgemachte ethische Soloevolution<br />
und auf diese Weise einen erneuten Ausgleich untereinander<br />
und mit der Natur anstreben.”<br />
“Was verstehen Sie unter ethischer Soloevolution?”<br />
“Die Summe der moralisch motivierten Kräfte und Prozesse,<br />
die erforderlich sind, um eine Entartung der ökonomischwissenschaftlich-technologisch-militärischen<br />
Entwicklungen<br />
zu verhindern.”<br />
“Ist das machbar?”<br />
“Das ist äußerst schwierig. Die ökonomische Soloevolution<br />
wird angetrieben durch mächtige Süchte und Triebe. Ständig<br />
schreien sie nach mehr Macht, Raum, Geld, Wachstum, Erfolg.<br />
Im Vergleich dazu sind die Antriebskräfte für die ethische<br />
Soloevolution noch kümmerlich entwickelt: Wahrhaftigkeit,<br />
Verantwortlichkeit und Einsicht.”<br />
Auf ihrer Wanderung um den See herum sind die beiden<br />
jetzt in jenem Teil des <strong>Park</strong>s angelangt, in dem sich die Natur<br />
frei entfalten kann, in der Wildnis. Hier wandern sie auf engen,<br />
sich windenden Wegen, deren Boden kaum je ein Sonnenstrahl<br />
erwärmt. Von den Seiten her drängeln Zweige riesiger<br />
Tannen mit langen Bärten aus Flechte. Jetzt betreten<br />
sie einen Wegabschnitt, der umsäumt ist von alten Erlen und<br />
Weiden.<br />
“Für mich”, sagt der Physiker, “ist dies der schönste Teil des<br />
<strong>Park</strong>s. Hier verbringe ich viel Zeit, wenn ich allein spazieren<br />
gehe. Hier habe ich Erlebnisse gehabt, die mich <strong>im</strong>mer wieder<br />
zutiefst bewegen.”
150 WANDERER<br />
“Was sind das für Erlebnisse?” Der Maler denkt an seine eigenen<br />
besonderen Erlebnisse <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Für einen Augenblick<br />
erscheint es ihm nicht völlig ausgeschlossen, daß das Gefühlsleben<br />
des Physikers von dem seinen gar nicht so verschieden<br />
ist.<br />
“Ich begegne hier Erscheinungen, von denen ich vermute,<br />
daß sie nicht in unsere Erdenwelt gehören. Erscheinungen,<br />
die eine Beziehung zu dem zu haben scheinen, was mich in zunehmendem<br />
Maße beschäftigt.”<br />
“Das klingt gehe<strong>im</strong>nisvoll. Darf man da weitere Fragen stellen?”<br />
“Man darf. Aber es gibt derzeit keine Antworten.”<br />
“Weil Sie noch nicht wissen, was das für Erscheinungen sind,<br />
oder weil sie darüber noch nicht sprechen wollen?”<br />
“Beides.”<br />
Schweigend wandern die beiden weiter. Der Maler überlegt,<br />
wie er den anderen dazu bringen könnte, sein Gehe<strong>im</strong>nis<br />
preiszugeben. “Erst machen Sie mich neugierig, und dann<br />
lassen Sie mich in der Luft hängen. Wahrscheinlich werde ich<br />
jetzt solange unruhig schlafen, bis ich weiß, wovon Sie reden.”<br />
“Tut mir leid.”<br />
“Und wenn ich wirklich nicht schlafen kann?” Der Maler<br />
grinst gewitzt. Irgendwie hofft er, den Physiker doch noch aus<br />
seiner Reserviertheit herauslocken zu können.<br />
Der aber schweigt.<br />
Wortlos setzen sie ihre Wanderung fort.<br />
“Schauen Sie mal”, schüttelt der Maler den Kopf, “das ist ja<br />
wirklich wie <strong>im</strong> Urwald!”<br />
Eine große, morsche Weide ist umgestürzt. Ihre gewaltige<br />
Krone liegt quer über dem Weg. So müssen sie sich einen Pfad<br />
durchs Buschwerk bahnen. Der Maler geht voran. Er hat da<br />
einige Übung. Mit einem Ruck bleibt er stehen. Wie zu Stein<br />
erstarrt, verharrt er auf der Stelle, das rechte Bein noch in der<br />
Luft. Nicht weit vor ihm liegt ein nacktes Paar, das sich äußerst<br />
intensiv einer Beschäftigung hingibt, von der er bisher
annahm, daß sie für den nächtlichen <strong>Park</strong> reserviert sei.<br />
Blitzschnell explodiert Erregung, greift die Hand zum Schritt.<br />
Doch dann steht auch schon der Physiker hinter ihm. Was<br />
würde er darum geben, wenn der jetzt nicht da wäre!<br />
Der Wissenschaftler tippt dem Künstler leicht auf die<br />
Schulter, lächelt und winkt ihn mit dem Kopf zurück. Widerstrebend<br />
folgt ihm der Maler, nicht ohne sich noch zwe<strong>im</strong>al<br />
umzusehen. Wieder bei der umgestürzten Weide angelangt,<br />
sagt der Physiker: “Natur pur. Wie schön. Da sollte man nicht<br />
stören. Kommen Sie, wir gehen links ‘rum.”<br />
Dem Maler fällt es schwer, seine Erregung zu verbergen.<br />
Ihm ist das sehr unangenehm. Ja, ihm ist das außerordentlich<br />
peinlich!<br />
Freier Wille<br />
Freier Wille 151<br />
Ein ganzes Stück wandern Maler und Physiker auf dem langen<br />
Weg, der um den See herumführt, ohne ein einziges Wort<br />
zu wechseln. Bunte Schmetterlinge flattern taumelnd und<br />
kursändernd an ihnen vorüber, aufgeregte Vögel jagen einander,<br />
sch<strong>im</strong>pfen und zwitschern, emsige Bienen summen …<br />
Aber der Maler sieht und hört das alles nicht. Seine drängelnde<br />
Neugier ist plötzlich versunken in bedrückender Nachdenklichkeit.<br />
“Die Expeditionen an die Grenzen Ihrer Vorstellungswelt”,<br />
sagt er schließlich, “sie werden uns noch lange beschäftigen.<br />
Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne etwas vorwegnehmen.<br />
Es geht um eine für mich sehr wichtige Frage.”<br />
“Wie lautet die Frage?”<br />
“Haben wir Menschen einen freien Willen?”<br />
“Nein. Wir Menschen haben keinen freien Willen.”<br />
Entrüstet atmet der Zwerg aus. Die Schultern fallen nach<br />
unten. Die Wulstlippen pressen aufeinander. “S…so klar”, sagt<br />
er mit rauher St<strong>im</strong>me, “so einfach ist das für Sie?”<br />
“Ja. Aber wir können uns einbilden, ohne bewußtwerdendes
152 WANDERER<br />
Selbstbelügen, daß wir einen freien Willen hätten.”<br />
“Das müssen Sie mir schon erläutern!”<br />
“Die meisten Menschen sind davon überzeugt, daß sie einen<br />
freien Willen haben. Aber das ist eine Illusion. Was sie<br />
wirklich haben, das ist die Möglichkeit der Beeinflussung des<br />
sich in ihnen formenden Willens, die Möglichkeit einer <strong>Inter</strong>vention<br />
des Geistes. Diese Möglichkeit ist größer <strong>im</strong> Denken<br />
als <strong>im</strong> Handeln.”<br />
Der Maler will das so nicht gelten lassen. “Schauen Sie mal,<br />
das macht doch keinen Sinn. Wie paßt denn das zusammen?<br />
In unserem täglichen Leben, für unseren normalen Umgang<br />
miteinander ist doch letzten Endes entscheidend, daß wir<br />
fühlen und somit für uns selbst auch wissen, daß wir etwas<br />
aus freiem Willen tun.” Er denkt nach. Dann sagt er, leiser:<br />
“Manchmal tun wir etwas, das wir eigentlich gar nicht tun<br />
wollen. Aber manchmal ist es uns auch möglich, das nicht zu<br />
tun – auf Grund neugewonnener Einsichten.”<br />
“Das Ausmaß der Möglichkeiten, auf die Willensbildung<br />
Einfluß zu nehmen, ist eine Funktion von Angeborenem und<br />
Erworbenem: Erziehung, Lernen, Vorbild, sowie der Kraft, die<br />
wir aus eigener Einsicht und Verantwortlichkeit mobilisieren<br />
können. Was am Ende herauskommt, hängt ab von der<br />
unterschiedlichen Qualität und Intensität der beteiligten<br />
Faktoren und von dem individuellen Stil der inneren<br />
Konfliktbewältigung. Wo aber der Wille stark ist, wo er sich<br />
klare Ziele setzt, da kann das Wollen viel bewirken.”<br />
“Was ist mit der Vernunft?”<br />
“Was verstehen Sie darunter?”<br />
“Unmittelbare, objektive Umsetzung eigener Sinneseindrücke<br />
und …”<br />
“So etwas gibt es nicht.”<br />
“… Einsicht, Besonnenheit und Logik als Grundlage für<br />
Denken und Handeln.”<br />
“So etwas ist selten.”<br />
“Sie unterschätzen die Vernunft!”
Freier Wille 153<br />
“Ich halte nicht so viel von der theoretisierenden Verklärung<br />
menschlicher Vernunft – nicht so viel jedenfalls wie mancher<br />
Philosoph.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Woher n<strong>im</strong>mt die Vernunft ihre Vernunft?”<br />
“Die Frage gebe ich an Sie zurück.”<br />
“So wie ich das sehe, entwächst Vernunft dem Urboden der<br />
Schöpfung. Sie war vor dem Menschen da und sie existiert<br />
auch außerhalb von ihm. In der realen Menschenwelt ist Vernunft<br />
mehr Ziel als Wirklichkeit.”<br />
“Die Geschichte der Menschheit spricht dagegen!”<br />
“Die Geschichte der Menschheit ist ein Triumpf der Unvernunft.”<br />
“Sie!”<br />
“Mehr noch: Die Geschichte der Menschheit ist eine zutiefst<br />
inhumane Geschichte.”<br />
“Rrmm!” knurrt der Maler. Nach einer Weile sagt er: “Sie<br />
haben von der realen Menschenwelt gesprochen. Gibt es eine<br />
andere?”<br />
“Die Welt der Phantasie und Träume. Ich nenne sie die<br />
nicht-reale oder die zweite Menschenwelt. Im Traum sind wir<br />
den Urquellen unseres Empfindens, unserer Wünsche, Triebe,<br />
Ängste und auch unseres Geistes näher als <strong>im</strong> Wachen. Im<br />
Traum gerät manches, das sonst nicht gerät, da ist vieles<br />
schöner, bunter und intensiver als in der realen Welt. Aber<br />
<strong>im</strong> Traum kann die Phantasie auch ins Bizarre, Unsinnige<br />
und Furchterregende wuchern. In der ersten, der realen Welt<br />
führt das Bewußtsein Regie, in der zweiten das Unterbewußtsein.”<br />
“Was also ist mit der Willensbildung?”<br />
“Das Resultat eines Willensbildungsprozesses, das wir als<br />
freie Entscheidung empfinden können, ergibt sich aus einem<br />
Konflikt zwischen verschiedenen in uns wirksamen, oftmals<br />
miteinander ringenden Faktoren, von denen jeder sozusagen<br />
einen eigenen Willen haben kann.”
154 WANDERER<br />
“Welche Faktoren sind beteiligt?”<br />
“Bei der Willensbildung, der unbewußten oder der absichtsvollen,<br />
also bewußt werdenden Entscheidung zwischen Alternativen,<br />
unterscheide ich vier Gruppen von Faktoren:<br />
Die erste Gruppe beinhaltet konstitutionelle Faktoren, wie<br />
Ererbtes, Gesundheitszustand und Alter, sowie Grundbedürfnisse:<br />
Fortpflanzung, Durst, Hunger, Schlaf, geeignete Umwelt<br />
und soziale Einbindungen. Hier dominieren Gemeinsamkeiten<br />
mit den Tieren.<br />
Die zweite Gruppe umfaßt gefühlsbetonte Faktoren: St<strong>im</strong>mungslage,<br />
Angst, Wut, Sucht, Trieb. Bei der Sucht nenne ich<br />
Sehnsucht, Eifersucht und Geltungssucht. Auch Drangzustände,<br />
Neigungen und Teilaspekte der Liebe lassen sich<br />
hier einordnen. Zu den Trieben gehören Geschlechtstrieb, Ernährungstrieb,<br />
Selbsterhaltungstrieb und Machttrieb. Sie<br />
sind ein unmittelbares Erbe aus unserer tierischen Vergangenheit.<br />
In die dritte Gruppe gehören eine Reihe subl<strong>im</strong>ierter Bedürfnisse.<br />
Ich nenne hier Wissenwollen, Kultur und religiöse<br />
Hingabe.<br />
Die vierte Gruppe umfaßt verstandesbetonte Komponenten,<br />
wie Erkenntnis und Einsicht. Und verantwortungsbetonte,<br />
wie Ethik und Moral.”<br />
“Wie werten Sie die relative Bedeutung dieser vier Gruppen?”<br />
“Je mehr die Situation, auf die wir reagieren, <strong>im</strong> Bereich der<br />
konstitutionellen und gefühlsbetonten Faktoren liegt, desto<br />
geringer sind unsere Beeinflussungsmöglichkeiten, je mehr<br />
sie <strong>im</strong> Bereich des Subl<strong>im</strong>ierten, sowie des Verstandes- und<br />
Verantwortungsbetonten liegt, desto größer werden sie.”<br />
“Warum lassen uns Gefühle so wenig Freiraum?”<br />
“Weil sie sich einfach einstellen. Weil wir sie kaum oder gar<br />
nicht beeinflussen können. Sie herrschen mehr über uns, als<br />
wir über sie.”<br />
Stumm st<strong>im</strong>mt der Maler zu.
Freier Wille 155<br />
“Insgesamt ist das komplizierter als es auf den ersten Blick<br />
erscheinen mag.”<br />
“Warum?”<br />
“Weil bei all dem auch noch Vergangenes eine Rolle spielt.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Man kann eine Sucht oder einen Trieb abreagieren und<br />
damit eine andere St<strong>im</strong>mungslage herbeiführen, die dann<br />
ihrerseits die Willensbildung beeinflußt. Wenn ich gerade meinen<br />
Geschlechtstrieb befriedigt habe, werden andere willensbildende<br />
Kräfte aktiv. Wenn ich gerade ein reiches Mahl<br />
verspeist habe, fällt Hunger als willensbildender Faktor aus.”<br />
“Wirklich kompliziert!”<br />
“Und das könnte noch komplizierter werden.”<br />
“Wodurch?”<br />
“Ich halte es für möglich, daß der Willensbildungsprozeß<br />
auch durch uns unbekannt bleibende Faktoren beeinflußt<br />
werden kann.”<br />
“Wie das!?”<br />
“Ich vermute, daß es Sinnesqualitäten gibt, die nicht die erforderliche<br />
Intensität erreichen, um die Grenze zur Bewußtwerdung<br />
zu überschreiten, die aber dennoch aus dem Verborgenen<br />
heraus unsere Ideen, Vorstellungen und Entscheidungen<br />
mitgestalten. Eine brisante, in ihren Konsequenzen<br />
schwer abschätzbare Angelegenheit.”<br />
Dem Maler ist plötzlich, als sähe der andere durch ihn<br />
hindurch, als erkenne der tief in ihm Verborgenes, als dringe<br />
er problemlos vor bis in die schwärzesten Höhlen seines schillernden<br />
Wesens. ‘Verdammt noch mal’, denkt er, ‘da will ich<br />
mich in das Hirn dieses Mannes schleichen, der aber dreht<br />
den Spieß um. Der spaziert in mir herum, als sei er dort zu<br />
Hause!’ Mürrisch sagt er: “Ist das nicht alles ein bißchen weit<br />
hergeholt?”<br />
“Nein. Bitte bedenken Sie, auch unser Gedächtnisinhalt verharrt<br />
normalerweise <strong>im</strong> Unterbewußtsein. Nur ein Teil davon<br />
kann mit einer gewissen Anstrengung in den Lichtkegel des
156 WANDERER<br />
aktuellen Denkvorgangs gerufen werden und steht dort<br />
vorübergehend zur unmittelbaren Verfügung. Der Mensch ist<br />
nicht ein bewußt erlebendes Wesen mit einem Unterbewußtsein,<br />
wie das allgemein behauptet wird, sondern ein unbewußt<br />
erlebendes Wesen, das fähig ist, einen Bruchteil der sich<br />
in ihm abspielenden Vorgänge vorübergehend dem Bewußtsein<br />
zuzuführen.”<br />
“Sie drehen mir zu vieles um. So wird Oben zu Unten!”<br />
“Unser Körper erledigt die weitaus meisten seiner Tätigkeiten,<br />
und er löst die weitaus meisten seiner Probleme, ohne<br />
uns damit zu behelligen. Erst wenn ein Organ nicht mehr<br />
richtig funktioniert, erst wenn eine Infektion nicht mehr<br />
abgewehrt werden kann – erst wenn etwas schief geht –<br />
erst dann werden uns die Tätigkeiten und Probleme des<br />
Körpers bewußt. Der große Zeh beschäftigt uns erst, wenn<br />
ein Stein auf ihn fällt, der Magen drängt sich erst in unser<br />
Bewußtsein, wenn Schmerzen ihn quälen. Der Körper erkennt<br />
und löst jeden Tag viel mehr Probleme als der<br />
Verstand. Er empfängt, speichert und verarbeitet viel mehr<br />
Informationen, als der Geist sie je zu erfassen und zu<br />
interpretieren vermag. Unser Körper ist viel klüger und<br />
weiser als der Teil von uns, den wir Gehirn nennen, und der<br />
in erster Linie koordiniert und unsere Beziehungen zur<br />
Außenwelt regelt.”<br />
“Unterschätzen Sie da nicht das Potential unseres Geistes?”<br />
“Der Geist ist nicht in der Lage, auch nur ein einziges Haar<br />
auf Ihrem Kopf entstehen und wachsen zu lassen. Die Energieversorgung,<br />
die Bereitstellung und Umformung des<br />
benötigten Materials, sowie die Aktivierung und Steuerung<br />
von Differenzierungs-, Koordinierungs- und Reparaturprozessen,<br />
von Alterungs- und Erneuerungsprogrammen – all<br />
das übersteigt das Potential unseres Geistes. Aber unser<br />
Körper erledigt das spielend.”<br />
Grinsend weist der Maler auf die Glatze des Gefährten:<br />
“Nicht der Ihrige!”
Freier Wille 157<br />
“Auch der konnte das mal”, lächelt der Physiker. “Aber jetzt<br />
macht ihm das wohl keinen Spaß mehr.”<br />
“Zurück zum freien Willen!”, ruft der Maler. “Etabliertes<br />
Denken und abendländische Traditionen setzen seit eh und<br />
je für moralische Verantwortlichkeit einen freien Willen<br />
voraus. Wie könnte jemand schuldig werden, der keinen<br />
freien Willen hat?”<br />
“Das fragen Sie mal die Juristen. So manche ihrer Vorstellungen<br />
haben keine Entsprechungen in der für uns heute erkennbaren<br />
Wirklichkeit.”<br />
“Juristen sind Meister <strong>im</strong> vorurteilsfreien logischen Denken<br />
und Folgern! Sie haben ein in sich nahezu lückenloses Gebäude<br />
von Ideen, Anschauungen und Argumenten aufgebaut.<br />
Die Rechtswissenschaft ist eine in sich vorbildlich durchdachte<br />
und geordnete Normwissenschaft!”<br />
“Gegenstand der Rechtswissenschaft ist der Mensch und<br />
dessen Welt. Über beides wissen Juristen zu wenig. Sie haben<br />
ein in sich selbst ruhendes gedankliches Ordnungsgefüge<br />
geschaffen, in dem sie vernunftgemäße Einsichten und Verhaltensweisen<br />
der Menschen voraussetzen und gesetzlich<br />
regeln – ein Ordnungsgefüge, das in sich logisch ist, das aber<br />
keine ausreichende Basis hat in den biologischen Wirklichkeiten<br />
menschlichen Werdens, Seins und Verhaltens.”<br />
“Beispiele! Begründungen!!”<br />
“Juristen behaupten, daß Menschen einen freien Willen<br />
haben, daß sie ihre Entscheidungen bewußt abwägen können,<br />
und daß sie diese zu rechtfertigen vermögen. Beweise sind<br />
sie schuldig geblieben. Juristen bauen auf Gleichheit der<br />
Menschen vor dem Recht. Das widerspricht täglicher Erfahrung<br />
und biologischen Erkenntnissen. Die Menschen sind<br />
nicht gleich, auch nicht in ihrer Fähigkeit, gesetzestreu oder<br />
verantwortlich zu handeln. Auch …”<br />
“Sie legen sich ihre Argumente nach Bedarf zurecht. Sie …”<br />
“Auch bei ihrem Ringen um Recht vor dem Richter sind die<br />
Menschen nicht gleich. Da haben sie oft sehr unterschiedliche
158 WANDERER<br />
Chancen. Das ist ein eher dunkles Kapitel der Jurisprudenz.<br />
Juristen gründen ihre Vorstellungen auf eine Konzeption vom<br />
Ich, die längst als Trugbild entlarvt worden ist. Und wie<br />
halten sie es mit der Gewalt? Goethe’s bittere Worte gelten<br />
auch heute noch: ‘Man hat Gewalt, so hat man Recht.’”<br />
“Wenn der Mensch in allem was er denkt und tut seiner Biologie<br />
widerstandslos unterworfen wäre, dann gäbe es …”<br />
“Wer behauptet das?! Ein normaler Mensch ist ebensowenig<br />
ein widerstandsloser Untergebener wie ein absoluter Herrscher<br />
über sein Denken, Tun und Entscheiden. Die Wahrheit<br />
liegt dazwischen.”<br />
Mürrisch wirft der Maler ein Ende seines Schals über die<br />
Schulter. “Wer Recht sprechen will muß Anforderungen an den<br />
Menschen formulieren und praktizieren, die sich am Durchschnitt<br />
messen. Ohne Generalisieren kommt kein Gesetz aus.<br />
Das Grundprinzip der Rechtsprechung ist das Messen an der<br />
Norm. Insofern orientiert sich jedes Schuldurteil letztlich am<br />
Vergleich.”<br />
“Ja. Aber …”<br />
“Wir brauchen die Strafe!”, schreit der Maler. “Strafe und<br />
Strafvollzug haben die gesamte Entwicklung der Menschheit<br />
geformt und geprägt. Sie sind unverzichtbar! Sie sind die<br />
wichtigsten erzieherischen Mittel unserer Gesellschaft!”<br />
Abwehrend hebt der Physiker die Hand. “Man argumentiert:<br />
‘Wir messen am Durchschnitt’. Dazu sage ich: Aber<br />
wir kennen seine Maße nicht. Man <strong>im</strong>pliziert: ‘Wir sind <strong>im</strong>mer<br />
so verfahren, also ist das richtig.’ Und ‘du sollst, also kannst<br />
du’. Dazu sage ich: Das sind unakzeptable Begründungen und<br />
unrichtige Schlußfolgerungen. Wo bleibt da die Logik der<br />
Rechtshüter?”<br />
Der Maler wiegt den Kopf. ‘Logik’, denkt er, ‘sie strebt in<br />
Höhen, aber sie wurzelt <strong>im</strong> Tal. Sie verachtet Gefühl, aber sie<br />
fußt auf ihm.’<br />
“Hier ist noch viel Forschung und Aufklärung zu leisten”,<br />
insistiert der Physiker. “Noch <strong>im</strong>mer sind wir weit davon
Freier Wille 159<br />
entfernt, die Norm verbindlich definieren und das von der<br />
Norm abweichende Verhalten eines Einzelnen hinreichend<br />
erklären und bewerten zu können. Wir …”<br />
“Das ist doch …”<br />
“Wir sind noch <strong>im</strong>mer nicht in der Lage, die Ursachen und<br />
Abläufe des Schuldigwerdens in ausreichendem Maße zu analysieren.<br />
Daher dürfen wir auch nicht die zur Zeit geltenden<br />
Vorstellungen von Schuld und Sühne als etwas Unumstößliches<br />
darstellen.”<br />
“Das ist doch alles graue Theorie. Wie sollen Ordnung und<br />
Gesetz ohne das bisherige Konzept von Schuld und Strafe<br />
zurechtkommen?”<br />
“Mit einer anderen, einer aufrichtigeren Begründungskonzeption.”<br />
“Wie soll die lauten?”<br />
“Der Mensch ist geworden und lebt in sozialen Bindungen.<br />
Die Gemeinschaft, zu der er gehört, ist die formende und<br />
schützende Kraft seiner humanen Existenz. Die Gemeinschaft<br />
kann nur funktionieren, wenn sie sich Gesetze gibt. Mit<br />
ihren Gesetzen, die dem Durchschnitt zumutbar sein müssen,<br />
sichert und fördert die Gemeinschaft ihren Bestand und den<br />
des Einzelnen. Aus diesem Grunde darf sie die Einhaltung<br />
ihrer Gesetze einfordern, wenn nötig erzwingen.”<br />
“Bitte kommen Sie zurück zu meiner Frage!”<br />
“Sie haben gefragt, ob wir einen freien Willen haben.”<br />
Der Maler nickt.<br />
“Damit fragen Sie doch, ob wir frei, also nach Belieben, in jeder<br />
Situation unseres Lebens entscheiden können, dieses oder<br />
jenes zu tun oder zu lassen?”<br />
“Ja.”<br />
“Das können wir nicht.”<br />
“Das sehe ich anders!”<br />
“Ein Beispiel: Wir beschließen, um den See zu wandern. Es<br />
ist heiß, die Sonne brennt. Wir schwitzen. Nach einer Stunde<br />
sehen wir Männer, die Bier trinken. Der Wunsch flammt auf,
160 WANDERER<br />
etwas zu trinken. Aber wir hatten ja beschlossen, um den See<br />
zu gehen. So wandern wir weiter. Immer weiter. Das Gespräch<br />
verstummt. Die Kehlen werden trocken. Schließlich haben wir<br />
nur noch eins <strong>im</strong> Sinn: Trinken! Wir sehnen die nächste<br />
Gastwirtschaft herbei. Als die endlich am Wegrand auftaucht,<br />
gehen wir rasch hinein und bestellen zwei Bier. – Freier<br />
Wille? Von wegen! Unser Körper schreit nach Flüssigkeit.<br />
Physiologische Meßstellen haben Alarm geschlagen. Ihre<br />
Botschaft ist bis in die zentrale Schaltstelle, das Gehirn,<br />
gedrungen. Dort entsteht daraufhin der Befehl: Trinken! Wo<br />
ist da freier Wille?”<br />
Mit gesenktem Kopf sieht der Maler auf seine Schuhe. Er<br />
denkt an seine eigenen Probleme. Daran, wie wenig frei er<br />
wirklich ist, wenn der laue Nachtwind seine Haut streichelt.<br />
Wenn die verdammten Triebe aus ihren dunklen Höhlen kriechen,<br />
ihren Weg nach oben suchen bis in sein Hirn. Wenn sie<br />
dort ihre Macht entfalten. Wenn sie solange herumrumoren,<br />
bis er das tut, was sie von ihm verlangen … bis er Dinge tut,<br />
die er eigentlich gar nicht tun wollte.<br />
Nach längerem Schweigen sagt der Maler: “Aber schauen<br />
Sie mal, wie ist denn das mit den Asketen?” Er klammert<br />
sich jetzt an die Hoffnung, anhand des Verhaltens dieser<br />
besonders willensstarken Menschen den Nachweis führen<br />
zu können, daß es eben doch einen freien Willen gibt. “Asketen<br />
haben einen sehr starken Willen, und den vervollkommnen<br />
sie durch fortwährendes Üben. Sie setzen ihren<br />
enormen Willen ein, um materielle Wünsche und Begehrlichkeiten<br />
zu kontrollieren und spirituelle Ziele zu erreichen.<br />
Sie dursten, hungern und üben sexuelle Enthaltsamkeit.<br />
Es gibt indische Jainisten, die sich zu Tode hungern, um<br />
Heilige zu werden. Hier haben wir doch ein Beispiel dafür,<br />
daß tierisch Triebhaftes durch menschlich Geistiges<br />
vollkommen beherrscht werden kann. Bei den Asketen gibt<br />
es einen freien Willen! Freilich, bei ihnen feiert der freie<br />
Wille Triumphe!!”
Freier Wille 161<br />
“So mancher Asket flieht vor seinen Begehrlichkeiten.<br />
Die aber fliehen mit ihm. Oft lasten sie auf ihm wie schwere<br />
Steine.”<br />
“Viele Asketen sind sehr stark. Sie haben einen enorm starken<br />
Drang.”<br />
“Ja. Aus den Tiefen ihrer Individualität erwächst ihnen ein<br />
enorm starker Drang, das zu tun, was sie tun. Und wenn dieser<br />
Drang so stark ist, daß sie das, was er von ihnen fordert,<br />
auch tatsächlich zu tun vermögen, selbst gegen mächtige<br />
Süchte und Triebe, dann können sie auch gar nicht anders.<br />
Dann müssen sie das tun!” Der Wissenschaftler sieht in die<br />
unsicher umhersuchenden Augen des Künstlers. “So gesehen<br />
haben also auch Asketen keinen freien Willen.”<br />
Der Maler kneift die Lippen aufeinander und verzieht das<br />
gefurchte Gesicht. Schl<strong>im</strong>m sieht das aus, wie er da so drein<br />
schaut mit einer Mischung aus Empörung, Fassungslosigkeit<br />
und Hilflosigkeit. Und dann wird ihm plötzlich klar, was ihn<br />
an diesem Gespräch am meisten schmerzt: Die Tatsache, daß<br />
er früher bei seinen eigenen Überlegungen <strong>im</strong> Grunde zu ganz<br />
ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen war. Das aber hatte<br />
er niemals wirklich wahrhaben wollen. Das hatte er <strong>im</strong>mer<br />
wieder verdrängt. “Aus Ihrer Sicht”, sagt er nun mit vereister<br />
St<strong>im</strong>me, “hat dann also nur Gott einen freien Willen.”<br />
“Nein.”<br />
“Wieso nein?”<br />
“Auch Gott hat keinen freien Willen.”<br />
“Fffftt!” macht der Maler und verbraucht dabei alle Luft, die<br />
er in den Lungen hat. In Abwehr hebt er die Hand. Der Mund<br />
klappt auf. Hastig schnappt er nach neuer Luft. Wie besessen<br />
schüttelt der Kopf. “D…das ist zuviel!”, schreit der Zwerg.<br />
“Das können Sie nicht ernsthaft behaupten wollen!!”<br />
“Ich kann.”<br />
Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das Schwarz scharf<br />
kontrastiert gegen glitzerndes Weiß, starrt der Maler den<br />
Physiker an: “Welchen Gott meinen Sie?”
162 WANDERER<br />
“Meinen Gott.”<br />
“Was ist das für ein Gott?”<br />
“Das werde ich Ihnen noch erläutern.” Der Physiker sagt<br />
langsam, ruhig und eindringlich: “Im Universum kann nichts<br />
existieren außerhalb der Naturgesetze. Gott ist entweder Teil<br />
der Naturgesetze oder, wie ich das sehe, identisch mit diesen.”<br />
“Gesetze, Gesetze! Wo bleibt die Freiheit??”<br />
“Freiheit setzt Gesetze voraus.”<br />
“Gesetze hemmen auch!”<br />
“Derartiges Hemmen hat unsere Zivilisation ermöglicht.”<br />
Wütend stampft der Maler mit dem Fuß auf den Boden.<br />
“Wenn also Gott ein Teil der Naturgesetze ist”, fährt der<br />
Physiker unbeirrt fort, “so kann er nur in ihrem Rahmen existieren.<br />
Nur innerhalb ihres Rahmens ist er frei. Wenn Gott<br />
und die Naturgesetze aber ein und dasselbe sind, dann hat<br />
Gott nur die Freiheit, seine eigenen Gesetze zu beachten, sich<br />
also selber treu zu bleiben. Einen wirklich freien Willen hätte<br />
er auch dann nicht.”<br />
“Gott …”<br />
“Gott kann nichts wollen – und wenn er es denn wollte,<br />
nichts tun – was den Naturgesetzen zuwiderläuft. Er kann<br />
nicht verhindern, daß ein Stein, der von der Klippe rollt, zu<br />
Boden stürzt, daß ein Mensch, der versucht, über Wasser zu<br />
schreiten, darin versinkt. Er kann nicht bewirken, daß die<br />
Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne plötzlich<br />
stehenbleibt. Gott existiert in der Ordnung. Gott ist Ordnung.<br />
Jede Ordnung aber erfordert Gesetze. Nur bei Einhaltung der<br />
Gesetze, unter denen eine Ordnung geworden und gereift ist,<br />
kann sich diese Ordnung erhalten und entfalten. Die<br />
universumweit wirksamen Energie-Materie-Konstellationen<br />
ahnden jeden Verstoß gegen ihre Ordnungsprinzipien. Sie<br />
dulden keinen freien Willen!”<br />
Abermals stürzt der Maler in eine andere St<strong>im</strong>mungslage.<br />
Seine Emotionen sind ebenso mächtig und intensiv, wie sie<br />
gebrechlich sind und instabil. Depr<strong>im</strong>iert schnarrt er: “Wenn
Freier Wille 163<br />
letztlich alles in den Naturgesetzen vorgegeben ist, so reduziert<br />
uns das doch zu Automaten, zu Maschinen.”<br />
“Im Prinzip ist das so. Aber <strong>im</strong> Detail gibt es Freiräume –<br />
innerhalb der von den Naturgesetzen best<strong>im</strong>mten Grenzen.<br />
Das gilt besonders für mit Einsicht und Besonnenheit<br />
begabte Menschen. Wir haben erhebliche Möglichkeiten, den<br />
Prozeß der Willensbildung zu beeinflussen: durch Erkennen,<br />
Lernen und Vorbild; durch Ausübung von Verantwortlichkeit<br />
gegenüber Mitmensch und Natur. Aber Art und Ausmaß der<br />
Fähigkeiten, die erforderlich sind, um diese Möglichkeiten<br />
wirksam werden zu lassen, hängen auch von Zwängen ab, die<br />
der Mensch selbst nicht zu beeinflussen vermag.”<br />
Der Maler überlegt eine Weile. Dann ruft er: “Wir brauchen<br />
einen Halt!” Er nickt. “Wir brauchen eine heile Welt –<br />
wenigstens in unserer Phantasie. Wir brauchen Utopien, um<br />
leben zu können!”<br />
“Ganz falsch! Der Mensch muß versuchen, ohne Utopien<br />
auszukommen. Ich wünsche mir eine Humanität, die frei ist<br />
von Gefälligkeitsverzerrungen. Ich wünsche mir einen Menschen,<br />
der fähig ist, Unvermeidbares zu akzeptieren und auszuhalten,<br />
statt es zu verdrängen – einen Menschen, der aus<br />
unbeschönigtem Leid die Kraft zu gewinnen vermag, die erforderlich<br />
ist, um sich neu einzurichten in dieser Welt.”<br />
“Viele Menschen werden an einer Welt zugrundegehen, die<br />
ihnen auch noch ihre Phantasien und Utopien raubt.”<br />
“Wegschauen bringt auf die Dauer nichts. Der Wegschauer<br />
muß zum Hinseher werden. Es gilt, Sinnleere auszufüllen<br />
durch <strong>Suchen</strong> nach der erkennbaren Wahrheit, nach der<br />
Wirklichkeit. Wir müssen danach streben, an der Realität zu<br />
wachsen und zu reifen. So, nur so, können wir unserem Leben<br />
einen neuen Sinn geben.”<br />
“Reifen, reifen! Was bringt das?”<br />
“Es gebiert Verantwortlichkeit.”<br />
“Zum Teufel mit Ihrer Verantwortlichkeit!”<br />
“Wir müssen erkennen und akzeptieren, daß wir unentrinn-
164 WANDERER<br />
bar und in der vielfältigsten Weise eingebunden sind in eine<br />
große und großartige Gemeinschaft.”<br />
“Was für eine Gemeinschaft?”<br />
“Die Gemeinschaft von allem Lebenden und allem Toten.<br />
Wo<strong>im</strong>mer wir uns gegen diese Gemeinschaft wenden, verursachen<br />
wir Schaden. Das Bemühen, solchen Schaden zu<br />
vermeiden, das ist die Wurzel der Verantwortlichkeit. Hier<br />
wird Verantwortlichkeit zum Gewissen-Haben.”<br />
“Gewissen-Haben!” schreit der Maler außer sich, “Gewissen-<br />
Haben! Was ist das schon!!”<br />
“Das ist der Gegenpart von Gewissen-Sein.”<br />
“Verflucht nochmal! Was ist Gewissen-Sein?”<br />
“Gott ist Gewissen-Sein. Der Mensch soll ein Gewissen<br />
haben. Aber auch so mancher Mensch beansprucht für sich<br />
Gewissen-Sein. Das ist Anmassung. Ja, es ist Gotteslästerung!”<br />
Der Maler wankt. Ihm ist übel. Er ringt nach Luft. Es dauert<br />
eine Weile bis er wieder sprechen kann. Dann sagt er mit<br />
schnarrend zitternder St<strong>im</strong>me: “I…ist das alles? Alles, was<br />
Sie über den freien Willen sagen können?” Der Zwerg atmet<br />
schwer. Dann beißt er die fast blutleeren Lippen aufeinander.<br />
Er reißt den Hemdkragen auf, daß ein weißer Knopf<br />
davonschwirrt. “Was”, ruft er verzweifelt, “was, in Gottes Namen,<br />
können wir denn tun? Wir, die wir mit einem einigermaßen<br />
normalen Willen ausgestattet sind, oder doch glauben,<br />
es zu sein?”<br />
Der Maler findet keinen Mittelweg – zwischen Ruhe nicht<br />
und Explosion, zwischen Gutem nicht und Bösem. Von einem<br />
Extrem stürzt er ins andere. Ein Verweilen in der Mitte,<br />
<strong>im</strong> Gleichgewicht, ist ihm nur selten vergönnt. Sein Wesen<br />
wächst aus Zerrissenem. Es wandelt auf dem gewundenen<br />
Pfad des Widersprüchlichen. Er haßt den Teufel, aber ohne<br />
Teufel kann er nicht sein. Er sucht einen Gott, aber keinem<br />
Gott kann er dienen. Er will alles wissen, aber er kann nicht
alles Wißbare ertragen. Er fordert die Angst, aber er fürchtet<br />
sich auch vor ihr.<br />
Aus den Augenwinkeln sieht der Physiker, wie es<br />
wetterleuchtet in den harten Zügen, wie sein kleiner Gefährte<br />
mit sich ringt. So sucht er nach einer hilfreichen Antwort:<br />
“Der Dualismus von Wollen und Müssen ist nicht so scharf<br />
ausgeprägt, wie das auf den ersten Blick den Anschein haben<br />
mag. Die Schwarz-Weiß-Manier, in der wir diese Dinge sehen,<br />
ist ein weiteres Beispiel für unser Zwangsdenken in Gegensätzen.”<br />
In freundschaftlichem Mitgefühl legt der Wissenschaftler<br />
behutsam die Hand auf den Arm des Künstlers. “Der Konflikt<br />
zwischen Wille und Trieb, zwischen Tugend und Laster, zwischen<br />
Gut und Böse, er ist so alt wie die Menschheit, und er<br />
wird weiterwirken, bis der letzte Mensch verwelkt ist. Immerfort<br />
streben die meisten Menschen danach, gut zu sein.<br />
Immerfort sehnen sie sich nach Anerkennung und hoffen auf<br />
Liebe. Immerfort aber auch plagen und versuchen sie Laster,<br />
Süchte und Triebe, die all dem entgegenwirken. Das Ziel, gut<br />
zu sein, ist in unserer Kultur vielfach verankert, ja nahezu<br />
allgegenwärtig. Aus diesem Ziel erwachsen Hoffnung, Mut<br />
und Kraft. Mit ihrer Hilfe können wir versuchen, die<br />
Auswirkungen des Bösen in uns zu mildern und zu lenken.”<br />
Gut und Böse<br />
Gut und Böse 165<br />
“Was ist das, das Gute?” flüstert der Maler “Was das Böse?<br />
Das ist …” Der Maler beißt sich auf die Unterlippe. Er senkt<br />
den Kopf. Stumm betrachtet er seine Schuhe. Nach einer Weile<br />
fragt er: “Wenn es st<strong>im</strong>mt, daß der Mensch nicht von Natur<br />
aus böse ist, wie kam das Böse in die Welt?”<br />
“In der unverfälschten irdischen Natur gibt es weder Gut<br />
noch Böse. Diese Begriffe kamen in die Welt mit einem der
166 WANDERER<br />
Natur Entwachsenden: dem Menschen. Gut und Böse sind<br />
seine Projektionen.”<br />
“Was bringt die Projektionen hervor?”<br />
“Menschsein funktioniert nur mit der Natur, nur <strong>im</strong> Rahmen<br />
ihrer Gesetze. Wo<strong>im</strong>mer …”<br />
“Sie haben meine Frage nicht beantwortet!”<br />
“Ich bin noch dabei. Wo<strong>im</strong>mer aber Natur ungehemmt in<br />
menschliches Miteinander drängt, wo<strong>im</strong>mer irdische Ordnung<br />
unzensiert <strong>im</strong> Menschen wirksam wird, da entstehen<br />
Probleme. Gut und Böse sind Vorstellungen, mit denen der<br />
Mensch versucht, diese Probleme in den Griff zu bekommen.”<br />
“Ist das Ihre Antwort auf meine Frage?”<br />
“Gemach! Die Menschen haben erfahren, daß ihre komplizierten<br />
Sozialstrukturen und Gesellschaftsformen nur funktionieren<br />
können, wenn ihrem ursprünglichen, natürlichen<br />
Verhalten Fesseln angelegt werden.”<br />
“Ich mag Fesseln nicht!”<br />
“Ohne Fesseln keine Menschenwelt!”<br />
“Menschenwelt! Was heißt das in diesem Zusammenhang?”<br />
“Versuchen Sie mal, einem Regenwurm das Einmaleins beizubringen,<br />
oder einer Katze das Schachspiel.”<br />
“Zum Teufel auch! Was wollen Sie damit sagen?”<br />
“Das Einmaleins liegt außerhalb der Regenwurmwelt, das<br />
Schachspiel außerhalb der Katzenwelt. Und so gibt es Dinge,<br />
die außerhalb – oder innerhalb – der Menschenwelt liegen.”<br />
“Weiter!”<br />
“Unser Denken und Empfinden in Kategorien von Gut und<br />
Böse ist Konsequenz und Ausdruck unserer Angst vor den<br />
eigenen Urinstinkten. Koexistenz ist niemals konfliktfrei –<br />
weder innerhalb von Arten, noch in zwischenartlichen Beziehungen.<br />
Es ist die Natur selbst, die diese Konflikte erzwingt.”<br />
“Was hat das mit unserem Thema zu tun?”<br />
“Das Erahnen oder Erleben des von der Natur ausgehenden<br />
Konfliktzwangs und das Wissen darum, daß wir etwas gegen
Gut und Böse 167<br />
ausufernde Konflikte tun müssen, weil wir sonst nicht überleben<br />
können, das ist der Boden, auf dem die Projektionen von<br />
Gut und Böse entstanden und gewachsen sind. Die Ordnung<br />
irdischen Lebens sieht ursprünglich keine Ethik vor. Hier läßt<br />
die Evolution den Ausbrechenden <strong>im</strong> Regen stehen.”<br />
“Wie kommt er wieder ins Trockene?”<br />
“Durch Selbsthilfe. Mit zunehmender Komplexität und<br />
Größe der Sozialgefüge gewinnt der Konflikt zwischen Gut-<br />
Sein-Wollen und Böse-Sein-Müssen an Gewicht. Und damit<br />
auch die Überlegungen darüber, wie das Gute zu fördern sei,<br />
was die Begriffe ‘Gut’ und ‘Böse’ beinhalten und wie deren<br />
Inhalte in Verhalten umgesetzt werden können.” Langsam<br />
wischt die Hand über den kahlen Schädel. “Voraussetzung für<br />
erfolgreiche Selbsthilfe ist die Fähigkeit, Gutes und Böses zu<br />
werten.”<br />
“Was ist gut? Was böse?”<br />
“Der Mensch hält das für gut, was für ihn angenehm ist,<br />
zuträglich und nützlich, was sich bewährt hat, was<br />
gruppenverträglich seine Bedürfnisse befriedigt und was ein<br />
geordnetes Zusammenleben von Menschen fördert. Aus der<br />
Sicht seiner Nützlichkeit wird der Begriff ‘gut’ hier wertgleich<br />
mit Ehrlichkeit, Gerechtigeit, Fleiß, Selbstbeschränkung,<br />
Hilfsbereitschaft und anderen sozialen Tugenden.”<br />
Der Physiker überlegt einen Augenblick. Dann fährt er fort:<br />
“Aber all das wird subjektiv empfunden. Daher kann manches<br />
von diesem Guten auch Böses sein.”<br />
“Wie?”<br />
“Wenn jemand etwas, das er subjektiv als gut erlebt, einsetzt,<br />
um anderen Menschen zu schaden, etwa <strong>im</strong> Krieg. Oder<br />
wenn Verbrecherbanden mit gruppenintern als gut bewerteten<br />
Verhaltensweisen – Verbrüderung nach innen, aber Lügen,<br />
Betrügen und Morden nach außen – anderen Böses zufügen.”<br />
“Was verstehen Sie unter Bösem?”<br />
“Sittlich Verwerfliches. Verstöße gegen eigene ethische Ge-
168 WANDERER<br />
bote. Gegen Ordnung und <strong>Inter</strong>esse der Gruppe gerichtetes<br />
Wollen und Wirken.”<br />
“Was treibt den Menschen zum Bösen?”<br />
“Archaische Instinkte, Aggressionen, Egoismen, Triebe. Wo<strong>im</strong>mer<br />
Urverhalten ungedämpft an die Oberfläche bricht, da<br />
kann das Böse gedeihen.”<br />
“Aber es gibt auch viel Belehren und Anleiten.”<br />
“Ja. In unserer Gesellschaft wird viel gegen Böses gesagt<br />
und getan. Aber am Ende ist das Böse leider oft erfolgreicher<br />
als das Gute.”<br />
“Zum Beispiel?”<br />
“Be<strong>im</strong> Sichdurchsetzen <strong>im</strong> Konkurrenzkampf, be<strong>im</strong> Besitzerwerben,<br />
be<strong>im</strong> …”<br />
“Dann sind Gut und Böse also relative Begriffe.”<br />
Der Physiker nickt. “Weder Gut noch Böse haben allgemeinverbindliche<br />
Wertinhalte. Was für einen Menschen oder eine<br />
Gruppe gut sein mag, schadet möglicherweise einem anderen<br />
oder einer anderen Gruppe, ist für jene also böse. Gut und<br />
Böse sind Extrapolationen einer best<strong>im</strong>mten Art menschlichen<br />
Empfindens, Denkens und Wollens. Sie sind etwas Subjektives,<br />
Situationsgebundenes. Und sie sind, wie gesagt, oft<br />
etwas anderes innerhalb einer sozialen Gemeinschaft als gegenüber<br />
Gruppenfremden.”<br />
“Gut zu sein und rein ist ein Kerngebot der Bibel.”<br />
“Im biblischen Sinne gut und rein zu sein bedarf der besonderen<br />
Mentalität des unreflektiert Gläubigen. Die Naivität<br />
bedingungslosen Gottvertrauens beschwört Gefahren.”<br />
Der Maler will etwas sagen. Aber seine noch unausgesprochenen<br />
Worte versinken <strong>im</strong> Nebel zunehmender Hoffnungslosigkeit.<br />
Schließlich sagt der Physiker: “Im Kampf gegen Böses und<br />
bei der Gestaltung unserer Zukunft können wir nur dann Erfolg<br />
haben, wenn wir das Erkennbare suchen, wenn wir uns<br />
dem Gefundenen öffnen, und wenn wir bereit sind, daraus Lehren<br />
zu ziehen.”
Eine Geschichte<br />
Eine Geschichte 169<br />
Der Maler geht mit sich zu Rate. Unvermittelt bleibt er<br />
stehen, n<strong>im</strong>mt den Hut vom Kopf und übergibt ihn der den<br />
Handstock tragenden Rechten. Gedankenverloren fährt er<br />
sich mit der Linken über die langen Haare. Er ist ganz und<br />
gar in sich gekehrt. Es dauert lange, bis er den Hut wieder<br />
aufsetzt und an der Seite des Physikers weiterwandert. Seine<br />
Gedanken kreisen und suchen. Nun stolpern sie weit zurück<br />
in die Vergangenheit.<br />
Er räuspert sich. Schluckt. “Unser Gespräch”, sagt er mit<br />
rauher St<strong>im</strong>me, “hat Erinnerungen beschworen. Erinnerungen<br />
an eine Begebenheit, die ich schon fast vergessen hatte.”<br />
Er wirft einen Zipfel des weißen Schals über die Schulter. “Ich<br />
möchte Ihnen davon erzählen.” Er nickt vor sich hin. Und nun<br />
beginnt er.<br />
“Ich hatte das Leben in der Stadt auf einmal satt. Daher<br />
kaufte ich ein Haus auf dem Lande. Mit einem großen Grundstück.<br />
So wurde ich unbeabsichtigt Eigentümer einer kleinen<br />
Heidschnuckenherde. Es gab viel zu tun <strong>im</strong> und am Haus, und<br />
ich mußte viel malen, um Geld zu verdienen. So war ich ständig<br />
in Zeitnot und konnte mich wenig um meine Heidschnukken<br />
kümmern. An einem schönen, sonnigen Frühjahrsmorgen<br />
sah ich von meinem Wohnz<strong>im</strong>mer aus ein schwarzes Knäuel<br />
auf der grünen Wiese liegen – ein Osterlamm. Ich freute mich<br />
über diesen Zuwachs der Heidschnuckenfamilie. Aber schon<br />
bald gab es Probleme. Immer wieder versuchte das Lamm, auf<br />
schaukeligen Beinen das Euter der Mutter zu erreichen, und<br />
<strong>im</strong>mer wieder lief die Mutter davon oder trat ihr Kind beiseite.<br />
Das ging so zwei Tage lang. Das Lamm wurde zusehends<br />
schwächer. Was sollte, was konnte ich tun? Bis über beide<br />
Ohren in Arbeit und mit der Schafhaltung in keiner Weise<br />
vertraut, mußte ich mit ansehen, wie das Lamm allmählich<br />
verhungerte. Das war furchtbar. Am dritten Tag sah ich nach<br />
getaner Arbeit aus dem Fenster. Das Lamm regte sich nicht
170 WANDERER<br />
mehr. Da ging ich mit einem Spaten auf die Wiese, um es zu<br />
begraben. Die Mutter lief davon. Als ich das Lamm erreicht<br />
hatte, hob es zitternd den Kopf. Dann versuchte es, sich zu<br />
erheben. Doch die Beine versagten ihm den Dienst. Halb aufgerichtet<br />
brach es zusammen.<br />
Ich kniete nieder neben dem Lamm. Es sah mich an. Diese<br />
halbtrockenen, schon fast toten Augen! Diese Hilflosigkeit!<br />
Diese schwarze Trauer <strong>im</strong> Blick!<br />
Das war zu viel!! Ich stürmte in den Schafstall. Suchte<br />
fieberhaft herum. Endlich fand ich eine schmutzige kleine<br />
Flasche. Ich säuberte sie unter einem Wasserhahn. Dann fand<br />
ich auch noch einen alten Nuckel. So schnell ich nur konnte,<br />
rannte ich mit Flasche und Nuckel ins Haus und machte<br />
Milch warm. Der Nuckel war schon spröde. Aber es gelang<br />
mir, ihn über den Hals der milchgefüllten Flasche zu ziehen.<br />
Nun hastete ich zu dem sterbenden Lamm. Ich nahm es auf<br />
den Arm. Es war ganz leicht. Ich ließ etwas Milch auf seine<br />
Nase tropfen und machte mich darauf gefaßt, daß ich ihm nun<br />
das Trinken beibringen mußte. Kaum aber hatte die Milch die<br />
ausgetrocknete Nase berührt, da kam Bewegung in den zum<br />
Skelett gemagerten Körper. Mit einem Stoß seines Kopfes<br />
verschlang das Lamm den Nuckel. Und dann trank es. Trank<br />
und trank und trank. Schließlich sackte es erschöpft in sich<br />
zusammen. Es blickte mich an. Wenn Lämmeraugen strahlen<br />
können, dieses Lamm strahlte. Wenn Lämmer dankbar sein<br />
können, die Augen dieses Lammes flossen über vor Dankbarkeit.<br />
Und von diesem Augenblick an war ich seine Mutter.<br />
Fortan lief das Lamm hinter mir her, von morgens bis<br />
abends. Ich versorgte es mit Milch und Vitaminen. Es zitterte<br />
und schrie vor Angst, wenn es mich nicht sah. So ließ ich es<br />
neben meinem Bett schlafen. Am Morgen darauf war meine<br />
Haut von Flohstichen übersäht. Ich inspizierte das Bettzeug.<br />
Es war voller Flöhe. Mit Insektiziden befreite ich Bett und<br />
Lamm von dieser Pest. Der herbeigerufene Schäfer beriet<br />
mich über Fragen und Probleme, die nun auf mich als Lamm-
Eine Geschichte 171<br />
Mutter zukamen. Und er sagte mir, daß das Lamm ein Junge<br />
sei. Ich nannte ihn Gustav.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf. “Erste ernstere Probleme stellten<br />
sich ein, als Gustav Gefallen an Grünzeug fand und in meinem<br />
Hausgarten tüchtig aufräumte. Weitere Probleme gab es<br />
bei der Eingliederung in die kleine Herde. Keines der Schafe<br />
wollte etwas mit Gustav zu tun haben. Und Gustav hatte nur<br />
Augen für mich.<br />
Gustav reifte zum Bock. Mühsam boxte er sich die Rangordnung<br />
empor. Schließlich war er König in der Herde.<br />
Als ich ihn eines Morgens wie üblich begrüßen wollte auf<br />
der Wiese, da raste er auf mich zu. Ehe ich begriff, was da los<br />
war, hatte er mich mit einem gewaltigen Boxhieb seiner Hörner<br />
zu Boden geschleudert. Da lag ich. Im Gras. Mit großen<br />
Schmerzen <strong>im</strong> Oberschenkel. Und Gustav? Der ging<br />
rückwärts, <strong>im</strong>mer weiter rückwarts. Mit gesenktem Kopf!<br />
Ließ kein Auge von mir. Endlich begriff ich, daß er den<br />
zweiten Angriff vorbereitete. Entsetzt und mit letzter Kraft<br />
erreichte ich den Bretterzaun, wuchtete mich darüber und<br />
ließ mich auf der anderen Seite ins Gebüsch fallen. In diesem<br />
Augenblick krachte Gustav mit ohrenbetäubendem Lärm<br />
gegen die Bretter. Wieder und <strong>im</strong>mer wieder boxte er mit<br />
Macht dagegen. Als sich die ersten Bretter zu lockern<br />
begannen, humpelte ich ins Haus und holte Hammer und<br />
Nägel, um die Bretter wieder festzunageln. Ich konnte kaum<br />
so schnell nageln, wie Gustav die Bretter wieder losboxte.<br />
Gott sei Dank kam ein Nachbar herbeigerannt. Er hatte den<br />
Kampf beobachtet. Ein weiterer Nachbar holte den Schäfer.<br />
Gemeinsam fingen die drei meinen Gustav ein und schleppten<br />
den heftig Widerstand Leistenden an den Hörnern in den<br />
Schafstall. Dann verriegelten sie die Tür. Es dauerte keine<br />
zehn Minuten, da war Gustav wieder auf der Wiese. Er hatte<br />
die Stalltür mitsamt Rahmen herausgeboxt. Nun wurde es<br />
wirklich gefährlich. Selbst der Schäfer sagte: ‘Das ist ja ein<br />
ganz Wilder!’
172 WANDERER<br />
‘Warum tut er mir das an? Ich habe ihm das Leben gerettet.<br />
Ohne mich wäre Gustav längst Blumendünger.’<br />
‘Der Bock tut Ihnen nichts an. Für ihn sind Sie ein Schaf.<br />
Das einzige hier, mit dem er noch nicht seine Kräfte gemessen<br />
hat. Den Bock trifft keine Schuld. Er kann nicht anders. Seine<br />
Hoden zwingen ihn, das zu tun, was er tut. Aber für Sie ist das<br />
gefährlich, und für die Nachbarkinder könnte das tödlich<br />
sein.’<br />
‘Was kann ich tun?’<br />
‘Da gibt’s nur zwei Möglichkeiten, schlachten oder kastrieren.’<br />
Schlachten? Meinen Gustav? Unmöglich! So kam, was<br />
kommen mußte. Ich holte den Tierarzt. Er und der Schäfer<br />
haben den Gustav kastriert. Innerhalb weniger Tage war<br />
Gustav wieder der alte. Ein Prachtkerl. Wir hatten ihn befreit<br />
von seinem Trieb. Freilich”, fügt der Maler nach einer kurzen<br />
Pause hinzu, “wohl auch von so manchem Vergnügen.”<br />
Der Physiker lacht, laut und herzlich. Dann sagt er: “Sehen<br />
Sie, auch Ihr Gustav hatte keinen freien Willen.”<br />
Schweigend legen Maler und Physiker den Rest des Weges<br />
um den See zurück. Aber noch bevor sie das Seeufer ganz<br />
verlassen, bleibt der Maler stehen. Leer und rastlos irrt sein<br />
Blick über die weite Wasserfläche. Im Widerschein der rot-goldenen<br />
Abendsonne glüht und funkelt das Wasser, und die<br />
blaudunstige Frühlingsluft zittert voller Lockungen und Warnungen.<br />
Abrupt wendet er sich ab und blickt mit stumpfen<br />
Augen hinüber zu den Büschen, Bäumen und Bänken des<br />
<strong>Park</strong>s.<br />
Plötzlich würgt der Maler, bringt Geräusche hervor, die wie<br />
ein Hilferuf klingen. Dann schreit er: “Verdammt noch mal!!”<br />
– so laut, daß es weit über den abendlichen See hallt. Leise<br />
zischelt er: “Ich würde mir selbst die Hoden rausschneiden,<br />
wenn … wenn ich damit loskommen könnte von der Kraft, die<br />
mir Probleme schafft. Aber”, flüstert er, “wie kann ich sicher<br />
sein, daß dann nicht auch die Kraft versiegt, die meine Krea-
tivität beflügelt?”<br />
‘Die gleichen Kräfte!’, denkt der Physiker. Aber er sagt es<br />
nicht.<br />
Schriftlich<br />
Schriftlich 173<br />
Eine Morgenbrise weckt den schlaftrunkenen <strong>Park</strong>. Vorbote<br />
des Tages, verweht und vertreibt sie letzte dünne Nebelschwaden.<br />
Frisches Grün trinkt Tautropfen, saugt die ersten<br />
Strahlen der Morgensonne in sich hinein. Ein neuer Tag<br />
beginnt.<br />
Pünktlich um sechs Uhr betritt der Gärtner, mit einer<br />
zerrissenen Nacht <strong>im</strong> Gesicht, den Platz vor seinem Haus. Auf<br />
diesem Platz bespricht er Einzelheiten des Tagesablaufs und<br />
verteilt die Aufgaben an seine zwanzig Mitarbeiter. Die linke<br />
Seite des Platzes wird begrenzt von Gewächshäusern und der<br />
Werkstatt, die rechte von einer Mauer mit einem durch<br />
Pfeiler gestützten, zum Platz hin geneigten Dach. Darunter<br />
stehen Mähmaschinen, LKWs, Anhänger, Traktoren, Bagger,<br />
Raupenschlepper – und das Gärtnereifahrzeug.<br />
Schon von weitem sieht der Gärtner, daß das Fahrzeug eine<br />
gewaltige Schlagseite hat. Und da kommt auch schon der<br />
Altgeselle angerannt, hebt beide Arme und schreit: “Plattfuß!<br />
Beide linken Reifen! Da hat einer reingestochn!”<br />
“Wer in aller Welt macht so was?” Der Gärtner ist außer<br />
sich. Die ganze Nacht hat ihn der Schlaf gemieden. Immer<br />
wieder hat sich das Bild der Falle in sein Bewußtsein gedrängt.<br />
Und dann noch die Suche nach dem Manschettenknopf,<br />
den sein Vater ihm geschenkt hatte. Sein Vater, den er<br />
sehr verehrt, und der viel zu früh gestorben ist. Was sein Vater<br />
wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sein einziger Sohn<br />
<strong>im</strong> <strong>Park</strong> als Gärtner arbeitet?<br />
Und nun noch dieser unverhoffte Ärger mit den zerstochenen<br />
Reifen!
174 WANDERER<br />
Unverhofft? Wirklich? Den Gärtner durchzuckt ein Gedanke.<br />
‘Könnten die zerstochenen Reifen etwas zu tun haben mit<br />
der Falle?’ Er läuft zu seinem Fahrrad und ruft dem Altgesellen<br />
zu: “Mach du das heute!” Aus vollem Lauf schwingt<br />
er sich in den Sattel. Stehend von einer Seite zur anderen<br />
schwankend, saust er wie ein Rennfahrer um die Ecke. Auf<br />
seinem Weg zum Hügel flüchten sch<strong>im</strong>pfende Vögel. An der<br />
Holzbrücke angekommen, steigt er rasch vom Rad und lehnt<br />
es ans Geländer. Polternd rennt er über die Brücke und dann<br />
mit ausholenden Knirschschritten den Kiesweg hinauf. Auf<br />
der Bank sieht er einen großen Stein. Der liegt auf einem<br />
Papierbogen. Neben dem Stein funkelt etwas in der Morgensonne<br />
– sein Manschettenknopf! Kopfschüttelnd n<strong>im</strong>mt er ihn<br />
in die Hand, drückt ihn ein paarmal in der wippenden Faust<br />
und steckt ihn in die Brusttasche.<br />
Dann legt er den Stein beiseite, n<strong>im</strong>mt den Papierbogen<br />
zur Hand und liest. “Das gibt’s doch gar nicht!”, sagt er laut,<br />
holt den Manschettenknopf noch einmal hervor, betrachtet<br />
ihn und schüttelt wieder den Kopf. Erst jetzt wird ihm der<br />
Zusammenhang klar: be<strong>im</strong> Spannen der Falle war ihm der<br />
Manschettenknopf aus dem Hemd gerutscht. Bei so einer<br />
Falle, da achtet man auf nichts anderes … ‘Mein Gott, die<br />
Falle!’<br />
Er stürzt in den Trampelpfad. Die Falle ist zugeklappt! Ein<br />
frisch beschnittener Ast ritzt die Haut des rechten Armes.<br />
Keuchend steht er über der Falle. Sie hat ein Stück Karton<br />
gefangen. Er will es rausziehen. Doch die Falle hält es eisern<br />
fest. Mit beiden Händen zwingt er die Eisenbacken auseinander<br />
und ergreift mit Daumen und Zeigefinger das Kartonstück.<br />
Durch einen raschen Dreh schleudert er es aus dem<br />
Backenbereich. Dabei wird er unvorsichtig. Und schon schnappt<br />
die Falle zu. Sie fängt seinen Daumen!<br />
Da die Eisenbacken nur ein kleines Stück geöffnet wurden,<br />
ist der Schaden nicht groß. Aber der Daumen schmerzt erheblich.<br />
Mit einem Stöhner zwingt er das Fallenmaul wieder auf.
Schriftlich 175<br />
Der Daumen blutet stark. Er führt ihn zum Mund und lutscht<br />
daran. Dann spuckt er Speichel und Blut auf den Trampelpfad.<br />
“Du Idiot!”, ruft er und spuckt nochmals, “wie konntest<br />
du nur so was tun!”<br />
Das Kartonstück liegt vor ihm. Er liest die daraufgekritzelten<br />
Worte. Endlich macht er die Bekanntschaft mit seinem<br />
Widersacher. Aber nur schriftlich. Noch einmal durchzuckt ihn<br />
Ärger: ‘Dieser Kerl!’ Doch der Bann ist gebrochen. “Gott sei<br />
Dank!”, ruft er, “Gott sei Dank, daß nichts passiert ist.” Und<br />
dann sagt er noch: “Schluß jetzt mit dem Buschkrieg!”<br />
Mit der Falle unterm Arm geht der Gärtner zurück zur<br />
Bank. Wieder lutscht er am Daumen und spuckt Blut auf den<br />
Boden links neben die Bank. Die rechte Hand rollt den Stein<br />
beiseite. Ein rotes Rinnsal fließt über dessen verengte Mitte.<br />
Die Linke legt die Falle auf die Bank. Dann holt sie sein Taschentuch<br />
hervor. Er wickelt es fest um die Wunde und<br />
verknotet es mit Fingern und Zähnen.<br />
Wieder wendet er sich dem Papierbogen zu. Offensichtlich<br />
die Handschrift einer Frau. Er setzt sich, holt den Kugelschreiber<br />
hervor und schreibt auf den freien Teil des Papierbogens:<br />
Verehrte Finderin,<br />
Sie haben mir eine große Freude bereitet!<br />
Der Manschettenknopf ist ein unersetzbares<br />
Erbstück. Gern würde ich Ihnen meinen Dank<br />
persönlich abstatten. Wenn Sie mögen, rufen Sie mich<br />
bitte abends an unter der Nummer 391011. Danke!!<br />
Sorgfältig faltet er den Papierbogen zusammen. Nach kurzem<br />
Überlegen plaziert er ihn neben der Bank auf dem Boden<br />
Dann beschwert er ihn mit dem Stein. ‘Hier’, denkt er, ‘wird<br />
der Stein niemanden stören. Und hier wird meine Botschaft,<br />
hoffentlich, in die Hände der Finderin gelangen.’<br />
Erleichtert und trotz blutenden Daumens und zerstochener
176 WANDERER<br />
Reifen guten Mutes, klemmt der Gärtner die Falle auf den Gepäckträger<br />
seines Fahrrads und radelt zurück zur Gärtnerei.<br />
Aquarianer<br />
Auf einem Weg, nicht weit von der Gärtnerei, stellen sich<br />
zwei Männer einander vor. Sie gehen einige Schritte. Dann<br />
setzen sie sich auf die Bank vor der hohen Buchenhecke. Die<br />
beiden sind sich Samstags oder Sonntags schon mehrfach<br />
begegnet <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Aber die Beziehung zueinander bestand<br />
bisher nur aus kurzen, unverbindlichen Wortwechseln. Der<br />
MinRat bewundert den <strong>Park</strong>. Daher spricht er auch schon mal<br />
mit einem Gärtner, etwas von oben herab, versteht sich, aber<br />
in voller Anerkennung der Leistungen, die der Gärtner und<br />
dessen Mitarbeiter erbringen.<br />
“Haben Sie sich verletzt?” Der MinRat deutet auf den Daumen<br />
des anderen, der mit einem weißen Verband versehen ist.<br />
“Nicht der Rede wert. Planungsfehler.”<br />
Der MinRat nickt. Dann sagt er: “Es ist wirklich bemerkenswert,<br />
was Sie und Ihre Leute vollbracht haben. Ich kenne den<br />
<strong>Park</strong> seit fünfzehn Jahren. Sooft es mir möglich war, bin ich<br />
hierher gekommen, um mich an der Natur zu erfreuen. Leider<br />
ging das bis vor kurzem nur an Wochenenden. Ich hatte in<br />
Bonn zu tun. Dort war ich in einem Ministerium tätig, als Ministerialrat.”<br />
“Im Wirtschaftsministerium?”<br />
“Nein, <strong>im</strong> Bundesjustizministerium. Warum fragen Sie?”<br />
“Nur so”, murmelt der Gärtner.<br />
“Wie meinen?”<br />
“Das war nur so ein Gedanke.”<br />
“Seit einem Monat bin ich MinRat a.D. Und seither komme<br />
ich, wenn das Wetter es zuläßt, fast jeden Tag in den <strong>Park</strong>.<br />
Das Wandern hier und das Bewundern Ihrer Arbeit ist für<br />
mich zu einem Hobby geworden. Unter Ihrer sachkundigen
Aquarianer 177<br />
Leitung ist der <strong>Park</strong> <strong>im</strong>mer schöner geworden. Wir <strong>Park</strong>besucher,<br />
wenn ich das mal so verallgemeinern darf, wir sind<br />
Ihnen sehr dankbar dafür.”<br />
“Viele Pflanzen werden von allein <strong>im</strong>mer schöner.”<br />
“Wie wir, was!”<br />
“Ich …” Der Gärtner hustet.<br />
“Wie meinen?”<br />
“Ich bin da anderer Meinung. Aber es freut mich, daß Ihnen<br />
der <strong>Park</strong> gefällt.”<br />
“Was mich besonders beeindruckt, das ist die geradezu<br />
kunstvolle Anordnung der Buschgruppen und die ausgewogene<br />
Plazierung der Laub- und Nadelgehölze. Auch die Blumenbeete<br />
haben Sie sehr geschickt in die Gesamtkonzeption<br />
eingefügt. Deren Farbkompositionen sind für mich <strong>im</strong>mer<br />
wieder ein Quell der Freude. Die Führung der Wege haben Sie<br />
erheblich verbessert. Und nicht zuletzt findet die vernünftige<br />
Relation zwischen gärtnerisch betreuten und sich selbst überlassenen,<br />
verwildernden <strong>Park</strong>arealen meine volle Zust<strong>im</strong>mung.<br />
In der Wildnis gewähren Sie, ganz <strong>im</strong> Sinne des modernen<br />
Naturschutzes, Pflanzen und Tieren eine Schon- und<br />
Schutzzone. Bravo!”<br />
Wiederum muß der MinRat an das denken, was der Physiker<br />
über Angeln und Schießen gesagt hatte. Das Gespräch<br />
am Fluß hat ihn nie mehr losgelassen. ‘Hier rede ich der Schonung<br />
und dem Schutz der Natur das Wort’, wirft er sich in<br />
Gedanken vor, ‘und was mache ich selber?’ Schon früher<br />
hatten seine Hobbys – Angeln und Jagen als Freizeitsport –<br />
<strong>im</strong> Bereich seines kritischen Verstandes Bedenken ausgelöst.<br />
Aber er angelt und jagt sehr gern. So hatte er die Bedenken<br />
<strong>im</strong>mer wieder beiseite geschoben, so war er einem ernsthaften<br />
Konflikt <strong>im</strong>mer wieder ausgewichen. Mit unwiderlegbaren<br />
Argumenten hat der Physiker nun den verdrängten Gewissenskonflikt<br />
ans Licht gezerrt, das Ringen zwischen archaischem<br />
Trieb und einsichtigem Verstand mitten ins Bewußtsein<br />
geschleudert. Der MinRat ist ein aufrechter Mann. So
178 WANDERER<br />
verlangt dieser Konflikt jetzt eine Lösung, mit der er langfristig<br />
leben kann. Einer Entscheidung – einer sehr schwierigen<br />
– kann er nun nicht mehr ausweichen.<br />
Als der Gärtner sich dem schweigenden MinRat zuwendet,<br />
scharrt der mit dem Schuh <strong>im</strong> Sand, als wolle er dort etwas<br />
wegwischen. Dann findet er zurück in das Gespräch: “Ich<br />
freue mich über so viel unbeeinträchtigte Natur.” Er ordnet<br />
seine Krawatte. “Im Grunde ist das aber doch, wenn ich das<br />
mal so sagen darf, ganz ungärtnerisch. Ihr Gärtner lernt doch<br />
<strong>im</strong>mer so viel darüber, wie man Pflanzen seinen Willen<br />
aufzwingt, wie man veredelt, tr<strong>im</strong>mt und beschneidet. Neulich<br />
habe ich gelesen, daß Gärtner be<strong>im</strong> Beschneiden von<br />
Obstbäumen sogar von ‘Erziehung’ sprechen!”<br />
Der Gärtner schmunzelt.<br />
“Ich bin froh darüber, daß Sie den Pflanzen <strong>im</strong> <strong>Park</strong> eine<br />
großzügige Erziehung angedeihen lassen!” Der MinRat n<strong>im</strong>mt<br />
die Brille ab, haucht gegen deren Gläser und putzt sie mit<br />
Sorgfalt. Dann setzt er die Brille zurück auf seine etwas<br />
gebogene Nase. “Vermutlich war es nicht einfach, das Gartenbauamt<br />
<strong>im</strong> Rathaus von der konventionellen Linie<br />
abzubringen. Da gab es doch sicherlich Schwierigkeiten.”<br />
“Gab es.”<br />
“Wie haben Sie Ihre Ansichten dort erfolgreich vertreten<br />
können?”<br />
“Das hat seine Zeit gedauert. Aber am Ende haben die<br />
Herren eingesehen, daß ein neues Zeitalter in der Landschaftsgärtnerei<br />
angebrochen ist.”<br />
“Das freut mich. Es ist ja auch nicht zu übersehen, mit wieviel<br />
Fleiß und Eifer Sie bei der Sache sind, daß Sie mit Leib<br />
und Seele Gärtner sind.”<br />
“Ja.”<br />
“Haben Sie heute sehr schwer arbeiten müssen?”<br />
“Ich bin das gewohnt.”<br />
“Und ist Ihr Arbeitstag gut verlaufen?”<br />
“Gemischt.”
Aquarianer 179<br />
“Wie meinen?”<br />
“Da gibt’s auch mal Probleme, manchmal auch Ärger. Aber<br />
am Ende überwiegt die Freude an der Arbeit und an der<br />
Natur.”<br />
“Was macht ein Gärtner in seiner Freizeit?”<br />
Der Gärtner streicht mit den Fingern durch den Bart.<br />
“Haben Sie neben dem Gärtnern noch andere <strong>Inter</strong>essen?”<br />
“Mich interessieren mehrere Dinge.”<br />
“Zum Beispiel?”<br />
“Ich lese gern.”<br />
“Kr<strong>im</strong>is?”<br />
“Nein.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Es gibt schon zuviele Verbrechen in der Welt. Da mag ich<br />
mir nicht auch noch die Freizeit verderben lassen.”<br />
“Unterhaltungsliteratur?”<br />
“Kaum.”<br />
“Schöngeistiges?”<br />
“Schon eher.”<br />
“Was interessiert Sie denn besonders?”<br />
“Literatur über Probleme, mit denen die Menschen fertig<br />
werden müssen.”<br />
“Philosophisches??”<br />
Der Gärtner wiegt den Kopf. Dann nickt er.<br />
Der MinRat ist überrascht, ja empört: ‘Das hätte ich von<br />
diesem einfachen, scheinbar so geraden Mann nicht erwartet.<br />
Was für ein Aufschneider!’ Er beschließt, dem Angeber eine<br />
Falle zu stellen. Nicht ohne Spott fragt er: “Was ist denn Ihrer<br />
Ansicht nach Literatur?”<br />
“Die Antwort kann man sich schwer machen. Aber man kann<br />
das auch in einem Satz sagen.”<br />
“Da bin ich aber sehr gespannt!”<br />
“Literatur”, formuliert der Gärtner gelassen, “vermittelt eine<br />
wichtige Botschaft in gut geschriebener Form.”<br />
“Das ist alles?”
180 WANDERER<br />
“Das ist alles. Nur wer etwas zu sagen hat, und wer das in<br />
einem Schreibstil zu tun vermag, der gefangen n<strong>im</strong>mt, Spannung<br />
erzeugt, Gefühle beschwört, den Nagel auf den Kopf<br />
trifft, nur der kann Literatur produzieren.”<br />
“Ich hoffe, die Herren Literaturkritiker sind da der gleichen<br />
Meinung.”<br />
“Auch da gibt es Unkraut zwischen Rosen.”<br />
“Ich bitte Sie!” Der MinRat stutzt. “Wie meinen Sie das?”<br />
“Das Unkraut, das sind die Leute, die sich spezialisiert haben<br />
in der kritischen Häme. Manch einer von denen hat als<br />
Schriftsteller Segel gesetzt und ist gestrandet. Vielleicht zerrt<br />
er gerade deshalb die Schwächen anderer, die tatsächlichen<br />
oder die vermeintlichen, so erbarmungslos ans Licht der Öffentlichkeit.<br />
Die Rosen regen an, werten und korrigieren. Sie<br />
trennen die Spreu vom Weizen. Zu Ihrer Bemerkung: Ich<br />
hoffe, die Rosen können meine Definition mittragen.”<br />
“Was wissen Sie denn eigentlich über Literaturkritik?”<br />
“Wenig. Aber zwei Dinge sind mir gewiß: Daß ein Kritiker<br />
nach Ojektivität streben sollte, und daß er etwas von der Sache<br />
verstehen muß über die er schreibt.”<br />
Der MinRat ist unsicher geworden. Er weiß nicht mehr, was<br />
er vom Gärtner halten soll. Er schweigt.<br />
Da n<strong>im</strong>mt der Gärtner das Gespräch wieder auf: “Den größten<br />
Teil meiner Freizeit widme ich meinen Aquarien.”<br />
Das schlägt ein wie eine Bombe! “Was?! Sie sind Aquarianer??”<br />
“Seit vielen Jahren.”<br />
Mit einem Ruck richtet sich der MinRat auf. Kerzengrade<br />
sitzt er da, mit huschenden Augen und hüpfendem Adamsapfel.<br />
“Aquarien faszinieren mich, seit ich denken kann. Ich<br />
konnte kaum laufen, da überraschte mich meine Mutter mit<br />
einem Aquarium und drei Goldfischen. Da hat sich bei mir,<br />
wenn ich das mal so sagen darf, eine Blitzprägung vollzogen.<br />
Davon bin ich nie wieder losgekommen. Das hat in mir<br />
Schwingungen ausgelöst, die heute noch nachwirken. Schon
Aquarianer 181<br />
wenn ich das Wort ‘Aquarium’ höre, fängt in mir etwas an zu<br />
vibrieren.”<br />
Der Gärtner nickt. Das kann er nachempfinden.<br />
“Aber heute halte ich keine Goldfische mehr. Ich züchte tropische<br />
Fische. Mehrere Jahre habe ich den örtlichen Aquarianerverein<br />
geleitet. Leider hat es da unerfreuliche Auseinandersetzungen<br />
gegeben. Vor drei Jahren bin ich ausgetreten.<br />
Seitdem stehe ich allein auf weiter Flur.”<br />
Der MinRat ist jetzt nicht mehr zu halten. Ganz nach vorn<br />
rutscht er, auf die Kante der Sitzfläche. “Züchten Sie auch<br />
tropische Fische?”<br />
“Ja.”<br />
“Das ist denn doch … Das müssen wir unbedingt eingehend<br />
erörtern!”<br />
Der Gärtner nickt. Schon seit Jahren lebt er sehr<br />
zurückgezogen. Ein Gedankenaustausch mit einem<br />
Aquarianer hat ihm sehr gefehlt.<br />
Der MinRat scharrt mit dem Schuh <strong>im</strong> Sand. “Meine neueste<br />
Herausforderung stammt aus der Familie der Pantodontidae.<br />
Sie heißt Pantodon buchholzi.”<br />
“Schönes Tier.”<br />
“Sie kennen diese prächtigen Burschen?”<br />
“Ja.”<br />
“Mit viel Mühe habe ich herausgefunden, was sie anmacht,<br />
wenn ich da mal einen Terminus aus der Jugendszene benutzen<br />
darf, also was sie so richtig in Farbe bringt, was ihr Temperament<br />
voll zum Ausdruck kommen läßt. Aber ich kriege<br />
diese Burschen nicht richtig zum Laichen. Nur ein einziges<br />
Mal hat es geklappt. Ich weiß nicht warum. Es war ein Zufall.<br />
Ich kann Ihnen sagen! Die Schmetterlingsfische haben mir<br />
schon manche schlaflose Nacht bereitet. Immer wenn ich<br />
dachte, ‘jetzt geht’s los’, wurde ich enttäuscht. Wahre Torturen<br />
habe ich ausgestanden!” Wieder muß er an das Gespräch mit<br />
dem Physiker denken. ‘Wie paßt denn das zusammen? Auf der<br />
einen Seite angle ich und füge Fischen Schock und Verlet-
182 WANDERER<br />
zungen zu. Auf der anderen Seite pflege ich Fische und sorge<br />
mich um ihr Wohlbefinden mehr als manche Mutter um ihr<br />
Kind!’ Wieder scharrt der Schuh <strong>im</strong> Sand.<br />
Sich dem Gärtner zuwendend, sagt der MinRat: “Die Schmetterlingsfische<br />
zum Laichen zu bringen, das ist ein großes Problem!”<br />
“Ja, das ist nicht einfach.”<br />
“Sie kennen das Problem?”<br />
“Ich züchte Schmetterlingsfische seit Jahren.”<br />
“Was??!” Der MinRat springt auf. Wie ein nervöses Rennpferd<br />
trippelt er auf und ab vor der Bank. “Das gibt es nicht!<br />
Das gibt es wirklich nicht! Da wandere ich durch den <strong>Park</strong>,<br />
suche nach Lösungen, kann kaum abwarten, bis ich sehe, was<br />
sich bei meinen Fischen ereignet hat, bin zu Tode betrübt,<br />
wenn da wieder nichts geworden ist aus deren Liebesleben.<br />
Und da wandert hier einer auf denselben Wegen – einer, der<br />
die Schmetterlingsfische seit Jahren züchtet, der die Probleme<br />
gemeistert hat! Wie machen Sie das? Wie beschwören<br />
Sie die Pantodon buchholzi, sich zu lieben? Eier zu legen? Und<br />
wie bringen Sie die Jungen hoch?”<br />
Der Gärtner wiegt den Kopf. “Das ist ganz einfach. Und<br />
doch auch wiederum nicht so ganz einfach. Man muß das mal<br />
gesehen haben. Wenn Sie Zeit und Lust haben, zeige ich Ihnen<br />
mal meine Anlage.”<br />
“Zeit und Lust!”, ruft der MinRat. “Jederzeit! Große Lust!!”<br />
“Na dann geh’n wir mal.” Der Gärtner steht auf und weist<br />
mit dem Kopf die Richtung. Hinter der Gärtnerei angelangt,<br />
führt er seinen neuen Bekannten vorbei an Spalieren mit<br />
rosa und blau blühenden Clematis zu einem gewächshausähnlichen<br />
Bau. Er öffnet die Außentür. Durch eine Wärmeschleuse<br />
gelangen sie in eine Halle, die in mehrere Sektionen<br />
unterteilt ist. Warm schlägt ihnen feuchte Luft entgegen.<br />
Es summt, brummt und gluckst von Hunderten von Durchlüftern,<br />
Abschäumern, Filteranlagen und von fließendem<br />
Wasser.
Aquarianer 183<br />
Dem MinRat verschlägt es die Sprache. Er ringt um Fassung.<br />
So was hat er noch nie gesehen. Das übersteigt seine<br />
kühnsten Aquarianerträume!<br />
Durch schmale Gänge, gesäumt von übereinander angeordneten<br />
Aquarien, gehen sie vorbei an Becken mit Spritzsalmlern,<br />
Prachtkärpflingen, schwarzen Mutanten von Pterophyllum<br />
e<strong>im</strong>ekei und vielen anderen Tropenbewohnern, darunter<br />
wahre Kostbarkeiten. Und dann stehen sie vor fünf<br />
Becken mit Schmetterlingsfischen.<br />
“Eine seltene Varietät aus einem kleinen Gewässer in einem<br />
entlegenen Teil des tropischen Westafrika”, erläutert der Gärtner.<br />
“Wie Sie sehen, hat jedes Becken seine eigene Wasseraufbereitungsanlage.<br />
Die Zuchtbecken und die Aufzuchtbecken<br />
habe ich zusätzlich an Pflanzenfilter angeschlossen, große<br />
Behälter <strong>im</strong> Nachbarraum. Und hier beginnen die Tricks: In<br />
den Behältern wachsen ausgesuchte Pflanzen. Die werden<br />
zwanzig Stunden pro Tag mit speziellem Licht versorgt. Der<br />
Wasserkreislauf beginnt <strong>im</strong> Fischbecken. Danach folgen Sandfilter<br />
und Pflanzenfilter und schließlich ein Gefäß, in dem das<br />
Wasser so weit wie möglich ke<strong>im</strong>frei gemacht wird. Das steht<br />
da an der Seite. Von dort wird das Wasser in das Fischbecken<br />
zurückgepumpt.”<br />
“Superb!” ruft der MinRat. “Absolut superb!”<br />
“Pantodon buchholzi var. mechi, so nenne ich meine Tiere,<br />
benötigen, wie andere Schmetterlingsfische auch, torfiges, sehr<br />
weiches Wasser. Das bereite ich <strong>im</strong>mer wieder neu zu, dort<br />
hinten in der Ecke.”<br />
“Was füttern Sie?”<br />
“Junge He<strong>im</strong>chen, Heuschrecken, Mücken, Fliegen, Fische.<br />
Die Futtertiere züchte ich selbst.”<br />
“Welchen Licht-Dunkel Rhythmus?”<br />
“Achtzehn zu sechs.”<br />
“Welche Temperatur?”<br />
“Achtundzwanzig Grad.”<br />
“Und die Eier?”
184 WANDERER<br />
“Die sammle ich ein mit einer Pipette.<br />
“Was machen Sie mit den Eiern?”<br />
“Ich überführe sie in eine Petrischale. Dort zähle ich sie und<br />
kontrolliere ihren Zustand. Befruchtete, gesunde Eier<br />
pipettiere ich in eine weitere Schale. Das Umpipettieren<br />
mache ich mehrere Male. Dabei werden die Eier weitgehend<br />
von anhaftenden Schädlingen befreit. Erst danach gebe ich sie<br />
in das abgedeckte Inkubationsgefäß.”<br />
“Warum decken Sie das Gefäß ab?”<br />
“Nicht aus Angst, daß die Eier rausspringen.” Das zerfurchte<br />
Gesicht beleben Verwerfungen und Verschiebungen, die einen<br />
Geologen in Verzückung versetzen könnten: der Gärtner<br />
lacht. “Ich möchte damit Verunreinigungen fernhalten, die<br />
aus der Luft niedersinken, und Sporen von Bakterien und<br />
Pilzen. Das Inkubationsgefäß wird an einen eigenen Kreislauf<br />
angeschlossen und dem Wasser zusätzlicher Sauerstoff<br />
zugeleitet. Oftmals baue ich außerdem noch einen Kohlendioxydfilter<br />
ein.”<br />
“Warum?”<br />
“Die Luft <strong>im</strong> <strong>Park</strong> ist zwar gut, aber die Großstadt ist nicht<br />
fern.”<br />
“Womit füttern Sie die Jungen?”<br />
“Blattläuse, Springschwänze, Nauplien, Rädertierchen. Die<br />
lasse ich vorher etwas antrocknen, damit sie an der Wasseroberfläche<br />
haften. Von dort schnappen die Jungen sie auf.<br />
Vielseitige Ernährung ist wichtig. Und natürlich eine erstklassige<br />
Wasserqualität. Daher werden die zwei Wochen alten<br />
Jungen in neu vorbereitete Aquarien umgesetzt.”<br />
Jetzt entspinnt sich eine atemberaubende Fachs<strong>im</strong>pelei.<br />
Auch der MinRat erweist sich als ein erfahrener Fachmann.<br />
Die beiden verbeißen sich förmlich ineinander.<br />
Nach drei Stunden werden die Beine müde. In dem großen<br />
Aquarienhaus gibt es nur einen Hocker. Außer dem Physiker<br />
hat noch kein Gast die Aquarienanlage betreten. Der Gärtner<br />
lebt allein. Plötzlich hört er sich fragen: “Wie wär’s mit einem
Aquarianer 185<br />
Drink?” Das hätte er besser nicht tun sollen.<br />
Aber da antwortet sein Gast auch schon: “Sehr gern, danke.”<br />
Vom Aquarienhaus geleitet der Gärtner den MinRat durch<br />
Blumenbeete zu seinem Wohnhaus. Ein Seiteneingang führt<br />
in eine kleine Halle. Von dort geht’s ins Wohnz<strong>im</strong>mer. Es ist<br />
spät geworden. Der Gärtner schaltet die Beleuchtung ein.<br />
Versteckte Strahler und indirekte Beleuchtung erhellen eine<br />
überraschende Szene. Der Anblick des Wohnz<strong>im</strong>mers verschlägt<br />
dem MinRat abermals die Sprache: Kostbare Möbel,<br />
Orientteppiche, Ölgemälde, wertvolles Porzellan.<br />
“Bitte nehmen Sie Platz.” Der Gärtner weist auf einen von<br />
zwei Ledersesseln. Die stehen in der Nähe des Kamins neben<br />
einem runden Mahagonitisch, dessen Oberfläche eine kunstvoll<br />
gehämmerte goldene Platte ziert.<br />
“Danke”, sagt der MinRat leise und verwirrt.<br />
“Was darf’s sein?”<br />
“Wa … was können Sie anbieten?”<br />
“Wie wär’s mit einem Scotch oder einem Manhattan?”<br />
“Bitte einen Manhattan.”<br />
“Dry oder sweet? Mit Olive oder Kirsche?”<br />
Der MinRat kennt sich da nicht so aus. Er zögert. Dann aber<br />
sagt er, in einem Ton, als tränke er jeden Tag Manhattan:<br />
“Sweet mit Kirsche.”<br />
Der Gärtner mixt den Drink. <strong>Inter</strong>essiert verfolgt der Gast<br />
jede seiner Bewegungen. Als der Drink fertig ist, gibt der<br />
Hausherr in jedes Glas eine Cocktailkirsche. Auf den Außenseiten<br />
der Gläser schlägt sich ein Wassermantel nieder, hinter<br />
dem der Manhattan <strong>im</strong> Licht der Strahler dunkelrot aufleuchtet.<br />
Der Gärtner stellt ein Glas vor dem MinRat ab. Da<br />
knickt dessen steif aufgerichteter Oberkörper ein zu einer<br />
förmlichen Verbeugung. Den zweiten Drink plaziert er vor den<br />
anderen Sessel, auf dem er jetzt Platz n<strong>im</strong>mt.<br />
“Zum Wohl. Auf unser gemeinsames Hobby!”<br />
“Zum Wohl.” Abermals eine einknickende Verbeugung, und<br />
dann ein angehobener Ellbogen. Nahezu feierlich führt der
186 WANDERER<br />
MinRat den Manhattan zum Mund.<br />
Nachdenklich befingert der Gärtner seinen Bart und blickt<br />
dabei hinüber zu seinem Gast. Dann sagt er entschlossen: “Ich<br />
freue mich, in Ihnen einen Hobby-Partner gefunden zu haben.”<br />
“Es ist eine Ehre für mich, mit so einem erfahrenen Aquarianer<br />
diskutieren zu dürfen. Jahrzehntelang habe ich geglaubt,<br />
ich sei ein toller Hecht, wenn ich das mal so sagen<br />
darf, aber heute habe ich meinen Meister gefunden!”<br />
Beide trinken.<br />
Wiederum sieht sich der MinRat um. ‘Ich kann den Gärtner<br />
nicht einordnen!’, denkt er. ‘Zuerst hatte ich mir gedacht, sei<br />
mal nett zu dem, darüber freut der sich. Und schließlich ist<br />
der wirklich sehr tüchtig. Aber dann hat sich unser<br />
Verhältnis <strong>im</strong>mer mehr geändert. Und jetzt bin ich dankbar<br />
dafür, daß dieser Mann mit mir redet!’ Der MinRat muß unbedingt<br />
eine Frage loswerden. Sie brennt ihm auf der Zunge.<br />
Unsicher beginnt er: “Ich bin sehr beeindruckt von Ihrem<br />
Aquarienhaus … und von dem, was ich hier sehe. Das ist<br />
alles sehr … überraschend für mich. Bitte erlauben Sie mir<br />
eine Frage.”<br />
“Nur raus damit.”<br />
“Wie … wie kommt ein Mann wie Sie, ein so kultivierter<br />
Mann, dazu, Gärtner zu werden?”<br />
“Hoho! Der Beruf eines Gärtners ist doch sehr respektabel!<br />
Sie glauben gar nicht, wieviel Freude mir der tägliche Umgang<br />
mit der Natur bereitet. Das ist nicht viel anders als mit<br />
den Aquarien. Und Kreativität ist auch gefragt. Man kann,<br />
wie ein Architekt, Ideen entwickeln und verwirklichen, Neues<br />
schaffen. Gärtner, das ist ein herrlicher Beruf. Für mich ist er<br />
der schönste auf der Welt.”<br />
“Ja, ja. Das kann ich alles verstehen. Aber …” Der MinRat<br />
zieht seine Krawatte fester, schiebt sich noch weiter nach vorn<br />
auf die Kante der Sitzfläche. Steil aufgerichtet hockt er nun<br />
da, mit hüpfendem Adamsapfel. Neugier und Verlegenheit<br />
erreichen einen Höhepunkt.
Aquarianer 187<br />
Und der Gärtner, mit übergeschlagenen Beinen weit<br />
zurückgelehnt in seinen Sessel, denkt: ‘Ich müßte lügen,<br />
wollte ich behaupten, daß mir das keinen Spaß macht. Beamte<br />
sind nicht nur tüchtig. Auch da gibt’s Unkraut zwischen<br />
Rosen.’ Immer wieder einmal hatte er sich über Verwaltungsbeamte<br />
ärgern müssen, über ihre Formalienhörigkeit und<br />
manchmal auch über ihren Hochmut. So ist es schon eine Art<br />
Genugtuung, einen Vertreter dieses Menschentyps in Bedrängnis<br />
zu sehen – auch wenn dieser Ministerialrat da ein<br />
guter, ja ein liebenswerter Mann ist. Natürlich hat der Gärtner<br />
die Frage erwartet, die sein Gast ihm sicherlich gleich<br />
stellen wird. Es ist sein Fehler, daß er ihn – ganz gegen seinen<br />
ehernen Entschluß – zu einem Drink in sein Haus eingeladen<br />
hat.<br />
“Aber … ich meine, wenn ich das mal so sagen darf”, tastet<br />
sich der MinRat weiter vor, “ein Mann wie Sie könnte doch in<br />
einer Reihe von Berufen – auch ausgesprochen anspruchsvollen<br />
– erfolgreich sein. Und …” Er wiegt den Kopf, ordnet<br />
den Schlips, räuspert sich. Dann endlich stößt ihn seine Neugier<br />
über die Schwelle. Dann endlich stellt er die Frage, auf<br />
die er keinerlei Antwort finden kann: “Ich meine, wenn ich<br />
Ihnen da nicht zu nahe trete, ich meine … wie kann sich ein<br />
Gärtner so etwas leisten? So eine Aquarienanlage, solch eine<br />
erlesene Einrichtung.”<br />
Der Gärtner nickt vor sich hin. Obwohl diese Frage unvermeidbar<br />
war, zögert er mit der Antwort. Soll er, darf er den<br />
MinRat ins Vertrauen ziehen? Aber es ist ihm auch klar, daß<br />
es für jede andere Lösung schon zu spät ist. Auf keinen Fall<br />
hätte er weiter gehen dürfen, als dem neuen Bekannten die<br />
Aquarienanlage zu zeigen. Seine Freude, hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong> einen<br />
so engagierten und einen so versierten Aquarianer gefunden<br />
zu haben – einen Aquarianer par excellence – hat ihn einfach<br />
die selbstauferlegte Zurückhaltung vergessen lassen. Und wie<br />
sollte er mit dem MinRat, der ja ebenfalls in der Ausübung<br />
seines Hobbys isoliert ist und nach Kontakt drängt, in Zu-
188 WANDERER<br />
kunft verkehren, wenn er ihn jedesmal vor der Schwelle<br />
seines Hauses verabschieden müßte? Wie könnte er eine Bekanntschaft,<br />
ja eine Freundschaft – und er ist sich jetzt ganz<br />
sicher, daß dies der Beginn einer Freundschaft ist – mit einer<br />
Lüge beginnen? Der Gärtner hat nur noch einen Freund: den<br />
Physiker, einen alten Studienkollegen. Nur der kennt sein<br />
Gehe<strong>im</strong>nis. Außer dem Physiker und einigen von weither geholten<br />
Handwerkern hat noch kein Fremder sein Haus <strong>im</strong><br />
<strong>Park</strong> betreten.<br />
Der Gärtner n<strong>im</strong>mt einen Schluck Manhattan zu sich, sieht<br />
seinem Gast ernst und durchdringend in die Augen, solange,<br />
daß der den Blick senkt, abwendet und nun, erneut etwas<br />
verlegen, ebenfalls zum Glas greift.<br />
Da leert der Gärtner den Drink. “Ich war nicht <strong>im</strong>mer Gärtner”,<br />
sagt er. “Das Leben, das ich hier führe, ist völlig<br />
verschieden von dem, in das ich hineingeboren wurde und in<br />
dem ich bis vor einem Jahrzehnt zu Hause war. Ihre Frage ist<br />
berechtigt. Dennoch ist es schwer für mich, darauf zu antworten.<br />
Man soll aber eine Freundschaft nicht mit einer Unwahrheit<br />
beginnen. So bin ich bereit, Ihnen ein Gehe<strong>im</strong>nis anzuvertrauen.<br />
Ich muß Sie aber bitten, mit niemandem,<br />
absolut niemandem, darüber zu sprechen.”<br />
Wieder sieht er seinem Gegenüber geradenwegs in die<br />
Augen, ernst, offen, fragend. Auch der MinRat ist sehr ernst<br />
geworden. Mit Nachdruck nickt er. Was der Gärtner in den<br />
Augen des anderen sieht, ermutigt ihn, fortzufahren, aber<br />
nicht ohne noch einmal nachzuhaken: “Mein Seelenfrieden<br />
hängt davon ab. Ich muß Ihr Ehrenwort haben.”<br />
“Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.”<br />
Beide Männer erheben sich und reichen einander die Hand.<br />
Versonnen fährt sich der Gärtner über das zerfurchte<br />
Gesicht. Schweigend nickt er vor sich hin. Dann sagt er: “Zunächst<br />
mixe ich uns noch einen Manhattan, wenn es Ihnen<br />
recht ist.”<br />
“Gern.”
5 DREIGESTIRNE<br />
Begegnung<br />
Begegnung 189<br />
“Ich bewundere Ihre Bilder.<br />
Ihre besondere Art zu malen.”<br />
Inge erstarrt. Auf dem Weg, der am Pastorenhaus vorbeiführt,<br />
kommt ihr ein Mann entgegen. Seit Jahren blickt er<br />
von einem Wandposter in ihr Z<strong>im</strong>mer. Seine Augen mit dem<br />
runden Schwarz und dem ovalen Weiß scheinen ständig auf<br />
sie gerichtet zu sein und jede ihrer Bewegungen zu verfolgen.<br />
Inge ist fasziniert von diesem hartgesichtigen Mann. Sie<br />
bewundert seine großartigen und vielseitigen künstlerischen<br />
Fähigkeiten, sein monumentales Schaffen. Ja, sie ist buchstäblich<br />
gefesselt von der Gewalt seiner Werke und von der<br />
verborgenste Gefühle aufwühlenden Art seiner Schöpfungen.<br />
Wie angewurzelt verharrt sie <strong>im</strong> Bannkreis der sich nähernden<br />
Gestalt, wenige Schritte vor dem hölzernen Eingangstor<br />
zum Garten des Pastorenhauses mit dem großen eingeschnitzten<br />
Kreuz. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.<br />
Inge und der Mann sind ganz allein auf diesem Weg.<br />
Mit jedem Schritt, den der Mann näher kommt, wächst<br />
Inges Faszination.<br />
Der Mann <strong>im</strong> hellen Frühlingsmantel, mit dem<br />
breitkrempigen weißen Hut, dem weißen Spazierstock und<br />
den langen schwarzen Haaren: es ist der Maler!<br />
Als der Maler vor ihr steht, überzieht ihre Wangen eine feine<br />
Röte: “Guten Tag.”<br />
Der Maler ist überrascht. Ratlos grüßt er zurück: “Guten<br />
Tag.” Irgendwo hat er dieses Mädchen schon einmal gesehen,<br />
dieses wunderschöne Gesicht, diese bezaubernde Figur. Aber<br />
wo? Wo war das nur?? In seiner augenblicklichen Verfassung<br />
verbindet er die Erscheinung der jungen Frau nicht mit dem<br />
Engel. Den sieht er nur, wenn eine besondere St<strong>im</strong>mung sich
190 DREIGESTIRNE<br />
einstellt, eine St<strong>im</strong>mung, von der er noch <strong>im</strong>mer nicht weiß,<br />
wovon sie eigentlich hervorbracht wird. Offenbar spielt das<br />
schlechte Gewissen dabei eine Rolle, das Streben nach Gutem<br />
und die Hoffnung, sich mit reiner Seele künstlerisch vollenden<br />
zu können – aber auch Angst vor dem Dunkel in ihm und um<br />
ihn, und unbefriedigte Sexualität. Vielleicht gibt es da noch anderes,<br />
etwas, das noch in der Nebelwelt seines Unterbewußtseins<br />
vor der Tür lauert. Im Maler wohnen viele Maler. Dunkle<br />
und helle. Mit dem Ausreifen seiner Schaffenskraft, mit dem<br />
Sichsteigern seiner Kreativität sind aber die dunklen schneller<br />
gewachsen als die hellen. – Noch <strong>im</strong>mer steht das Mädchen vor<br />
ihm. Das wird jetzt peinlich. So fragt er: “Kennen wir uns?”<br />
“Nicht wir uns. Aber ich Sie. Ich bewundere Ihre Bilder. Ihre<br />
besondere Art zu malen. Die elementare Kraft Ihrer Werke.<br />
Das alles fasziniert mich sehr.” Als der Maler nichts sagt, fügt<br />
Inge hinzu: “Ich bin meinem Schicksal sehr dankbar. Es ist<br />
ein großes Erlebnis für mich, daß ich Ihnen persönlich<br />
begegnen durfte.” Ein angedeuteter Knicks. Dann wendet sie<br />
sich ab und geht auf das Holztor zu.<br />
Noch als das Tor sich hinter ihr geschlossen hat, steht der<br />
Maler dort, wo die junge Frau sich von ihm verabschiedet hat.<br />
Mit der Rechten schwer auf den Spazierstock gestützt, schaut<br />
er ihr nach. In seinem Inneren leuchtet noch <strong>im</strong>mer ihr Bild,<br />
das sich jetzt auf gehe<strong>im</strong>nisvolle Weise mit dem Kreuz auf der<br />
Tür zu verbinden scheint.<br />
Inge wollte einkaufen. Heute abend kommt Peter! Heute<br />
werden sich die beiden Männer zum erstenmal begegnen, die<br />
ihr Leben ausmachen: ihr Vater und ihr Peter. Aber der Maler<br />
läßt sie sogleich ins Haus zurückkehren. Daß sie diesem<br />
Mann persönlich begegnen durfte, davon muß sie sogleich ihrem<br />
Vater berichten!<br />
‘Diese zauberhafte junge Frau!’ Der Maler ist wie angefaßt.<br />
Irgendwo hat er dieses Gesicht, diesen Körper schon einmal
gesehen. Wo war das nur? Langsam spaziert er weiter. Bei jedem<br />
Schritt schwingt er den Spazierstock weit voraus und<br />
stößt dessen Ende dann, <strong>im</strong> Takt mit seinem linken Fuß, fest<br />
auf den Boden.<br />
Er schickt seine Gedanken auf die Reise. Nach Paris zu seiner<br />
letzten Ausstellung, nach Hannover zu seinem Vortrag<br />
in der vorigen Woche, nach Berlin zur gestrigen Pressekonferenz<br />
… Nichts. Er vermag das Gesicht der Frau, ihre Gestalt<br />
seiner Erinnerung nicht zu entlocken.<br />
“Aber”, flüstert er vor sich hin, “aber ich bin mir gewiß, ich<br />
habe dieses Mädchen schon einmal gesehen.” Dann lächelt er:<br />
“Es war wohl in einer anderen Welt.”<br />
Wie recht er doch hat!<br />
Predigt<br />
Predigt 191<br />
“Und noch ein drittes laßt mich sagen”, fährt der Pastor<br />
fort. “Es handelt von Selbstlosigkeit. Von der Hinwendung<br />
zum anderen. Die christliche Aufforderung zur Selbstlosigkeit<br />
ist eine Herausforderung für uns alle. Damit haben wir wohl<br />
alle schon unsere Schwierigkeiten gehabt. Ein jeder auf seine<br />
Weise. Hier ringen ganz unterschiedliche Kräfte miteinander:<br />
Edelmut und Egoismus, Hilfsbereitschaft und Gleichgültigkeit.<br />
Dieses Ringen wird nie enden. Der Kampf gegen die<br />
vielen Formen und Gesichter der Selbstsucht, die ja oft aus<br />
mächtigen Quellen fließt, muß <strong>im</strong>mer wieder aufs neue geführt,<br />
<strong>im</strong>mer wieder neu bestanden werden.”<br />
Von der alten, mit Schnitzereien reich verzierten Kanzel<br />
schweift der eindringliche, gütige Blick des Pastors langsam<br />
über seine Gemeinde. In seinem Wesen vereint er die Akzeptanz<br />
einer bedingungslosen Pflicht, seinem Herrn zu dienen,<br />
mit der allgegenwärtigen Bereitschaft, Gutes zu tun. Hinzu<br />
kommt, in schöner Verbindung, die Fähigkeit, sich des Lebens<br />
zu erfreuen und rundum glücklich zu sein. Aber sein bis-
192 DREIGESTIRNE<br />
heriges Dasein war leider so geartet, daß sich Freude am Leben<br />
nur ungenügend hatte entfalten können.<br />
“Macht nicht so recht eigentlich erst das auf freiem Entschluß<br />
gründende Überwinden dunkler Süchte und egoistischen<br />
Strebens den Menschen zum Menschen? Das Sichselbstüberwinden?<br />
Die Hinwendung zum Nächsten? Eigene<br />
Wünsche aus freiem Willen zurückzunehmen? Wahrlich, das<br />
sind alte Anliegen christlicher Ethik und christlichen Glaubens.<br />
Erst dadurch, daß wir versuchen, selbstlos Gutes zu<br />
tun, erst dadurch werden wir wirklich zu Christen. Allein<br />
schon, den Willen zu fassen zum Verzicht, zur Begrenzung<br />
eigener Bedürfnisse, zur Nächstenliebe, zur Hilfe, das ist<br />
etwas Gutes. Und wenn dann der Wille zum Ziel führt, zur<br />
Vollendung der guten Tat, dann ist dies <strong>im</strong>mer auch ein<br />
erhebendes Erlebnis für uns selbst.”<br />
Der Pastor ist sehr beliebt. Er erfreut sich eines hohen<br />
Ansehens in seiner Gemeinde. In dieser kleinen, vor einem<br />
Jahrhundert erbauten Kirche predigt er nun schon seit fünfundzwanzig<br />
Jahren. Im ebenfalls hundert Jahre alten Pastorenhaus,<br />
direkt neben der Kirche, haben seine Frau und er<br />
glückliche, erfüllte Stunden der Liebe und des gegenseitigen<br />
Verstehens erleben dürfen. Als seine über alles geliebte Frau<br />
starb, unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter, da hat ihm<br />
sein unerschütterlicher Glaube an Gottes Willen und Weisheit<br />
die Kraft gegeben, den Schmerz des Verlustes einzubringen in<br />
seine große neue Aufgabe: beides zu sein für seine Tochter,<br />
Mutter und Vater. Ohne Inge hätte er nicht überleben können,<br />
nicht überleben wollen. Heute ist Inge das Ebenbild ihrer<br />
Mutter, und sie ist der Sonnenschein seines Lebens.<br />
“So fasse ich denn das Dreigestirn meiner Predigt noch<br />
einmal zusammen: Bedingungsloses Vertrauen in Gott den<br />
Allmächtigen. Ergebenheit in seinen unerforschlichen Willen.<br />
Und ständiges Sich-Bemühen um selbstloses Handeln. Diese<br />
drei sind das Herz christlicher Ethik. Auf dem Boden dieser<br />
drei kann das Ringen um ein Verinnerlichen, ja, um ein neues
Predigt 193<br />
Verständnis des Lebensentwurfs Gottes großen Gewinn<br />
bringen.<br />
Gewiß, auch ein Tier kann selbstlos handeln. Aber niemals<br />
durch Einsicht oder Überwindung, sondern <strong>im</strong>mer nur durch<br />
unverrückbar in seinem Erbgut festgelegtes Verhalten. Ein<br />
Vogel, der einen erbeuteten Regenwurm an seine Jungen weitergibt,<br />
obwohl er hungrig ist, er handelt selbstlos. Eine Biene,<br />
die in unermüdlichem Fleiß Honig herbeischafft für die<br />
Nachkommenschaft, sie handelt selbstlos. Eine Ameise, die in<br />
einer für sie aussichtslosen Situation ohne jedes Zögern ihr<br />
Leben gibt für die Verteidigung ihres Volkes, sie handelt<br />
selbstlos.<br />
Vogel, Biene und Ameise müssen so handeln. Sie können<br />
nicht anders. Sie haben keinen freien Willen.<br />
Und genau hier, liebe Schwestern und Brüder <strong>im</strong> Glauben,<br />
hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und<br />
Tier. Wir Menschen können wählen. Im Vergleich zu den<br />
Tieren sind unsere Wahl- und Reaktionsmöglichkeiten um ein<br />
Vielfaches größer. Wir verfügen über die Fähigkeit, einsichtig<br />
zu handeln. Wir sind Erleuchtete. Wir sind Auserwählte. Uns<br />
hat Gott Augen und Seele geöffnet, auf daß wir sehend<br />
werden, auf daß wir unterscheiden können zwischen Gut und<br />
Böse. Jesus hat uns gelehrt, selbstlos zu handeln. Wahrlich,<br />
Er hat uns selbstloses Handeln vorgelebt bis in den Tod.<br />
Was kann ein Mensch nicht alles anrichten, wenn er die<br />
Grenzen der Ethik überschreitet! Es gibt kein Verbrechen, das<br />
nicht schon ein Mensch dem anderen zugefügt hätte. Selbst<br />
die fürchterlichsten Verbrechen, die menschliche Hirne sich<br />
überhaupt auszudenken vermögen – sie sind irgendwo,<br />
irgendwann von Menschen an Menschen begangen worden.<br />
Wir haben die Fähigkeit, unsere eigenen <strong>Inter</strong>essen rücksichtslos<br />
vor alles andere zu stellen. Wir haben die Fähigkeit,<br />
andere Menschen ohne Hilfeleistung verhungern zu lassen.<br />
Wir haben die Fähigkeit, Gottes Natur zu schänden, ganze<br />
Tierarten, ganze Pflanzenarten auszurotten. Wahrlich, wir
194 DREIGESTIRNE<br />
haben viele, viele böse Fähigkeiten. Daß wir sie kontrollieren,<br />
daß wir das Böse, dessen wir fähig sind, nicht tun, darin liegt<br />
unsere Würde als Mensch, darin liegen Wesenszüge, die den<br />
Menschen vor allen anderen Geschöpfen Gottes auszeichnen:<br />
Edelmut und Selbstlosigkeit.<br />
Durch unerschütterliches Gottvertrauen, durch bedingungslose<br />
Akzeptanz Seines unerforschlichen Willens und durch<br />
praktizierte Selbstlosigkeit werden wir zu Schwestern und<br />
Brüdern <strong>im</strong> Glauben.”<br />
Die Arme ausbreitend ruft der Pastor in die Gemeinde: “Das<br />
ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht<br />
setze auf Gott den Herrn, daß ich verkünde all Sein<br />
Tun!”<br />
Während der Pastor sich anschickt, den Gottesdienst zu<br />
beenden, eilt Inge durch den gepflegten kleinen Vorgarten ins<br />
Haus.<br />
“Vater, Vater!”, ruft sie. Doch der Pastor ist noch nicht zurück<br />
von seiner Predigt. So muß sie warten. Voller Ungeduld.<br />
Dann, endlich, kommt der Pastor. Inge fliegt in weit geöffnete<br />
Arme.<br />
“Vater!”, platzt es aus ihr heraus, “weißt du, wem ich<br />
begegnet bin? Hier, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>? Gerade eben? Vor dem Tor zu<br />
unserem Garten?? Dem Maler!!”<br />
“Bist du dir sicher?”<br />
“Ganz sicher. Ich habe sogar mit ihm gesprochen.”<br />
“Hier, bei uns”, wiederholt der Pastor kopfschüttelnd, als<br />
könne er das noch <strong>im</strong>mer nicht fassen. “Erst gestern habe ich<br />
ein <strong>Inter</strong>view mit ihm in der Zeitung gelesen. Er ist nicht nur<br />
ein genialer Maler, er ist auch ein beachtlicher Denker und<br />
ein großartiger Mensch.” Der Pastor sieht seine Tochter an.<br />
“Ein guter dazu.”<br />
“Ja.”<br />
“Schade”, sagt der Pastor und nickt, “schade, daß wir so<br />
einen Mann nicht dauernd um uns haben dürfen.”
Der Pastor legt den Talar ab, klappt den Deckel eines kleinen<br />
Kastens auf und greift nach einer Zigarre. Mit Sorgfalt<br />
packt er sie aus, kneift die Spitze ab, legt die in den Aschenbecher<br />
und befeuchtet das Zigarrenende mit dem Mund. Inge<br />
reicht ihm Feuer. Ermüdet vom langen Stehen während des<br />
Gottesdienstes, läßt sich der Pastor in seinen Sessel fallen.<br />
“Was wäre das für ein Erlebnis”, sinniert er vor sich hin und<br />
pafft mit großem Behagen die ersten Rauchwolken in Richtung<br />
Z<strong>im</strong>merdecke, “diesen Mann hier bei uns – in unserem<br />
Garten, in unserem Haus – haben zu dürfen. Seine Schaffenskraft<br />
und seine Weltsicht sind sehr eindrucksvoll. In vielen<br />
Punkten deckt sich die Art, in der er die Welt sieht, mit der<br />
meinen. Aber es gibt da auch ganz wesentliche Unterschiede.<br />
Darüber müßte man einmal in Ruhe und in aller Offenheit<br />
miteinander diskutieren können.”<br />
Vorbereitungen<br />
Vorbereitungen 195<br />
Nach dem Einkaufen geht Inge in die große alte Küche und<br />
beginnt damit, das Abendessen vorzubereiten. Sie ist sehr<br />
aufgeregt. Heute abend kommt Peter!<br />
Über diesen ersten Besuch ihres Freundes <strong>im</strong> Pastorenhaus<br />
hat sie schon oft nachgedacht, schon lange bevor eine Einladung<br />
überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen werden<br />
konnte. Neben Vorfreude haben bei ihren gedanklichen Vorbereitungen<br />
auf diesen Besuch auch <strong>im</strong>mer wieder andere<br />
Gefühle ihr Herz erfüllt. Zum erstenmal wird ein Mann in<br />
diesem Hause sein, den sie liebt, der aber nicht ihr Vater ist.<br />
Das Verhältnis zwischen ihrem Vater und ihr ist so einmalig,<br />
so voller Liebe und gegenseitiger Achtung. Ist da genügend<br />
Platz für einen Dritten? Und wie werden sich die beiden<br />
Männer verstehen? Wird Peter in seinem Ungestüm genügend<br />
Geduld, genügend guten Willen aufbringen können? Wie<br />
gewaltig sind die Unterschiede zwischen diesen beiden
196 DREIGESTIRNE<br />
Menschen – in Erziehung, Ausbildung und Beruf, aber auch<br />
<strong>im</strong> Fühlen, Denken und Wissen! Vereint sind sie nur in der<br />
Liebe zu ihr.<br />
Vielleicht ergeben sich Verständigungsmöglichkeiten zwischen<br />
ihrem Vater und ihrem Peter <strong>im</strong> Streben nach Erkenntnis,<br />
nach Wahrheit? Aber selbst hier gehen sie eigene,<br />
voneinander verschiedene Wege. So hofft Inge darauf, daß vor<br />
allem ihr Vater dazu beitragen möge, daß der heutige Abend<br />
nicht zu einem Desaster wird. Er kann auch andere, ganz<br />
andere Menschen verstehen. Und er kann, wie kaum ein anderer,<br />
Brücken schlagen.<br />
Auf jeden Fall wird der heutige Abend für ihr Leben von<br />
entscheidender Bedeutung sein. Ein Leben mit Peter ohne<br />
ihren Vater ist für sie unvorstellbar. Aber seit sie sich so<br />
richtig in Peter verliebt hat, erscheint es ihr auch undenkbar,<br />
ohne Peter zu leben.<br />
Inge hat jetzt einen Teil der Vorbereitungen erledigt. Sie<br />
kann sich eine kleine Pause gönnen. Ein Schwung – und schon<br />
sitzt sie auf dem hohen Küchenhocker. So kann sie die Beine<br />
baumeln und ausruhen lassen. Doch das währt nicht lange.<br />
Sie erinnert sich an den Manschettenknopf und an ihre Botschaft<br />
auf dem Papierbogen. Vielleicht hat der rechtmäßige<br />
Besitzer eine Zeile des Dankes hinterlassen? Mit umgebundener<br />
Küchenschürze läuft sie schnurstracks zur Bank auf<br />
dem Hügel, der Bank unter der großen Eiche. Die Bank ist<br />
leer. Links neben der Bank liegt der Stein. Aber ihr Papierbogen<br />
ist fort. Tief atmend vom Laufen sucht sie gebückt<br />
umher. Von ihrem Zettel findet sie keine Spur. “Schade”, sagt<br />
sie vor sich hin. Und sie denkt: ‘Jemand muß das Dankschreiben<br />
weggenommen haben.’ Keinen Augenblick zweifelt sie<br />
daran, daß der Manschettenknopf wieder in die Hände seines<br />
Eigentümers gelangt ist. ‘Schade!’ Sie läuft zurück zum Pastorenhaus,<br />
über Kiesweg und Brücke, links ab, den Hauptweg<br />
entlang, dritter Weg links – und schon steht sie vor dem
Vorbereitungen 197<br />
Holztor mit dem großen Kreuz. Durch den kleinen Vorgarten<br />
eilt sie ins Haus und dann, ganz schnell, in die Küche, daß nur<br />
ja alles besonders schön wird heute abend!<br />
Peter sitzt derweil in seinem Laboratorium. In der letzten<br />
Woche haben seine Exper<strong>im</strong>ente Ergebnisse erbracht, die er<br />
so nicht erwartet hatte. Das hat seine Planungen über den<br />
Haufen geworfen. Nun muß er seine Konzeption ändern, neue<br />
Versuche ausarbeiten und durchführen. Das kostet Zeit. Erhebliche<br />
Zeit, die in seinem Programm nicht vorgesehen war.<br />
Ärgerlich! Aber insgesamt ist er mit den Resultaten seiner<br />
Forschungsarbeit zufrieden. Seine Publikationen haben <strong>im</strong><br />
In- und Ausland ein positives Echo gefunden. Er erfreut sich<br />
internationaler Anerkennung, und das ist für einen so jungen<br />
Wissenschaftler keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Vor<br />
drei Monaten hatte er sich habilitiert, mit einer Arbeit über<br />
die Evolution und Ökologie einhe<strong>im</strong>ischer Gräser. Nun ist er<br />
der jüngste Privatdozent in der Fakultät.<br />
Heute abend wird er Gast sein <strong>im</strong> Pastorenhaus. Wer in<br />
aller Welt hätte das gedacht, ausgerechnet er <strong>im</strong> Pastorenhaus!<br />
Und bis über beide Ohren verliebt in eine Pastorentochter!<br />
Er, dieser unverbesserliche Heide, dieser Ketzer. Peter<br />
schmunzelt.<br />
Aber nun wird er ernst. Heute abend wird er zum ersten<br />
Mal Inges Vater gegenüberstehen. Seit Tagen hat er versucht,<br />
sich auf das Zusammentreffen mit dem Pastor vorzubereiten.<br />
Immer wieder hat er darüber nachgedacht. Ja, er hat sogar<br />
schon davon geträumt. Aber wie kann man sich denn wirklich,<br />
realistisch, auf so ein Treffen, auf so einen ersten Besuch<br />
vorbereiten? Jede Vorstellung über den Verlauf des Abends,<br />
über das Gespräch mit dem Pastor, ging anders aus. Dennoch:<br />
der heutige Abend wird für Inge und für ihn von größter<br />
Bedeutung sein. Er fühlt, er weiß: ein Konflikt zwischen dem<br />
Pastor und ihm ist unausweichlich. Zu unterschiedlich sind<br />
die Welten, in denen sie leben. Und er weiß um seine Schwä-
198 DREIGESTIRNE<br />
chen als Diskussionspartner. Schon oft haben ihn seine Kollegen<br />
darauf hingewiesen. Sein hartnäckiges kompromißloses<br />
Streben nach Logik und Wahrheit kann andere schnell<br />
verletzen.<br />
Be<strong>im</strong> Pastor<br />
Als Peter drei Stunden später in dunklem Anzug, weißem<br />
Hemd und roter Krawatte mit weißen Punkten vor dem<br />
Gartentor mit dem großen Kreuz steht, da kommt ihm Inge<br />
schon entgegengesprungen. So stürmisch ist die Umarmung,<br />
daß er fast das Gleichgewicht verliert und zunächst völlig<br />
vergißt, ihr den Strauß roter Rosen zu überreichen. Mit<br />
klopfendem Herzen führt Inge ihren Peter an der Hand durch<br />
den Garten ins Haus. In der kleinen Vorhalle küssen sich die<br />
beiden. Dann n<strong>im</strong>mt Inge die Rosen in Empfang, bringt sie in<br />
die Küche und stellt sie in eine Vase.<br />
Peter sieht sich um. Für ihn ist dies ein großes Haus. Alt, ja,<br />
aber eindrucksvoll. Durch die halboffene zweiflügelige Tür<br />
kann er einen Teil des Wohnz<strong>im</strong>mers sehen. Strenge Möbel.<br />
Schöne Teppiche. Eine große Vase mit bunten Gartenblumen.<br />
Und über allem schwebt der Duft guter Zigarren.<br />
Inge hakt sich bei Peter ein und geht mit ihm ins Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />
Da steht der Pastor. Groß ist er, mit schneeweiß gelocktem<br />
Haar und einem gütigen, von der Sonne leicht gebräunten<br />
Gesicht. Der Mund hat jenen unverwechselbaren<br />
Ausdruck, der nur Lebenserfahrenen und Schicksalsgeprüften<br />
eigen ist. Die sanften graublauen Augen nehmen gefangen<br />
durch einen eindringlichen Glanz. ‘Ja’, denkt Peter, ‘das ist<br />
Inges Vater. Wie anders hätte er auch aussehen können!’ Er<br />
macht eine artige Verbeugung und sagt: “Herzlichen Dank,<br />
Herr Pastor, für die freundliche Einladung.” Auch der Pastor<br />
verneigt sich, ganz leicht nur, aber begleitet von einem warmen<br />
Willkommensblick. In seinen Augen leuchtet so etwas
Be<strong>im</strong> Pastor 199<br />
wie Erleichterung. ‘Das ist ja ein netter junger Mann’, denkt<br />
er. “Herzlich willkommen, Herr Doktor! Meine Tochter hat<br />
mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, daß ich Sie<br />
kennenlernen darf.” Die St<strong>im</strong>me des Pastors ist angenehm,<br />
tief und tragend, wie die eines Baritons. Sie strahlt innere<br />
Harmonie aus und gedämpfte Ruhe.<br />
Der Pastor geleitet den jungen Wissenschaftler durchs<br />
Wohnz<strong>im</strong>mer zu einer Sitzgruppe. Sie besteht aus einem runden<br />
Eichentisch und drei darum gruppierten dunkelbraunen<br />
Ledersesseln. “Bitte nehmen Sie Platz.”<br />
“Danke.” Peter sieht sich um. “Sie haben ein sehr schönes<br />
Haus”, sagt er. “Und ein großes dazu.”<br />
“Das ist nicht mein Haus. Das ist sozusagen meine Dienstwohnung.<br />
Aber ich wohne und wirke hier nun schon seit fünfundzwanzig<br />
Jahren, und da habe auch ich das Gefühl, daß<br />
dies mein Haus ist. Meine Tochter und ich, wir leben hier bescheiden,<br />
aber wir sind sehr glücklich miteinander.”<br />
Der Pastor ergreift einen alten, mit Schnitzereien verzierten<br />
Holzkasten und öffnet den Deckel: “Zigarre?”<br />
“Nein danke, ich bin Pfeifenraucher.”<br />
“Na”, schmunzelt der Pastor, “da können wir ja gemeinsam<br />
die Luft hier verpesten – jeder auf seine Weise.” Während<br />
er seine Zigarre beschneidet, befeuchtet und anzündet, stopft<br />
sich Peter eine Pfeife, holt das Feuerzeug hervor und pafft<br />
den Tabak in Glut. Blau-graue Rauchwolken quellen, breiten<br />
sich aus, steigen, sich drehend und umeinanderwindend,<br />
sich trennend und wieder vereinigend, hinauf zur Z<strong>im</strong>merdecke.<br />
“Sie sind Wissenschaftler”, beginnt der Pastor das Gespräch<br />
und legt seine Zigarre mit einer ruhigen, nahezu<br />
zelebrierenden Bewegung in die von ihm bevorzugte der drei<br />
Dellen seines Aschenbechers.<br />
“Ja, Botaniker.”<br />
“Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit?”<br />
Peter berichtet dem Pastor in großen Zügen über seine For-
200 DREIGESTIRNE<br />
schungsarbeiten. Das geht ihm leicht von der Zunge. Und<br />
während er nun redet – vielleicht etwas mehr und etwas<br />
eifriger, als das bei einem ersten Besuch schicklich wäre – ist<br />
er froh, auf diese Weise die Spannung, die ihn erfüllt, etwas<br />
abbauen zu können. Dann reden die beiden über Inges Germanistikstudium,<br />
sie studiert <strong>im</strong> dritten Semester, und schließlich<br />
spricht Peter über den <strong>Park</strong>, wie groß er ist und wie schön.<br />
“Und wie herrlich muß es sein, <strong>im</strong> <strong>Park</strong> wohnen und arbeiten<br />
zu können.”<br />
“Ja”, nickt der Pastor, “das ist es.”<br />
Inge kommt herein von der Küche. Rasch wandern ihre Augen<br />
von dem einen zum anderen. ‘Gott sei Dank!’ denkt sie,<br />
‘bisher scheint alles in Ordnung zu sein.’ “Was trinken die<br />
Herren, was darf ich bringen?”<br />
“Nichts”, antwortet der Pastor und zwinkert Peter zu. “Das<br />
ist meine Sache. Herr Doktor, was darf’s sein? Ich …”<br />
“Oh, bitte, Vater”, unterbricht Inge, “bitte sag Peter zu ihm.<br />
Herr Doktor, das klingt so fremd, so distanziert.”<br />
Der Pastor sieht Peter an. Als der, nachdrücklich nickend,<br />
Zust<strong>im</strong>mung signalisiert, wiederholt er seine Frage. “Also<br />
Peter, was trinken Sie? Sherry, Wein oder Orangensaft?”<br />
“Sherry, wenn ich darf.”<br />
“Und du, Inge?”<br />
“Wein.”<br />
Der Pastor erhebt sich und geht in ein Nebenz<strong>im</strong>mer.<br />
“Wie ist es gegangen?” flüstert Inge aufgeregt.<br />
“Bis jetzt gut.” Peter sieht ihr an, wie sehr sie sich sorgt.<br />
“Gott sei Dank! Ich hoffe, ich wünsche mir so sehr, daß es so<br />
bleibt!”<br />
“Ich werde mir große Mühe geben, mein Ketzertum für mich<br />
zu behalten”, grinst Peter.<br />
“Ach, du …”<br />
Peter streichelt Inges Arm. Sie beugt sich zu ihm hinunter.<br />
Die beiden küssen einander.<br />
Klirren von Glas dringt zu ihnen herüber. Der Pastor han-
tiert mit Gläsern und Flaschen. Jetzt kommt er, ein Tablett<br />
vor sich hertragend, zurück. Peter erhebt sich. Zuerst reicht<br />
der Pastor ihm den Sherry, dann Inge den Wein. Er selbst hat<br />
sich auch ein Glas Sherry eingeschenkt.<br />
“Zum Wohl ihr beiden!”<br />
“Zum Wohl.”<br />
“Auf einen guten Abend”, sagt der Pastor.<br />
“Auf einen guten Abend”, antwortet Peter.<br />
Die drei stoßen miteinander an. Nachdem jeder einen<br />
Schluck zu sich genommen hat, blickt der Pastor zuerst Peter<br />
an und dann Inge, hebt noch einmal kurz das Glas, nickt, und<br />
dann fragt er seine Tochter: “Na, wie weit bist du?”<br />
“Bitte habt Geduld. Ich möchte heute alles besonders schön<br />
richten.”<br />
Die beiden Männer machen es sich in den Ledersesseln<br />
bequem. “Wie wär’s mit einem Feuerchen?”, fragt der Pastor<br />
und weist mit dem Kopf zum Kamin.<br />
“Sehr gern. Das ist so schön gemütlich.”<br />
Der Pastor öffnet die Abzugsklappe, schiebt Zeitungspapier<br />
unter die sorgfältig geschichteten Holzscheite und entzündet<br />
es. Flammen züngeln. Rasch fangen trockene Zweige Feuer.<br />
Im Kamin beginnt es zu knistern und zu knacken, und schon<br />
bald strahlen flackernder Feuerschein und wohlige Wärme<br />
ins Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />
Der Pastor hat erneut in seinem Sessel Platz genommen.<br />
“Zum Wohl”, sagt er und hebt sein Glas.<br />
“Zum Wohl.”<br />
Schweigen. Langes, tiefes Schweigen.<br />
Intelligenz<br />
Intelligenz 201<br />
Peter sucht nach einem Thema für den Einstieg in ein<br />
Gespräch. ‘Religion scheidet aus’, sagt er sich abermals. Wie<br />
könnte man auch ernsthaft mit einem Pastor über Religion
202 DREIGESTIRNE<br />
diskutieren? Jeder, der einem Dogma, ob nun in der Religion<br />
oder in der Politik, verpflichtet ist, fällt als Gesprächspartner<br />
für dessen Erörterung aus. In einer Diskussion muß man die<br />
eigene Auffassung zur Disposition stellen können, die Argumente<br />
des anderen ernst nehmen und, wenn sie Logik und<br />
Beweiskraft enthalten, auch akzeptieren. Oder man muß sie,<br />
ebenfalls mit Logik und Beweiskraft, widerlegen. Nur so kann<br />
ein Gespräch fruchtbar sein. Ein fruchtbares Gespräch aber<br />
kann niemand führen, der von vornherein mit einer<br />
festgefügten Meinung antritt. Solche Leute wollen nur<br />
belehren, missionieren.<br />
Da kommt ihm der Pastor zu Hilfe: “In der vorigen Woche<br />
habe ich ein interessantes Buch gelesen. Der Autor erörtert<br />
das Verhalten der Tiere, stellt hier und da Vergleiche an zwischen<br />
Mensch und Tier, und dann spricht er auch einem Tier,<br />
jedenfalls einem höher entwickelten, Intelligenz zu. Was meinen<br />
Sie dazu als Ökologe?”<br />
“Um nicht aneinander vorbeizureden, müssen wir uns<br />
zunächst einmal darüber einigen, was wir unter Intelligenz<br />
verstehen wollen.”<br />
Jedes Wort bedenkend sagt der Pastor langsam: “Für mich<br />
ist Intelligenz nicht so sehr eine einzelne Eigenschaft. Eher die<br />
Summe verschiedener Fähigkeiten, die <strong>im</strong> Resultat eine Bewältigung<br />
neuer Aufgaben und neuer Situationen ermöglichen.”<br />
Peter nickt.<br />
“Intelligenz ist die Schwester der Kreativität”, fährt der<br />
Pastor fort. “Sie ist die Voraussetzung für eine kritische Würdigung,<br />
<strong>Inter</strong>pretation und Lösung von Problemen – wissenschaftlichen,<br />
religiösen, literarischen, sozialen, politischen.”<br />
“Vor allem der erste Teil Ihrer Definition hat meiner Ansicht<br />
nach unmittelbare Beziehung zu Ihrer Frage. Und dem kann<br />
ich voll zust<strong>im</strong>men.” Peter pafft. “Gehen wir also einmal davon<br />
aus, daß Intelligenz das Vermögen beinhaltet, neue Aufgaben,<br />
Anforderungen und Situationen zu bewältigen.” Er<br />
sieht den Pastor an.
Intelligenz 203<br />
Der nickt.<br />
“In diesem Sinne müssen wir Tieren zweifellos Intelligenz<br />
zubilligen. Denken Sie nur einmal an eine Katze, die zum<br />
erstenmal einen für sie neuen Raum betritt. Sie betrachtet,<br />
bewittert und betastet jeden Gegenstand. Sie n<strong>im</strong>mt alles für<br />
sie Neue ganz konzentriert – man kann sie dabei kaum<br />
ablenken – in sich auf. Ähnlich verhält sich die Katze in<br />
einem für sie neuen Revier in der freien Natur. Sie<br />
kundschaftet es genau aus. Und sie merkt sich mit großer<br />
Sorgfalt eine Fülle von Einzelheiten. So bewältigt sie die neue<br />
Aufgabe, sich in diesem Revier zurechtzufinden. Und sie stellt<br />
sich auf neue Situationen ein: neue Jagdmöglichkeiten, neue<br />
Fluchtmöglichkeiten, neue Versteckmöglichkeiten. Dieses<br />
Verhalten entspricht Ihrer Definition von Intelligenz.”<br />
“Einverstanden.”<br />
“Tiere müssen oft neue Aufgaben und Anforderungen<br />
bewältigen und sich auf neue Situationen einstellen. Bei einer<br />
Taube, zum Beispiel, ist der normale Fluchtabstand zum Menschen<br />
in freier Wildbahn vierzig, fünfzig Meter oder mehr. In<br />
der Stadt aber kann eine Taube oft nur von Speiseresten überleben,<br />
die von den Tischen eines Straßenrestaurants fallen.<br />
Auf einer belebten Straße laufen Tauben zwischen den Beinen<br />
der Menschen umher. Sie haben sich auf eine neue Situation<br />
eingestellt. Sie haben das Problem bewältigt, sich neue Nahrungsquellen<br />
zu erschließen und sich in einer Stadt einzurichten.”<br />
Der Pastor nickt.<br />
“Das sind nur zwei Beispiele tierischer Intelligenz und sicher<br />
nicht die eindrucksvollsten.”<br />
“Sehr intessant und durchaus plausibel.”<br />
Dann aber sagt Peter etwas, das den Pastor überrascht:<br />
“Bisher haben wir nur über Intelligenz gesprochen, die an ein<br />
Individuum gebunden ist.”<br />
“Gewiß. Gibt es eine andere?”<br />
“Meiner Ansicht nach ja. In der Evolution geschehen Ent-
204 DREIGESTIRNE<br />
wicklungen, die so kompliziert sind und in sich so logisch, so<br />
offensichtlich darauf ausgerichtet, neue Aufgaben zu bewältigen<br />
und neue Situationen zu berücksichtigen, daß ich hier<br />
von Intelligenz sprechen möchte – von einer überindividuellen,<br />
einer evolutiven Intelligenz. Das gilt nicht nur für<br />
Tiere, sondern auch für Pflanzen und für Mikroorganismen.<br />
Für mich ist Intelligenz eine grundsätzliche Eigenschaft der<br />
Natur.”<br />
“Das ist neu für mich. Das müssen Sie mir bitte erläutern.<br />
Was verstehen Sie unter überindividueller Intelligenz?”<br />
“Ein Beispiel ist die Wechselbeziehung zwischen unserer<br />
Fledermaus und ihrer Beute, Insekten. Aus paläontologischen<br />
Funden und Verhaltensstudien ergibt sich ein faszinierendes<br />
Bild von den Möglichkeiten der Fledermaus, <strong>im</strong><br />
Laufe vieler Generationen neue Aufgaben, Anforderungen<br />
und Situationen zu bewältigen. Ursprünglich ein bodenlebendes<br />
Tier, hat sie in Hunderttausenden von Jahren einen<br />
Flugapparat ausgebildet, fliegen gelernt, und sich so eine<br />
Nahrungsnische <strong>im</strong> Luftraum erobert. Als Säugetier konnte<br />
sie nun, wie ein Vogel, Insekten nachstellen, die schon vor ihr<br />
fliegen gelernt hatten. In der Luft jedoch gab es Vögel, die ihr<br />
die Nahrung streitig machten, und auch einige, die sie als<br />
Beute nutzten. So mußte die Fledermaus in den Schutz der<br />
Dunkelheit ausweichen. Wie aber sollte sie in der Dunkelheit<br />
Insekten aufspüren und fangen? Auch diese neue Anforderung<br />
hat sie bewältigt: Sie hat, wie Sie vermutlich wissen,<br />
das Prinzip der Echoorientierung, das Sonar, erfunden – also<br />
eine Art Radar, aber ein viel besseres und viel feineres Radar,<br />
als wir Menschen es mit unserer Individualintelligenz Hunderttausende<br />
von Jahren später entwickelt haben. Die Fledermaustechnik<br />
können wir auch heute noch nicht<br />
nachbauen.”<br />
Der Pastor wiegt den Kopf.<br />
“Wie Sie vermutlich ebenfalls wissen”, fährt Peter fort, “sendet<br />
die Fledermaus hochfrequente Schreitöne aus, oberhalb
Intelligenz 205<br />
der Grenze menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeit. Aus<br />
dem von Gegenständen ihrer Umgebung zurückgeworfenen<br />
und von der Fledermaus empfangenen Echo der Schreitöne<br />
konstruiert sie blitzschnell ein gehörtes Raumbild. Selbst<br />
wenn Hunderte von Fledermäusen gleichzeitig jagen, ist es<br />
nicht möglich, sie durch das Abspielen von Tonbändern mit<br />
ihren eigenen St<strong>im</strong>men, die dem Geschreikonzert hinzugefügt<br />
werden, zu verwirrren. Eine phantastische Leistung und eine<br />
hochintelligente dazu!”<br />
“Ja, ein Wunder der Natur. Ein Wunder der göttlichen<br />
Schöpfung.”<br />
“Man kann das auch so sagen. Aber all das existierte ja<br />
nicht am Ende des letzten Tages der Schöpfung, als der<br />
Christengott laut Bibel sein Werk vollendet hatte. Es hat<br />
sich nachweislich über sehr lange Zeitspannen hinweg ereignet,<br />
<strong>im</strong> Verlauf eines ständigen Agierens und Reagierens<br />
der beteiligten Geschöpfe und unter dem Einfluß ihrer Umwelt.<br />
Und so etwas passiert auch heute noch, jeden Tag und<br />
<strong>im</strong>mer wieder.”<br />
Der Pastor legt Holz nach. Über die Schulter sagt er:<br />
“Darüber ist viel diskutiert worden, auch in meiner<br />
Gemeinde. Die christliche Kirche behauptet heute nicht<br />
mehr, daß mit dem Ende der biblischen Schöpfungsgeschichte<br />
alles abgeschlossen war. Heutzutage wird das ursprüngliche<br />
Verständnis der Schöpfung in weiten Teilen den Erkenntnissen<br />
der Naturwissenschaften angepaßt. Es ist Raum<br />
in der christlichen Religion, auch für eine sich entwickelnde<br />
Natur.”<br />
“Die christliche Schöpfungslehre hat sich erst unter dem<br />
Druck nicht mehr zu widerlegender Tatsachen zu einer Korrektur<br />
bequemt. Weitere Korrekturen werden folgen. Vermutlich<br />
aber auch in Zukunft <strong>im</strong>mer erst mit erheblicher Verspätung.”<br />
Der Pastor unterdrückt eine Entgegnung.
206 DREIGESTIRNE<br />
Lebensprozeß<br />
“Wie dem auch sei”, fährt Peter unbekümmert fort,<br />
“für mich manifestiert sich in der Entwicklung des Fledermaussonars<br />
eine grundsätzliche Form der Intelligenz. Eine<br />
überindividuelle, evolutive Intelligenz des Lebensprozesses<br />
selbst.”<br />
“Was ist das, der Lebensprozeß?”<br />
“Das ist ein Begriff, der meinen Vorstellungen entwachsen<br />
ist. Für die Natur spielt das Individuum eine untergeordnete<br />
Rolle, <strong>im</strong> Gegensatz zu unseren menschlichen Erfahrungen<br />
und Vorstellungen, bei denen ja alles von Individuen empfunden<br />
wird, alles von Individuen ausgeht.”<br />
“Individuen sind die Basis allen Lebens.”<br />
“Individuen sind kurzlebige Raum-Zeitgestalten, in denen<br />
sich der augenblickliche Status des Lebensprozesses manifestiert.<br />
Bildhaft ausgedrückt: Individuen sind die rasch vorübergehend<br />
aufflammenden Fackeln <strong>im</strong> langen, Milliarden<br />
von Jahren dauernden Fackelzug des Lebensprozesses.”<br />
“Sie glauben nicht an ein Weiterleben von Individuen nach<br />
dem Tod?”<br />
“Nein.”<br />
“Was sagen Sie zu neuen Forschungsergebnissen, nach<br />
denen einfaches Leben, Bakteriensporen, über Hunderttausende<br />
von Jahren lebensfähig geblieben sind? Das ist doch<br />
keine rasch vorübergehend aufflammende Fackel. Oder?”<br />
“Diese Befunde bedürfen der Überprüfung. Es muß nachgewiesen<br />
werden, daß es sich wirklich um so alte Sporen<br />
handelt und nicht um später dazugekommene.”<br />
“Und wenn sich bei der Überprüfung herausstellen sollte,<br />
daß dieses Leben tatsächlich Hunderttausende von Jahren<br />
überdauern konnte?”<br />
“Im Zustand latenten Lebens kann die Lebensuhr sehr, sehr<br />
langsam ticken, zum Beispiel in der Spore eines Bakteriums.<br />
Aber wenn die Uhr abgelaufen ist, bleibt sie stehen. Keine
Lebensprozeß 207<br />
Macht der Welt kann sie dazu bringen, weiterzulaufen. Die<br />
Uhr wird aufgezogen, wenn ein neues Individuum entsteht,<br />
sie tickt während seines Lebens, und sie kommt zum unwiderruflichen<br />
Stillstand, wenn ihre Antriebskraft aufgebraucht<br />
ist. Die Einmaligkeit und die begrenzte Lebensspanne eines<br />
Individuums sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung<br />
des vielartigen Lebens, das wir auf der Erde vorfinden.”<br />
“Und der Lebensprozeß?”<br />
“Der Lebensprozeß umfaßt alle lebenden Arten. Davon sind<br />
der Wissenschaft gegenwärtig rund zwei Millionen bekannt.<br />
Und er umfaßt alle Kräfte, die das Entstehen, Reifen und<br />
Vergehen dieser Arten steuern. Keine der zwei Millionen<br />
Arten, auch nicht der Mensch, ist für sich allein lebensfähig.<br />
Irdisches Leben hat sich in Systemen verschiedener, koexistierender<br />
Arten entwickelt. Nur in diesen Systemen kann es<br />
sich erhalten. In den Kräften, die die Dynamik dieser Systeme<br />
steuern, liegt das wirkliche Wesen des Lebens.”<br />
“Einen Augenblick!”, ruft der Pastor und erhebt die Hand,<br />
“wo bleibt denn da der Herr Darwin mit seiner auf Individuen<br />
basierenden Variation und Selektion?”<br />
“Im Individuum entwirft und testet der Lebensprozeß neue<br />
Strukturen und Funktionen. Hier würfelt er <strong>im</strong> Wirkungsfeld<br />
von Konkurrenz, Ressourcenknappheit, Anpassung und Auslese<br />
um die Entstehung und Weiterentwicklung neuer Arten,<br />
um Ausdruck und Richtung seiner Gestaltungsmöglichkeiten<br />
unter den jeweils gegebenen Bedingungen.”<br />
Peter klopft seine Pfeife aus <strong>im</strong> Aschenbecher und legt sie<br />
auf einen kleinen Teller, der auf dem Eichentisch steht. “Darwin<br />
hat nachgewiesen, daß eine Evolution <strong>im</strong> Reich des Lebendigen<br />
stattfindet und daß Individuen, die besser angepaßt<br />
sind, eine größere Chance haben, sich zu vermehren. Seine<br />
sorgfältigen und umfangreichen Beobachtungen hat Darwin<br />
zu erklären versucht durch die Annahme zufallsbedingter<br />
Variationen und einer Begünstigung der vorteilhafteren Form<br />
<strong>im</strong> Existenzkampf. Seine Theorien haben das Denken der
208 DREIGESTIRNE<br />
Naturwissenschaftler in starkem Maße beeinflußt und<br />
nachhaltig befruchtet.”<br />
“Und? Was kritisieren Sie?”<br />
“Es gibt zu vieles, das Darwins Theorien nicht zu erklären<br />
vermögen. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß Darwins<br />
Vorstellungen nur Randaspekte der Entwicklung des Lebens<br />
beleuchten. Darwin hat dem Zufall und dem von uns unmittelbar<br />
Erlebbaren zu viel Bedeutung beigemessen. Meiner<br />
Ansicht nach geht der Darwinismus an Wesentlichem vorbei.”<br />
“Was ist denn Ihrer Ansicht nach das Wesentliche?”<br />
“Für mich liegt das Wesentliche in den universumweiten<br />
Reifungs- und Ausfächerungsvorgängen. Im Verlauf von Milliarden<br />
von Jahren best<strong>im</strong>men sie die sich wandelnden Formen<br />
der Materie. Sie steuern alle Entwicklungen des Leblosen<br />
und des Lebenden. Individuen und Arten sind ein Teil der für<br />
uns sichtbar werdenden Wirkungen dieser Grundvorgänge.<br />
Machtvoll und unaufhaltsam drängen sie vorwärts, <strong>im</strong>mer<br />
nur vorwärts, einem uns nicht bekannten Ziel entgegen. Immer<br />
wieder erzwingen sie neue, miteinander in vielfältiger<br />
Weise verflochtene, sich gegenseitig beeinflussende, nur vorübergehend<br />
ausbalancierte Fließgleichgewichte. Ein ewiger<br />
Strom von Aufbau, Umbau und Abbau, von Erhaltung und<br />
Veränderung, von Schöpfung und Vernichtung.”<br />
“Und wohin soll das führen? Ich meine in bezug auf die<br />
Evolution des Lebendigen?”<br />
“Zu einer sich fortschreibenden Differenzierung und Diversifikation.<br />
Die Entstehung neuer Arten ist ein Teilaspekt<br />
dieses umfassenden Ganzen.”<br />
“Ich sehe da keine Ordnungsprinzipien.”<br />
“Ein stärkeres Energiesystem entzieht einem schwächeren<br />
Energie. Aber ein und dasselbe System kann <strong>im</strong>mer nur eine<br />
begrenzte Menge an Energie, Informationen und Strategien<br />
in sich aufnehmen. Das Anreichern von Energie, das Festschreiben<br />
von Bewährtem und das Ausprobieren und Anwenden<br />
von Neuem sind in ein und demselben System zeitlich
Lebensprozeß 209<br />
und räumlich nur begrenzt vereinbar. Sobald ein best<strong>im</strong>mtes<br />
Ausmaß an Systembefrachtung überschritten wird, muß es<br />
zur Abspaltung, also zur Bildung eines neuen Systems<br />
kommen. Überfrachtung mit Strukturen, Funktionen und<br />
Programmen führt nicht zu weiterem Gewinn an<br />
Ausfächerungspotential, sondern zu Destabilisierung. Daraus<br />
erwächst die entscheidende Triebfeder für die Entstehung<br />
und Entfaltung neuer Energie-Materie-Konstellationen, also<br />
auch neuer Arten. Wenn Stabilität verlorengeht, kann die<br />
Entstehung eines neuen Systems, einer neuen Lebensform,<br />
sich schnell vollziehen. So können auch große Veränderungen<br />
in der Evolution sozusagen <strong>im</strong> Sprung stattfinden.”<br />
“Eine für mich fremde, aber faszinierende Perspektive. Wie<br />
soll das <strong>im</strong> einzelnen funktionieren?”<br />
“Eine Art besitzt einen gemeinsamen Eigenschaftspool. Der<br />
ist das Ergebnis evolutiver Kräfte. Im Laufe der Zeit können<br />
Veränderungen in den evolutiv wirksamen Faktoren zu einer<br />
Destabilisierung der Harmonie innerhalb des Pools führen<br />
und damit zu einer Tendenz zum Ausgliedern. Abgetrenntes<br />
strebt nach eigener Stabilität. So entsteht ein neues System.<br />
Das geht sofort auf Distanz, um seine Identität nicht wieder<br />
zu verlieren. Der Zwang zur ausfächernden Diversifikation,<br />
die Dynamik zwischen Einbindung und Abtrennung, zwischen<br />
Nähe und Distanz, zwischen Anziehung und Abstoßung,<br />
das sind die Grundkräfte der Natur.”<br />
Nachdenklich zieht der Pastor an seiner Zigarre. “Wie sollen<br />
neue Eigenschaften festgeschrieben und wie weitergegeben<br />
werden? Das geht doch nach allem, was die Biologen bisher an<br />
Wissen zutage gefördert haben, nur durch an Individuen gebundene<br />
Chromosomen, von Eltern auf Kinder.”<br />
“Die Beschaffung, Auswertung, Speicherung und Weitergabe<br />
von Informationen ist von zentraler Bedeutung für den<br />
Ausfächerungsplan lebender Materie. Ich vermute, daß die<br />
Natur dafür verschiedene, auch uns noch verborgen gebliebene<br />
Mechanismen ausgebildet hat.”
210 DREIGESTIRNE<br />
“Genetische Informationen wandern nicht nur von Eltern zu<br />
Kindern?”<br />
“Dieser vertikale Wanderweg ist der effektivste und häufigste,<br />
aber nicht der einzige. Genetische Informationen<br />
wandern auch horizontal zwischen verwandten, ja selbst<br />
zwischen nicht verwandten Organismen.”<br />
“Wie?”<br />
“Die Wissenschaft ist zur Zeit dabei, diese Dinge zu erforschen.<br />
Ein Weg ist bereits erkennbar: Transfer vererbbarer<br />
Information durch extrachromosomale, dynamische und<br />
relativ autonome DNA Moleküle. Mit ihrer Hilfe können sich<br />
in einer Mikrobenpopulation medikamenten-resistente Eigenschaften<br />
rasch horizontal ausbreiten. Ich vermute, daß Querfeldein-Austausch<br />
genetischer Elemente in der Evolution von<br />
Bedeutung sein kann.”<br />
“Wie soll sie funktionieren, die horizontale Weitergabe von<br />
Erbinformationen?”<br />
“Es gibt wandernde Erbinformationen, die durch best<strong>im</strong>mte<br />
Mikroorganismen in die Zellen artfremder Lebewesen eingeschleust<br />
und dort in das genetische Programm eingebaut<br />
werden können.”<br />
“Das verstehe ich nicht.”<br />
“Überall da, wo Trägereinheiten wandernden genetischen<br />
Materials direkten Kontakt herstellen mit Wirtszellen – durch<br />
Fusion, Plasmabrücken, verbindende Proteinfilamente – könnte<br />
dieses Material von der Zelle eines Organismus in die Zelle<br />
eines anderen Organismus hinüberwandern. Die zur Zeit viel<br />
diskutierte Gentechnik und den Gentransfer haben nicht die<br />
Menschen in die Welt gebracht. So etwas existiert seit langem<br />
in der Natur.”<br />
“Das würde Herrn Darwin aber doch wohl sehr beunruhigen.”<br />
“Möglich.” Peter nickt vergnügt. “Extrachromosomaler Erbinformationsfluß<br />
könnte eine Funktion haben in der langfristigen<br />
Gestaltung, Harmonisierung und Ausfächerung von
Lebensprozeß 211<br />
zwischenartlichen Beziehungen.”<br />
“Für einen Laien ist es nicht ganz einfach, Ihnen zu folgen.<br />
Ist das Erforschen derartiger Dinge nicht sehr schwierig?<br />
Übersteigt das nicht die Grenzen menschlicher Möglichkeiten<br />
– das dem Menschen von Gott Gegebene?”<br />
“Naturwissenschaft erforscht von Menschenhirnen erfahrbare,<br />
überprüfbare und reproduzierbare Zusammenhänge.<br />
Dabei späht sie <strong>im</strong>mer nur durchs Schlüsselloch. Die Tür<br />
zu wirklich umfassender Erkenntnis bleibt ihr verschlossen.”<br />
Peter umfaßt sein bärtiges Kinn und sagt, vor sich hin nikkend:<br />
“Und wenn wir denn die Tür öffnen könnten, so würden<br />
wir nichts sehen.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil all das wirklich Wesentliche, das unserere Welt<br />
gebiert und steuert, für uns Menschen unsichtbar ist und unerkennbar.”<br />
Der Pastor signalisiert Zust<strong>im</strong>mung. Das sieht er genauso:<br />
“Bis hieher sollst du kommen, sagt der Herr zu Hiob und nicht<br />
weiter; hie sollen sich legen deine stolzen Wellen!”<br />
Nachdenklich nickt Peter.<br />
“Die Wissenschaft ist also kurzsichtig?”<br />
“Ja.”<br />
“Würden Sie dann auch zugeben, daß die Wissenschaft auf<br />
einem Auge blind ist?”<br />
“Ja. Für mich sind die Ordnungsprinzipien, nach denen das<br />
Universum entsteht, reift und wieder vergeht, komplexer,<br />
wenn Sie so wollen gehe<strong>im</strong>nisvoller, als es die Naturwissenschaft<br />
ann<strong>im</strong>mt. Die Wissenschaft kann nicht ausschließen,<br />
daß Ordnungskräfte <strong>im</strong> Universum wirksam sind, von denen<br />
wir noch nicht die geringste Vorstellung haben. Wie gesagt:<br />
Im Bereich des Lebendigen fasse ich die entscheidenden<br />
hypothetischen Wirkungskräfte zusammen in dem Begriff<br />
‘Lebensprozeß’.”<br />
“Und da”, sagt der Pastor und schmunzelt, “sind wir wieder<br />
angelangt bei ihrem Wunderkind.”
212 DREIGESTIRNE<br />
“Ja. Ich vermute, daß der Lebensprozeß das Urprogramm<br />
enthält, das der Entstehung, Entfaltung, Reifung und Vernichtung<br />
des Lebens zugrundeliegt. Und daß in ihm auch die<br />
Basis ruht für die überindividuelle Intelligenz.”<br />
“Was für eine Form von Intelligenz meinen Sie jetzt?”<br />
“Ich meine Intelligenz wie wir sie vorhin definiert haben: die<br />
Fähigkeit, neue Aufgaben, Anforderungen und Situationen zu<br />
meistern.”<br />
Peter fährt mit den Fingerspitzen tastend <strong>im</strong> Bart herum.<br />
“Soweit ich sehe, sind diese Vorstellungen von der Wissenschaft<br />
bisher so nicht geäußert worden. Das ist Neuland.<br />
Das alles beschäftigt mich erst seit kurzem. Bitte nehmen<br />
Sie diese Dinge daher als das, was sie sind: meine Hypothesen.”<br />
Der Pastor nickt.<br />
“Das <strong>im</strong> Lebensprozeß enthaltene Organisationskonzept ist<br />
meiner Ansicht nach Teil der Gesamtorganisation des Universums.<br />
Es ist so umfassend, daß es bereits alle grundsätzlichen<br />
Konstruktionen und Funktionen der sich in Milliarden<br />
von Jahren entfaltenden Natur in sich trägt. Etwa so, wie in<br />
einer befruchteten Eizelle bereits das gesamte Grundprogramm<br />
des sich aus ihr entwickelnden Organismus enthalten<br />
ist. Die Entstehung und Ausfächerung von Arten ist ein Teil<br />
dieses Ganzen.”<br />
Der Pastor zieht an seiner Zigarre und legt sie dann<br />
nachdenklich in den Aschenbecher. Langsam spitzt er den<br />
Mund, schiebt die Unterlippe vor und senkt den Kopf. So<br />
verharrt er eine Weile. Dann macht er ein langgezogenes<br />
“Hhmmm”, hebt den Kopf und sieht den jungen<br />
Wissenschaftler fragend an: “Ihr Lebensprozeß, ist das etwas<br />
Materielles, etwas gegenständlich Faßbares?”<br />
“Nein.”<br />
“Könnte man dann sagen, der Lebensprozeß sei eine Idee?”<br />
“In gewisser Weise schon. Aber eine Idee <strong>im</strong> Sinne von elementarem<br />
Wesensinhalt, nicht <strong>im</strong> Sinne eines menschlichen
Denkvorganges.”<br />
“Dann ist Ihr Lebensprozeß vielleicht eine Entsprechung<br />
göttlicher Schöpfung?”<br />
Peter wiegt den Kopf und überlegt. Dann sagt er langsam:<br />
“Ja, das könnte man vielleicht so sagen.” Und er denkt: ‘Aber<br />
nicht mit Bezug auf Ihren menschenähnlichen Christengott,<br />
sondern mit Bezug auf ein allen Dingen und allen Vorgängen<br />
<strong>im</strong> Universum innewohnendes Organisationsprinzip, mit Bezug<br />
auf das, was für mich Gott ist.’<br />
Der Pastor streckt mechanisch, wie <strong>im</strong> Traum, seinen Arm<br />
aus und holt sich langsam seine Zigarre zurück aus dem<br />
Aschenbecher. Seine Gedanken sind jetzt ganz absorbiert von<br />
dieser Diskussion, die ihn in zunehmendem Maße gefangen<br />
n<strong>im</strong>mt. Er zieht an seiner Zigarre.<br />
Ökosysteme<br />
Ökosysteme 213<br />
Der Pastor überlegt. “Diese Systeme koexistierender Arten,<br />
die Sie vorhin erwähnt haben, woraus bestehen die?”<br />
“Diese Lebenssysteme, die Wissenschaft nennt sie Ökosysteme,<br />
bestehen aus lebloser Umwelt und verschiedenartigen<br />
Lebensformen. Die Teile eines Ökosystems sind vielschichtig<br />
miteinander vernetzt und verwoben. Sie beeinflussen<br />
sich gegenseitig. Die beteiligten Geschöpfe reagieren miteinander<br />
und gegeneinander, und sie nutzen einander als<br />
Quelle für Energie und Material. Durch Austausch-, Durchfluß-<br />
und Regulationsprozesse werden sie lebenserhaltend<br />
aneinander gekoppelt und mit ihrer Umwelt fest verknüpft –<br />
eine Schicksalsgemeinschaft.”<br />
“Eine Schicksalsgemeinschaft?”, wundert sich der Pastor.<br />
“Ja. Man könnte sogar sagen ein Überorganismus. Dessen<br />
Teile verbinden und koordinieren gemeinsame Entwicklungen<br />
und gemeinsame Muster rezirkulierender Materie und durchfließender<br />
Energie.”
214 DREIGESTIRNE<br />
“Wo gibt es denn solche Überorganismen?”<br />
“Hier. Der <strong>Park</strong> ist so ein Überorganismus.”<br />
“Das habe ich bisher nicht so gesehen.” Der Pastor ist<br />
überrascht. Aufke<strong>im</strong>ende Skepsis ringt mit dem festen<br />
Vorsatz, eine faire Diskussion zu führen.<br />
“Die Grenzen zwischen Ökosystemen sind nicht scharf. Der<br />
wissenschaftliche Ökologe best<strong>im</strong>mt sie anhand der Systemstrukturen<br />
und Systemfunktionen. Die Strukturen, das sind<br />
die beteiligten Arten und die Eigenschaften der Umwelt, also<br />
des Lebensraumes. Die Funktionen, das sind die<br />
Stoffwechselprozesse, also die Art und Intensität der<br />
Energieflüsse und des Austauschens und Verwandelns von<br />
Material. Die von der Wissenschaft auf diese Weise erkannten<br />
und untersuchten Systeme sind ihrerseits wiederum<br />
Komponenten größerer Systeme. Das ist nach oben hin offen.<br />
Man kann die ganze Erde als ein verwobenes System aus<br />
Lebendem und Leblosem ansehen.”<br />
Peter überlegt. Dann sagt er: “Lebenssysteme sind sehr anpassungs-<br />
und widerstandsfähig.”<br />
“Sooo? Gerade heute habe ich gelesen, daß die Nordsee<br />
stirbt. Nach Ihrer Definition doch auch ein Lebenssystem,<br />
oder?”<br />
“Ja.”<br />
“Es hieß in dem Bericht, daß bald alles Leben in der Nordsee<br />
erloschen sein wird, daß das Wasser der Nordsee bald<br />
keinerlei Leben mehr enthalten wird, jedenfalls dann nicht,<br />
wenn wir so weitermachen wie bisher.”<br />
“Das ist Unsinn. Selbst wenn alles höhere Leben – Seehunde,<br />
Vögel, Fische – sterben sollte, das Leben in der Nordsee<br />
würde weitergehen. Anderes Leben, ja, und auch ein anderes,<br />
verarmtes Lebenssystem. Aber die Nordsee würde<br />
nicht sterben, nicht ohne Leben sein.”<br />
“Wie können Sie da so sicher sein?”<br />
“Wissen Sie, wie schwierig es ist, das Leben in auch nur<br />
einem einzigen Liter Nordseewasser zu vernichten?”
Ökosysteme 215<br />
“Nein.”<br />
“Dazu müßten Sie diesen einen Liter auf 120 Grad erhitzen<br />
und gleichzeitig erhöhten Drücken aussetzen, und das mehrere<br />
Male nacheinander. Aber selbst dann könnten Sie nicht<br />
völlig sicher sein, daß wirklich alles Leben in diesem einen<br />
Liter Nordseewasser ausgelöscht ist.”<br />
“Das ist dann aber doch wohl ein sehr pr<strong>im</strong>itives Leben.”<br />
Peter wiegt den Kopf. “Ich würde eher von einem weniger<br />
eigenschaftsreichen oder weniger komplexen Leben sprechen.<br />
Pr<strong>im</strong>itiv ist eine derartig fabelhafte Überlebensleistung<br />
nicht.”<br />
Mit der Hand fächelt der Pastor Rauch beiseite.<br />
“Auf jeden Fall sind die Menschen nicht dazu in der Lage,<br />
das Leben in der Nordsee auszulöschen, ebenso wenig wie das<br />
Leben in anderen Teilen der Erde – und schon gar nicht den<br />
Lebensprozeß selber.”<br />
Der Pastor will etwas erwidern.<br />
Aber da sagt Peter auch schon: “Selbst diese zweifellos<br />
größten Bösewichte auf Erden schaffen das nicht. Mit all<br />
ihrem egoistischen Unverstand nicht und nicht mit all ihren<br />
Giften und Bomben. Aber die Menschen können gewaltigen<br />
Schaden anrichten, einen großen Teil der Schöpfung<br />
unwiderbringlich zerstören. Und da sind sie ja auch schon<br />
kräftig dabei. Viel ausgereiftes Leben können sie vernichten,<br />
sich selber eingeschlossen. Doch nach dem Verschwinden der<br />
Menschen wird der Lebensprozeß damit beginnen, sich zu<br />
regenerieren und zu reorganisieren. Allmählich wird er auch<br />
wieder komplexe Lebensformen ausbilden. Das könnte<br />
Hunderte von Millionen von Jahren dauern. Vielleicht würde<br />
die insgesamt noch zur Verfügung stehende Zeit – die Erde<br />
wird vermutlich höchstens noch einige Milliarden Jahre<br />
Leben tragen können – nicht ausreichen, um Lebenssysteme<br />
von der Ausgefächertheit, Ausgewogenheit und Formenfülle<br />
zu entwickeln, wie wir sie heute erleben dürfen.”<br />
Der Pastor sieht nach dem Feuer.
216 DREIGESTIRNE<br />
“In den Steuerungskräften der Lebenssysteme”, fährt Peter<br />
fort, nachdem der Pastor wieder in seinem Sessel Platz genommen<br />
hat, “liegt der Schlüssel für ein vertieftes Verständnis<br />
des Lebens auf der Erde. Die einzelne Art und das einzelne<br />
Individuum sind für die Natur unwichtig.”<br />
“Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?”<br />
“Die Natur geht sehr verschwenderisch mit ihnen um. In<br />
jeder Woche entstehen und vergehen Arten und in jeder Sekunde<br />
Trillionen von Individuen. Bei einem einzigen Fortpflanzungsgeschehen<br />
produziert ein einziger Baum, oder<br />
ein Fisch, Hunderttausende von Individuen, andere Geschöpfe<br />
sogar viele Millionen. Statistisch gesehen überleben<br />
davon bis zur Geschlechtsreife max<strong>im</strong>al eins oder zwei. Alle<br />
anderen Individuen verheizt die Natur als Betriebsstoff<br />
für den Lebensprozeß oder benutzt sie als Versuchskaninchen<br />
für das Ausprobieren zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten.”<br />
Der Pastor schüttelt den Kopf: “Wenn das wirklich so<br />
st<strong>im</strong>men würde, wie Sie es darstellen, warum dann überhaupt<br />
Individuen? Warum könnten die Lebenssysteme dann nicht<br />
aus einer formlosen Masse lebenden Materials bestehen?”<br />
“Die Lebenssysteme benötigen Individuen, also räumlich<br />
und zeitlich eng begrenzte Gestalten, weil sie in ihnen Energie<br />
und Materie aufnehmen und vorübergehend speichern,<br />
weil sie in ihnen Einzelheiten ihrer Informationen und Programme<br />
unterbringen und wirksam werden lassen können<br />
und weil Arten in ihnen zu evolvieren vermögen. Nur in<br />
eng begrenzten Raum-Zeit-Gestalten kann die für das Ausfächern<br />
organischen Lebens erforderliche Vielfalt entstehen.<br />
Geburt, Ernährung, Reifung, Fortpflanzung, Tod und Zerfall<br />
von Individuen, das sind die Zahnräder, mit denen die ständig<br />
durchs System fließende Energie den Motor des Lebensprozesses<br />
betreibt.”<br />
“Und was bewirkt das alles?”<br />
“Kanalisiertes Fließen von Energie und mustergebundenes
Rezirkulieren von Materie. So steuert die Natur die Reifung<br />
und Ausfächerung ihrer Erscheinungsformen.”<br />
“Offenbar ist für Sie auch ein Bakterium ein Individuum.<br />
Oder eine Amoebe.”<br />
“Einzeller sind die eigentlichen Individuen, sozusagen die<br />
Urindividuen. Vielzeller repräsentieren eine spätere Entwicklungsstufe,<br />
in der sich Zellindividuen zu einem Verband zusammengeschlosssen<br />
haben. So wurde eine Arbeitsteilung<br />
unter den Zellindividuen möglich. Die Verbände von Zellindividuen<br />
waren ökologisch sehr erfolgreich. Heute dominieren<br />
sie unsere Vorstellungswelt in einem solchen Ausmaß,<br />
daß wir sie – fälschlicherweise – für die eigentlichen Individuen<br />
halten.”<br />
Der Pastor schüttelt den Kopf. Das widerspricht all seinem<br />
Denken und Empfinden.<br />
“Der Aufbau ausgewogener Wechselbeziehungen zwischen<br />
einzelligen und vielzelligen Lebensformen führte zu der Natur,<br />
die wir heute erleben.”<br />
Kartoffel<br />
Kartoffel 217<br />
Peter überlegt. Dann sagt er: “Die Grenze zwischen Individuum<br />
und Lebenssystem ist nicht scharf. Weder bei einzelligen<br />
noch bei vielzelligen Lebensformen. Und auch zwischen<br />
Individuum und Umwelt gibt es keine scharfe Grenze.”<br />
“Aber damit wollen Sie doch wohl nicht sagen, daß man<br />
nicht exakt unterscheiden kann, wo ich aufhöre und wo dieser<br />
Eichentisch anfängt!” Der Pastor schmunzelt. Das ist ihm<br />
denn doch ein bißchen zu sehr an den Haaren herbeigezogen.<br />
“Selbst dabei gibt es Unschärfen.”<br />
“Oho!”<br />
“Bitte lassen Sie mich versuchen, das, was ich meine, an einem<br />
Beispiel zu erläutern. Wir werden bald zu Abend essen.”<br />
“Ich hoffe.”
218 DREIGESTIRNE<br />
“Das Essen, das dann auf Ihrem Teller sein wird, sagen wir<br />
mal eine Kartoffel, ist ebenso exakt von Ihnen zu<br />
unterscheiden wie dieser Eichentisch.”<br />
“Auch das hoffe ich”, lacht der Pastor, erhebt sich und legt<br />
zwei Holzscheite auf das müde gewordene Kaminfeuer.<br />
“Wenn Sie nun die Kartoffel in den Mund nehmen, so ist das<br />
noch <strong>im</strong>mer eine Kartoffel <strong>im</strong> Munde des Herrn Pastor. Jetzt<br />
zerkauen Sie die Kartoffel und schlucken sie hinunter. Die<br />
Kartoffel ist in Ihrem Magen. Und schon wird die Unterscheidung<br />
schwierig. Kein Mensch würde sagen, da sitzt der<br />
Herr Pastor mit einer Kartoffel <strong>im</strong> Magen. Aber nun geht es<br />
weiter. Die Kartoffel wird verdaut. Schon bald tauchen Komponenten<br />
von ihr in äußerlich veränderter Form in Ihrem Blut<br />
auf und werden schließlich in Ihre Zellen eingebaut, sie<br />
werden Bestandteil Ihres Körpers. Die Kartoffel ist zum<br />
Pastor geworden!”<br />
Beide lachen.<br />
“Und irgendwann wird das, was einmal die Kartoffel war,<br />
Ihren Körper auch wieder verlassen. Wie jeder andere Organismus,<br />
so n<strong>im</strong>mt auch der Mensch ständig Umwelt in sich<br />
auf – Nahrung, Mineralien, Flüssigkeit, Luft – und gibt all<br />
das wieder an die Umwelt zurück. Die Umwelt, lebende und<br />
leblose, fließt <strong>im</strong>merfort durch Lebewesen hindurch. Auch <strong>im</strong><br />
Holz dieses Eichentisches befindet sich Materie, die früher<br />
einmal Teil anderer lebender Strukturen gewesen ist, vermutlich<br />
auch menschlicher Körper. Und die Materie, die zur Zeit<br />
<strong>im</strong> Holz dieses Tisches gebunden ist, wird irgendwann einmal<br />
wieder frei werden und am Aufbau anderer Strukturen beteiligt<br />
sein. Wo ist da die exakte Grenze zwischen Leben und<br />
Umwelt? Zwischen Individuum und Lebenssystem?” Ganz in<br />
Gedanken eingetaucht schüttelt Peter langsam den Kopf. “Es<br />
gibt keine scharfe Grenze.”<br />
Beide schweigen.<br />
Nach einer Weile sagt Peter: “Auch in den Wirkungsbeziehungen<br />
zwischen Mensch und Umwelt gibt es keine klare
Grenze. Die Auswirkungen der Aktivitäten menschlicher Gesellschaften<br />
reichen weit in die Umwelt hinein, bis in die<br />
tiefsten Tiefen der Ozeane und bis in die höchsten Höhen der<br />
Stratosphäre, ja bis weit hinaus in den Weltraum. Und von<br />
überall dort wirkt Umwelt zurück auf den Menschen.”<br />
“<strong>Inter</strong>essant und in vieler Hinsicht neu für mich. Ich muß<br />
darüber nachdenken. Im Ganzen aber kann ich nur wiederholen,<br />
was ich vorhin bereits angedeutet habe: Wir begreifen<br />
eben erst sehr langsam und mit großem Forschungsaufwand,<br />
wie kompliziert die Welt wirklich ist und wie großartig … die<br />
Welt, die Gott erschaffen hat.”<br />
“Ja Gott, aber was ist das?”<br />
Abendessen<br />
Abendessen 219<br />
Ein rasselnd quietschendes Geräusch läßt Peter auffahren.<br />
Inge öffnet die Schiebetür zum Eßz<strong>im</strong>mer. Und nun steht sie<br />
vor dem mit Sorgfalt und Liebe hergerichteten Eßtisch, <strong>im</strong><br />
langen weißen Abendkleid. Wie die Prinzessin aus einem<br />
Märchen. Ihre blonden Haare fließen weit herab auf ihre<br />
nackten Schultern. Links in den Haaren steckt, als wäre sie<br />
dort gewachsen, eine der roten Rosen, die Peter ihr überreicht<br />
hatte. Ein überirdisch schönes Bild. Die beiden Männer sind<br />
bewegt. Inge macht einen Knicks und sagt mit strahlendem<br />
Lächeln: “Darf ich bitten, meine Herren. Es ist angerichtet.”<br />
Auf dem mit weißem Tuch bedeckten Tisch steht formschönes<br />
Geschirr, weiß mit dunkelrotem Rand, auf Sets, die <strong>im</strong><br />
Farbton dazu passen. Daneben liegen weiße, kunstvoll<br />
gefaltete Servietten und mattleuchtendes Tafelsilber. Links<br />
und rechts auf dem Tisch stecken, in silbernen Haltern mit<br />
viereckigen geriffelten Füßen, je zwei große rote, brennende<br />
Kerzen, und in der Mitte des Tisches prangt, alles<br />
überstrahlend, eine weiße Vase mit Peters roten Rosen. Alles<br />
in allem: eine wahre Augenweide.
220 DREIGESTIRNE<br />
Als die drei am Tisch stehen, weist der Pastor einladend auf<br />
einen Stuhl und lächelt Peter an. Der macht eine Verbeugung<br />
und schickt sich an, Platz zu nehmen. Doch da streckt sich<br />
ihm, von links und von rechts, eine Hand entgegen. Er ergreift<br />
die Hände, und auch Vater und Tochter reichen einander die<br />
Hand. Nachdem auf diese Weise der Kreis geschlossen ist,<br />
sagen Vater und Tochter, die Arme leicht auf und ab schwingend:<br />
“Komm, Herr Jesu Christ, sei unser Gast<br />
und segne, was Du uns bescheret hast.”<br />
Dann nehmen sie Platz. Der Pastor läßt sich zuerst Peters,<br />
dann Inges Teller reichen und füllt Suppe ein. Eine Pilzsuppe.<br />
Während des Essens wird nicht gesprochen. Nach der Suppe<br />
gibt es Karpfen blau mit grünen Salaten aus dem eigenen<br />
Garten. Und zum Abschluß serviert die Hausfrau Schokoladenmousse<br />
mit Schlagsahne. Peter schmeckt das Essen vorzüglich.<br />
Er macht Inge ein Kompl<strong>im</strong>ent. Die lacht und freut<br />
sich darüber.<br />
Nun reichen die drei sich abermals die Hände, und Vater<br />
und Tochter sprechen ein Dankgebet.<br />
Eigentlich hatte Peter beabsichtigt, die Diskussion nach<br />
dem Essen fortzusetzen. Er wollte ein zweites Beispiel für<br />
überindividuelle Intelligenz anführen, aus dem Reich der<br />
sozialen Insekten. Und anhand eines dritten Beispiels wollte<br />
er erläutern, daß selbst Viren evolutive Intelligenz besitzen.<br />
Ja, Viren, diese Zwischengestalten zwischen toter und lebender<br />
Materie, diese Bündel nackter Moleküle ohne eigene<br />
Atmung, Nahrungsaufnahme und Energieproduktion. Wie,<br />
wenn nicht Intelligenz, sollte man es nennen, wenn Viren<br />
sich auf die geschickteste Art und Weise Zugang zu verschaffen<br />
wissen zu den riesigen Materie- und Energievorräten,<br />
die sich in lebenden Körpern befinden. Wie sonst
sollte man es nennen, wenn Viren nach dem Eindringen in<br />
den Körper komplizierte, vielschichtige Abwehrbarrieren<br />
unterlaufen, wenn sie ganze Armeen von Polizeizellen hinters<br />
Licht führen. Einige setzen sich chemische Tarnkappen auf,<br />
machen sich für die Abwehrzellen unsichtbar, andere signalisieren<br />
ihnen hinterhältig: ‘keine Angst, ich bin nicht fremd,<br />
ich bin einer von euch’, und beschwichtigen und lähmen so<br />
deren Verteidigungsreaktionen. Aber nicht genug damit. Sie<br />
dringen ein in die Fabrikhallen der Zellen, verfälschen hier<br />
die Produktionsanweisungen und zwingen die Zellmaschinerie,<br />
statt körpereigener Substanz Virensubstanz<br />
zu produzieren. Aber <strong>im</strong>mer noch nicht genug damit: Wenn<br />
der so getäuschte Körper das merkt und Gegenmaßnahmen<br />
einleitet, oder wenn das Individual-Intelligenz-gesteuerte<br />
Gesundheitswesen seine grobschlächtigen Kanonen auffährt<br />
– was macht das Virus dann? Es ‘n<strong>im</strong>mt dies zur Kenntnis’<br />
und beginnt damit, sich entsprechend zu verändern. Es fährt<br />
ganz einfach fort, die Körperabwehr und ganze Armadas von<br />
Forschungslaboratorien der selbsternannten Krone der<br />
Schöpfung an der Nase herum zu führen. Wenn das nicht<br />
genial ist!<br />
Aber die St<strong>im</strong>mung, in die sich dieser schöne Abend<br />
<strong>im</strong> Pastorenhaus hineinentwickelt, gebietet Peter zu schweigen.<br />
Nachtmusik<br />
Nachtmusik 221<br />
Nachdem Inge mit viel Gerassel und Gequietsche die Schiebetür<br />
zum Eßz<strong>im</strong>mer wieder geschlossen hat, bringt sie ein<br />
Notenpult herbei und einen Geigenkasten. Der Pastor packt<br />
seine Violine aus und reibt die Haare des Bogens mit Kolophonium<br />
ein. Seine Geige unter dem Arm, geht er hinüber<br />
zum Klavier, öffnet den Deckel, schlägt mit dem Zeigefinger
222 DREIGESTIRNE<br />
zwe<strong>im</strong>al den Kammerton A an und st<strong>im</strong>mt mit Sorgfalt sein<br />
Instrument. Derweil plaziert Inge drei fünfarmige Kerzenständer<br />
aus blitzendem Messing so, wie sie dies offenbar<br />
schon seit Jahren tut. Sie entzündet die Kerzen. Dann<br />
schaltet sie das elektrische Licht aus.<br />
Vater und Tochter wechseln, kaum hörbar, ein paar Worte.<br />
Daraufhin holt Inge Noten aus einem Schrank und verteilt sie<br />
auf Geigenpult und Klaviernotenhalter. Dann n<strong>im</strong>mt sie am<br />
Klavier Platz.<br />
Der Pastor ordnet die Noten auf seinem Pult, legt ein weißes<br />
Tuch auf den Kinnhalter seiner Geige und hebt diese an ihren<br />
Platz. Dann blickt er hinüber zu seiner Tochter und gibt, energisch<br />
mit dem Kopf nickend, das Zeichen zum Musikbeginn.<br />
Schon der erste, kräftige Ton von Mozarts ‘Eine Kleine Nachtmusik’<br />
verwandelt das Wohnz<strong>im</strong>mer des Pastorenhauses in<br />
einen Konzertsaal.<br />
Nahe am Klavier hängt ein großes Ölbild. Es wird von<br />
einem der drei Kerzenständer beleuchtet. Eine wunderschöne<br />
Frau. Sofort erkennt Peter: das ist Inges Mutter. Schon mehrfach<br />
hatte Inge ihm von ihr erzählt, auch daß sie kurz nach<br />
ihrer Geburt gestorben ist, und daß ihr Vater diesen<br />
furchtbaren Verlust bis heute nicht verwunden hat.<br />
Die Kleine Nachtmusik, so hingebungsvoll musiziert, und<br />
die wunderbare Szene vor ihm nehmen Peter ganz und gar<br />
gefangen. Sanft flackernder Kerzenschein taucht die beiden<br />
Musizierenden und das Bild der Mutter in einen traumhaften<br />
Tanz von Licht und Schatten: eine auf zauberhafte Weise wiedervereinte<br />
Familie.<br />
Nachdenklich betrachtet Peter den Pastor. Wie er unter der<br />
Wirkung der Musik Mozarts das weißgelockte Haupt hin und<br />
her bewegt, wie seine ganze Gestalt der Musik folgt, sie aufn<strong>im</strong>mt<br />
und reflektiert. Und Inge, seine geliebte Inge, sie<br />
musiziert so völlig den Tönen hingegeben und dabei so graziös<br />
und anmutig, daß ihn das bewegt bis in sein Innerstes. ‘Schade’,<br />
denkt Peter, ‘daß ich mein ohnehin reichlich spät begon-
Nachtmusik 223<br />
nenes Geigenspiel wieder aufgegeben habe. Wir drei hätten<br />
ein wunderbares Trio abgeben können.’<br />
Dem eher etwas steifen, zu sehr von der Wissenschaft<br />
erfüllten Botaniker dringt der Zauber dieses Abends tief ins<br />
Herz. Einen derartigen Ausbruch seiner Gefühle hat er noch<br />
niemals erlebt. Erschüttert erfährt er nie gekannte Emotionen.<br />
Langsam neigt er den Kopf. Zögernd zuerst und kaum<br />
wahrnehmbar, werden seine Augen feucht. Dann glitzert es.<br />
Eine Träne quillt. Langsam rollt sie über die Wange in den<br />
Bart. Ihr folgt eine zweite, eine dritte …<br />
‘Mein Gott’, denkt er, ‘was für Menschen! Wie nahe müssen<br />
sie einander sein und wie nahe ihrem Schöpfer. Hier hat der<br />
gemeinsame Glaube wirklich ein Wunder vollbracht! Hier hat<br />
er Zuneigung und Liebe veredelt, vergoldet.’ Und dann denkt<br />
er: ‘Und wenn der Glaube nichts anderes vermöchte, er hätte<br />
bereits dadurch seine Berechtigung bewiesen.’<br />
Und zum erstenmal in seinem Forscherleben kommen ihm<br />
Bedenken … Bedenken, daß seine nur von wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis, nur von Logik, nur von Wahrheitssuche best<strong>im</strong>mte<br />
und geformte Welt so ganz allein für sich Bestand haben<br />
kann. Bedenken, ob seine Welt dem Menschen gerecht zu<br />
werden vermag.<br />
Mitten in den zweiten Satz der Kleinen Nachtmusik hinein<br />
hört er sich plötzlich flüstern, ganz leise: “Nein. Wissenschaft<br />
allein, das ist nicht genug.”
1 EINMALEINS<br />
Einweisung<br />
IM SOMMER<br />
225<br />
Sie haben einander erkannt<br />
Es ist Nacht. Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />
Schon eine geschlagene Stunde schleicht und schlängelt er<br />
umher. Erfolglos. Ärgerlich zerrt er die Schiffermütze in die<br />
Stirn: ‘Wieder nix los.’<br />
Scharf biegt er ab nach rechts. Verbissen beginnt er die<br />
nächste Runde. Er muß heut unbedingt was haben! Mit lautlosen<br />
Schritten überprüft er die Bänke an einem schmalen<br />
dunklen Pfad. Da kommt ihm aus der Finsternis ein kleiner<br />
Mann entgegen – mit einer sehr großen, schwarzen Schiffermütze.<br />
“Du dickes Ei. Der Fiedler! Und mit’m zünftign Deckel!!”<br />
Dem Maler ist das gar nicht recht. Obwohl heute noch nicht<br />
wieder Mittwoch ist, hat es ihn in den <strong>Park</strong> getrieben. Während<br />
einer Fahrt durch die Stadt war er einer plötzlichen<br />
Eingebung gefolgt und hatte die Richtung geändert. Noch<br />
bevor er es so recht wußte, war er am <strong>Park</strong>. Rasch hatte er<br />
seinen Wagen geparkt, mit der Linken die langen Haare hochgeschoben<br />
und mit der Rechten die neuerworbene, um drei<br />
Nummern zu große Schiffermütze darübergestülpt. Dann<br />
hatte er seine Jacke gegen eine andere aus dem Kofferraum<br />
ausgetauscht. Ängstlich glitten die Augen nach links und<br />
dann nach rechts. Die Straße war leer. Da war er mit<br />
rasendem Herzen eingetaucht ins Blättermeer. Gierig hat ihn<br />
der dunkle <strong>Park</strong> verschluckt.<br />
Wie ein Nachtwandler, gesteuert vom Instinkt, fand der<br />
Bucklige zu einem alten Haus, direkt neben der Kirche. Durch
226 EINMALEINS<br />
Gardinen hindurch konnte er <strong>im</strong> oberen Stockwerk ein Mädchen<br />
erkennen. Die Deckenlampe ließ ihre langen blonden<br />
Haare aufleuchten. Wie ein Magnet zog das Mädchen den<br />
Maler an. Augenblicklich brachte die vom Tüll der Gardinen<br />
gehe<strong>im</strong>nisvoll verhüllte Erscheinung seine Sinne zum Sieden.<br />
Aufwallende Erregung zwang ihn über den Zaun. Im fremden<br />
Garten überkam ihn Angst. Aber die Erregung war stärker.<br />
Unerbittlich peitschte sie ihn vorwärts. Zu einem Pflaumenbaum.<br />
Zitternd erstieg er den untersten Ast. Zwar konnte er<br />
das Gesicht des Mädchens nicht erkennen, aber er sah, wie es<br />
sich <strong>im</strong> Spiegel betrachtete, wie es den Unterrock über den<br />
Kopf zog, wie die langen Strähnen der blonden Mähne herniedertaumelten<br />
auf weiße Schultern. Er sah, wie sich das<br />
Mädchen mit beiden Händen in den Rücken griff und, die<br />
Schultern nach vorne rollend, aus ihrem Büstenhalter<br />
schlüpfte. ‘M…mein Gott!’, erbebte der Maler, ‘mein Gott! Was<br />
für ein Mädchen!’<br />
Da öffnete sich die Haustür. Ein Lichtstrahl fiel auf ihn. Aus<br />
dem Haus trat ein großer Mann mit gelockten weißen Haaren.<br />
Die beiden Männer starrten einander an. Einen endlosen<br />
Augenblick lang. Gefangen <strong>im</strong> Schock. Sprachlos.<br />
Dann rief der Weißgelockte: “Sie unverschämter Lümmel<br />
Sie! Scheren Sie sich raus aus unserem Garten!” Er hob den<br />
Arm und drohte mit der Faust. “Und wagen Sie es ja nicht,<br />
noch einmal zu uns zu kommen!”<br />
In Panik war der Maler vom Pflaumenbaum gesprungen<br />
und taumelnd davongerannt. Gepeischt von Angst und<br />
Schrecken hastete er über den Zaun.<br />
“Ich denk du komms nur mittwochs.”<br />
Noch <strong>im</strong>mer verwirrt und verängstigt von seiner mißglückten<br />
Expedition in den fremden Garten, nickt der Maler und<br />
schüttelt zugleich den Kopf. Dann sucht er nach einer Ausrede.<br />
Schließlich bringt er nur die Worte hervor: “H … heut ist<br />
eine Ausnahme.”
Einweisung 227<br />
“Macht nix.” Der Festmacher wundert sich über soviel<br />
Schüchternheit. “Denn zeig ich dir eben heut schon mein<br />
Revier und erklär dir, wie das alles so läuft hier.” Unter der<br />
nächsten Laterne sieht er sich seinen neuen Kumpel erstmal<br />
genauer an. “Mann, Mann, Mann! Das geht doch nich! Mit<br />
solchn Klamottn kannst du doch nich auf Tour. Fiedeln in<br />
dein’m Klub, ja. Fein’n Pinkel markiern, ja. Aber auf Tour?<br />
Nee. Ehrlich, das versteh ich nich!”<br />
Ärgerlich rückt der Riese die Mütze zurecht. “Zieh dir Mittwoch<br />
vernünftige Klamottn an! Wenn ich bloß deine weißn<br />
Schuhchen seh! Du brauchst kräftige schwarze Treter. So wie<br />
meine. Klar?”<br />
“Ja.”<br />
“Laß dein’n gottsverdammtn Klubdreß, wo der Pfeffer<br />
wächst. Kriegst nur Ärger mit der Altn. Zieh dich zünftig an!<br />
‘Ne feste Hose und ‘ne Windjacke. Nich zu dunkel, nich zu<br />
hell. So wie meine.” Er sieht an sich ‘runter. “Die habn ‘ne Farbe<br />
wie ‘n Baumschattn.”<br />
Jetzt kommt der Festmacher in Fahrt. Jetzt beginnt er mit<br />
der Einweisung. Jetzt zeigt er dem neuen Kumpel sein Revier.<br />
Und er erläutert ihm die Jagdregeln.<br />
Er bringt ihm bei, wie man sich seiner Beute nähert. Wie<br />
man sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnt, ohne dabei<br />
Geräusche zu verursachen, die sich von den übrigen Lauten<br />
des nächtlichen <strong>Park</strong>s unterscheiden. Wie man vermeidet, auf<br />
knackende Äste zu treten. Wo und wie man versteckte Beobachtungsposten<br />
anlegt. Wo und wie man sich Fluchtmöglichkeiten<br />
schafft, für den Notfall. Er erklärt ihm, wie man eine<br />
Taschenlampe präpariert, so daß sie zur winzigen Lichtquelle<br />
wird, die den Beobachteten nicht stört, aber dem Beobachter<br />
aus nächster Nähe Einzelheiten enthüllt. Er sagt ihm, wo<br />
man ein geeignetes kleines Nachtglas erwerben kann, und<br />
daß man <strong>im</strong>mer ein Taschenmesser und eine Leine bei sich<br />
haben muß.<br />
“Wozu die Leine?”
228 EINMALEINS<br />
“Wenn du mal was festbindn mußt. Wenn du dir zwischen<br />
Ästen ‘ne Sitzfläche zum Ausruhn knotn willst. Wenn du Äste<br />
ausm Sichtfeld biegn willst.”<br />
Der Riese lehrt den Zwerg das Einmaleins der Zukuckerzunft.<br />
Er bleut ihm ein, daß man seine <strong>Inter</strong>essen konsequent<br />
verteidigen muß: “Wir Spanner komm’n nur klar mit Härte<br />
und Disziplin!” Er erzählt ihm vom Buschkrieg mit dem Gärtner.<br />
Der eine pflanzt Rosen in den Trampelpfad, der andere<br />
reißt sie raus. Der eine repariert die Hecke zur Hauptstraße<br />
hin, der andere besteht auf einer Durchschlüpföffnung als<br />
Notausgang. Der eine setzt Büsche, wo er nicht soll, der andere<br />
sorgt dafür, daß sie nicht anwachsen. “Dieser irre Rudi!<br />
Der wird schon noch kapier’n, dasses was gibt <strong>im</strong> <strong>Park</strong>, gegen<br />
dasser nich ankommt!”<br />
‘Wo bin ich hingeraten?’, denkt er Maler. ‘Was ist das für<br />
eine Welt?’ Für einen Augenblick wandern seine Gedanken<br />
nach Paris. In der nächsten Woche wird er dort hinfliegen. In<br />
Paris soll ihm, einem russischen und einem amerikanischen<br />
Künstler eine hohe Auszeichnung verliehen werden. In<br />
Anwesenheit des Kultusministers wird ein namhafter Kunstmäzen<br />
die Laudatios halten.<br />
“Mit zwei auf Tour is besser. Fällt nich so auf. Früher, da<br />
hatt ich mal ‘n Kumpel, der war ‘ne Wucht. Ging als Puppe.<br />
Wir habn auf Pärchen gemacht. Große Klasse. Ehrlich. Das<br />
war ‘n Hammer! Aber der Schmied, der will da nich ran.” Er<br />
wendet sich dem Fiedler zu. “Vielleicht reisn wir beide mal auf<br />
die Masche?”<br />
“—.”<br />
“Immer gegen den Wind ranpirschn. Schattn ausnützn. Hinter<br />
dir muß <strong>im</strong>mer was Dunkles sein. Nie ranpirschn, wenn<br />
du was Helles hinter dir hast – Mond, Laterne oder so. Klar?”<br />
Der Maler nickt.<br />
“Wenn du mal nix sehn kannst, hilft manchmal hinlegn.<br />
Aufm Bauch siehst du mehr. Die meistn Büsche habn ganz<br />
untn weniger Blätter. Kapiert?”
Einweisung 229<br />
“Ja.”<br />
“Und noch was: Luki, luki, aber nich störn! Wir wolln Spaß<br />
habn, aber wir wolln den Pärchen ihr’n Spaß nich versaun.”<br />
Er hebt den Zeigefinger: “Jedem Tierchn sein Pläsierchn!”<br />
Schlag auf Schlag folgen weitere Verhaltensmaßregeln und<br />
Geländedetails: Schleichwege, Bänke, Liegeplätze. Der Festmacher<br />
kennt hier alles, jeden Weg, jeden Baum, jede Bank,<br />
den Bach und auch den Fluß.<br />
Weiter geht’s, durch Gestrüpp, auf dunklen Wegen, über<br />
Lichtungen, auf engsten Schleichpfaden. Schließlich bleibt der<br />
Festmacher stehen. Unter einer alten, riesigen Rotbuche. Mit<br />
der flachen Hand schlägt er mehrmals gegen den mächtigen<br />
Stamm – wie einer, der seinem Pferd gut zureden will. Dann<br />
lehnt er sich, Füße übereinander geschlagen, mit dem Rücken<br />
an den Baumriesen. Unbehindert durch Wolken beleuchtet<br />
der Mond eine weite, sanft abfallende und dann in der Ferne<br />
wieder ansteigende Rasenfläche.<br />
Langsam läßt der Festmacher den Blick über die Wiese<br />
wandern. Auf dem Hügel am anderen Ende der Wiese ruhen<br />
die Augen aus. “Da! Da ganz hintn, da steht die beste Bank.”<br />
Mit erhobenem Arm, verlängert durch den ausgestreckten<br />
Zeigefinger, weist er die Richtung. Die Bank selbst ist von hier<br />
aus nicht zu erkennen. “Auf’m Hügel. Unter der großn Eiche.<br />
Rundrum Gebüsch.” Sich dem Fiedler zuwendend sagt er: “Du<br />
kennst die Bank vom letztnmal.”<br />
Der Maler nickt. Dann zuckt er zusammen. Das blonde<br />
Mädchen! Aus der Kulisse seiner Gedankenbühne schreitet es<br />
langsam ins volle Licht der Erinnerung. Golden leuchten blonde<br />
Haare. Alle Einzelheiten sieht er, so deutlich, als stünde<br />
das Mädchen vor ihm. Der Engel!! – So mancher Mensch hat<br />
seine Schwierigkeiten damit, best<strong>im</strong>mte, ihm an sich wohlbekannte<br />
Wörter aus dem Gedächtnis abzurufen. Oftmals<br />
muß er so ein Wort mit Tricks aus der Dunkelheit des Unterbewußtseins<br />
hervorlocken – mit ähnlich Klingendem, mit<br />
Ereignissen, mit Bildern. So ein Wort war für den Maler bis-
230 EINMALEINS<br />
her ‘Engel’. Aber seit er mit dem Engel ringt, <strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer<br />
wieder, braucht er dieses Wort nicht mehr hervorzulokken.<br />
Sobald er in einer best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>mung ist, lauert es<br />
ihm auf, springt es ihn an.<br />
Mit einem Schulterruck löst sich der Festmacher von der<br />
Rotbuche. Den Hügel fest <strong>im</strong> Blick, beginnt er, mit ausgreifenden<br />
Schritten die Wiese zu überqueren. Noch <strong>im</strong>mer nach<br />
innen blickend, verharrt der Bucklige mit gesenktem Kopf auf<br />
der Stelle. Plötzlich schreckt er hoch aus seinen Gedanken.<br />
Und dann galoppiert er dem anderen hinterdrein.<br />
Seite an Seite gehen Riese und Zwerg auf den Hügel zu.<br />
Vor dem Fuß des Hügels kreuzt der breite Hauptweg. An<br />
seiner dem Hügel zugewandten Seite wird er von einem Bach<br />
begleitet. Über eine Holzbrücke gelangt man ans andere Ufer.<br />
Und von dort führt ein schmaler, etwa zehn Meter langer<br />
Kiesweg hügelaufwärts zur Bank. Sie stehen vor der Brücke.<br />
Die Bank auf dem Hügel ist leer. “Das’s die Bank. Hier hab ich<br />
die meistn Nummern gehabt. Nummern wie ‘ne dicke Eins.<br />
Nach sowas kannst du lange suchn. Ich sag dir: Fernsehn,<br />
Piesel – is doch Scheiße! Im Fernsehn bringn se sich um. Da<br />
klaun se und betrügn. Inne Piesel da saufn se. Da weht die<br />
Knete weg wie Herbstblätter. Aber hier, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>, hier hast du<br />
was vom Lebn. Tust kein’m weh. Kost kein Geld. Immer spannend.<br />
Mann, was habn wir hier schon für Tampn gespleißt!<br />
Ich sag dir: das’n riesn Kinkn hier.” Er spuckt. “Hier läuft nix<br />
an dir vorbei. Hier läuft alles voll in dich rein!” Die dünnen<br />
Lippen formen ein O. Daumen und Zeigefinger wischen über<br />
die Mundwinkel. “Du wirst das schon noch spitzkriegn.”<br />
Nach einer Weile sagt der Festmacher: “Brücke und Kiesweg<br />
machn Krach. Wenn wir die Bank von hier anpirschen,<br />
gehn wir da längs.” Er führt den Fiedler am Bach<br />
entlang. Plötzlich bleibt er stehen. “Hier”, er weist auf eine<br />
Steinplatte, “und da”, sein Zeigefinger schnellt hoch, deutet<br />
auf eine zweite Platte am gegenüberliegenden Ufer. “Jetzt<br />
springn wir.”
Einweisung 231<br />
Obgleich der Bach an dieser Stelle sehr schmal ist, erscheinen<br />
die beiden Steinplatten dem Zwerg gefährlich weit voneinander<br />
entfernt. Dem Riesen bleibt das nicht verborgen:<br />
“Reiß dich zusamm’n, Mann!”<br />
Der Festmacher macht einen Schritt zurück und springt.<br />
Sicher und fast lautlos landet er am anderen Ufer.<br />
“Nun du!”<br />
Der Maler weiß, daß er jetzt springen muß. Mit großer Anstrengung<br />
drängt er die Angst beiseite. Er geht zurück, viele<br />
Schritte. N<strong>im</strong>mt Anlauf. Springt. Plllatschsch! Vor der Steinplatte<br />
steht er knietief in Sand und Wasser.<br />
“Klumsig, Mann. Klumsig!”<br />
Aber der mißlungene Sprung entmutigt den Maler nicht. In<br />
merkwürdiger Gedankenverbindung erinnert er sich an sein<br />
erstes, wichtiges Bild. Auch damals verfehlte er das Ziel, nicht<br />
in den Augen seiner Malerfreunde, wohl aber in denen seiner<br />
Professorin von der Kunsthochschule. Schon damals ließ er<br />
sich nicht beirren. Er dichtete:<br />
Ich erdacht’s.<br />
und vollbracht’s<br />
Ihr betracht’s.<br />
und ihr acht’s<br />
Ich bracht’s .<br />
und vermacht’s<br />
Sie verlacht’s .<br />
und veracht’s<br />
Was macht’s!<br />
Auf engem Pfad bahnen Festmacher und Fiedler sich einen<br />
Weg hügelaufwärts. Schritt für Schritt. Durch Cotoneaster,<br />
Liguster und stachelbewehrten Feuerdorn. Dann betreten sie<br />
den dunklen Pfad, auf dem der Maler am ersten Abend dem<br />
Festmacher in die Quere gekommen war. In weitem Bogen nähern<br />
sie sich aber jetzt von hinten her der Bank. Zwischen
232 EINMALEINS<br />
Blättern sch<strong>im</strong>mern schließlich Teile der Rückenlehne zu<br />
ihnen herüber. Die Bank ist noch <strong>im</strong>mer leer.<br />
Der Festmacher erinnert sich: “Einmal”, rückt er seine<br />
Mütze zurecht, “einmal hat hier so’n Kirschkönig gefickt. ‘Ne<br />
geschlagene Stunde. Tolle Puppe, lange Beine, stramme Tittn.<br />
Nich links, nich rechts habn die gekuckt. Keine Zeit. Fleißige<br />
Leute. Die war’n da zugange! Die hattn kein’n Kummer mit<br />
der Nummer. Vor Freude hat die Puppe laut gequietscht.<br />
Schön war das. Ehrlich. Lebn wie’s richtig is. Gradeaus. Kein<br />
Theater!” Der Festmacher nickt vor sich hin. “Keine Mätzchen,<br />
kein Lametta. Sofort bis du voll dabei. Sofort schaltest<br />
du auf die gleiche Welle. – Ich und der Schmied, wir sind raus<br />
aus’m Busch und ran an den Kirschkönig und seine Puppe.<br />
Direkt nebn den beidn habn wir gehockt. Stark war das.<br />
Richtig stark!”<br />
Entspannung<br />
Der Festmacher hebt den Kopf. N<strong>im</strong>mt Witterung wie ein<br />
jagendes Raubtier. Lauscht mit Händen an den Ohren.<br />
“Hier rein!!”<br />
Die harte Faust packt den Zwerg an der Schulter, zerrt ihn<br />
hinter einen großen Busch. Dort lauern die beiden, dicht nebeneinander.<br />
Der Riese stellt sich auf die Zehenspitzen. Späht<br />
gespannt in die Nacht. Dreht und wendet sich, wiegt sich in<br />
den Hüften, reckt den Hals. Auf dem Hauptweg erkennt er ein<br />
eng umschlungen dahinschlenderndes Paar. “Da komm’n<br />
welche!”<br />
Mit vorgestreckten Armen und gespreitzten Fingern tastet<br />
er sich geduckt zu seinem Beobachtungsposten hinter einem<br />
Fliederbusch seitlich neben der Bank. Schon vor Jahren hatte<br />
er von weither Feldsteine dorthingeschleppt. Einen nach dem<br />
anderen, versteckt unter einer weiten Jacke. Eine langwierige,<br />
eine mühevolle Arbeit! Die Steine hatte er dann zu einer
Entspannung 233<br />
Plattform angeordnet und diese mit Moospolstern umgeben.<br />
Zwar ist da mal ein Stein rausgerollt, aber insgesamt hat seine<br />
Konstruktion nun schon über Jahre hinweg gehalten. Und<br />
sie hat sich sehr bewährt. Jetzt besteigt er seine Plattform.<br />
Durch blühende, duftende Fliederzweige hindurch kann er<br />
das Paar beobachten. Ein Jäger <strong>im</strong> Anstand.<br />
Des Malers Gedanken wandern. Trotz großer Erregung erreichen<br />
Trieb und Verstand vorübergehend eine Art Gleichgewichtszustand.<br />
Mit spitzen, dünnen Fingern befühlt er tropfende<br />
Hosenbeine und klitschnasse Schuhe. Verwundert darüber und<br />
über sich selbst, schüttelt er den brummenden Schädel. Und<br />
dann versucht er, das, was er heute nacht hier erlebt hat, zu<br />
ordnen. Er dreht den Kopf und blickt zu dem in die Dunkelheit<br />
starrenden Riesen. Welten liegen zwischen ihm und dem<br />
großen Mann dort. Aber ihn beherrscht die gleiche triebhafte<br />
Sucht nach sexuellen Jagderlebnissen <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong>. Da<br />
gibt es gleiche Schwingungen, gleiche Wellenlängen.<br />
Aus seinen Gedanken aufschreckend hört der Bucklige <strong>im</strong><br />
Kies knirschende Schritte. Mit zitternden Lidern blickt er erneut<br />
zu seinem Kumpel. Der spitzt die Lippen, hebt die Brauen,<br />
flüstert: “Beute!”<br />
Das Herz hüpft und hämmert. Hitze lodert in den Adern.<br />
Sinne verwirren und verirren sich, drängeln den Verstand brutal<br />
beiseite. Gliederverrenkend tanzt wilde Erwartung auf der<br />
leergefegten Bühne des Bewußtseins. Schaudernd blickt der<br />
Maler in gähnende Schlunde seines teerschwarzen Innersten.<br />
Was ihn in den finsteren <strong>Park</strong> peitscht? Es sind dieselben<br />
Naturgewalten, die auch den anderen treiben. Zitternd erlebt<br />
er dieselbe Hilflosigkeit, dieselbe Wehrlosigkeit gegenüber<br />
unkontrollierbar starken inneren Mächten. Das gleiche dunkle<br />
Dröhnen des Blutes. Das gleiche schmerz-lustvolle Sich-<br />
Winden unter den Hieben archaischer Triebe. Tief unter dem<br />
Tagesdasein, das sie so vollkommen voneinander trennt, tief<br />
da unten in der dunklen Welt der Triebe, da sind sie Verwandte.<br />
Sie haben einander erkannt.
234 EINMALEINS<br />
Die Schritte des Paares knirschen <strong>im</strong> Kies. Wie eine unirdische<br />
Uhr markieren sie die Sekunden der Nacht. Einundzwanzig,<br />
zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …<br />
Unvermittelt bricht der Knirschrhythmus ab. Eine Eule ruft.<br />
Dann herrscht Stille. Tiefe, finstere Stille. Eine leichte Brise<br />
kommt auf. Blätter knistern, wispern und flüstern. Dann ist<br />
es wieder ganz still.<br />
Aber jetzt! Jetzt knirscht es wieder. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig,<br />
siebenundzwanzig, achtundzwanzig … Pause.<br />
Vibrierende, pochende Stille. Der Festmacher wendet das Gesicht<br />
dem Fiedler zu, legt den Zeigefinger auf den Mund.<br />
Wieder knirscht es.<br />
Die Spannung wächst. Wird zu aufgestauter Kraft, ungeduldiger<br />
Erwartung, zitternder Angst, aber auch zu pulsierender<br />
Vorlust.<br />
Kommt das Paar über die Brücke zur Bank? Oder wandern<br />
die beiden auf dem Hauptweg weiter geradeaus? Das Knirschen<br />
kommt näher, <strong>im</strong>mer näher. Jetzt entschwindet das<br />
Paar den Blicken des Riesen. Die Brücke kann er von seinem<br />
Beobachtungsposten aus nicht sehen. Mit geschlossenen Augen<br />
horchen die beiden Jäger angestrengt in die Nacht.<br />
Jetzt!… Jaaa! Sie kommen!! Das Knirschen geht über in<br />
leises, dunkles Dröhnen. Die Brücke! Sie kommen!!! Der Maler<br />
erbebt. Ein Hornissenschwarm summt und brummt in<br />
seinem Leib.<br />
Mit noch lauter knirschenden Schritten schreitet das Paar<br />
den schmalen Kiesweg hinauf. Bei der Bank angekommen,<br />
umarmen und küssen sich der Mann und die Frau. Dann<br />
setzen sie sich.<br />
Der Festmacher bedeutet seinem Kumpel, zu bleiben, wo er<br />
ist, und sich ganz ruhig zu verhalten.<br />
Mit witternden Sinnen versucht der Zwerg, das Geschehen<br />
auf der Bank zu ergründen. Bebend horcht er in die Finsternis.<br />
Mit zum Schlitz verengten Lidern, auseinandergezogenem<br />
Mund und gekrümmten Handflächen an den großen Ohr-
Entspannung 235<br />
muscheln. Angst peitscht ihn und Geilheit. Gemeinsam<br />
formen sie eine enorme Explosionskraft in den Tiefen seiner<br />
zerklüfteten Sinneswelt. Ist da nicht ein leises Stöhnen? Ein<br />
Scharren <strong>im</strong> Kies? Ungeduldig wendet er den Kopf hin und<br />
her. Die Wulstlippen wölben nach außen. Die Nasenflügel<br />
blähen sich und werden an den Rändern ganz weiß. Der Atem<br />
weht leise, aber heftig, wie nach einem Dauerlauf. Gebückt,<br />
sich hin und her wendend – wie ein Beute beschleichendes<br />
Wiesel – späht der Buckelige durch Zweige und Blätter.<br />
Bewegt sich da nicht etwas auf der Bank? Die Nerven zappeln<br />
und zerfransen. Sie sind jetzt völlig überreizt, so sehr, daß die<br />
Ohren eigene Geräusche, die Augen eigene Bilder, das Hirn<br />
eigene Vorstellungen hervorbringen. Da! Wieder leises Stöhnen.<br />
Oder war das was anderes? Aber jetzt! Da bewegt sich<br />
doch wirklich etwas auf der Bank. Was ist da los? Sind die<br />
beiden etwa schon dabei?? Ganz plötzlich fällt alles in tiefe,<br />
absolute Stille. Aber jetzt, der Bucklige zuckt zusammen, jetzt<br />
wehen Geräusche an die Ohren, aufrüttelnde, merkwürdige,<br />
schwer zu deutende Geräusche. Die können doch nur von der<br />
Bank her kommen!<br />
Den Maler hält es nicht mehr an dem Ort, den ihm der Festmacher<br />
zugewiesen hatte. Auf keinen Fall will er etwas versäumen!<br />
Mit Macht drängt es ihn vorwärts. Alle Vorsicht außer<br />
acht lassend, stürmt er gebückt voran. Einige hastige Schritte.<br />
Dann rammt er mit dem Kopf in den Hintern des Festmachers.<br />
Der schnellt herum, packt den Zwerg mit harter Faust am<br />
Kragen, zerrt ihn weg von der Bank, noch weiter weg.<br />
Schließlich bleibt der Riese stehen. Lauscht. Stellt sich auf<br />
die Zehenspitzen. Reckt sich und wendet den Kopf. Faßt sich<br />
ans Kinn. Dann bückt er sich und legt den Arm um die Schulter<br />
des Zwerges, zieht ihn dicht zu sich heran, so dicht, daß<br />
seine dünnen Lippen dessen aus den hochgesteckten Haaren<br />
ragende Ohrmuschel berühren. Hinter kaum geöffneten Zähnen<br />
zischt er hervor: “Das wird nix. Das is der Quatscher und<br />
seine Puppe.”
236 EINMALEINS<br />
Frustriert treten die beiden Jäger den Rückzug an. Tagelang<br />
hat der Festmacher nichts gehabt. Und der Maler? In seiner<br />
aufgepeitschten Phantasie hatten sich bereits Dinge<br />
abgespielt, die sich gar nicht abgespielt haben. Er war schon<br />
dem Höhepunkt nahe. Jetzt will auch er Entspannung. Koste<br />
es, was es wolle!<br />
Ständig die Köpfe drehend und mit stechenden Augen die<br />
Dunkelheit aufspießend, nähern sich der schlanke Riese und<br />
der untersetzte Zwerg dem Spielplatz. Noch bevor sie den<br />
Eingangsweg erreichen, hören sie leise St<strong>im</strong>men. Durch Zweige<br />
sch<strong>im</strong>mert Helles. Es bewegt sich zum Seiteneingang des<br />
Platzes hin. Da zerrt der Festmacher den Fiedler hinter einen<br />
Busch. Einander berührend starren die beiden auf die dunkle<br />
Öffnung des Weges. Plötzlich erscheint dort ein hellgekleidetes<br />
Paar. Sich <strong>im</strong> Gehen küssend, schlendern der Mann<br />
und die Frau, leicht schwankend, am Sandkasten vorbei und<br />
steuern nun auf die Bank zu, die direkt vor den <strong>im</strong> Gebüsch<br />
lauernden Spannern steht. Den Maler durchzuckt es wie ein<br />
Blitz: Ein großer, kräftiger, gutaussehender Schwarzer und<br />
eine attraktive, blonde Weiße, höchstens siebzehn oder achtzehn.<br />
Beide wirken leicht angetrunken, kommen offenbar vom<br />
Tanzen aus dem Waldschloß. Festmacher und Fiedler sehen<br />
sich bedeutungsvoll an. Der Riese kneift ein Auge zu. Als erfahrener<br />
Jäger weiß er: das wird was!<br />
Die Nasen der beiden Männer <strong>im</strong> Gebüsch hinter der Bank<br />
saugen mit der würzigen Nachtluft den Geruch von Bier ein<br />
und von Schnaps. Und von betörend-süßlichem Parfüm.<br />
Das wird was!!<br />
Der Schwarze und die Weiße stehen vor der Bank. Sie küssen<br />
und liebkosen einander. Jetzt setzen sie sich. Im Sitzen<br />
fahren sie fort, einander zu streicheln, sich zu betasten. Der<br />
Mann öffnet die helle, dünne Bluse seiner Freundin. Seine<br />
Hand fährt langsam unter den seidigen Stoff, ertastet, befühlt<br />
und streichelt den jugendlichen Busen. Das Mädchen stöhnt<br />
leise. Plötzlich erhebt es sich und steht nun, auf hochhackigen
Entspannung 237<br />
Pumps, dicht vor dem sitzenden Freund. Dessen schwarze<br />
Hände wandern streichelnd empor an den langen weißen<br />
Schenkeln, verschwinden unter dem kurzen geblümten Röckchen.<br />
Obwohl die milde, mit den schweren Düften blühender<br />
Nachtgewächse beladene Luft von der Ausstrahlung ihrer<br />
Lust erbebt, scheinen der Mann und die Frau es nicht eilig zu<br />
haben. Nichts wird überstürzt, nichts aber auch läßt auf sich<br />
warten. Ihre Bewegungen sind traumhaft-tänzerisch, nachtwandlerisch-an<strong>im</strong>alisch:<br />
Ausdruck ihrer innigen Verbundenheit,<br />
ihres Einander-Sicher-Seins und ihrer sinnverwirrenden<br />
zitternden Erwartung.<br />
Auch der Mann steht jetzt auf. Immer heftiger umarmen,<br />
küssen und streicheln sich die beiden. Die junge Frau macht<br />
einen kleinen Schritt zurück. Grazil steigt sie aus ihrem Höschen.<br />
Sich ein wenig in den Hüften drehend, knöpft sie den<br />
Rock an der linken Seite auf, wickelt sich aus ihm heraus, legt<br />
Höschen und Rock auf die Bank.<br />
Wieder steht die Blondine unmittelbar vor ihrem Freund.<br />
Der entblößt ihren Oberkörper. Mit Hingabe leckt die rötliche<br />
Zunge breit über steifende Nippel und über dunkle Warzen<br />
auf schneeweißen Brüsten. Die junge Frau atmet schwer.<br />
Stöhnt jetzt laut. Da entledigt sich der Mann seiner Hose und<br />
seines Slips. Eng umschlungen stehen die beiden nun da und<br />
küssen sich leidenschaftlich. Wie <strong>im</strong> Tanz wiegen sie sich in<br />
den Hüften. Begierde flammt auf. Tanzendes Drehen und<br />
Beugen. Immer leidenschaflicher, <strong>im</strong>mer lustvoller. Die Frau<br />
umschlingt mit beiden Armen den kräftigen Nacken des Mannes.<br />
Der hebt sie langsam empor wie eine Puppe. Seine Hände<br />
stützen die weit geöffneten Schenkel. Weiße, schlanke Beine<br />
umklammern die schwarze Hüfte. Und nun läßt der Mann die<br />
Frau, ganz langsam, an sich hinuntergleiten. Dabei dringt er<br />
in sie ein.<br />
Beide stöhnen laut auf. Jetzt sind sie nur noch Trieb. Hemmungslos<br />
genießen sie ihre Lust. Ein wilder Reigen beginnt.
238 ANSICHTEN<br />
Der Festmacher weiß: jetzt darf man näher ran, hart an den<br />
Wind! Aber noch bevor er den ersten vorsichtigen Schritt tun<br />
kann, drängt sich ungestüm, ja wild, der Fiedler an ihm<br />
vorbei. Nur durch blitzschnelles Handeln gelingt es dem<br />
Riesen, seinen kleinen geilen Kumpel zurückzuhalten. Die<br />
Faust packt die Jacke über dem krummen Rücken und rüttelt<br />
den Zwerg.<br />
Langsam beugt sich der Schwarze vornüber und legt die<br />
Weiße auf die Bank. Liegend, liebend und mit rasenden Herzen<br />
entschwebt das Paar dieser Welt. Lautes, unkontrolliertes<br />
Hecheln, Stöhnen, Stoßen.<br />
Jetzt, endlich, gibt der Festmacher das Zeichen, die Erlaubnis,<br />
näher, ganz nahe an die Bank vorzudringen.<br />
Mit weit aufgerissenen Augen und mit zum Bersten<br />
aufgepeitschten Sinnen verschlingen die beiden Spanner das<br />
Naturschauspiel, das sich jetzt ganz dicht vor ihnen abspielt.<br />
Jeder saugt das Geschehen tief in sich hinein. Archaische<br />
Lust. Entfesselte Triebe. Freigesetzte Naturgewalten!!<br />
Die Hand findet zum Schritt. Jeder entblößt sich. Und jeder<br />
beginnt, sich zu massieren.<br />
Wenig später gehen Festmacher und Fiedler nebeneinander<br />
den Hauptweg entlang. Entspannt, erlöst, schweigend.<br />
Und dann hat jeder nur noch eins <strong>im</strong> Sinn: endlich nach<br />
Hause.<br />
2 ANSICHTEN<br />
Ausweg<br />
“Ein Wendepunkt in der<br />
Geschichte der Menschheit!”<br />
Ein Orkan hat den <strong>Park</strong> gepeitscht. Der uralten Eiche auf<br />
dem Hügel hat er einen mächtigen Ast geraubt. Am See hat er
Ausweg 239<br />
Erlen entwurzelt und eine riesige Kiefer quer über den Weg<br />
gestürzt. Überall zeugen abgebrochene Äste und Zweige von<br />
der Urgewalt bewegter Luft.<br />
Die gesamte Gärtnermannschaft ist ausgeschwärmt. Mit<br />
Seilen, Beilen, Motorsägen, Treckern und Lastwagen sind die<br />
Männer dabei, Ordnung wiederherzustellen. Als Maler und<br />
Physiker an einem Arbeitstrupp vorbeikommen, weist ein<br />
Mann mit rotblondem Haar, Kinnbart und tiefgefurchtem Gesicht<br />
drei Mitarbeiter an, eine gefährlich schrägstehende Weide<br />
zu fällen.<br />
Der Physiker winkt ihm zu und ruft: “Da hat der Orkan deine<br />
Pläne ja ganz schön durcheinander gewirbelt!”<br />
Der andere winkt nickend zurück.<br />
“Na denn, viel Erfolg!”<br />
“Danke!”<br />
“Sie duzen den?”<br />
“Ein alter Freund.”<br />
Verwundert geht der Maler weiter. Nach ein paar steifen<br />
Schritten sagt er: “Freilich, das war ein furchtbarer Orkan!”<br />
“Gut, daß die Sonne wieder scheint. So können wir spazierengehen<br />
und unsere Gespräche fortsetzen.”<br />
“Für mich”, sagt der Maler, “hatte der Orkan auch eine innere<br />
D<strong>im</strong>ension.” Ein Gewirr von Gefühlen und Gedanken<br />
durchtobt den Zwerg, irgendwie verknotet, aber hin- und hergezerrt<br />
von unkontrollierbaren Kräften. “Mich schmerzt die<br />
Tragödie menschlicher Existenz. Der Konflikt zwischen Gut-<br />
Sein-Wollen und Schlecht-Sein-Müssen. Der hockt mir auf der<br />
Seele. Wie ein schwarzes Ungeheuer… Ich ...”<br />
Als er nicht weiterspricht, sieht ihm der Physiker fragend<br />
ins Gesicht. Da erschrickt er. Das gefurchte Antlitz ist aschfahl.<br />
Zitternde Lider versuchen vergeblich, die Augen verschlossen<br />
zu halten. Ein ganz merkwürdig entrückter, verbitterter<br />
Ausdruck beherrscht die harten Züge. Übergangslos<br />
ist der Maler versunken in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
240 ANSICHTEN<br />
Der Wissenschaftler hatte die Gewalt der Mächte unterschätzt,<br />
die den Künstler beherrschen. Nicht <strong>im</strong> Entferntesten<br />
hatte er erkannt, in welchem Ausmaß der mit machtvollspontanen<br />
inneren Kräften ringt, mit Emotionsausbrüchen,<br />
die ihn oft in mehrere Richtungen zugleich zerren. Wie sehr<br />
der kämpft gegen Triebhaftes. Wie gebrechlich die Tektonik<br />
ist in den Tiefen dieser kleinen Person. Aus den Augenwinkeln<br />
blickt er hinüber zu seinem Gefährten. Der bleibt plötzlich<br />
stehen und stützt sich schwer auf den Spazierstock.<br />
‘Wie wenig’, denkt der Physiker, ‘ist dieser Mann der<br />
selbstsichere, erfolgverwöhnte Künstler, mit dem ich glaubte,<br />
es zu tun zu haben.’<br />
“I…ich weiß nicht weiter”, flüstert der Maler. Er senkt den<br />
Kopf, atmet stoßweise. “Wie soll ich … wie sollen wir … mit<br />
diesen Problemen fertig werden?” Bebende dünne Finger fahren<br />
über das harte Gesicht. “Das kann doch auf die Dauer<br />
nicht gut gehn!” Er holt tief Luft. “Sie haben nicht gerade dazu<br />
beigetragen, meinen inneren Orkan zu besänftigen.”<br />
“Das tut mir leid. Ich will Sie nicht belasten. Ich suche die<br />
erkennbare Wahrheit. Nichts sonst.” Nach einer Pause fügt<br />
der Physiker hinzu: “Ich will niemandem ein Leid zufügen.”<br />
Da zuckt der Zwerg zusammen. Wie ein geisterhaftes Echo<br />
hallt ihm der Satz durch die Sinne. Ein Echo, woher? Ein<br />
Echo, auf wessen St<strong>im</strong>me? Der Maler wehrt sich gegen eine<br />
Gedankengestalt, die Zutritt begehrt zu seiner Bewußtseinsbühne,<br />
die antworten will auf diese Fragen. Er will sie nicht.<br />
… Und es gelingt ihm, sie zu verbannen.<br />
Seine Fassung plötzlich zurückgewinnend, geht er weiter.<br />
Ruhig sagt er nun: “Freilich! Ich weiß, daß Sie mir nicht weh<br />
tun wollen.” Er räuspert sich. “Ich habe Sie gebeten, mir einen<br />
Blick zu gewähren hinter Ihre Kulissen, in Ihre Wissenschaftlerseele.<br />
Sie haben mich gewarnt. Ich aber bin von meiner<br />
Bitte nicht abgerückt.” Er stößt den Spazierstock hart in den<br />
Boden. “Und das will ich auch jetzt nicht. Keinen Mill<strong>im</strong>eter!<br />
Für mich ist es wichtig, zu wissen, wie Sie die Welt, die Men-
Ausweg 241<br />
schen sehen.” Er zerrt die breite Krempe seines Hutes tiefer<br />
in die Stirn. Tausend Gedanken durchstürmen den Kopf.<br />
Emotionen sprühen Funken wie ein Feuerwerk. Abermals<br />
verliert er das innere Gleichgewicht. Nur mit Mühe gelingt es<br />
ihm, sich wieder zu fangen. “Ich will die Wahrheit! Soweit sie<br />
uns denn erkennbar ist. Ich will die Wirklichkeit, auch wenn<br />
sie schmerzt.”<br />
Steifrückig wendet sich der Künstler dem Wissenschaftler<br />
zu: “Was können wir tun? Sehen Sie einen Ausweg? Einen<br />
Ausweg aus dem Widerstreit zwischen dem, was und wie der<br />
Mensch ist, und dem, was und wie er sein müßte, um erfolgreich<br />
sein Leben zu meistern und seine Zukunft zu gestalten?”<br />
“Einen Ausweg können wir nur mit offenen Augen finden.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Wir müssen klarer sehen, woher wir kommen, wer wir sind,<br />
wo wir stehen.”<br />
“Ich will harte Antworten auf harte Fragen. Hat der Mensch<br />
eine Chance, sich auf der Erde langfristig einzurichten?”<br />
“Nicht ohne grundlegende Veränderungen <strong>im</strong> Verhalten.<br />
Nicht ohne neue Organisationsformen in Politik und Staat.”<br />
“Was für Organisationsformen?”<br />
“Unsere großen Probleme sind globaler Natur.”<br />
“Und?”<br />
“Daher sind sie auch nur global zu lösen.”<br />
“Nämlich?”<br />
“Durch weltweit abgest<strong>im</strong>mtes Verhalten.”<br />
“Abgest<strong>im</strong>mt wodurch?”<br />
“Durch eine Weltregierung, die demokratisch legit<strong>im</strong>iert ist,<br />
einen Weltgerichtshof, der mit ausreichenden Zuständigkeiten<br />
ausgestattet ist, eine Umweltschutzbehörde, die weltweit<br />
agieren kann.”<br />
“Bla, bla! Das sind doch alles leere Worte!”<br />
“Leider.”<br />
“Chance oder nicht!?”, ruft der Maler.<br />
“Keine Chance! Das Denken und Handeln der meisten Men-
242 ANSICHTEN<br />
schen wird zu stark best<strong>im</strong>mt von Aggressivität, Rücksichtslosigkeit,<br />
Besitzenwollen und Selbstüberschätzung. Mir kommt<br />
die Menschheit manchmal vor wie ein riesiges Knäuel von Leibern,<br />
die, bereits von der Klippe gerutscht, noch während des<br />
Sturzes in den Abgrund voll damit beschäftigt sind, sich<br />
gegenseitig in die Rippen zu boxen – ohne den Sturz überhaupt<br />
wahrzunehmen.” Der Physiker macht eine resignierende<br />
Handbewegung. “Das ist wirklich unglaublich!” Er zuckt die<br />
Schultern. Dann sagt er: “Es ist meine feste Überzeugung, daß<br />
diese wildgewordene Variante irdischen Lebens die weitaus<br />
längste Zeit ihrer Existenz hinter sich hat.”<br />
“Verdammt nochmal!”, schreit der Maler wie von Sinnen.<br />
Verzweifelt drohend stößt er den Spazierstock in die Höhe.<br />
“D… da muß man doch was tun können!!”<br />
“Man kann!”, ruft der Physiker, nun ebenfalls seine St<strong>im</strong>me<br />
erhebend. Und wer ihn kennt, der ahnt, daß provozierender<br />
Spott ihn jetzt reitet. “Es gibt eine ebenso einfache und<br />
schnelle wie undurchführbare Lösung.”<br />
“Welche??”<br />
“Wiedereingliederung des Menschen in das System, das ihn<br />
hervorgebracht hat und das ihn trägt.”<br />
“Wie soll das funktionieren? Dazu noch schnell?”<br />
“Man müßte das gesamte Gedächtnis der Menschheit<br />
auslöschen: alle Schriftwerke, alle gespeicherten<br />
Informationen. Was dann …”<br />
“Sie!!”<br />
“Was dann übrig bleibt, das steckt <strong>im</strong> Hirn. Hier sind die<br />
Konflikte zu Hause. Hier wohnen die Probleme. Der Kopf<br />
macht den Menschen zum Menschen – und zum Ungeheuer.<br />
Im Kopf steckt seine Intelligenz, aber auch sein Vernichtungspotential.<br />
Wie bei einer Atomrakete.”<br />
Der Physiker sieht den Maler an, schiebt langsam die Brille<br />
hoch und sagt: “Da das Problem also <strong>im</strong> Kopf liegt, müßte man<br />
alle diejenigen, die mehr als 11 und 15 <strong>im</strong> Kopf<br />
zusammenzählen können, um denselben kürzer machen.”
Ausweg 243<br />
“S … Sie!!!”, kreischt der Maler mit sich überschlagender<br />
St<strong>im</strong>me. “Sie!!” Er ringt nach Luft.<br />
Und dann spielt ihm plötzlich seine Phantasie einen bösen<br />
Streich. Sein inneres Auge sieht, wie er den Physiker anspringt<br />
und umwirft, wie er dem Liegenden nach der Kehle<br />
greift, wie er ihn würgt. Ungeheure Kräfte wachsen ihm zu.<br />
Mit beiden Händen umschließt und preßt er die verhaßte<br />
Kehle. Immer weiter. Bis die Glieder des Gewürgten erschlaffen.<br />
Will er vernichten, was ihn vernichtet? Oder treibt ihn<br />
die Vorstellung einer letzten, unwiderbringlichen Besitzergreifung?<br />
Triumphierend blickt er in das blaß werdende<br />
Gesicht. Aber dann, auf einmal, sprießen aus dem kahlen<br />
Schädel lange rote Haare!!! Da schreit der Maler auf in namenlosem<br />
Entsetzen. Er taumelt und droht zu stürzen.<br />
Schnell springt der Physiker hinzu und greift ihm stützend<br />
unter den Arm. “Was ist Ihnen?!”, ruft er erschrocken.<br />
“Nichts! Gar nichts!! … Ich bin gestolpert.”<br />
Der Maler reißt sich los von der stützenden Hand, schluckt,<br />
räuspert sich, zerrt den Hut in die Stirn. “Um denselben<br />
kürzer machen!”, krächzt er. “Mir ist überhaupt nicht zum<br />
Spaßen zumute!”<br />
“Das ist Galgenhumor.”<br />
Der Zwerg duckt sich. Lauernde, nach rechts oben rollende<br />
Augen funkeln hinauf zu dem Größeren. Er droht ihm mit der<br />
Faust. “Galgenhumor”, krächzt er. “Schöner Galgenhumor!!”<br />
Er schüttelt sich. So heftig, daß der Hut in den Sand fällt.<br />
Stöhnend hebt er ihn auf. Mit dem Ärmel wischt er Schmutz<br />
von der weißen Krempe. Dann steht er mit gerötetem Gesicht<br />
vor dem Physiker. Er starrt ihn an. Plötzlich reißt er den Spazierstock<br />
in die Höhe. Für einen Augenblick sieht es so aus,<br />
als wolle er den Wissenschaftler damit schlagen. Dann aber<br />
sinken Arm und Stock. Mit einer ausholenden Armbewegung<br />
saugt der Künstler röchelnd die Lungen voll Luft. Wie einer,
244 ANSICHTEN<br />
der Kerzen ausbläst, pustet er sie mit geblähten Wangen zischend<br />
wieder hinaus. Dann sackt er stumm in sich zusammen.<br />
Es dauert eine Weile bis der Maler sich wieder gefaßt hat.<br />
Zornig wirft er das Ende des Schals über die Schulter. Dann<br />
sch<strong>im</strong>pft er: “Sie sind ein Provokateur!!”<br />
“Ja. Ich provoziere. Zu viele unserer Denker wandern auf<br />
ausgebauten Wegen. Gefahrlos, bequem, traditionsgefällig.<br />
Mich zwingt etwas, herumzusuchen zwischen und hinter den<br />
Wegen. So wecke ich den Widerspruch der Weg-Gebundenen.<br />
So bin ich vielen unbequem. So muß ich mich besch<strong>im</strong>pfen<br />
lassen.”<br />
Als der Maler nicht reagiert, sagt der Physiker: “Es tut mir<br />
leid, daß ich Sie verletzt habe. Meine Überzeugung ist diese:<br />
Die Lebenszeit der Menschheit wird kürzer sein, als die meisten<br />
von uns annehmen. Sie kann nur voll ausgeschöpft<br />
werden mit der Wissenschaft, mit der Natur, mit Einsicht.<br />
Ohne oder gegen diese drei werden wir alles verlieren, was<br />
heute ein menschenwürdiges Dasein ausmacht.”<br />
“Sie haben das Hirn entwürdigt!”, ruft der Maler. “Das Organ,<br />
das uns zum Menschen macht!”<br />
“Zu viel Respekt vor dem Hirn ist gefährlich.”<br />
“W…wieviel Zeit geben Sie uns noch?”<br />
“Schwer zu sagen. Min<strong>im</strong>al noch einige Jahrzehnte,<br />
max<strong>im</strong>al noch einige Jahrhunderte. Das hängt davon ab, wie<br />
sich die Menschheit verhält. Ob es ihr gelingt, ihr gewaltiges<br />
Vermehrungspotential in den Griff zu bekommen. Ob sie die<br />
Natur wirksam schützen kann. Ob sie ihr globales Wirken<br />
und Wirtschaften zu organisieren vermag in Form eines der<br />
Natur nachempfundenen Kreislaufs von Produktion und Dekomposition,<br />
von Aufbau und Abbau.”<br />
“Da hat die moderne Landwirtschaft, die Grundlage unserer<br />
Nahrungsproduktion, doch schon viel erreicht.”<br />
“Die Produktion von Nahrung für sechs Milliarden Menschen<br />
schädigt die Natur. Mehr als viele andere menschliche<br />
Aktivitäten. Gesunde Nahrung aber braucht eine gesunde
Ausweg 245<br />
Natur. Mehr als vieles andere.”<br />
“Wo liegt der Kern des Problems?”<br />
“Die Kernfrage lautet: Können die Menschen genügend Einsicht<br />
und Disziplin aufbringen, um die natürlichen Bewegungen<br />
von Materie und Energie als etwas für alles Leben auf der<br />
Erde Verbindliches zu begreifen und zu respektieren.”<br />
“Was müssen wir tun?”<br />
“Wir müssen die Fortpflanzungsrate der Menschen radikal<br />
reduzieren. Wir müssen den Einfluß der Menschen auf die<br />
Natur nachhaltig eindämmen. Wir müssen für den menschlichen<br />
Bedarf ein eigenes System rezirkulierender Materie und<br />
durchfließender Energie entwickeln – ein System, das die<br />
Umwelt so wenig wie möglich verformt, belastet oder schädigt.”<br />
“Ist das der Ausweg?”<br />
“Das sind die wichtigsten Möglichkeiten, die Lebensspanne<br />
der Menschheit zu verlängern.”<br />
“Ist das zu schaffen?”<br />
“Im Prinzip schon. So wie ich das sehe, werden die Menschen<br />
das aber nicht tun, jedenfalls nicht in ausreichendem<br />
Maße. Sie werden vielmehr weiteren Schaden anrichten, bevor<br />
sie endgültig von der Erde verschwinden.”<br />
“Aber sehen Sie mal, in Amerika und Europa sind großartige<br />
neue Technologien entwickelt worden für Nahrungsproduktion,<br />
Energiegewinnung und Umweltschutz. Experten<br />
haben errechnet, daß damit die gesamte gegenwärtige<br />
Menschheit langfristig versorgt und erhalten werden könnte.”<br />
“Diese Experten gehen vom gegenwärtigen Lebensstandard<br />
aus.”<br />
“Und? Was ist falsch daran?”<br />
“Daß sie gegenwärtige Mißverhältnisse in der Verteilung<br />
von Resourcen festschreiben. Daß sie soziale Ungerechtigkeit<br />
auch für die Zukunft in Kauf nehmen.”<br />
“Was genau wollen Sie damit sagen?”<br />
“Was glauben Sie, würde geschehen, wenn die gesamte ge-
246 ANSICHTEN<br />
genwärtige Erdbevölkerung den gleichen Lebensstandard<br />
hätte, wie die Amerikaner und Europäer? Den gleichen Nahrungs-,<br />
Material- und Energieverbrauch?”<br />
“Was?”<br />
“Es käme zur Katastrophe!”<br />
“Tabula rasa, wie?”<br />
“Nicht ganz. Manches würde erhalten bleiben. Viele Spuren<br />
des Menschen würden verblassen. Viele große Wunden, die<br />
diese Fehlentwicklung der Schöpfung geschlagen hat, würden<br />
vernarben. Bedenken Sie: Tausende von Jahren der Menschheitsgeschichte<br />
entsprechen einer Sekunde der Erdgeschichte.”<br />
“Sie haben Ihre Langzeitprognose gestellt. Wie …”<br />
“Das ist nicht meine Langzeit-, sondern meine Mittelzeitprognose.<br />
Langfristig wird nicht nur der Mensch sterben,<br />
sondern alle Arten, welche derzeit die Erde bevölkern. Schon<br />
in wenigen Milliarden Jahren wird die Erde kein Leben mehr<br />
tragen – so wenig wie der Mond heute. Und noch einige Milliarden<br />
Jahre später werden auch alle leblosen Strukturen,<br />
welche heute die Erde ausmachen, verschwinden. Sie werden,<br />
wie alles Materielle <strong>im</strong> Universum, wieder zu ihrem Ursprung<br />
zurückkehren: Sie werden wieder zu Energie.”<br />
“Wie groß ist die Chance, daß Ihre Langzeitprognose falsch<br />
ist?”<br />
“Aus meiner Sicht null Prozent.”<br />
Wild gestikulierend schüttelt der Maler heftig den Kopf.<br />
“Ich sage Ihnen, die Kurzfassung der Geschichte des Lebens<br />
auf der Erde wird einmal so lauten: Milliarden Jahre ohne<br />
Mensch, einige hundert Jahre mit dem modernen Menschen,<br />
Milliarden Jahre ohne Mensch. Der moderne Mensch ist ein<br />
sehr gefährlicher, aber eben auch nur ein sehr kurzlebiger<br />
Irrweg der Natur.”<br />
“Verdammt noch mal!”, schreit der Maler. Abermals reißt er<br />
Arm und Stock in die Höhe. Aber, die Unterlippe hochwölbend<br />
und die Achseln hebend, läßt er beide wieder sinken.<br />
Er schluckt. Schließlich sagt er mit heiserer St<strong>im</strong>me: “Und wie
geht’s kurzfristig weiter? Auch da keine Chance? Kein Ausweg?”<br />
“Das will ich so nicht sagen. Das hängt, wie gesagt, davon<br />
ab, ob die Menschen endlich die Einsicht, den Mut und die<br />
Kraft aufbringen können, um sich selbst und die Dinge um sie<br />
herum realistischer zu sehen. Fort mit dem alles verbrämenden<br />
und verzerrenden Aberglauben! Fort mit den Beruhigungs-Märchen!<br />
Fort mit den ungerechtfertigten Eitelkeiten!<br />
Fort mit dem Mensch-Über-Alles-Denken! Ein Ende dem<br />
ständigen Selbstbetrug! Nur aus mehr Wahrhaftigkeit kann<br />
den Menschen mehr Einsicht und Verantwortlichkeit erwachsen.<br />
Und nur mit mehr Einsicht und Verantwortlichkeit könnte<br />
der dringend erforderliche Kurswechsel eingeleitet<br />
werden.”<br />
Paris<br />
Paris 247<br />
Stumm wandern Künstler und Wissenschaftler nebeneinander<br />
her. Lange spricht keiner ein Wort. Dann durchbricht<br />
der Physiker das Schweigen: “Wie war’s in Paris?”<br />
Der Maler hebt den Kopf, hält eingeatmete Luft in geblähten<br />
Wangen zurück und pustet sie dann hörbar hinaus. “Eindrucksvoll!”<br />
Selbstsicherheit kehrt zurück. Und nun leuchtet<br />
auch stilles Vergnügen in den harten Zügen. “Am ersten Tag<br />
habe ich an der Vormittags- und Nachmittagssitzung einer<br />
Jury teilgenommen.”<br />
“Worum ging’s?”<br />
“Wir sollten einen von elf Künstlern auswählen für die Neugestaltung<br />
eines großen Platzes.”<br />
“Woraus bestand die Jury?”<br />
“Aus hochkarätigen Architekten und Künstlern. Alles würdige<br />
Gestalten. Bis auf einen. Der erschien zu beiden Sitzungen<br />
mit bloßem Oberkörper. Er wurde gebracht und abgeholt<br />
von einer Frau. Wir haben gedacht: das muß ein ganz
248 ANSICHTEN<br />
Großer sein, daß der sich so über Normen hinwegzusetzen<br />
vermag. So begegneten wir ihm mit viel Respekt. Die Entscheidung<br />
zog sich länger hin als erwartet. Daher mußte ich<br />
am Spätnachmittag eine Verabredung telephonisch absagen.<br />
Im Vorraum des Sitzungssaals saß die Frau. Ich grüßte sie<br />
höflich.<br />
‘Hola Señior!’, rief sie und fragte auf Spanisch mit<br />
merkwürdigem Akzent: ‘Wie weit seid ihr da drinnen?’<br />
‘Es wird noch etwas dauern.’<br />
‘Ich warte auf meinen Mann.’<br />
‘Ich weiß – warum kommt der mit bloßem Oberkörper?’<br />
‘Weil ich das so will.’<br />
‘Warum wollen Sie das?’<br />
‘Weil ich ihn so besser sauber halten kann!’”<br />
Als das Lachen der beiden verhallt ist, fragt der Physiker:<br />
“Wie ging’s mit der Preisverleihung?”<br />
“Alles verlief in einem großartigen Rahmen. Viele Menschen<br />
haben mich angesprochen auf Cocktailpartys und Empfängen.<br />
Sie waren erstaunlich gut informiert über mein Schaffen.<br />
Auch der Minister hat mich auf zwei meiner neueren Werke<br />
hin angesprochen. Und er hat mich etwas gefragt, das mich an<br />
Sie erinnert hat.”<br />
“An mich?”<br />
“Er hat mich auf deutsch gefragt: ‘Wie machen Sie das?’”<br />
Der Maler grinst. “Da mußte ich sogleich an Ihren Kongreß<br />
denken und an Ihre Rumänin.”<br />
“Das ist ja wirklich eine lustige Koinzidenz!”<br />
“Freilich!”, schuckelt der Zwerg. “Aber ich habe ihm nicht<br />
gesagt, wie ich das wirklich mache.” Lauthals wiehert er.<br />
Nach einer Weile sagt der Maler: “Die Gespräche mit den<br />
anderen beiden Preisträgern waren ein Erlebnis.”<br />
“Was sind das für Menschen?”<br />
“Einer von ihnen ist Schriftsteller. Er hat sich kritisch mit<br />
sozialen Fragen auseinandergesetzt. Seine unbestechlichen<br />
Analysen und vor allem seine mitunter eher aggressiv formu-
lierten Thesen haben ihm nicht nur Zust<strong>im</strong>mung<br />
eingebracht.<br />
Der andere Preisträger ist Bildhauer. Ein unerhört temperamentvoller<br />
Zeitgenosse mit übersprudelndem Ideenreichtum<br />
und unerschöpflicher Kreativität. Mit ihm verbindet<br />
mich vieles. Wir konnten kaum voneinander lassen. Ende des<br />
Jahres will er mich besuchen. Sicher wird das auch für Sie<br />
interessant werden. Ich habe ihm von Ihnen erzählt, von<br />
Ihren Gedanken und Vorstellungen. Er möchte Sie unbedingt<br />
kennenlernen.” Die Augen des Malers versinken fast in den<br />
tiefen Falten seines vor Vorfreude knisternden Gesichts.<br />
“Nur zu!”, ruft der Physiker und lacht. “Das wird ein heißes<br />
Jahresende! Da werden wir drei zusammen mit unseren erhitzten<br />
Köpfen die Temperatur <strong>im</strong> <strong>Park</strong> meßbar in die Höhe<br />
treiben!”<br />
Jetzt lachen sie wieder, die beiden, ausgelassen wie die<br />
Spitzbuben, und sie freuen sich auf das Ende des Jahres.<br />
Nur gut, daß sie nicht wissen, was es ihnen bringen wird.<br />
Daß sie nicht ahnen, welch grausame Überraschungen ihnen<br />
bevorstehen.<br />
Männchen<br />
Männchen 249<br />
Den Kopf geneigt, vor sich hinblickend und ganz in ihre<br />
Gedanken eintauchend, setzen Künstler und Wissenschaftler<br />
ihre Wanderung fort. Der Maler trägt seinen Spazierstock<br />
jetzt zwischen angewinkelten Armen auf dem Rücken. Und<br />
auch der Physiker hat seine Arme hinter sich verschränkt.<br />
Lange gehen sie so.<br />
“Wo waren Sie gestern?”, fragt der Physiker schließlich. “Ich<br />
habe am See vergeblich nach Ihnen Ausschau gehalten.”<br />
“Das tut mir leid. Waren wir verabredet?”<br />
“Nein. Aber ich hatte mich auf Sie gefreut und auf die Fortsetzung<br />
unserer Gespräche.”
250 ANSICHTEN<br />
Noch <strong>im</strong>mer treffen sich die beiden an der weißen Bank auf<br />
dem verwaisten Bootsanleger. Von dort wandern sie umher<br />
auf entlegenen Wegen. So sind sie völlig ungestört und<br />
können sich ganz auf ihre Diskussionen konzentrieren.<br />
“Gestern”, sagt der Maler, “war ich in der Universität. Dort<br />
habe ich einen interessanten Vortrag besucht.”<br />
“Wie lautete das Thema?”<br />
“Unser derzeitiges Wissen über bemannte Ufos.”<br />
“Bemannt mit wem?”<br />
“Mit merkwürdigen, menschenähnlichen Geschöpfen.”<br />
“Kleine grüne Männchen, wie?”, spottet der Physiker. “Wie<br />
können Sie sich nur einen solchen Unfug anhören!”<br />
“Das Thema interessiert mich. Im übrigen sind Sie doch<br />
selber einer von denen, die intelligentes außerirdisches Leben<br />
für möglich halten.”<br />
“Ich halte es nicht nur für möglich, sondern für sehr wahrscheinlich.”<br />
“Na also! Dann können Sie doch auch nicht ausschließen,<br />
daß intelligentes, außerirdisches Leben zu uns kommt.”<br />
“Aber keine menschenähnlichen Geschöpfe.”<br />
“Ach, ja? Wie können Sie das einfach so behaupten?”<br />
“Das sind Ausgeburten des Ich-Welt-Syndroms. Variationen<br />
der Vorstellung vom Menschen als dem Zentrum und Kulminationspunkt<br />
des Schöpfungsvorgangs: Wir sind die Größten,<br />
also muß alles Große menschenähnlich sein: Gott, Teufel,<br />
Außerirdische.”<br />
“In welcher Form sonst?”<br />
“Nicht in Form von organischen Wesen.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil die Bedingungen, unter denen sich organische Wesen<br />
entwickeln, das nicht zulassen.”<br />
“Abermals: warum nicht?”<br />
“Organisches Leben kann sich nur in Ökosystemen entwickeln.<br />
Das haben wir ja bereits erörtert. Das gilt so gut<br />
wie sicher auch für organisches Leben auf fremden Planeten,
Männchen 251<br />
wenn es denn dort so etwas geben sollte. Ein Ökosystem<br />
fesselt seine Mitglieder. Auch der Mensch kann nur<br />
vorübergehend und nur teilweise aus dem ‘Gravitationsfeld’<br />
seines Systems flüchten. Früher oder später wird er wie eine<br />
Rakete mit unzureichender ‘escape velocity’ in das System<br />
zurückstürzen, wird er wieder von mächtigen Kräften des<br />
Systems absorbiert – oder gänzlich vernichtet.”<br />
“Was sind das für Kräfte?”<br />
“Die Natur verfügt über wirkungsstarke Ordnungskräfte.”<br />
“Wie können Sie da so sicher sein?”<br />
“Organische Lebensvielfalt benötigt berechenbare Rahmenbedingungen.<br />
Nur so kann sich über Milliarden von Jahren<br />
vielgestaltiges Leben ausbilden und erhalten. Die Tiere, Pflanzen<br />
und Mikroorganismen, die wir heute vorfinden, sind der<br />
Beweis dafür, daß mächtige Ordnungskräfte über unermeßliche<br />
Zeitspannen angemessene Bedingungen hergestellt haben.”<br />
“Und daraus folgern Sie, daß es keine mit menschenähnlichen<br />
Geschöpfen bemannten Ufos geben kann?”<br />
“Technologische Hochleistungen, wie sie für wirkliche bemannte<br />
Weltraumfahrten, also über Entfernungen von Hunderten,<br />
Tausenden oder Millionen von Lichtjahren, erforderlich<br />
sind, können während einer kurzen, partiellen Flucht aus<br />
den Fesseln eines Ökosystems nicht hervorgebracht und<br />
unterhalten werden. Jedes aus einem Ökosystem<br />
hervorgegangene Geschöpf ist zudem für seine spezifische<br />
Rolle innerhalb des Systems programmiert. Typisch Mensch:<br />
unfähig, sich auf Erden einzurichten, postuliert er, wenn<br />
schon nicht für sich selbst, so doch für ihm ähnliche Wesen die<br />
Fähigkeit, sich <strong>im</strong> Universum einzurichten.”<br />
“Rrmm”, knurrt der Maler und fährt mit dünnen Fingern<br />
über lange Haare. “So gern ich möchte, gegen diese in sich<br />
schlüssige Argumentation kann ich nicht überzeugend opponieren.”<br />
Er hebt den Arm und läßt ihn mit einem Achselzucken<br />
wieder sinken.
252 ANSICHTEN<br />
Leben<br />
Mit halb zugekniffenen Augen blinzelt der Maler über den<br />
See. Augenblendend glitzert dessen weite Wasserfläche <strong>im</strong><br />
Licht der tiefstehenden Sonne. Der Zwerg überlegt. Mehrmals<br />
räuspert er sich. Dann formt er die Lippen zum Trichter.<br />
“Schauen Sie mal”, sagt er schließlich, “ich habe da eine<br />
Frage. Über die habe ich schon oft nachgedacht, aber niemals<br />
eine befriedigende Antwort gefunden.”<br />
“Wie lautet die Frage?”<br />
“Was eigentlich ist das, diese Erscheinung, die wir Leben<br />
nennen?”<br />
“Leben ist <strong>Suchen</strong>. Finden und Lernen. Fehlermachen und<br />
Konfliktaustragen. Probieren und Korrigieren. Leben ist …”<br />
“Korrigieren? Dann bedeutet Leben Probleme lösen?”<br />
“Nein. Leben gebiert mehr Probleme als es löst. Erst <strong>im</strong><br />
Nachhinein versucht es, geborene Probleme zu bewältigen.<br />
Das Wechselspiel zwischen Gebären, Bewältigen und Neugebären<br />
von Problemen, das ist die Triebfeder evolutierenden<br />
Lebens.”<br />
“Ich hatte Sie unterbrochen.”<br />
“Leben ist Verändern, Wagen, Kämpfen, Anpassen. Leben<br />
ist Ausreifen über Milliarden von Jahren.”<br />
“Wie kommt da Stabilität rein?”<br />
“Da ist nichts wirklich stabil. Da herrscht steter Wandel,<br />
ständiges Weiterwandern. Aber insgesamt fördert Ausreifung<br />
Ausgewogenheit.”<br />
“Wie?”<br />
“Durch Schaffung von Verschiedenheit und Spezialisierung.<br />
Die Ausreifung des Lebendigen ist ein faszinierendes Schauspiel,<br />
in dem Einheitliches Unterschiedliches gebiert und in<br />
dem Unterschiedliches Ganzheitliches gestaltet.”<br />
“Was ist innen? Im Grundsätzlichen?”<br />
“Da unterscheidet sich lebende Materie nur in ihrer Anordnung<br />
von lebloser Materie. Alle Bausteine eines lebenden
Leben 253<br />
Wesens sind genauso tot wie die eines Steins.”<br />
“Wodurch unterscheidet sich dann Lebendiges von Totem?”<br />
“Durch ein gesteuertes Fließungleichgewicht von Energie<br />
und Materie. Durch einen in den Naturgesetzen vorgegebenen<br />
Balanceakt, einen Seiltanz, den Energie und Materie aufführen,<br />
sobald best<strong>im</strong>mte Bedingungen sich einstellen. Ebenso,<br />
wie aus flüssigem Wasser Eis entsteht – entstehen muß –<br />
wenn die Temperatur einen best<strong>im</strong>mten Wert erreicht; ebenso,<br />
wie Materie unter best<strong>im</strong>mten Bedingungen Kristallstrukturen<br />
bilden muß, oftmals sehr komplizierte; ebenso zwangsläufig<br />
muß überall dort der Seiltanz des Lebens beginnen, wo<br />
sich entsprechende Konstellationen von Energie und Materie<br />
ausbilden.”<br />
“Lebewesen und Kristalle sind sehr verschiedene Dinge!”<br />
“Nicht so verschieden, wie das auf den ersten Blick erscheinen<br />
mag. In gewissem Sinne kann man lebende Materiestrukturen<br />
als komplexe, dynamische, irreguläre Kristalle<br />
auffassen.”<br />
“Das ist mir neu. Aber es muß doch einen Uranfang für das<br />
Leben auf der Erde gegeben haben. Sehen Sie nirgends einen<br />
Schöpfungsakt?”<br />
“Als an best<strong>im</strong>mten Stellen der Erde alle essentiellen Ingredienzen<br />
beisammen waren, und als die Umweltbedingungen<br />
st<strong>im</strong>mten, da haben möglicherweise kosmische Strahlen als<br />
Initialzündung den Übergang von Totem in Lebendes bewirkt.”<br />
“Strahlung aus dem Universum als Lebensstifter auf der<br />
Erde?”<br />
“So ist es möglicherweise gewesen.”<br />
“Wie konnte die Strahlung Leben schaffen?”<br />
“Indem sie die Energie lieferte für die Zusammenfügung verschiedener<br />
Substanzen, den Anstoß für den Aufbau der ersten<br />
zur Selbstreduplikation befähigten Moleküle. Aber die Energie<br />
könnte auch einen irdischen Ursprung gehabt haben: Vulkanische<br />
Kräfte, Blitze, Hitze, bewegtes Wasser. Als ich zum<br />
erstenmal <strong>im</strong> nordamerikanischen Yellowstone <strong>Park</strong> die bro-
254 ANSICHTEN<br />
delnden geothermischen Quellen und Sümpfe gesehen habe –<br />
diesen heißen, unablässig blubbernden Morast, Schlamm und<br />
Ton, dieses faszinierende Schauspiel tanzender Materie – da<br />
habe ich gedacht: so könnte es gewesen sein.”<br />
“Wo kamen die Substanzen her, aus denen sich das erste<br />
Leben formte?”<br />
“Alles kam aus einer Quelle: der Energieexplosion des Urknalls.<br />
Alles, was wir heute sehen, besteht aus erkalteten<br />
Funken dieses gewaltigen Urfeuers. Und aus Sternenfeldern,<br />
die sich aus den Funken geformt haben, <strong>im</strong> Großen wie <strong>im</strong><br />
Kleinen.”<br />
“Sternenfelder?”<br />
“Kreise, Wirbel, Staub.”<br />
“Staub?”<br />
“Sternenstaub.”<br />
“Leben aus Staub? Das sagt auch die Bibel.”<br />
“Da steht so manche Weisheit drin.”<br />
“Welchen Gesetzen unterliegt das Leben?”<br />
“Den gleichen Gesetzen wie das Nichtlebende.”<br />
“Für mich hat das Leben eine besondere Qualität. Das muß<br />
doch auch in den Gesetzen seine Entsprechung finden, denen<br />
das Leben unterliegt.”<br />
“Die Qualität, die das Leben für einen Menschen hat, muß<br />
nicht aus den Gesetzen ableitbar sein, die das Leben steuern.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil die Qualität, die etwas für einen Menschen hat, und<br />
die Qualität, die etwas für die Natur hat, verschiedene Dinge<br />
sein könnten.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf.<br />
“Materie,” n<strong>im</strong>mt der Physiker seinen Gedankengang wieder<br />
auf, “lebende und tote, ist unablässig in Bewegung, unablässig<br />
auf dem Wege: gefangen in ewigem Kreisen und<br />
Wogen des Welttheaters. Wie die H<strong>im</strong>melskörper in der großen<br />
Welt sich umeinander und miteinander bewegen, so auch<br />
bewegen sich die Materieteilchen in der Welt <strong>im</strong> Kleinen.
Leben 255<br />
Hier aber nehmen die Bewegungen – wo<strong>im</strong>mer die Energiesituation<br />
das erlaubt – gewaltig zu, und sie werden erratischer,<br />
unberechenbarer. Aber letztlich hängt all das<br />
zusammen. All das gebiert, vervollkommnet und erneuert sich<br />
in innerem Zusammenhang.”<br />
“Was verstehen Sie unter Lebendigsein?”<br />
“Lebendigsein ist Leben in dem Augenblick der Ewigkeit,<br />
der jetzt ist.”<br />
“Weiter!”<br />
“Irdisches Leben lebt von Leben – und von Totem. Immerfort<br />
muß es organische und anorganische Umwelt in sich aufnehmen,<br />
daraus körpereigenes Material aufbauen und die für<br />
die Erhaltung seiner Funktionen erforderliche Energie<br />
gewinnen. Und <strong>im</strong>merfort muß es Material und Energie<br />
wieder an die Umwelt abgeben.”<br />
“Mich fasziniert am Leben die Vielheit in der Einheitlichkeit.”<br />
Der Physiker nickt. “Leben kann in sehr unterschiedlichen<br />
Ausprägungen existieren. Aber allen Ausprägungen<br />
gemeinsam sind elektrodynamische Phänomene, gebändigte<br />
Elektron-Quark-Wirbel und gesteuertes Fließen und<br />
Schwingen von Energie.”<br />
“Ich hatte an andere Aspekte der Vielheit und Einheitlichkeit<br />
gedacht. Ich …”<br />
“Auf der Erde hat derartiges Geschehen kohlenstoffhaltige<br />
Komplexe aufgebaut: Eiweißkörper, Kohlehydrate, Fette,<br />
Sterine, Phosphatide, Nukleinsäuren. Dieses organische Konzept<br />
des Lebens hat zu einer unbefriedigenden, man könnte<br />
auch sagen zu einer teuflischen Lösung geführt. Denn, wie<br />
gesagt, organisches Leben muß <strong>im</strong> Rahmen des Ausreifungsgeschehens<br />
Energie, Materie und Entwicklungs<strong>im</strong>pulse gewinnen<br />
aus gegenseitigem Behindern, Beschädigen und Töten. Ein<br />
fortwährendes, sich gegenseitig bedingendes Formen, Verdrängen<br />
und Vernichten.” Er schüttelt sich. “Eine scheußliche<br />
Art, Leben zu organisieren.”
256 ANSICHTEN<br />
‘Das ist mir zu fremd’, denkt der Maler, ‘und wohl auch zu<br />
einseitig gesehen.’ Irritiert fragt er: “Wo steht denn da der<br />
Mensch?”<br />
“Seite an Seite mit anderen Lebensformen, die aus organischem<br />
Material biologisch verwertbare Energie gewinnen<br />
müssen. Wie jene begräbt er in seinem Innern während seines<br />
ganzen Lebens Legionen anderer Kreaturen.”<br />
“Das ganze Leben ein Begräbnis, wie?” Der Maler schüttelt<br />
verständnislos den Kopf.<br />
“Und ein ständiges ‘Wiederauferstehen’”, lächelt der Physiker.<br />
“Denn aus dem Begrabenen entsteht neues Leben.”<br />
“Wodurch werden die Grundeigenschaften des Lebens<br />
hervorgebracht?”<br />
“Durch universumweite Programme und Kräfte – Schwerkraft,<br />
Fliehkraft, chromodynamische Kraft, elektromagnetische<br />
Kraft. Diese Kräfte beeinflussen alles Geschehen, <strong>im</strong><br />
Bereich des Toten und <strong>im</strong> Bereich des Lebenden. Auch die<br />
unterschiedliche Rolle, welche eine Lebensform <strong>im</strong> Schauspiel<br />
der Schöpfung spielt. Bitte bedenken Sie: Universumweites<br />
Geschehen formt letztlich auch den Boden, dem unsere Empfindungen<br />
und unser Bewußtsein entwachsen – unser Fühlen,<br />
Denken, Begreifen und Verhalten.”<br />
Der Künstler hebt abwehrend die Hand. “Universum und<br />
Leben sind grundverschiedene Dinge!”<br />
“In ihren Wurzeln sind sie Gleiches, in ihren Ausformungen<br />
Verwandtes. Überall die gleichen Gesetze, das gleiche Material,<br />
die gleiche Geschichte, die gleiche Zukunft. Überall …”<br />
“Aber …”<br />
“Überall verwandte Strukturen, verwandtes Geschehen.”<br />
“Aber Lebewesen sind doch nun wirklich etwas anderes!”<br />
“Nichts anderes. Wohl aber Differenzierteres. Leben ist ein<br />
Meilenstein am Wege der kosmischen Ausreifung, etwas, das<br />
unter best<strong>im</strong>mten Gegebenheiten entstehen muß – mit der<br />
gleichen Notwendigkeit, mit der ein Stein entsteht. Lebewesen<br />
bilden spezifische, oft komplizierte Bauweisen und
Verhaltensweisen aus. Viele entwickeln Sozialstrukturen.<br />
Manche formen Rangordnungen. Andere etablieren Reviere.<br />
Und…”<br />
Hier versagt die Aufnahmefähigkeit des Zwerges. Das Wort<br />
‘Revier’ löst eine innere Blockade aus. Ihm zittern die Lider.<br />
Immer wieder verunsichert ihn der Physiker! Dessen Art zu<br />
denken verläßt die Pfade des Gewohnten, die dem Menschen<br />
das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bescheren.<br />
Dessen Art, die Welt zu sehen, erfüllt nicht die Hoffnung des<br />
Künstlers auf innere Stabilisierung. Sie stürzt ihn in zusätzliche<br />
Konflikte.<br />
Angst<br />
Angst 257<br />
Und da schwebt sie wieder herbei, die Angst. Wie ein aufgescheuchter<br />
schwarzer Vogel flattert sie umher in der labilen<br />
Künstlerseele. In Abwehr hebt der Zwerg den Arm und beugt<br />
den Kopf. “Angst”, flüstert er. Und dann noch einmal, noch<br />
leiser: “Wieder die Angst.”<br />
“Was meinen Sie?”<br />
Der Maler schreckt aus seinen Vorstellungen. Ihm ist sein<br />
Flüstern peinlich. Hastig sucht er nach einer plausiblen<br />
Erklärung. “I…ich meine … wie eigentlich passen Leben und<br />
Angst zusammen?”<br />
Den Physiker überrascht dieser Gedankensprung und die<br />
Verwirrtheit seines Gefährten. Er überlegt. Nach einer Weile<br />
sagt er: “Leben muß sich schützen und verteidigen vor<br />
Lebensbedrohendem. Angst ist die fundamentale Antriebskraft<br />
für dieses Verhalten.”<br />
“Bei Menschen.”<br />
“In abgewandelter Form ist das, was wir als Angst empfinden,<br />
auch in anderen Lebensformen wirksam, auch in Pflanzen<br />
und Mikroorganismen. Angst mobilisiert lebenserhaltende<br />
Kräfte und beflügelt die Evolution.”
258 ANSICHTEN<br />
“Was geschieht mit der Angst <strong>im</strong> Menschen?”<br />
“Da vervielschichtigt sich die Angst.”<br />
“Wie?”<br />
“Indem sie verschiedene Gewänder anlegt und in vielerlei<br />
Gestalt auftritt. Angst ist ein Meister <strong>im</strong> Kostümieren. So<br />
kann sie auch in Rollen schlüpfen, die mit ihrer ursprünglichen<br />
Funktion wenig zu tun haben.”<br />
“Zum Beispiel?”<br />
“Angst kann losgelöst von einer realen Gefahr auftreten.”<br />
“Wo?”<br />
“Auf der Bühne der Einbildung. Dort kann Angst dominierende<br />
Rollen spielen und große Macht entfalten. In extremen<br />
Fällen kann sie zu einem ernsten psychologischen Problem<br />
werden. Ja, sie kann sogar <strong>im</strong> Gewand einer Krankheit daherkommen.”<br />
“Einer Krankheit?”<br />
“Einer Krankheit der Psyche. Aber auch des Körpers.”<br />
Der Maler spürt plötzlich auf ihn Bezogenes. Ihm dämmert<br />
die Bedeutung der Angst für sein eigenes kompliziertes Wesen.<br />
In ihm ke<strong>im</strong>t Angst vor der Angst.<br />
Da sagt der Physiker: “Be<strong>im</strong> Menschen gibt es von Naturgewolltem<br />
entfremdete Ängste, wie der Mensch sich ja in so<br />
mancher Hinsicht Naturgewolltem entfremdet hat. Da gibt es<br />
Phantomängste, wie es auch Phantomschmerzen gibt. Da kann<br />
Angst zu Verhalten führen, das nicht mehr lebenserhaltend<br />
ist, sondern lebensbedrohend oder gar lebensvernichtend.”<br />
“W…wie?”<br />
“Höhenangst kann lähmenden Schwindel auslösen und den<br />
Betroffenen in die Tiefe stürzen lassen. Berührungsangst<br />
kann zu völliger Isolation und schließlich zur Selbsttötung<br />
führen. Übermäßige Angst kann eine Kurzschlußreaktion<br />
auslösen, die jeder Vernuft entbehrt und sogar zu Mord führen<br />
kann.”<br />
‘Mord!’, schreit eine St<strong>im</strong>me <strong>im</strong> Maler. ‘MORD!!!’ Wie von<br />
einem Dolch fährt ihm ein Stich durchs Herz. Er taumelt.
Angst 259<br />
“Wir sehen also: gewisse angstmotivierte Gefühlszustände<br />
können be<strong>im</strong> Menschen auch negative Wirkungen hervorbringen.”<br />
“J … ja”, stottert der Maler verstört. “Ja. So ist es wohl.”<br />
“Angst in ihren ursprünglichen Formen ist für die Reifung<br />
des Menschen wichtig. Wer Angst verdrängt, der muß am<br />
Ende mit großen Spannungen fertig werden – Spannungen,<br />
die ihn zerreißen können. Erwachsenwerden hat viel zu tun<br />
mit Angstverarbeitung und Leidbewältigung.”<br />
“Was löst Angst aus?”, fragt der Maler, eigentlich mehr um<br />
seine Betroffenheit zu überspielen.<br />
“Die meisten Formen der Angst werden durch Verhalten<br />
und Erlebnisse konstelliert.”<br />
“Die meisten – was ist mit den anderen?”<br />
“Da gibt es vor allem die mit der Menschwerdung entstandene<br />
Urangst. Sie entwächst der Ungewißheit über unser<br />
Schicksal, über den Sinn unseres Seins. Aber mehr noch als alles<br />
andere ist die Urangst ein Kind der Gewißheit unseres<br />
Todes. Wir können versuchen, die Urangst wegzudiskutieren,<br />
wegzubeten oder wegzupredigen. Aber wie der Tod nicht weicht,<br />
wenn man nicht an ihn denkt, so auch nicht die Urangst.”<br />
‘Tod!’, schreit etwas <strong>im</strong> Maler. ‘TOD!!!’ Er zittert. Und dann<br />
denkt er: ‘Er macht mir Angst, der Tod. Aber habe ich ihn<br />
nicht verdient? Und sollte er mir nicht willkommen sein? Nur<br />
er kann mich erlösen.’ Abrupt wendet er sich dem Physiker<br />
zu: “Was kann man tun gegen Angst?”<br />
“Nicht viel.”<br />
“Was?!!”<br />
“Die Wahrheit suchen und ihr offen ins Gesicht sehen.”<br />
Der Maler erbebt. ‘Das gilt mir!’, denkt er. ‘Hier stehe ich.<br />
Hier fließen die Ströme meiner Individualität zusammen: in<br />
der Schuld und in der Angst!’ – “Was noch kann ich … was<br />
können wir tun?”<br />
“Uns bewußt konfrontieren mit angstauslösenden Vorstellungen<br />
und Wirklichkeiten. Wer solche Konfrontationen aus-
260 ANSICHTEN<br />
halten kann, und mehr noch wer daraus Kraft zu gewinnen<br />
vermag, dem wächst Stärke zu, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.<br />
Der fördert seine Reifung. Der darf hoffen.”<br />
“Hoffen? Worauf??”<br />
“Auf Erkenntnis und Einsicht. Wer aber der Angst ausweicht,<br />
wer sie verkleidet oder verleugnet, der bleibt stehen,<br />
der verharrt, der erstarrt.”<br />
Nun nickt der Maler: “Sie und ich, wir erwandern uns <strong>im</strong>mer<br />
wieder neue Ansichten, neue Einsichten, neue Erlebnisse<br />
und neue Wahrheiten. Nichts hat nur eine Seite. Nicht wer<br />
steht, nur wer geht, sieht die ganze Weite.”<br />
Urgesetz<br />
Die beiden Wanderer setzen ihren Rundgang fort. Nach<br />
einer Weile fragt der Maler: “Sind Sie einer von den Physikern,<br />
die nach der Endgültigen Theorie suchen? Nach dem<br />
Urgesetz?”<br />
“Nein.”<br />
“Ich habe gelesen, daß manche Physiker nach der alle Erscheinungen<br />
umfassenden ‘Theory of Everything’ forschen.<br />
Sämtliche bisherigen Erkenntnisse verbindend, wollen sie bis<br />
in das alles Leblose und alles Lebende beherrschende Endgültige<br />
Gesetz vorstoßen.”<br />
“Das ist intellektueller Hochmut.”<br />
“Warum so harte Worte?”<br />
“Bei all ihren Berechnungen und Überlegungen vergessen<br />
diese klugen Köpfe etwas wohl nicht völlig Unwichtiges: Sich<br />
selbst. Sie selbst sind ein Produkt des gesuchten Urgesetzes.<br />
Und sie selbst sind der Beweis dafür, daß sie das Urgesetz niemals<br />
finden können.”<br />
“Sie selbst … der Beweis? Was ist das für ein Beweis?”<br />
“Alles, was sie mit größten geistigen Anstrengungen und<br />
finanziellen Aufwendungen finden könnten, das ist das ‘Ur-
Urgesetz 261<br />
gesetz’, gesehen aus der beschränkten Sicht von Menschen –<br />
erarbeitet mit menschlichen Sinnen, menschlicher Logik und<br />
mit von Menschen konstruierten Apparaten. Das aber kann<br />
niemals das Urgesetz sein.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Ich bin überzeugt davon, daß die Möglichkeiten aller Erdwesen,<br />
die Welt wahrzunehmen, ein Spiegel der artspezifischen<br />
Rolle sind, die ihnen das Drehbuch der Schöpfung vorschreibt.”<br />
“Mich interessiert jetzt nicht Ihre Überzeugung. Mich interessiert<br />
der Beweis. Wie stichhaltig ist er?”<br />
“Er ist unwiderlegbar.”<br />
“Wie lautet der Beweis?”<br />
“Das Leben, das wir auf der Erde vorfinden.”<br />
“Was beweist es?”<br />
“Dieses bunte, vielartige Leben konnte sich nur mit einer<br />
unüberbrückbaren Beschränkung in der Weltwahrnehmung<br />
entwickeln und erhalten. Denn was wäre wohl geschehen <strong>im</strong><br />
Milliarden von Jahren währenden irdischen Lebensvorgang,<br />
wenn auch nur eine einzige der Millionen in gnadenlosem<br />
Wettbewerb miteinander konkurrierenden Lebensformen sich<br />
über eine solche Beschränkung hätte hinwegsetzen können?<br />
Was wäre geschehen, wenn auch nur eine einzige Lebensform<br />
in der Lage gewesen wäre, die wirkliche Welt, das Gesetz<br />
nach dem sie funktioniert, das Urgesetz, zu erkennen? Das<br />
gesamte, vielfach vernetzte System der in sensiblen gegenseitigen<br />
Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen koevolvierenden<br />
Lebensformen wäre zusammengebrochen!”<br />
Der Maler kneift die Lippen aufeinander. “Rrmm”, knurrt er<br />
und nickt. “Verdammt nochmal, das muß ich schlucken.”<br />
“Im Unvermögen irdischer Lebensformen, das Urgesetz zu<br />
erkennen, sehe ich so etwas wie ein Urgesetz. Das einzige, das<br />
wir zu begreifen <strong>im</strong>stande sind.”<br />
“Aber der Mensch hat sich ein Stück aus dem Naturgeschehen<br />
hinausentwickelt.”
262 ANSICHTEN<br />
“Ja. Der moderne Mensch hat seine ursprüngliche Rolle <strong>im</strong><br />
Schauspiel der Schöpfung erweitert. Aber alle seine vor Millionen<br />
von Jahren entstandenen Organe, Eigenschaften und<br />
Verhaltensmuster sind <strong>im</strong> wesentlichen unverändert geblieben.<br />
Nach wie vor n<strong>im</strong>mt der Mensch die Welt wahr mit den in<br />
seiner ursprünglichen Umwelt gewordenen Sinnesorganen und<br />
<strong>Inter</strong>pretationsmöglichkeiten. Nach wie vor ist er fest <strong>im</strong> Griff<br />
der Natur. Schon das bißchen, das er dem Ursprünglichen<br />
hinzugefügt hat, bringt uns alle an den Rand des Abgrunds.<br />
Zu diesem bißchen gehört auch intellektueller Hochmut.”<br />
“Wenn Ihre Vorstellungen aber falsch wären? Wenn der<br />
Mensch eben doch etwas Besonderes wäre?”<br />
“Sie meinen, wenn ein unbeschränktes Erkennen der Naturgesetze<br />
innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten<br />
läge?”<br />
“Ja.”<br />
“Dann würde eine erfolgreiche Ausschöpfung dieser Möglichkeiten<br />
dazu führen, daß die Theorie von Allem, das Urgesetz,<br />
in den Köpfen und Händen des Wesens läge, das ohne<br />
jeden Zweifel schon jetzt die größte Gefahr darstellt für das<br />
Leben auf unserem Planeten!”<br />
Erschrocken nickt der Maler.<br />
“Das Urgesetz in der Verfügungsgewalt dieses Gefährders<br />
der Schöpfung! Ein Horrorszenario ohne Gleichen, eine<br />
Katastrophe allergrößten Ausmaßes!” Der Physiker dreht den<br />
Oberkörper scharf ab. Er schüttelt sich, als wäre ihm plötzlich<br />
sehr kalt geworden. Energisch schiebt er die Brille hoch: “Da<br />
lassen Sie uns doch lieber zurückkehren zu meinen harmloseren<br />
Ideen und Gedankenspielen.”<br />
Augenpaare<br />
“Sieh da, sieh da, der Freizeit-Jäger!” Der Physiker lächelt<br />
und deutet mit dem kahlen Kopf nach rechts.
Augenpaare 263<br />
“Was meinen Sie?”, fragt der Maler unangenehm berührt.<br />
“Da hat sich ein Bekannter von mir in diesen entlegenen<br />
Teil des <strong>Park</strong>s verirrt.”<br />
“Bitte mich nicht vorst...”, weiter kommt der Maler nicht;<br />
denn der MinRat naht mit raschen Schritten.<br />
“Sie haben mir schlaflose Nächte bereitet!”, ruft er dem<br />
Physiker entgegen. Als er vor ihm steht fügt er hinzu: “Unser<br />
Gespräch am Fluß hat mich nicht mehr losgelassen. Es hat<br />
mich in zunehmendem Maße bewegt. Ich...”<br />
Der Physiker stellt den MinRat vor. Zum Maler deutend<br />
sagt er: “Und das ist...” Da boxt ihm sein kleiner Gefährte<br />
versteckt derart ins Kreuz, daß er zu husten beginnt.<br />
Natürlich weiß der Physiker inzwischen, daß der Maler <strong>im</strong><br />
<strong>Park</strong> nicht gern erkannt werden möchte, aber irgendetwas<br />
muß er doch sagen. So beginnt er erneut: “Das ist ...”, wieder<br />
boxt der Maler. Da legt er dem beruhigend die Hand auf den<br />
Arm und sagt – zwischen Husten und unterdrücktem Lachen<br />
– “das ist … auch … ein … <strong>Park</strong> … anbeter.”<br />
Der Maler grinst. Vergnügt zupft er herum am weißen Seidenschal.<br />
Der MinRat macht eine knappe Verbeugung. Ihn bewegen<br />
ganz andere Dinge. Zum Physiker sagt er: “Sie haben mich in<br />
einen harten Gewissenskonflikt gestürzt.”<br />
“Tut mir leid … Ich …” Noch <strong>im</strong>mer ringt der Physiker mit<br />
dem Husten.<br />
“Wie meinen?”<br />
“Ich … hatte gute Absichten.” Der Physiker ist jetzt ganz<br />
ernst geworden. “Haben Sie das Angeln und Schießen inzwischen<br />
aufgeben können?”<br />
Die Lippen des MinRats spreizen und spitzen sich, signalisieren<br />
Anspannung und einen Anflug von Ärger. Er leidet<br />
unter Entzugserscheinungen und Entscheidungsqualen. Der<br />
Kampf seines Verstandes gegen uraltes, durch die Zeit geheiligtes<br />
Verhalten ist schwieriger, als er erwartet hatte. Der Min-<br />
Rat ist ein aufrechter Mann. Er will seinen Konflikt erhobenen
264 ANSICHTEN<br />
Hauptes austragen. Kerzengerade will er da durch. Stundenlang<br />
hatte er nach dem Physiker gesucht. Überall. Er<br />
wünscht eine Vertiefung des Gesprächsthemas. Als er den Physiker<br />
nirgends finden konnte, war er bis zum See gegangen, bis<br />
in dessen entlegenste Uferpartien. Eine erneute Begegnung ist<br />
ihm sehr wichtig. Aber nun stört ihn der Begleiter.<br />
“Zunächst einmal unterbrochen”, antwortet er schließlich.<br />
“Gut”, lächelt der Physiker, “sehr gut.”<br />
Der MinRat findet keinen Gefallen am Gespräch zu dritt.<br />
Mißmutig wendet er sich dem modisch gekleideten kleinen<br />
Mann zu. Sekundenlang stehen sich die beiden gegenüber in<br />
einem stummen Gefecht funkelnder, einander taxierender<br />
Augenpaare. Dem MinRat gefällt der Begleiter des Physikers<br />
nicht – nicht dessen aufgedonnerte Erscheinung und nicht<br />
das, was er da sieht in den Augen unter der gefurchten Stirn.<br />
Seine Geradlinigkeit und seine Korrektheit verleihen ihm<br />
einen unbestechlichen Blick. In den Augen des anderen sieht<br />
er Dunkelheit, Zwielichtigkeit und Triebhaftigkeit.<br />
Noch <strong>im</strong>mer sind die funkelnen Augenpaare fest ineinander<br />
verkeilt. Fenster vor zwei Welten.<br />
Ohne sich große Mühe zu geben, seinen Unmut und seine<br />
Geringschätzung zu verbergen, sagt der MinRat plötzlich –<br />
noch <strong>im</strong>mer ganz <strong>im</strong> Auge des anderen: “Wissen Sie eigentlich,<br />
daß Sie dem berühmten Maler sehr ähnlich sehen, der vor<br />
kurzem in unsere Stadt gezogen ist? Sehr ähnlich sogar.”<br />
Da zuckt der Zwerg zusammen und wendet den Blick ab.<br />
Doch dann reitet ihn der Teufel. Erneut sucht er die Augen<br />
des anderen: “Was Sie nicht sagen. Da muß der ja sehr häßlich<br />
sein!”<br />
Weit davon entfernt, das spaßig zu finden, knickt der Min-<br />
Rat ein zu einer knappen, steifen Verbeugung. “Ich hoffe”,<br />
sagt er zum Physiker, “daß wir uns recht bald wiedersehen!”<br />
Sich dessen Begleiter zuwendend, nickt er kühl: “Herr Anbeter!”<br />
Dann geht er seines Weges.<br />
Über diese Anrede aufs höchste belustigt, eilt der Maler, mit
Mühe lautes Lachen unterdrückend, hinter einen Busch. Dort<br />
steht er nun, etwas nach vorn geneigt, mit verschmitzt blitzenden<br />
Augen und schulterhüpfend stummem Lachen.<br />
Ich-Weltbild<br />
Ich-Weltbild 265<br />
“Was sagen Sie zu dem Weltbild, das die Menschen sich<br />
gemalt haben?”<br />
“Es ist morsch. Und es ist schief.”<br />
“Das sehe ich anders. Ganz anders!” Ärgerlich wirft der Maler<br />
mit der Linken das baumelnde Ende seines Seidenschals<br />
über die Schulter.<br />
“Unser Weltbild ist zurückgeblieben hinter dem heute von<br />
Menschen Erkennbaren, und zwar in gefahrbringendem Ausmaß.<br />
Ein neues Weltbild muß her! Ein neuer Mensch und ein<br />
neuer Gott!”<br />
“Du liebe Güte!”, höhnt der Maler, “ist das nicht ein bißchen<br />
viel auf einmal? Was wollen Sie? Die Welt aus den Angeln heben?”<br />
“Verständnis wecken für die Notwendigkeit einer globalen<br />
Neuorientierung. Dogmen und Normen entlarven, die nicht<br />
mehr in unsere Zeit passen. Die Ausformung eines neuen<br />
Wertesystems anregen.”<br />
“Wir sind nicht schlecht gefahren mit unseren bisherigen<br />
Vorstellungen. Wir ...”<br />
“Wir stehen vor dem Abgrund.”<br />
“Wir haben unser Weltbild vervollkommnet!”<br />
“Unser Weltbild steht auf einem Fundament, das uns heute<br />
nicht mehr trägt. Mit dem darauf Wachsenden marschieren<br />
wir schnurstracks in die Katastrophe.”<br />
“Ach, ja? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!” Zornig knallt<br />
der Maler den Spazierstock neben sich auf die weiße Bank des<br />
alten Anlegers. Protestierend hebt er beide Hände.<br />
“Es ist mein Ernst.”
266 ANSICHTEN<br />
“Ihre Forderungen gehen mir zu weit! Ungezählte Menschen,<br />
darunter unsere besten, haben über Jahrhunderte gerungen<br />
mit sich und anderen, um die Vorstellungen zu erarbeiten,<br />
die wir heute von uns und der Welt haben. Da kann<br />
doch nicht ein einzelner kommen, mag er noch so gescheit<br />
sein, und erklären, das sei alles morsch und schief!”<br />
“Bitte geben Sie mir Gelegenheit, meine Ansicht zu<br />
begründen.”<br />
“Wenn Sie darauf beharren.”<br />
“Bei all seinen Bemühungen, das Weltgeschehen zu begreifen,<br />
sieht sich der Mensch <strong>im</strong> Mittelpunkt.”<br />
“Freilich! Was ist so falsch daran?”<br />
“Die Einseitigkeit. Unser Weltbild ist ein Ich-Weltbild. Dieses<br />
Ich-Weltbild müssen wir erweitern, jedenfalls soweit uns<br />
das möglich ist.”<br />
“Halt!”, ruft der Maler und hebt erneut beide Hände. “Als<br />
Künstler muß ich schon hier aufs Heftigste protestieren. Alles,<br />
was ich male, alles was ich fühle, alles was ich denke, ist<br />
Ausdruck meines Ichs, meiner ganz persönlichen Art, die Welt<br />
zu erleben. Mag das, was ich male, gut sein oder schlecht, es ist<br />
mein Werk, das Werk eines Ichs. Und das ist nicht anders bei<br />
der schöpferischen Leistung, die andere Menschen erbringen.<br />
Im Ich und in den Verschiedenheiten zwischen den Ichs, da<br />
liegt der ganze Reichtum unserer Kultur. Ohne die Farbenpracht<br />
individueller Beiträge wären Kunst und Philosophie<br />
grau. Ja, sie wären gar nicht denkbar. Die Lebenserfahrung<br />
verschiedener Individuen, das Miteinander und Gegeneinander<br />
ihrer Empfindungen, ihres Denkens, Wissens und Wirkens,<br />
das macht unsere Welt aus. Es waren alles Ichs, wenige<br />
genug, die unsere Kultur geprägt haben. Geniale Einmaligkeiten!<br />
Und noch eins: der Begriff Weltbild bedeutet für viele<br />
Menschen ganz bewußt ihr persönliches Weltbild, ihre<br />
individuelle Art, die Welt zu sehen und zu erleben. Das hat<br />
Ihnen die Rumänin in Paris doch sehr überzeugend erläutert<br />
und vorgelebt.”
Ich-Weltbild 267<br />
“Das ist alles völlig richtig. Ich muß mein Anliegen deutlicher<br />
machen. Es geht mir nicht darum, den Wert der Ich-<br />
Perspektive in Frage zu stellen. Wir empfinden und denken<br />
als Individuen.”<br />
“Eben!”<br />
“Aber diese Tatsache bildet für ein modernes Weltverständnis<br />
nur einen Pfeiler.”<br />
“Den Pfeiler!”<br />
“Den wackeligsten Pfeiler.”<br />
“Das sagen Sie!” Im Maler wächst Ärger: ‘Dieser Physiker-<br />
Biologen-Philosoph! Alles stellt der auf den Kopf! Alles mißt<br />
der am eigenen Maß! Wo bleibt da die Stütze, die ich mir von<br />
den Einsichten dieses Mannes erhofft hatte? Ich suche einen<br />
Halt. Eine Bestätigung meines Glaubens. Eine Verklärung<br />
meiner Schuld! Da muß doch mehr drin sein <strong>im</strong> Hirn dieses<br />
Kahlkopfs!!’ Mit bebender Hand wischt er Schweiß von der<br />
Stirn. “Was wollen Sie eigentlich?”, ruft er. “Worum geht es<br />
Ihnen?”<br />
“Um erkenntnistheoretische Probleme.”<br />
“Ach, ja?”<br />
“Unser Weltbild basiert auf den gleichen Prinzipien der<br />
Welterfahrung, die auch anderen Lebensformen eigen sind.<br />
Diese Prinzipien zielen darauf ab, einer Lebensform, gleich<br />
welcher Art, <strong>im</strong>mer nur solche Informationen zugängig zu<br />
machen, die für deren Einordnung in ihre ökologische Nische<br />
erforderlich sind.”<br />
“Die Evolution schafft Neues!”<br />
“Was außerhalb der ökologischen Nische einer Art liegt, hat<br />
für deren Evolution keine unmittelbare Bedeutung.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Ein Maulwurf lebt <strong>im</strong> Erdreich. Nur hier kann er Informationen<br />
gewinnen und auswerten. Für ihn ist die Welt etwas<br />
anderes als für einen Vogel. Eine Kreuzspinne kann <strong>im</strong>mer<br />
nur Informationen und Anregungen gewinnen, die für ihr<br />
Leben als Fallenstellerin Bedeutung haben. Entsprechendes
268 ANSICHTEN<br />
gilt für einen Bandwurm, eine Ameise, einen Fisch und<br />
natürlich auch für einen Menschen. Je nach der Rolle, die eine<br />
Lebensform nach dem Drehbuch der Schöpfung auf der Bühne<br />
des Lebens spielt, sind die Regieanweisungen verschieden.<br />
Und je nach deren Verschiedenheiten wird ein verschiedener<br />
Aspekt der Welt zugänglich. Das Resultat ist <strong>im</strong>mer ein<br />
spezieller und ein beschränkter Einblick in die Welt – ein für<br />
die betroffene Lebensform maßgeschneiderter Ausschnitt, der<br />
von seiner Qualität und Quantität her nicht geeignet sein<br />
kann, an das heranzukommen, was die Welt wirklich ist.”<br />
“Das kann ich in unserem Gesprächszusammenhang nicht<br />
als Argument akzeptieren.”<br />
“Ich will versuchen, meine Sicht der Sache klarer herauszuarbeiten.<br />
Eine Vielfalt koexistierender Lebensformen kann<br />
sich nur dann herausbilden und erhalten, wenn jede einzelne<br />
Lebensform etwas Einmaliges ist. Daher spielt jedes Lebewesen<br />
<strong>im</strong> Theater des Lebendigen seine eigene, unverwechselbare<br />
Rolle. Und es muß diese Rolle einhalten. Nur so kann<br />
das Ganze funktionieren. Jede Lebensform ist ein Unikat mit<br />
speziellen Strukturen und Funktionen, und daher auch mit<br />
speziellen Fähigkeiten, ihr gemäße Auschnitte aus der Welt<br />
wahrzunehmen und auszuwerten.”<br />
“Was bedeutet das für den Menschen?”<br />
“Daß wir an unsere Strukturen und Funktionen gebunden<br />
sind. Daß wir nur auf dem Hintern sitzen können, nicht auf<br />
der Brust. Daß wir eine Faust nur zur Handfläche hin machen<br />
können, nicht aber zum Handrücken hin. Daß wir den größten<br />
Teil des Lichtspektrums nicht sehen, einen großen Teil der<br />
Töne nicht hören können. Daß wir viele Gedanken nicht denken<br />
und viele Vorstellungen nicht haben können.”<br />
Unwillig wiegt der Maler den Kopf.<br />
“Wie ich bereits angedeutet habe, erkenne ich in den Verschiedenartigkeiten<br />
irdischer Gestalten und in den entsprechenden<br />
Beschränkungen ihrer Möglichkeiten, Informationen<br />
zu gewinnen und auszuwerten, ein Naturgesetz. Ich nenne es
Ich-Weltbild 269<br />
das Restriktionsgesetz.”<br />
“Und was bedeutet dieses Gesetz für unseren Gesprächszusammenhang?”<br />
“Für unser Gespräch ist der entscheidende Punkt dieser:<br />
Die moderne Menschheit hat ihr naturgewolltes ökologisches<br />
Artpotential erweitert und damit das Restriktionsgesetz gefahrbringend<br />
strapaziert. Nun muß sie auch ihr Weltverständnis<br />
um ein entsprechendes Stück erweitern und so einen<br />
erneuten Ausgleich herstellen. Sonst kommt sie ins Schleudern.<br />
Sonst verstößt sie in kritischem Ausmaß gegen den Harmoniebedarf<br />
des Systems. Das würde für sie <strong>im</strong> Tod enden.”<br />
“Tod”, ruft der Maler, “Tod! Was heißt das schon? Der Preis<br />
allen Lebens ist der Tod. Leben ist <strong>im</strong>mer tödlich! Was lebt,<br />
das stirbt!”<br />
“Längerfristig jedenfalls”, lächelt der Physiker, aber er läßt<br />
sich nicht abbringen von seinen Gedanken. “Das systemgefährdend<br />
gewachsene ökologische Potential der modernen<br />
Menschheit und ein stehengebliebenes Ich-Weltbild, das paßt<br />
nicht zusammen. Unser Weltverständnis muß mitwachsen<br />
und damit unsere Möglichkeiten zur Wiedereingliederung in<br />
das Theaterspiel der ausreifenden Schöpfung.”<br />
“Weltverständnis … was ist Ihrer Ansicht nach die<br />
wichtigste Voraussetzung für ein neues Weltverständnis?”<br />
“Ein neues Selbstverständnis.”<br />
“Rrmm!” knurrt der Maler. Aber schon ist er wieder ganz<br />
Neugier. ‘Ich will wissen, ganz genau wissen, was der weiß.<br />
Tief da drinnen in dessen Hirn muß es ein Gehe<strong>im</strong>nis geben.<br />
Woher sonst gewinnt der seine Selbstsicherheit, seine Unbeirrbarkeit,<br />
seine Souveränität?’ Gespielt entspannt sagt er:<br />
“Ich beginne zu ahnen, wohin die Reise geht.”<br />
“In den letzten Jahrzehnten haben sich unsere Einwirkungsmöglichkeiten<br />
auf die Natur vervielfacht. Gleichzeitig haben<br />
sich unsere Möglichkeiten, Informationen zu gewinnen und<br />
auszuwerten, erweitert. Wissenschaftler und Technologen<br />
haben neue, künstliche Sinnes- und <strong>Inter</strong>pretationsorgane
270 ANSICHTEN<br />
entwickelt und auf diese Weise unsere Erkenntnismöglichkeiten<br />
vergrößert, deutlich über den uns ursprünglich von der<br />
Natur gesetzten Rahmen hinaus. Aus diesem Zugewinn an<br />
Einwirkungs- und Informationsmöglichkeiten ergibt sich die<br />
Notwendigkeit, ein diese Entwicklungen berücksichtigendes<br />
neues Weltverständnis zu erarbeiten.”<br />
“Freilich!”, ruft der Maler, “jetzt kann ich Ihnen folgen. Hier<br />
liegt ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit!”<br />
“So ist es.”<br />
“Aber ich bin der Meinung, daß unser Denken und Planen<br />
das auch berücksichtigt.”<br />
“Nicht in ausreichendem Maße. Auch heute noch sehen sich<br />
die meisten Menschen als Mittelpunkt der Welt: Ich-Welt, Ich-<br />
Leben, Ich-Kunst, Ich-Gott. Im Prinzip ist das wohl nicht<br />
anders als bei den Tieren. Auch ein Hund, ein Igel, ein Hecht<br />
erlebt sich wahrscheinlich als Mittelpunkt der Welt, als Zentrum<br />
des Geschehens. Tatsächlich aber ist kein Individuum<br />
und keine Art Mittelpunkt. Sie alle sind Teil, Teil der Welt,<br />
Teil der Schöpfung. Aber unsere Philosophie ...”<br />
“Was ist Philosophie für Sie?”<br />
“<strong>Suchen</strong> nach Erkenntnis von innen heraus, vom Kern des<br />
<strong>Suchen</strong>den her.”<br />
“Wo liegt die Stärke, wo die Schwäche?”<br />
“Die Stärke liegt <strong>im</strong> vom strengen Zwang wissenschaftlicher<br />
Methodik befreiten In-Sich-Hinein-Gehen, die Schwäche <strong>im</strong><br />
unzureichenden Messen des innen Gefundenen an der äußeren<br />
Realität.”<br />
“Dann liefert die Naturwissenschaft dauerhaftere Ergebnisse?”<br />
“Sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Philosophie<br />
überdauern Fragen eher als Antworten.”<br />
“Und was folgern Sie aus all dem?”<br />
Der Physiker legt beide Handflächen zusammen und führt<br />
sie so vor den Mund, daß die Zeigefingerspitzen seine Nase<br />
berühren. Die Daumen stützen sein eckiges Kinn. So verharrt
Ich-Weltbild 271<br />
er eine Weile. Schließlich sagt er: “Daraus folgere ich, daß wir<br />
unsere Vorstellung von der Welt ändern müssen. Ebenso wie<br />
wir sie ändern mußten, als wir erkannten, daß die Erde keine<br />
Scheibe ist, sondern ein kugelförmiges Gebilde, daß die Erde<br />
um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, daß die Erde nicht<br />
der Mittelpunkt der Welt ist, sondern ein kleiner Planet in<br />
einer aus Milliarden von H<strong>im</strong>melskörpern bestehenden Spiralgalaxie.<br />
Und daß es von solchen Galaxien Millionen über<br />
Millionen gibt.”<br />
Der Maler saugt Luft tief in sich hinein, hält sie mit geblähten<br />
Wangen zurück. Erstaunlich lange. Und nun läßt er sie<br />
zischend wieder entweichen.<br />
“Bitte denken Sie einen Augenblick darüber nach. Und dann<br />
werfen Sie mal einen Blick auf die Weltliteratur, auf das, was<br />
die Menschheit bisher über sich und die Welt zu Papier<br />
gebracht hat: Überall Ich-Welt-Denken! In westlichen Kulturkreisen<br />
dominiert nach wie vor die religiöse Überzeugung, daß<br />
das ganze Welttheater wegen der Menschen veranstaltet wird.<br />
Das Zentraldogma der christlichen Religion ist die Menschwerdung<br />
Gottes. Welch unfaßbare Selbstüberschätzung!”<br />
“Ist Gott nicht in allem?”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Warum dann nicht <strong>im</strong> Menschen?”<br />
“So ist das von den Religionsführern nicht gemeint.”<br />
“Ach ja?”<br />
“Glauben Sie allen Ernstes, daß die jemals von der Hundwerdung<br />
Gottes sprechen würden? Oder von dessen Mauswerdung?<br />
Oder Graswerdung? Nein, nein! Hier manifestiert<br />
sich die Vorstellung von Gott als einem Übermenschen, der<br />
von seiner Höhe herniederschwebt und sich vorübergehend<br />
und ganz wörtlich in einen Menschen verwandelt. Hier stoßen<br />
wir auf den kindlichen Kern der Choreographie christlicher<br />
Gedankentänze.”<br />
“Rrmm!”<br />
“Die Menschen sagen ‘Leben’ und meinen ihr Leben. Sie sa-
272 ANSICHTEN<br />
gen ‘Umwelt’ und meinen ihre Umwelt. Sie sagen ‘Leben nach<br />
dem Tod’ und meinen ihr eigenes Weiterleben nach dem Tod.<br />
Sie sagen ‘Gott’ und meinen ein ihnen ähnliches Wesen, das<br />
zuständig ist für ihr ganz persönliches Wohlergehen – ein<br />
Wesen, mit dem sie ganz persönlich kommunizieren können.”<br />
Ernergisch schüttelt der Physiker den kahlen Schädel. “Das<br />
ist wirklich unglaublich. Rings um uns herum anthropozentrisches<br />
und geozentrisches Gedankengut!”<br />
“Was müßte sich denn Ihrer Ansicht nach ändern?”<br />
“Wir müssen erkennen, daß derartiges Denken aus heutiger<br />
Sicht und aus heutigen Notwendigkeiten auf falsch verlegten<br />
Schienen daherkommt. Diese Schienen müssen wir verlassen,<br />
wenn wir weiter vordringen wollen in das, was die Welt<br />
wirklich ist. Wenn wir die Kräfte realistischer einschätzen<br />
wollen, welche die Welt hervorgebracht haben und steuern.<br />
Wenn wir unsere <strong>im</strong>mer zahlreicher werdenden und <strong>im</strong>mer<br />
schwererwiegenden Probleme lösen oder doch klarer<br />
erkennen wollen. Wenn wir versuchen wollen, unsere Zukunft<br />
zu planen und zu gestalten.”<br />
“Tiere können auch ohne solche Verrenkungen ihre Zukunft<br />
planen und gestalten. Denken Sie an ein Eichhörnchen, das<br />
sich einen Nahrungsvorrat für den Winter anlegt.”<br />
“Das ist ein Beispiel für eine naturgewollte und daher<br />
angeborene Eigenschaft. Zukunftgestalten auf Grund<br />
individuell gewonnener und gewerteter Erfahrung ist in der<br />
Natur nicht vorgesehen. Die Gestaltung der Zukunft ist die<br />
ureigenste Domäne der Schöpfung selbst.”<br />
“Warum fokussiert die Schöpfung das Verhalten ihrer Kreaturen<br />
so stark auf die Gegenwart?”<br />
“Ich vermute hier ein Programm.”<br />
“Programm? Das macht doch keinen Sinn.”<br />
“Für mich schon. Wer bei seinen Kreaturen das<br />
unmittelbare Wohlergehen in den Vordergrund stellt, behält<br />
die Fäden in der Hand.”<br />
“Was ergibt sich daraus für die Menschen?”
“Nur wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, haben wir<br />
die Chance, unserer Kurzsichtigkeit eine Brille zu verpassen.”<br />
‘Dieser Mann’, denkt der Maler, ‘der durchtränkt alles in<br />
einem Ausmaß mit Rationalität, das mir fremd ist. Aber der<br />
produziert auch Gedanken, die mich anregen, aufregen,<br />
erregen. Der fordert, fesselt und fasziniert mich. Und der reizt<br />
mich zum Widerspruch. Ein belebendes, ein st<strong>im</strong>ulierendes<br />
Wechselbad!’ Gedehnt sagt er: “Das habe ich bisher nicht so<br />
gesehen. Aber”, gibt er zu bedenken, “letztlich bewirkt die<br />
Evolution doch selber eine Entwicklung zum Besseren.”<br />
“Nein. In der Evolution gibt es weder Gutes noch Besseres.<br />
Da gibt es einen Trend zur Ausschöpfung max<strong>im</strong>almöglicher<br />
Diversifikation von Formen und Funktionen, und da gibt es<br />
den alles beherrschenden Ausreifungszwang. – Also noch einmal”,<br />
beharrt der Physiker nach kurzem Schweigen: “Das<br />
Fundament unseres Weltbildes ist morsch, und es ist schief.<br />
Mit unserem alten Werkzeug können wir da nichts reparieren.”<br />
Ich<br />
Ich 273<br />
“Was eigentlich bedeuten die Begriffe ‘Ich’ und ‘Individuum’<br />
für Sie?” fragt der Maler.<br />
“Schwer durchschaubar.”<br />
“Sie sehen wirklich überall Probleme.”<br />
“Nun gut. So gebe ich die Frage an Sie zurück.”<br />
Der Maler denkt nach. Dann sagt er: “‘Ich’, das ist etwas<br />
Einheitliches, etwas von anderem Separiertes, etwas in sich<br />
Beständiges. Es ist die Quelle des Denkens und Wollens, ein<br />
unteilbares Subjekt, das Zentrum des Bewußtseins.”<br />
“Und Individuum?”<br />
“Das Individuum ist eine in sich kontinuierliche, unteilbare,<br />
abgegrenzte Lebenseinheit.”<br />
“Objektiv ist beides unzutreffend. ‘Ich’ und ‘Individuum’, so<br />
wie Sie diese Begriffe definiert haben, existieren nur in der
274 ANSICHTEN<br />
menschlichen Vorstellungswelt.”<br />
“Reicht das nicht?”<br />
“Nicht für den, der hinter die Kulissen kucken will. ‘Ich’ und<br />
‘Individuum’ sind untrennbare Teile größerer Zusammenhänge.<br />
Beide stehen in vielfacher, ununterbrechbarer Wechselwirkung<br />
und in vielschichtigem Zwangsaustausch mit dem<br />
Außen. So wenig ein Fluß etwas Einheitliches, von seiner Umgebung<br />
Separierbares, in sich Beständiges ist, so wenig ist das<br />
ein Ich oder ein Individuum. Und wie ein Fluß an einer best<strong>im</strong>mten<br />
Stelle das Resultat dessen ist, was sich flußaufwärts<br />
ereignet hat, so stehen auch Ich und Individuum <strong>im</strong><br />
Strom der Geschichte.”<br />
“Zum Teufel!! Sie bringen alles durcheinander!”<br />
“Lassen Sie uns das mal durchdenken. Gibt es wirklich ein<br />
einheitliches, abgegrenztes Kontinuum von Eigenschaften eines<br />
Ichs oder eines Individuums? Was eigentlich bleibt über<br />
ein ganzes Menschenleben an Separiertem erhalten? Was ändert<br />
sich, was kommt hinzu, was geht verloren? Bin ich Ich als<br />
Baby?, als Vierzehnjähriger?, Fünfzigjähriger?, Siebzigjähriger?<br />
Was wußte ich denn als Neugeborener? Mein Hirn<br />
war fast so leer wie das eines Hirntoten. Holen wir etwas<br />
weiter aus. Denken Sie mal an eine Libelle. Deren Larve<br />
kriecht, schw<strong>im</strong>mt und jagt <strong>im</strong> Wasser, das erwachsene<br />
Individuum aber fliegt, jagt und paart sich <strong>im</strong> Luftraum. Hier<br />
lebt ein- und dasselbe Individuum nacheinander in zwei<br />
gänzlich verschiedenen Welten, mit gänzlich verschiedenen<br />
Verhaltens- und Perzeptionsprogrammen und mit gänzlich<br />
verschiedenen Organen.”<br />
“Und was folgern Sie daraus?”<br />
“Ich und Individuum sind changierende Größen – variabler<br />
und undurchsichtiger als gemeinhin angenommen.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf.<br />
“Und haben Sie schon mal darüber nachgedacht, daß zu jedem<br />
menschlichen Individuum Millionen anderer Organismen<br />
gehören?”
Ich 275<br />
“Ach, ja?” ruft der Maler amüsiert. “Was soll denn das nun<br />
wieder heißen!”<br />
“Daß jeder Mensch eine Vielfalt fremder Lebensformen mit<br />
sich herumträgt: Viren, Bakterien, Pilze, Protophyten, Protozoen,<br />
Metazoen. Sie sind bei uns zu Hause. Sie leben in Mund,<br />
Magen, Darm, Geschlechtsorganen – praktisch überall. Viele<br />
von ihnen sind auf ein Leben in oder auf uns angewiesen. Für<br />
sie sind wir lebensnotwendige Umwelt. Und für uns sind manche<br />
von ihnen lebensnotwendige Partner. Ohne sie werden wir<br />
krank oder müssen sterben. Bedenken Sie: Jedes menschliche<br />
Individuum ist eine Komposition aus unzähligen verschiedenen<br />
Zellen, eigenen und fremden. Ein Mikro-Ökosystem!”<br />
Der Physiker sieht den Maler an, Aug in Aug. “Und wieviele<br />
Ichs existieren denn in ein und demselben Individuum?<br />
Da gibt es Menschen mit drei, vier oder mehr Ichs. Je nach<br />
St<strong>im</strong>mung, je nach physiologischer Verfassung, je nachdem,<br />
welcher Trieb gerade seinen Tanz aufführt, kann ein ganz anderes<br />
Ich das Individuum repräsentieren.”<br />
Gequält blickt der Maler zu Boden. Es ist ihm, als wüßte der<br />
Physiker um seine Probleme – um seine schöpferische Krise,<br />
um das Bild des Engels, um seine Schuld. Irritiert fährt er<br />
sich über die Stirn, aus der jetzt wieder Schweiß quillt. Nach<br />
kurzem Schweigen sagt er leise: “W … wie … wie soll ich …<br />
wie sollen wir denn da zurechtkommen? Wie sollen wir unser<br />
Leben gestalten? Ohne den Begriff ‘Ich’? … Da kommen wir<br />
doch nicht zurecht.”<br />
“Unser Leben gestalten ist eine Sache, die Dinge gedanklich<br />
zu durchdringen eine andere. Sie haben recht: Wir brauchen<br />
die Begriffe ‘Ich’ und ‘Individuum’ in unserem täglichen Leben,<br />
so wie wir sie <strong>im</strong>mer gebraucht haben. Aber es muß doch<br />
erlaubt sein, darüber nachzudenken, was hinter diesen Begriffen<br />
steckt.”<br />
Der Physiker scheint die inneren Qualen des Gefährten<br />
nicht wahrzunehmen. “Und wo residiert denn unser Ich? Nicht<br />
alle Teile unseres Körpers haben die gleiche Bedeutung für
276 ANSICHTEN<br />
das, was wir jeweils als Ich bezeichnen. Wenn ich mir be<strong>im</strong><br />
Handwerken einen Finger absäge, so bin ich noch <strong>im</strong>mer uneingeschränkt<br />
ich. Wenn mir dabei aber ein Stein auf den<br />
Kopf fällt und ich dadurch einen schweren Gehirnschaden erleide,<br />
durch den alle Erinnerungen ausgelöscht werden,<br />
meine Eigenarten entschwinden oder sich grundlegend<br />
ändern, bin ich dann noch ich?”<br />
“Dann steckt das Ich <strong>im</strong> Kopf?”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Das ist mir zu wenig. Zu meinem Ich gehört doch auch<br />
mein Gesicht, meine Figur, mein Gang.”<br />
“Wenn Sie durch starke Verbrennungen Ihr Gesicht verlieren,<br />
durch Verletzungen die Eigenarten Ihrer Figur oder Ihre<br />
Art zu gehen, so bleibt die Essenz Ihrer Individualität<br />
dennoch erhalten. Niemand würde dann ernsthaft den Fortbestand<br />
Ihrer Identität in Zweifel ziehen.”<br />
“Aber …”<br />
“Machen wir mal ein Gedankenexper<strong>im</strong>ent, ein grausames,<br />
aber eben nur mit der Absicht, uns mehr Klarheit zu verschaffen.<br />
Nehmen wir an, wir haben einen gemeinsamen Freund,<br />
Jürgen. Er wird schwer krank. Aber die großartige Kunst der<br />
Ärzte kann ihn <strong>im</strong>mer wieder am Leben erhalten. Jürgen<br />
verliert Arme und Beine, Augen, Ohren und Nase. Durch Apparate<br />
wird das, was von ihm übrig geblieben ist, versorgt.<br />
Über Elektronik kann es sehen und hören und mit uns<br />
kommunizieren. Erinnerung, Denkfähigkeit und Mitteilungsvermögen<br />
sind unverändert vorhanden und funktionsfähig.<br />
Wir besuchen ihn in der Klinik, ‘unterhalten’ uns mit ihm.<br />
Schließlich bleibt nur sein nacktes Hirn übrig. Es steckt in<br />
einer Art Aquarium mit lebenserhaltenden Flüssigkeiten. Es<br />
wird versorgt durch Schläuche, Pumpen, Filter. Es kann<br />
kommunizieren durch elektronische Einrichtungen. Das<br />
Wesentliche seiner geistigen Individualität ist nach wie vor<br />
erhalten. Wir können Erinnerungen austauschen, über die<br />
neuesten Nachrichten diskutieren und auch darüber, was
jetzt mit seiner Individualität geschehen soll. Jürgen kann<br />
neue Eindrükke aufnehmen und verarbeiten. Er kann ...”<br />
“Au…aufhören!” ruft der Maler. “H … hören Sie sofort auf!<br />
Das ist ja entsetzlich!!”<br />
“Schon gut. Diese Überlegungen – wie auch zahlreiche medizinische<br />
Erfahrungen mit Hirnverletzten – deuten darauf<br />
hin, daß die Essenz dessen, was wir jeweils als Ich empfinden,<br />
<strong>im</strong> Hirn sitzt. Dort wird Erlerntes gespeichert, Erfahrungen,<br />
Erinnerungen. Dort wohnen die Eigenarten <strong>im</strong> Denken, Empfinden<br />
und Fühlen.”<br />
“Dann sind Gehirn und Ich identisch?”<br />
“Was wir jeweils als Ich erleben, das ist die Summe dessen,<br />
was <strong>im</strong> Gehirn gespeichert ist und dort genutzt wird. Letztlich<br />
wird das gewachsene Ich vermutlich durch die Art der Vernetzung<br />
der Hirnzellen best<strong>im</strong>mt. Mal abgesehen von praktischen<br />
Schwierigkeiten, könnte ich mir vorstellen, daß ein Gehirn<br />
oder ein Teil davon ebenso von einem Menschen zum andern<br />
verpflanzbar ist wie ein Herz, eine Leber oder eine Niere.”<br />
“Aber ein Teil der Gehirneigenschaften ist doch erblich<br />
festgelegt.”<br />
“Das trifft auch für Herz, Leber und Niere zu. Ich wollte<br />
nahelegen, daß das, was wir gemeinhin als Ich bezeichnen,<br />
vor allem in der empfindlichen und rasch vergänglichen Software<br />
des Gehirns residiert.”<br />
“Für mich ist das Ich mehr. Für mich strahlt das Ich auch<br />
nach außen.”<br />
Der Physiker nickt. “Erst <strong>im</strong> Du kann das Ich reifen, erst <strong>im</strong><br />
Teilnehmen am Nächsten, <strong>im</strong> Achten der Kreatur.”<br />
Mensch<br />
Mensch 277<br />
Die Beine sind müde geworden. Maler und Physiker setzen<br />
sich auf eine ‘ihrer’ Bänke am See. Erst nach geraumer Zeit<br />
erwacht der Maler aus seinen Gedanken. Er räuspert sich.
278 ANSICHTEN<br />
N<strong>im</strong>mt die Lippen nach innen. Dann sieht er seinen Gefährten<br />
an und fragt: “Wie eigentlich sehen Sie den Menschen …<br />
ich meine, aus naturwissenschaftlich-historischer Sicht?”<br />
“Naturwissenschaftlich-historisch gibt es den Menschen<br />
nicht. Die übliche Vorstellung von einer einzigen Menschenart<br />
ist falsch. Es hat nachweislich mehrere Menschenarten gegeben,<br />
fast so verschieden voneinander wie Schaf und Ziege.<br />
Übrig geblieben, jedenfalls bis auf den heutigen Tag, ist nur<br />
die Art, zu der wir gehören: Homo sapiens, der wissende<br />
Mensch – eine besonders neugierige und aggressive Art.”<br />
“Sie sehen uns zu negativ!”<br />
“Eine Art, die <strong>im</strong> Hinblick auf ihre Verbreitung und Einflußentfaltung<br />
außerordentlich erfolgreich ist. Eine Art, die in<br />
ihrer Ausprägung sehr variabel und in ihren Lebensansprüchen<br />
erstaunlich anpassungsfähig ist. Eine Art aber<br />
auch, deren explodierende Veränderungs- und Vernichtungsmacht<br />
in den letzten Jahrzehnten wie eine Naturkatastrophe<br />
über die Erde gekommen ist.”<br />
“Wo kommen sie her, die Menschen?”<br />
“Aus einem Teil der Erde, den wir heute Afrika nennen.”<br />
“Afrika? Gibt es Beweise?”<br />
“Ja.”<br />
“Was sind das für Beweise?”<br />
“Skelettfunde.”<br />
“Wann sind die ersten Menschen entstanden?”<br />
“Vor zwei bis vier Millionen Jahren.”<br />
“Wie ging das vor sich?”<br />
“Die Menschen entwickelten sich aus Vorfahren, die wir als<br />
Tiere bezeichnen. Innerhalb der Familie der Menschenartigen,<br />
der Hominiden, evolvierte die Gattung Homo, was zu<br />
deutsch Mensch bedeutet. Zu dieser Gattung gehören<br />
mehrere Arten.”<br />
“Wieviele?”<br />
“Das ist noch <strong>im</strong>mer Gegenstand der Forschung.”<br />
“Was ist wissenschaflich gesichert?”
Mensch 279<br />
“Die ersten beiden Lebensformen, welche die Wissenschaft<br />
als Mensch eingestuft hat, sind Homo rudolfensis und Homo<br />
habilis, der zum Werkzeuggebrauch befähigte, der geschickte<br />
Mensch. Weitere Menschenarten sind Homo erectus, der aufrechtgehende<br />
Mensch, Homo neandertalensis, der neandertaler<br />
Mensch, und Homo sapiens, der wissende Mensch. Bis auf<br />
Homo sapiens sind alle Menschenarten längst ausgestorben.<br />
Die überlebende Art, zu der wir gehören, war daran<br />
vermutlich nicht ganz unbeteiligt.”<br />
“Wie steht’s mit dem Schöpfungsakt?”<br />
“Keine der Menschenarten verdankt ihre Entstehung einem<br />
besonderen Schöpfungsakt.”<br />
“Keine klare Grenze zwischen Mensch und Tier?”<br />
“Nein. Jeder menschliche Embryo durchläuft auch heute<br />
noch Stadien tierischer Entwicklung, in gewissem Sinne eine<br />
Kurzfassung der Entstehung des Menschen aus vormenschlicher<br />
Kreatur.”<br />
“Keine grundsätzlichen Besonderheiten?”<br />
“Nein. Die Eigenschaften, die manche als Besonderheiten<br />
ansehen – die Fähigkeiten, in Worten zu denken und zu<br />
sprechen, zu abstrahieren und sich reflektiert zu erleben, sich<br />
sozusagen der Welt gegenüberzustellen – sind auf einem allgemeinen<br />
biologischen Substrat entstanden und gewachsen.”<br />
“Nur Menschen lachen!”<br />
“Nein. Auch Affen. Lachen hat eine uralte soziale Funktion.<br />
Es ist eine akustische Emotionsentladung, vergleichbar mit<br />
Überraschungs-, Schreck- oder Schmerzlauten.”<br />
“Ich habe noch nie einen Sch<strong>im</strong>pansen lachen hören.”<br />
“Sch<strong>im</strong>pansen lachen anders als wir. Unser Lachen ist eine<br />
Ton-Pause-Ton Folge während einer Ausatmungsperiode: ‘Haha-ha’<br />
oder ähnlich. Sch<strong>im</strong>pansen sind kurzatmiger. Sie produzieren<br />
pro Aus- oder Einatmungsperiode nur einen Ton:<br />
‘Ha — ah — ha’.”<br />
“Woher wissen Sie, daß das unserem Lachen entspricht?”<br />
“Wie wir, lachen Sch<strong>im</strong>pansen in Situationen, in denen Wohl-
280 ANSICHTEN<br />
behagen oder Überraschung dominiert. Bei ihnen konzentriert<br />
sich das mehr auf Körperkontakte – Kitzeln, Balgen,<br />
Spielen – bei uns mehr auf Sprach- oder Sehkontakte. Entwicklungsgeschichtlich<br />
ist das Sch<strong>im</strong>pansenlachen vermutlich<br />
die ursprünglichere Lautäußerungsform. In beiden Fällen<br />
enthalten die einsilbigen monotonen Lachlaute Information,<br />
aber keine wortspezifische Bedeutung.”<br />
“Sch<strong>im</strong>pansen können nicht sprechen!”<br />
“Sie können. Nur anders als wir. Sie haben weder die Strukturen<br />
noch den Atemrhythmus, um den Luftstrom so zu modulieren<br />
wie wir. Daher können sie keine Tonfolgen hervorbringen,<br />
die unserem Sprechen gleichen. Wir sprechen wie wir<br />
lachen. Sch<strong>im</strong>pansen sprechen wie sie lachen. Sch<strong>im</strong>pansen<br />
haben weniger Worte als wir. Aber sie können hunderte von<br />
Zeichen lernen und sich damit sehr gut verständlich machen<br />
– ähnlich wie ein taubstummer Mensch.”<br />
Ärgerlich schüttelt der Maler den Kopf. “Sie sind zu sehr bestrebt,<br />
die Unterschiede zu verwischen. Lesen Sie mal in den<br />
Büchern einiger unserer großen Philosophen. Diese Denker<br />
entwickeln ganz andere Vorstellungen. Sie sehen <strong>im</strong> menschlichen<br />
Geist etwas Einmaliges, etwas Großartiges, etwas<br />
Neuartiges, das die Evolution nach Milliarden von Jahren als<br />
Höhepunkt hervorgebracht hat.”<br />
“Diese Denker wissen zu wenig über die Geschichte und<br />
Biologie des Menschen. Sie haben zudem einen Menschen <strong>im</strong><br />
Visier, von dem es nur wenige Exemplare gibt.”<br />
“Was wollen Sie damit sagen?”<br />
“Diese Philosophen verschließen die Augen vor dem Tier in<br />
uns. Sie sind zu sehr absorbiert von theoretisierenden,<br />
veredelnden Überlegungen.”<br />
“Sie verzerren die Realität.”<br />
“Die Realität ist, daß es selbst innerhalb der bis heute<br />
überlebenden Menschenart Homo sapiens sehr große Unterschiede<br />
gibt in Struktur und Verhalten, in Geist und Moral.<br />
Das reicht vom Buschmann zum Nobelpreisträger, vom
Mensch 281<br />
Triebtäter zum Pastor.”<br />
“Und wie sehen Sie den heutigen Menschen?”<br />
“Schwer zu definieren.”<br />
“Warum?”<br />
“Gehen Sie mal durch einige unserer Kliniken. Da gibt es<br />
Geschöpfe, die haben weder in ihrer äußeren Erscheinung<br />
noch in ihrem inneren Wesen Ähnlichkeit mit dem, was wir<br />
gemeinhin als Mensch bezeichnen. Dennoch sind sie Kinder<br />
von Menschen. Und da gibt es Wesen, die äußerlich unserem<br />
Bild vom Menschen entsprechen, deren Gehirnfunktionen<br />
und Verhaltensweisen aber wenig oder gar nichts von dem<br />
aufweisen, was wir ‘menschlich’ nennen. Sind das Menschen?”<br />
“Was macht den Menschen zum Menschen?”<br />
“Im Kern sind das zwei Dinge: die planmäßige Herstellung<br />
von Gegenständen und das Wissen um den eigenen Tod. Anderes<br />
kommt hinzu: die Entwicklung komplexer Sozialgefüge,<br />
die Erschaffung einer komplizierten Eigenwelt, …”<br />
“Ist das alles?”<br />
“… Kunst, Wissenschaft, Religion, Moral – und auch das<br />
Mitleid.”<br />
“Ja, das sind hohe Werte. – Aber Mitleid? Ist das wirklich<br />
ein menschlicher Wert? Im Mitleid schwingt doch oft auch<br />
Genugtuung mit und ein Gefühl der Überlegenheit.”<br />
“Genugtuung? Worüber?”<br />
“Daß es einem selber besser geht.”<br />
“Das wäre schl<strong>im</strong>m. Für mich ist die Fähigkeit zum Mitleiden<br />
etwas sehr Menschliches. Sie ist der Quell, aus dem<br />
Solidarität fließt – mit den Schwachen, Kranken, Armen und<br />
Alten. Solidarität auch mit der Mitkreatur und ihren Lebensgrundlagen.”<br />
“Aber kaum etwas, das jedem Menschen eigen ist.”<br />
“Jedenfalls keinem Unmenschen.”<br />
Gereizt fragt der Maler: “Wo und wann entstand die Kunst?”<br />
“Im Homo sapiens. Der tauchte erstmals vor etwa 200 000<br />
Jahren auf. In ihm entzündete sich das kreative Feuer. Die
282 ANSICHTEN<br />
ersten Produkte, die als Kunst eingestuft werden, brachte er<br />
vor 40 000 bis 50 000 Jahren hervor. Das ging einher mit dem<br />
Wachstum des Gehirns.”<br />
“Was bedingte dessen Wachstum?”<br />
“Vermutlich der aufrechte Gang: Er veränderte die Kopfhaltung<br />
und machte die Hände frei zum Befingern, Greifen und<br />
Arbeiten. Und veränderter, verstärkter Konkurrenzdruck:<br />
Nahrung finden in einer neu erschlossenen Umwelt, auf neue<br />
Feinde reagieren.”<br />
“Das sind …”<br />
“Nahrungssuche, Konkurrenz und Feindkonflikt sind<br />
starke Antriebskräfte. Es galt, <strong>im</strong>mer schneller neue<br />
Überlebensstrategien zu entwickeln. Wer am schnellsten<br />
reagiert ist <strong>im</strong> Vorteil.”<br />
Urahnen<br />
“Was ist der wichtigste Faktor für die Entstehung des Menschen?”<br />
“Sauerstoff.”<br />
“Soll das ein Witz sein?”<br />
“Nein.”<br />
“Dann müsen Sie mir das schon erklären.”<br />
“Die essentielle Gabelung der Evolution ist vier Milliarden<br />
Jahre alt.”<br />
“Essentiell? In welcher Weise?”<br />
“Wie keine andere Erscheinung hat sie das Leben auf der<br />
Erde verändert.”<br />
“Gabelung zwischen was?”<br />
“Zwischen dem frühen Leben ohne Sauerstoff und dem späteren<br />
Leben mit Sauerstoff.”<br />
“Ich denke, alles Leben braucht Sauerstoff.”<br />
“Die ersten Lebewesen – unsere einzelligen Urahnen – lebten<br />
ohne Sauerstoff. Wir nennen sie Prokaryonten, weil sie noch
Urahnen 283<br />
keinen Zellkern besaßen. Der bildete sich erst in ihren Nachfahren,<br />
den Eukaryonten, zu denen auch der Mensch gehört.”<br />
“Warum lebten die ersten Wesen ohne Sauerstoff?”<br />
“Weil die Atmosphäre vor vier Milliarden Jahren praktisch<br />
keinen Sauerstoff enthielt.”<br />
“Wie kam der Sauerstoff in die Atmosphäre?”<br />
“Nach etwa 500 Millionen Jahren Leben ohne Sauerstoff<br />
evolvierten Cyanobakterien. Sie entwickelten ein Verfahren,<br />
mit dem sie aus Sonnenlicht biologisch nutzbare Energie gewinnen<br />
konnten.”<br />
“Diese Bakterien sind die Erfinder der Photosynthese?”<br />
“Ja. Und sie sind die größten Umweltsünder aller Zeiten.”<br />
“Warum?”<br />
“Weil das Abfallprodukt der Photosynthese Sauerstoff ist.”<br />
“Na und?”<br />
“Freier Sauerstoff ist giftig.”<br />
“Giftig? Sauerstoff?” Der Maler schüttelt verwundert den<br />
Kopf. “Dann mußte alles frühe Leben sterben?”<br />
“Das meiste. Aber nicht alles. Einigen Urahnen gelang es,<br />
sich in entlegene, sauerstoffreie Lebensräume zurückzuziehen.<br />
Dort existieren sie noch heute.”<br />
“Und der Mensch?”<br />
“Wie in anderen Eukaryonten, finden sich auch <strong>im</strong> Menschen<br />
Spuren der frühen Existenz des Lebens in sauerstofffreier<br />
Atmosphäre. Auch heute noch ist freier Sauerstoff für<br />
uns giftig. Eukaryonten müssen daher Sauerstoffradikale mit<br />
Hilfe von Enzymen entgiften. Diese Enzyme lassen sich <strong>im</strong><br />
Menschen nachweisen. Unsere Urahnen dagegen können<br />
diese Enzyme nicht bilden. Sie müssen daher bis zum<br />
heutigen Tag die Begegnung mit Sauerstoff meiden.”<br />
“Ursprüngliches Leben ohne Sauerstoff … Vielleicht konnte<br />
Leben überhaupt nur ohne Sauerstoff entstehen?”<br />
“Möglicherweise.” Nach einer Weile sagt der Physiker: “Das<br />
erste Leben formte sich <strong>im</strong> Wasser und war daher geschützt<br />
vor lebensfeindlicher Strahlung.”
284 ANSICHTEN<br />
“Was geschah, als sich die Atmosphäre mit Sauerstoff anfüllte?”<br />
“Der Ausreifungsprozeß erhielt einen gewaltigen Schub.<br />
Das ist offenbar typisch nach Katastrophen, die das Leben<br />
hart begrängen. Der Schub brachte neue Lebensformen<br />
hervor. Die konnten Sauerstoff nicht nur ertragen, sondern<br />
mit seiner Hilfe biologisch nutzbare Energie gewinnen. Die<br />
neue Art der Energienutzung erwies sich als außerordentlich<br />
effizient. Die Veratmung von Sauerstoff wurde entwicklungsdynamisch<br />
ein Riesenerfolg. Eine überwältigende Fülle neuer,<br />
vielzelliger Lebensformen entstand. Das Zeitalter der Sauerstoffatmer<br />
begann. Heute dominieren deren Nachkommen<br />
alles Leben auf der Erde.”<br />
“Eine spannende Geschichte! Wie ging’s weiter?”<br />
“Die meisten Sauerstoffatmer verabschiedeten sich von der<br />
weitgehend friedlichen Koexistenz, die das Leben ohne<br />
Sauerstoff auszeichnete. Mit Hilfe des Sauerstoffs gewannen<br />
viele Energie und Materie aus dem Beschädigen und Töten<br />
ihrer Mitgeschöpfe. So begann der Krieg der Kreatur. Und<br />
auch sie selbst mußten versuchen, sich vor Schaden und Gefressenwerden<br />
zu schützen. So kam die Angst in die Welt.”<br />
“So kam die Angst in die Welt”, wiederholt der Maler wie in<br />
Trance. Bewegt schüttelt er den Kopf. – “Was wäre die Erde<br />
heute ohne Sauerstoff?”<br />
“Sie wäre vermutlich geblieben, was sie war: Ein Planet mit<br />
viel Leblosem und wenig – sehr einfachem aber auch sehr<br />
friedlichem – Leben.”<br />
Unterbrechung<br />
“Wann genau begann der Mensch, Mensch zu sein? Ich<br />
meine, Mensch <strong>im</strong> heutigen Sinne?”<br />
“Der genaue Zeitpunkt ist umstritten – geschichtlich, aber<br />
auch gegenwärtig.”
Unterbrechung 285<br />
“Gegenwärtig? Wie soll ich das verstehen?”<br />
“Nun, ist schon die befruchtete Eizelle ein Mensch, oder erst<br />
ein Embryo? Ein Embryo <strong>im</strong> ersten Monat nach der Befruchtung?<br />
Im zweiten, dritten, oder siebten? Denken Sie an<br />
den Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der Abtreibung.”<br />
“Freilich! Das ist ein hochaktuelles Thema. Daran habe ich<br />
jetzt gar nicht gedacht. Ein Teilaspekt unserer Diskussion!<br />
Wo sehen Sie die Grenze?”<br />
“Mutter, Vater, Ei, Samen, Embryo, Tochter oder Sohn – das<br />
ist ein Kontinuum, ein kohärenter Prozeß des Lebensstromes,<br />
der nicht beliebig unterteilbar ist. In einem befruchteten Ei<br />
sind alle Entwicklungsmöglichkeiten, alle grundsätzlichen<br />
Eigenarten des sich entwickelnden Menschen enthalten.<br />
Schon hier beginnt Individualität.”<br />
“Mediziner sprechen von ‘Abbruch’ oder ‘Unterbrechung’.<br />
Was sagen Sie dazu?”<br />
“Diese Begriffe passen hier nicht. ‘Unterbrechung’ beinhaltet<br />
das zeitlich begrenzte Aussetzen eines Phänomens. Das<br />
Wort deutet an, daß das Ausgesetzte irgendwann weitergeht,<br />
etwa so, wie ein Programm <strong>im</strong> Fernsehen nach einer Unterbrechung<br />
fortgesetzt wird. Die Anwendung dieser Begriffe<br />
in der Abtreibungsdiskussion ist ein Dokument menschlicher<br />
Verlogenheit. Hier wird ja nichts unterbrochen. Hier wird ein<br />
individueller Lebensvorgang unwiderruflich beendet. Die<br />
Begriffe ‘Abtreibung’, ‘Abbruch’ und ‘Unterbrechung’<br />
bezeichnen das gleiche: Töten.”<br />
Der Maler ist nicht einverstanden. Er hebt die Hand. “Ich<br />
denke mir mal, ...”<br />
“Abtreibung”, unterbricht ihn sein Gefährte, “ist <strong>im</strong>mer ein<br />
Tötungsakt. Abtreibung aus unethischen Motiven grenzt an<br />
Mord.”<br />
“Na, na, na! Da muß man doch differenzieren! Die Entwicklungsstufe<br />
des Ke<strong>im</strong>lings, die aus medizinischer Sicht die<br />
eigentliche Menschwerdung einleitet, beginnt doch erst, wenn
286 ANSICHTEN<br />
das Hirn selbständig Atmung, Herzschlag und Kreislauf steuern<br />
kann. Bis dahin aber ist der Ke<strong>im</strong> nichts anderes als ein<br />
Organ der Mutter. Und wenn von diesem Organ Schaden<br />
ausgeht, körperlicher oder seelischer, so hat die Mutter das<br />
Recht, dieses – wie jedes andere ihrer Organe – entfernen zu<br />
lassen. Kein Gesetz hindert sie daran.”<br />
“Der Ke<strong>im</strong>ling ist kein Organ der Mutter.”<br />
“Wieso nicht?”<br />
“Ein Organ erbringt eine best<strong>im</strong>mte, dauerhafte und meist<br />
lebensnotwendige Leistung für die Existenz eines Organismus.<br />
Es gehört zur Grundausstattung des betroffenen Lebewesens.<br />
Das trifft für den Ke<strong>im</strong>ling nicht zu.”<br />
Der Physiker denkt nach. Dann st<strong>im</strong>mt er nickend einem<br />
in ihm entstehenden Gedanken zu: “Auch das Noch-Nicht-<br />
Vorhandensein oder das Noch-Nicht-Funktionieren des Großhirns<br />
darf nicht als Freibrief zum Töten gewertet werden.<br />
Es gibt ja auch bereits geborene Menschen, deren Großhirn –<br />
der Sitz des sich bewußtwerdenden Geistes – nicht voll ausgebildet<br />
oder nicht voll funktionsfähig ist. Deswegen sind<br />
diese Menschen nicht vogelfrei!” Er macht eine protestierende<br />
Gebärde. “Das ist doch schon wieder ein Beispiel von<br />
Unaufrichtigkeit, wenn man be<strong>im</strong> frühen Ke<strong>im</strong>ling von der<br />
Abwesenheit eines funktionierenden Hirns spricht, aber<br />
ganz genau weiß, daß alles, was dieses Hirn entstehen lassen<br />
wird, bereits in vollem Umfang vorhanden ist, bereits<br />
mit größter Intensität und Zielstrebigkeit seine aufbauenden<br />
Kräfte entfaltet. Wenn wir also dem Ke<strong>im</strong> das Recht auf<br />
Leben absprechen, weil er noch nicht die Zeit gehabt hat,<br />
weit genug voranzukommen mit seiner Aufbauarbeit. Können<br />
wir unsere Welt nach Belieben zerstören, nur weil unsere<br />
Kinder, die einmal in dieser Welt leben müssen, noch<br />
nicht da sind? Noch nicht die Zeit gehabt haben, da zu sein?<br />
Überlegen Sie mal, welche Auswirkungen es haben würde,<br />
wenn wir Ereignisse ignorierten, die mit Sicherheit eintreten<br />
werden, nur weil sie noch nicht eingetreten sind! Das ist
Unterbrechung 287<br />
doch alles scheinheilige Augenwischerei. Nichts als Zwecklügen!”<br />
“Aber sehen Sie sich um”, wendet der Maler ein, “in vielen<br />
Kulturen ist Abtreibung erlaubt, legalisiert.”<br />
“Ja. Aber wieviel Töten hat der Mensch nicht schon legalisiert!<br />
Wenn Leben den <strong>Inter</strong>essen der Menschen entgegensteht,<br />
wurde und wird getötet: Menschen, Tiere, Pflanzen,<br />
ganze Lebensgemeinschaften mit allem Drum und Dran. Bei<br />
Kämpfen zwischen verschiedenen Menschengruppen ist<br />
Töten nicht nur erlaubt, es wird befohlen, ja belohnt. Machtausübende,<br />
weltliche und geistliche, haben sich stets das<br />
Recht genommen töten zu lassen, wann <strong>im</strong>mer sie das für<br />
richtig hielten, wann <strong>im</strong>mer Töten nützlich für sie war. Hunderte<br />
von Millionen sind den <strong>Inter</strong>essen von Politik und Religion<br />
geopfert worden. Ganz legal getötet, <strong>im</strong> Einklang mit den<br />
jeweils herrschenden Gesetzen. Und das geht weiter so, <strong>im</strong>mer<br />
weiter!”<br />
“Soldaten sind Mörder.”<br />
“Das ist eine unhaltbare Kollektivbeschuldigung.”<br />
“So?”<br />
“Mord ist Tötung aus niederen Beweggründen. Das trifft für<br />
Soldaten normalerweise nicht zu. Die generelle Beschuldigung<br />
verstößt gegen den Grundsatz ‘<strong>im</strong> Zweifel für den<br />
Angeschuldigten’, und sie verstößt gegen das Ehrengebot.”<br />
“Soldaten sind potentielle Töter.”<br />
“Ja. Aber sind wir das nicht alle?”<br />
Der Maler senkt den Kopf. Sagt nichts mehr.<br />
Da hebt der Physiker den Zeigefinger: “Wenn also Töten Alltag<br />
ist in unserer Welt, wenn das ganze Ordnungsprinzip,<br />
nach dem Leben auf unserem Planeten sich entfaltet und<br />
erhält, auf Töten beruht, so laßt uns doch wenigstens ehrlich<br />
sein miteinander. Laßt uns die Wahrheit sagen! Und laßt uns<br />
in den Spiegel kucken, damit wir uns erkennen. In all unserer<br />
potentiellen Fürchterlichkeit.”<br />
Der Physiker öffnet den obersten Knopf seines Hemdes.
288 ANSICHTEN<br />
Dann sagt er, ruhiger jetzt: “Die Anzahl der Menschen muß<br />
verringert werden, auf höchstens zwei oder drei Milliarden.<br />
Mittel dazu sind Wissen, Einsicht und Geburtenkontrolle. Abtreibung<br />
aber kann damit nicht begründet, nicht entschuldigt<br />
werden.”<br />
“Zuviele Menschen”, nickt der Maler. “Zuviel Produktivität.<br />
Zuviel Konsum.”<br />
“Und so lastet die Schuld auf den Schultern derjenigen, die<br />
sich einer Verringerung dieses Zuviel entgegenstellen, die<br />
keine Geburtenplanung wollen, keine Modernisierung der<br />
Gesellschaft, keine Neuordnung der Wirtschaft.”<br />
Nachdenklich schiebt der Physiker die Brille hoch. Dann<br />
sagt er: “Abtreibung ist eine Konsequenz persönlicher <strong>Inter</strong>essen<br />
oder Nöte. Sie ist aber auch ein Ausdruck des Rechtes<br />
des Stärkeren, der überlegenen Macht von Eltern gegenüber<br />
ihren Kindern. In unserem Land stehen den Eltern Informationen<br />
und Mittel zur Empfängnisverhütung zur Verfügung.<br />
Wenn es zur unerwünschten Befruchtung einer Eizelle<br />
kommt, dann haben die Eltern etwas falsch gemacht. Dafür<br />
müssen die ungeborenen Kinder büßen. So einfach ist das.”<br />
Der Maler hebt die Hand. Er ist nicht einverstanden. Aber<br />
ihm fehlen überzeugende Gegenargumente. Das ärgert ihn.<br />
“Ich befürworte nicht die Bestrafung der Abtreibung”, fährt<br />
der Physiker fort. “Wer abtreibt, der muß das mit seinem Gewissen<br />
ausmachen, der muß das vor sich selbst verantworten.<br />
Für mich ist die Macht des Gewissens stärker als die Macht<br />
des Gesetzes. Man …”<br />
“Das diskutieren Sie mal mit einem Juristen!”<br />
“… man kann nicht mit gutem Gewissen tagsüber gegen das<br />
Töten von Bäumen oder Delphinen demonstrieren und abends<br />
dann eine ‘Pille danach’ schlucken, als wäre das ein Mittel<br />
gegen Kopfschmerzen.”<br />
Der Maler zuckt die Achseln: “Haben Sie nie gegen das verstoßen,<br />
was Sie anderen vorwerfen?”<br />
“Doch, das habe ich.”
“Ach, ja!? Vielleicht haben Sie sogar selbst schon einer Frau<br />
empfohlen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen?”<br />
“Ja, das habe ich.”<br />
“Sie!! Wie können Sie dann so reden? Wie können Sie es<br />
wagen, die Abtreibung so zu diskreditieren??”<br />
“Ich diskreditiere die Abtreibung nicht. Ich versuche nur,<br />
möglichst aufrichtig, auch vor mir selbst, mit diesem Problem<br />
umzugehen. Ich versuche, mir möglichst unvoreingenommen<br />
ein eigenes Urteil zu bilden. Wenn dieses Urteil dann so<br />
ausfällt, daß ich mich selber schuldig gemacht habe, so muß<br />
ich damit leben, so muß ich mich damit auseinandersetzen. So<br />
muß ich das verantworten. Das aber ändert in keiner Weise<br />
etwas an meinem Urteil.”<br />
Nachdenklich sagt der Physiker: “Schwangerschaftsabbruch<br />
tötet und ist daher ein Rechtsbruch. Wer aber richtet, der muß<br />
abwägen zwischen dem Recht des ungeborenen Kindes auf<br />
Leben und dem Recht der Mutter auf Unversehrtheit von<br />
Körper und Geist, und auf eine möglichst freie Entfaltung des<br />
Gewissens. Frauen, die abtreiben, sind meist in schwerer<br />
Bedrängnis, oft in großer Not, nicht selten in einer tragischen,<br />
ausweglosen Situation. Das darf nicht unberücksichtigt bleiben.<br />
Abtreibung hat meist zwei Opfer: Das Kind, das sein<br />
Leben verliert, und die Mutter, die psychischen, nicht selten<br />
auch körperlichen Schaden erleidet.”<br />
Auferstehung<br />
Auferstehung 289<br />
Der Maler lenkt das Gespräch auf eines seiner<br />
unmittelbaren Anliegen: “Seit kurzem beschäftigt mich der<br />
Problemkreis des Weiterlebens der Menschen nach dem Tod.<br />
Wie sehen Sie das?”<br />
“Das Wiederauferstehen, wie das die Führer mancher Religionen<br />
nennen, und dabei den Eindruck zu erwecken suchen,<br />
der Tod eines Individuums sei so etwas wie ein Schlaf, aus
290 ANSICHTEN<br />
dem man nach einer gewissen Zeit wieder erwacht, das ist<br />
Humbug. Eine Auferstehung des Ichs mit all seinen<br />
einmaligen Eigenarten, Erfahrungen, Erinnerungen, seinem<br />
Wissen, Wollen und Denken, das ist eine typische Ausgeburt<br />
des Ich-Welt-Syndroms.”<br />
“Das sehe ich anders!!”<br />
“Ohne Durchblutung sterben Gehirnzellen innerhalb von<br />
Minuten. Bitte bedenken Sie: <strong>im</strong> Kopf des Menschen gibt<br />
es Milliarden von Nervenzellen und um ein Vielfaches mehr<br />
an Verbindungen zwischen ihnen. Das ist ein unglaublich<br />
kompliziertes Netz von Leitungen und Schaltungen, ein vielfach<br />
verwobener, vielschichtig kommunizierender Zellenstaat.<br />
Ich schätze, daß daran eine Milliarde Trillionen<br />
Materieteilchen beteiligt sind. Das entspricht einer 10 mit<br />
27 Nullen! Anordnung und Zusammenwirken der Teilchen<br />
machen das Einmalige eines Menschen aus. Das alles ist sehr<br />
verletzbar. Ein Gehirnschaden kann Teile unserer Persönlichkeit<br />
für <strong>im</strong>mer auslöschen. Ein Unfall, eine kurze ‘Stromunterbrechung’,<br />
und ‘klick’, ist die komplizierte Software dahin.<br />
Wie sollen da Hirnsubstanz und Hirnfunktion eine Verwesung<br />
überdauern?”<br />
“Man kann das auch anders sehen.”<br />
“Wie?”<br />
Der Maler findet keine Antwort.<br />
Da sagt der Physiker: “Bedenken Sie doch, die Energie-<br />
Materie-Konstellationen, die unser Hirn, unser Ich, unsere<br />
Individualität ausmachen, fallen nach unserem Tod<br />
auseinander, werden Teil anderer Lebensformen, auch<br />
anderer Menschen – oder der Erde oder der Luft oder des<br />
Wassers. Verteilt, verweht in alle Winde. Dieses Rezirkulieren<br />
von Materie und dieses Weiterfließen von Energie, das sind<br />
Grundeigenschaften der Natur. Das sind die Voraussetzungen<br />
und Notwendigkeiten für die Entstehung, Entwicklung und<br />
Ausreifung vielartigen organischen Lebens.”<br />
“Ein mir befreundeter Theologe hat behauptet, daß es der
Auferstehung 291<br />
göttlichen Allmacht möglich sei, all das wieder rückgängig zu<br />
machen – alles, was einen Menschen vor Dutzenden, Hunderten<br />
oder Tausenden von Jahren ausgemacht hat, wieder<br />
zusammenzufügen.”<br />
“Ja, ja”, lächelt der Physiker, “die Theologen. Die haben mit<br />
betulicher Pedanterie sogar allen Ernstes die Frage erörtert,<br />
wem das Fleisch gehört, wenn ein Mensch einen anderen aufgefressen<br />
hat.”<br />
Empört ruft der Maler: “Ich mag keine pauschalen Diskr<strong>im</strong>inierungen!”<br />
“Nun gut”, abermals lächelt der Physiker, “ich werde<br />
differenzieren: Augustin kam dabei zu dem Ergebnis, daß das<br />
Fleisch des Gefressenen ihm, nicht aber dem Fresser zuzuteilen<br />
sei.”<br />
Mißmutig n<strong>im</strong>mt der Maler seine Wulstlippen nach innen.<br />
“Und haben Sie schon einmal überlegt, was es bedeuten<br />
würde, wenn alle Menschen, die jemals gelebt haben, wieder<br />
auferstehen würden?”<br />
“Nicht alle. Nur die von Gott Erwählten.”<br />
“Und wo wollen Sie bei denen die zeitliche Grenze ziehen?<br />
Bei Menschen, die bis vor zweitausend Jahren gelebt haben?,<br />
bis vor zehntausend?, bis vor hunterttausend, bis vor<br />
Millionen von Jahren? Soll nur der wissende Mensch, Homo<br />
sapiens, Berücksichtigung finden? Oder auch die anderen<br />
Menschenarten? Der geschickte Mensch? Der aufrechtgehende<br />
Mensch? Der neandertaler Mensch? Wie weit reicht die<br />
Gerechtigkeit Ihres Christengottes? – wie weit sein Wohlwollen<br />
gegenüber der von ihm geschaffenen Kreatur?”<br />
“Sie schweifen ab!” ruft der Maler erregt. “Und Sie vernachlässigen<br />
die vielen beachtlichen Leistungen religiöser Führer.<br />
In den theologischen Fakultäten vieler Universitäten wurden<br />
und werden ganz wesentliche Erkenntnisse gewonnen und<br />
wichtige Pfeiler unserer Kultur erabeitet. Ich kenne religiös<br />
orientierte Universitäten, an denen die Freiheit von Forschung<br />
und Lehre etwas Selbstverständliches ist. Die meisten
292 ANSICHTEN<br />
Universitäten vermitteln Wissen und schulen rationales<br />
Denken. An theologischen Lehrstühlen wird auch über Inhalt<br />
und Ziel rationalen Denkens nachgedacht. Da wird nicht nur<br />
geforscht, da werden auch Sinn und Folgen des Forschens<br />
diskutiert und die Grenzen des Erforschbaren. Wie kaum<br />
sonstwo in der Welt, liegt hier der Wert der Wissenschaft,<br />
dieses Hortes der Sachlichkeit, auf dem Seziertisch. Und der<br />
Sinn unseres Lebens.”<br />
“Diese Leistungen verkenne ich nicht.”<br />
“Dann sollten Sie das auch in Ihre Überlegungen einbeziehen.”<br />
“Das versuche ich.”<br />
“Was also paßt Ihnen nicht?”<br />
“Die theologisch-verschlungenen Pfade zur Realität. Der<br />
verkrampfte Umgang mit der Geschlechtlichkeit. Die undemokratische<br />
Struktur der Kirche. Die ungerechtfertigten Privilegien.<br />
Die …”<br />
“Was für Privilegien?”<br />
“Staatlich eingetriebene Religionssteuern, Beamtenstatus<br />
der Amtsträger, Kirche als Körperschaft des öffentlichen<br />
Rechts … Religionen müssen aus eigener Kraft leben können<br />
– oder sie müssen sterben.”<br />
“Noch was?”<br />
“So manch ein Theologe übt sich nicht nur in philosophischen<br />
Überlegungen, er durchtränkt diese auch mit Elementen<br />
seiner eigenen Weltsicht und seiner eigenen Religion.”<br />
“Das scheint mir eher typisch menschlich zu sein, als spezifisch<br />
theologisch. Tun wir das nicht mehr oder minder alle?”<br />
“Jedenfalls sollten wir uns bemühen, das mit Zurückhaltung<br />
zu tun”, sagt der Physiker. “Und wir sollten, anders<br />
als viele Kirchenführer, das wohlüberlegte Argument des anderen<br />
ernst nehmen.”<br />
“Jeder Theologe steht in seiner Zeit. Sie können seine Aussagen<br />
nicht aus dem historischen Zusammenhang reißen.”<br />
“Gewiß. Aber ich kann nur dann versuchen, den Gang der
Auferstehung 293<br />
Dinge zu bewerten, wenn ich aus meiner heutigen Sicht zurückblicke.”<br />
Nach einer Weile fügt der Physiker hinzu: “Da sind noch<br />
andere Eigenschaften, die bei Religionsführern oftmals überdurchschnittlich<br />
entwickelt sind: Intellektuelle Aggressivität,<br />
ausufernde Polemik, abartige sittliche Forderungen. Und so<br />
manch einer von denen entfaltet eine außergewöhnliche<br />
Phantasie. Mit deren Hilfe löst er die schwierigsten, ja die<br />
irrsinnigsten Probleme – in seinem Kopf!”<br />
“Beispiele!”<br />
“Christliche Religionsführer haben behauptet, daß Menschen,<br />
die mit Krankheiten und Entstellungen behaftet<br />
starben, bei ihrer Auferstehung all ihrer Krankheiten und<br />
Entstellungen ledig sein werden. Daß sie sich bei vollster<br />
Gesundheit <strong>im</strong> blühenden ‘Mannesalter’ – was ist mit den<br />
Frauen? – befinden werden. Daß Kinder bis zu diesem Alter<br />
weiterentwickelt und Greise entsprechend verjüngt werden.<br />
Für diese Leute ist das alles kein Problem!” Wieder lächelt der<br />
Physiker. “Das wirkliche Problem mit diesen Religionsführern<br />
ist, daß sie nur nach innen denken, daß sie ganz und gar in<br />
der von ihnen erdachten Phantasiewelt zuhause sind, daß sie<br />
nur in ihren Köpfen und in ihrem ‘Jenseits’ Probleme zu lösen<br />
vermögen, <strong>im</strong> ‘Diesseits’, in der Realität unserer Welt, jedoch<br />
so gut wie keines. Ich sage Ihnen, für so manchen Religionsführer<br />
wird es eine schl<strong>im</strong>me Überraschung geben, wenn<br />
seine Phantasiewelt zusammenbricht.”<br />
“Denken nicht auch Sie des öfteren nach innen? Lösen nicht<br />
auch Sie so manches Problem nur in Ihrem Kopf?” Der Maler<br />
erhebt den dünnen Zeigefinger: “Und hat nicht so manches<br />
Nach-Innen-Denken auch einen Wert an sich?”<br />
“Gewiß. Aber es gibt da einen Unterschied. Die eine Seite<br />
orientiert ihr Nach-Innen-Denken am Glauben, die andere an<br />
der erkennbaren Wirklichkeit. Die eine Seite erhebt ihr Nach-<br />
Innen-Denken zum Dogma, die andere stellt es zur Diskussion.<br />
Bitte bedenken Sie: Die Theologen sehen in ihren
294 ANSICHTEN<br />
Vorstellungen ohne den leisesten Zweifel die unanfechtbare<br />
Wahrheit!”<br />
“St<strong>im</strong>mt so nicht ganz. Theologen sagen auch: Zweifel ist die<br />
Schwester des Glaubens!”<br />
“Sagen … aber sie zweifeln nicht.”<br />
“Das sagen Sie !”<br />
“Frei von jedem Zweifel inthronisieren diese Leute einen<br />
menschenähnlichen Gott. Frei von jedem Zweifel rankt sich<br />
ihr Denken um ein Menschenopfer. Unbeirrt gründen sie ihre<br />
Lehren auf eine Henkersmentalität. Ist das nicht alles ein<br />
fatales Fundament für eine Religion? Ist das nicht eine Ausgeburt<br />
merkwürdiger Hirne?”<br />
“Sie!! Gott hat seinen Sohn geopfert aus Liebe zu den<br />
Menschen, zu ihrer Läuterung! Gott ist barmherzig und gnädig,<br />
und er ist von großer Güte.”<br />
“Um so weniger kann das Herz der christlichen Religion das<br />
Todesopfer sein.”<br />
“Sondern?”<br />
“Gewaltarme Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Verständnis,<br />
Vergebung.”<br />
“Das sagen auch die Kirchenmänner.”<br />
“Für mich ist wichtiger, was sie tun. Viele von ihnen<br />
praktizieren keine gewaltarme Gerechtigkeit. Viele agieren<br />
nicht bescheiden. Viele üben sich nicht <strong>im</strong> Verständnis<br />
anderer. Die meisten vergeben nur innerhalb der Schranken<br />
ihrer eigenen religiösen Vorstellungen. Und alle erheben ihre<br />
eigenen Vorstellungen mit der größten Selbstverständlichkeit<br />
zu allgemeinverbindlichen Wirklichkeiten. Gleichzeitig aber<br />
bestreiten sie mit derselben Selbstverständlichkeit anderen<br />
Menschen das Recht auf ihre eigene subjektive Weltsicht, auf<br />
ihre eigene Glaubenswelt. Die ist für sie nichts als Verblendung.”<br />
Plötzlich schmunzelt der Maler. Hier entdeckt er gemeinsamen<br />
Grund. Das sieht er ganz ähnlich. “Dem kann ich freilich<br />
zust<strong>im</strong>men. Als Student habe ich das mal so gesagt:
Auferstehung 295<br />
Jeder glaubt von seinem Glauben,<br />
er sei der rechte und der beste.<br />
So laßt ihn nur in diesem Glauben.<br />
Doch wehret jedem Glauber feste,<br />
will er rauben andrer Glauben.<br />
“Vortrefflich!” ruft der Physiker, “da haben Sie eine wichtige<br />
Botschaft in die kürzest mögliche Form gebracht.”<br />
“Aber was ist mit der Seele?”<br />
“Was verstehen Sie darunter?”<br />
“Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit.” Der Maler bleibt<br />
stehen. “Das ist nicht leicht zu definieren.” Er senkt den Kopf.<br />
Zögernd beginnt er: “Die Seele … das ist die Kraft … oder besser<br />
die Summe der Kräfte, die Ganzheit herstellen, die Harmonie<br />
stiften und Sinn … Die Seele ist etwas Immaterielles.<br />
Sie ist metaphysischer Natur, keine unmittelbar erlebbare<br />
Realität. Am ehesten noch ist sie eine Idee.”<br />
“Eine solche Seele ist allem Leben eigen, ja, aller Natur.<br />
Eine solche Seele sehe ich auch in Sternen, <strong>im</strong> Universum.<br />
Eine solche Seele ist der Kern der Schöpfung.”<br />
“Die katholische Kirche lehrt, daß nur ein Mensch eine<br />
Seele hat. Daß jede menschliche Seele eigens von Gott erschaffen<br />
wird. Zusammen mit dem Körper bildet die Seele<br />
einen Menschen. Die Seele repräsentiert die Essenz einer<br />
menschlichen Persönlichkeit, der individuellen Art des<br />
Empfindens, Fühlens, Erfahrens, Denkens und Wollens des<br />
Seelenträgers.”<br />
“Hinter der Idee einer solchen Seele wirkt der Selbsterhaltungstrieb<br />
des Menschen. Da bricht die Hoffnung zutage,<br />
der Unsterblichkeit des Individuums irgendwie eine Lanze<br />
brechen zu können, und wenn auch auf verschlungenen Pfaden.”<br />
“Und die Hoffnungen auf Gerechtigkeit, auf Erlösung, auf<br />
Aufhebung irdischer Maßstäbe und Mißstände! – Was ist die
296 ANSICHTEN<br />
individualisierte Seele für Sie?”<br />
“Die Individualseele? Ein Märchen. Oder ein Loch, das<br />
manche Menschen mit den positiven Seiten ihrer Persönlichkeit<br />
auszufüllen suchen.” Im Physiker formt sich ein<br />
weiterführender Gedanke. Er zieht den Mund in die Breite,<br />
und dann spitzt er die Lippen: “Eines aber”, sagt er und nickt<br />
dabei, “eines aber möchte ich doch zu diesem Thema noch fragen<br />
dürfen: Mit welcher Berechtigung und auf Grund welcher<br />
Argumente postulieren Religionsfunktionäre die Wiedergeburt<br />
einer menschlichen Individualität als Seele, Körper<br />
oder beides? Und warum Wiedergeburt nur für den Menschen?<br />
Warum nicht für den Hund, die Amsel, den Goldfisch,<br />
den Fliegenpilz? Ausgerechnet der Mensch soll nach ihren<br />
Vorstellungen wiedergeboren werden, ausgerechnet dieses<br />
Wesen, das Lebloses und Lebendes auf der Erde in so vielfältiger<br />
Weise schädigt und schändet.”<br />
“Jetzt reden Sie fast so daher wie eine Grüne, die mit mir<br />
über die Rolle des Menschen in der Natur diskutiert hat.<br />
Die behauptete, der Mensch sei das Krebsgeschwür der<br />
Schöpfung!”<br />
Der Physiker wiegt den Kopf.<br />
“Sie verdammen die Grüne nicht?”<br />
“Im Kern hat sie nicht unrecht.”<br />
“Sie! Das Krebsgeschwür kennt keine Moral. Es macht sich<br />
keine Gedanken darüber, was es dem Körper antut.”<br />
“Dennoch gibt es erschreckende Parallelen zwischen Krebs<br />
und Mensch.”<br />
“Welche?”<br />
“Krebszellen entziehen sich der Kontrolle, den harmonisierenden<br />
Kräften des Körpers. Sie wachsen und breiten<br />
sich aus ohne Rücksicht auf das Ganze. Sie schädigen lebenswichtige<br />
Organe, stören Ordnung, zehren aus. So vernichten<br />
sie am Ende den sie tragenden Organismus – und damit auch<br />
sich selbst.”<br />
Der Maler atmet resignierend aus, sackt in sich zusammen.
Auferstehung 297<br />
Lange schweigt er. Dann sagt er: “Freilich, so gesehen haben<br />
Sie nicht unrecht. Auch wir wachsen und zerstören ohne<br />
Rücksicht auf das Ganze.”<br />
“So ist es. Wir leben nicht mehr vom Einkommen, sondern<br />
vom Kapital. Und dabei zerstören wir auch noch dessen Möglichkeiten,<br />
Einkommen zu produzieren: Wir schlachten die<br />
Kuh, deren Milch uns ernähren soll.”<br />
Der Physiker wendet sich dem Gefährten zu. “Warum also<br />
sollte ausgerechnet der Mensch für sich in Anspruch nehmen<br />
dürfen, seine Untaten auch noch nach dem Tod wieder aufzunehmen?”<br />
“Im H<strong>im</strong>mel widerfahren dem Menschen Läuterung und<br />
Wandlung.”<br />
“Wenn dem Menschen <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel Läuterung und<br />
Wandlung widerfahren würden, so müßte das doch bedeuten,<br />
daß er befreit würde von den Eigenschaften, die seine<br />
vielfältigen Probleme verursachen und die ihn zur Gefahr für<br />
die Natur auf Erden machen.”<br />
“Freilich!”<br />
“Wenn der Mensch von diesen Eigenschaften befreit würde,<br />
so wäre er nicht länger ein Mensch! Und warum ihm diese<br />
Eigenschaften dann überhaupt erst verleihen, oder genauer,<br />
aufzwingen?”<br />
“Aufzwingen? Das sehen Sie völlig falsch. Sie ...”<br />
“Und der Gott der Christen? Warum dürfen wir von ihm<br />
erwarten, daß er einen Menschen in seinen H<strong>im</strong>mel aufnehmen<br />
will?” Der Physiker bewegt den Zeigefinger achtungsgebietend<br />
in der Luft herum: “Ich sage Ihnen, wenn es einen<br />
Gott gäbe, welcher den Vorstellungen Christi auch nur ähnlich<br />
ist, er wäre längst aus der Kirche ausgetreten. Und wenn<br />
es einen Gott gäbe, welcher <strong>im</strong> Sinne der meisten Religionen<br />
Herr der Erde wäre – er müßte geschlafen haben. Sehenden<br />
Auges könnte er das, was die Menschen hier auf Erden seinen<br />
Werken antun doch nicht so lange geduldet haben. Wenn er<br />
also aufwacht dieser Gott, was, glauben Sie, würde geschehen?
298 ANSICHTEN<br />
Wenn dieser Gott sieht, wie die Menschen mit dem von ihm<br />
Geschaffenen umgehen, wenn er sieht, was sie auf Erden<br />
anrichten, was die Religionsfürsten aus dem Vermächtnis der<br />
Propheten gemacht haben, was sie sich anmaßen! Er könnte<br />
doch nur eins tun, dieser Gott: dieses so völlig mißratene<br />
Geschöpf, dieses Geschwür an seiner Schöpfung, das sich<br />
Mensch nennt, herausbrennen aus seiner Natur, zerstampfen<br />
und auf ewig vernichten!”<br />
Erkenntnisgewinnung<br />
Die harten Worte des Wissenschaftlers bohren sich tief<br />
in das Herz des Künstlers. Sie schmerzen. ‘Auf ewig vernichten!’,<br />
denkt er. ‘Das Christentum ist eine auf Offenbarungen<br />
basierende Erlösungsreligion! Ohne die Botschaft von der<br />
Erlösung gäbe es gar keinen Christengott, jedenfalls nicht in<br />
den Herzen der Menschen!’ Was der Physiker da alles gesagt<br />
hat, das beginnt am Selbstverständnis des Malers zu nagen.<br />
Das erschüttert seinen Glauben. ‘Warum’, denkt er, ‘mißlang<br />
Gott sein Werk? Warum mißriet ihm die Schöpfung so sehr?’<br />
Und dann denkt er auch: ‘Der Physiker stützt mich nicht. Der<br />
n<strong>im</strong>mt mir Halt. Die Weisheiten dieses Mannes, wo sind sie?<br />
Das, was der da von sich gibt, klingt oft eher extrem als weise.<br />
Dieser Mann ist …’ Die Gedanken des Malers enden abrupt.<br />
Er versinkt in innerer Wortlosigkeit – wie ein Stein in rasch<br />
auflaufender, wellenloser Flut.<br />
Stumm wandern die beiden nebeneinander her bis zum<br />
alten Bootsanleger am See. Dort angekommen, setzen sie sich<br />
auf die weiße Bank.<br />
Nach langem Schweigen beginnt der Physiker aufs neue.<br />
“Unsere tierische Vergangenheit – sie verursacht große<br />
Probleme in einer Welt, die so ganz anders ist als die, in der<br />
sich unsere Organe, unser Verhalten, unsere Instinkte und<br />
Triebe entwickelt haben.”
Erkenntnisgewinnung 299<br />
“Sie können tierische Triebe doch nicht so ohne weiteres<br />
gleichsetzen mit den Gefühlsregungen der Menschen!”<br />
“Unsere Strukturen – Arme, Beine, Herz, Magen – entsprechen<br />
denen höherer Tiere ebenso wie unsere Funktionen<br />
– Stoffwechsel, Gefühle, Triebe. Wo sonst sollten unsere<br />
Verhaltensweisen, Gefühlsregungen, unsere Süchte und<br />
Triebe herkommen, aber auch unser Bewußtsein und das, was<br />
wir als Vernunft, Verstand oder Geist bezeichnen, wenn nicht<br />
aus der Vergangenheit, wenn nicht aus unserer tierischen<br />
Vergangenheit? Daß viele Menschen sich ihrer Vergangenheit<br />
schämen, ist ein Ausdruck unbegründeter Überheblichkeit.<br />
Der Mensch muß seine Vergangenheit erkennen. Und er muß<br />
sich zu ihr bekennen. Instinkte und Triebe sind nützliche und<br />
wichtige Steuerungsmechanismen der Natur, sowohl bei<br />
Tieren als auch bei Menschen. Nicht diese Steuerungsmechanismen<br />
sollten wir beklagen, sondern das, was bei uns<br />
daraus geworden ist. In so manchem Menschen pervertieren<br />
ursprünglich sinnvolle Triebe.”<br />
Diese Worte schleudern den Maler aus der Rolle des Verletzten<br />
in die Rolle des Ertappten. Er duckt sich und preßt die<br />
dicken Lippen aufeinander.<br />
Seinen Gedanken nachhängend fährt der Physiker fort:<br />
“Auch das eingleisige Ursache-Wirkungsdenken ist ein Erbe<br />
unserer tierischen Vergangenheit. Da hatte die Fähigkeit,<br />
Wirkungen mit Ursachen direkt in Beziehung zu setzen, eine<br />
unmittelbar lebenserhaltende Funktion. Da hatte …”<br />
“Heute etwa nicht?”<br />
“Auch heute noch ist diese Fähigkeit wichtig. Wenn ich in<br />
meinem Wohnz<strong>im</strong>mer sitze, und mir tropft Wasser auf den<br />
Kopf, so frage ich: “Wo kommt das her? Was ist die Ursache?”<br />
“Und? Was beanstanden Sie?”<br />
“Daß unsere Philosophie, unsere Religion und unsere Wissenschaft<br />
noch <strong>im</strong>mer auf diesem s<strong>im</strong>plen Reaktionsschema<br />
aufbauen. Lineares Ursache-Wirkungsdenken ist für das Verständnis<br />
komplexer Zusammenhänge ungeeignet.”
300 ANSICHTEN<br />
“Komplexe Zusammenhänge”, ruft der Maler. “Was bedeutet<br />
das? Das ist doch eine Funktion der Eigenart des Betrachters.<br />
Der Leistungsfähigkeit seines Hirns!”<br />
“Gewiß.”<br />
“Schon Kant hat gesagt: ‘Alles Geschehen setzt Ursachen<br />
voraus.’”<br />
“Ich füge dem hinzu: und alle Ursachen setzen Geschehen<br />
voraus.”<br />
“Wie das?”<br />
“Bleiben wir bei dem Beispiel: mir tropft Wasser auf den<br />
Kopf. Was ist die Ursache? Ein undichtes Wasserrohr. Diese<br />
Ursache aber setzt ein Geschehen voraus: die Wasserleitung<br />
ist <strong>im</strong> Laufe der Zeit durchgerostet.”<br />
“Wo ist der Unterschied zwischen Geschehen und Ursache?”<br />
“Das ist eine Frage der Definition, der Perspektive, der Reihenfolge.<br />
In letzter Konsequenz ist alles Geschehen.” Mit steifem<br />
Zeigefinger schiebt der Physiker die Brille hoch. “Geschehen<br />
gebiert Geschehen.”<br />
“Und was ist ein Geschehen?”<br />
“Eine Bewegung von Energie.”<br />
“Zu stark vereinfacht!”<br />
“Nur wo Energie fließt, kann es ein Geschehen geben. Und<br />
nur wo es ein Geschehen gibt, kann es eine Ursache geben.”<br />
“Ist das ein geradliniger Prozeß?”<br />
“Es gibt nichts Geradliniges. Letztlich ist alles ein Kreis.<br />
Das ist den meisten Philosophen offenbar entgangen.”<br />
“Wie formt sich der Kreis?”<br />
“Indem Ursachen auf Geschehen zurückgehen und dieses<br />
auf Ursachen. Das ergibt einen Kreis, viele Kreise, auch sich<br />
selbst steuernde.”<br />
“Kreis!”, ruft der Maler, “<strong>im</strong>mer wieder Kreis! Ich mag keinen<br />
Kreis!!”<br />
“Alles unterliegt der Herrschaft des Kreises. Kreise wirken<br />
überall: in einem Organismus, in der Natur, <strong>im</strong> Universum.<br />
Alles kreist. Und alle Kreise sind auf vielschichtige Weise
Erkenntnisgewinnung 301<br />
miteinander verknüpft, verknotet und verwoben. Da kommt<br />
man mit eingleisigem Ursache-Wirkungs-Denken nicht<br />
weiter. Da geht es nicht um eind<strong>im</strong>ensionale Kausalketten,<br />
sondern um mehrd<strong>im</strong>ensionale Kausalgewebe.”<br />
“Wie ist so ein Kausalgewebe konstruiert?”<br />
“Kompliziert. Wir rechnen heute mit bis zu 26 D<strong>im</strong>ensionen.<br />
Nur 4 davon sind für uns erlebbar.”<br />
“Und die anderen?”<br />
“Sie sind für Menschen unsichtbar.”<br />
“Wo sind sie?”<br />
“Fest eingebunden in Geschehen. Als lägen sie <strong>im</strong> Zentrum<br />
eines erschrockenen, eingerollten Igels. Nur durch ihr Zittern<br />
können wir sie entdecken.”<br />
“Laßt sie zittern, verdammt nochmal! Wen kümmert das?”<br />
“Sie sehen also: das Studium komplexer Objekte bedarf<br />
neuer Methoden des Denkens und der Erkenntnisgewinnung.”<br />
“Erkenntnisgewinnung!”, ruft der Maler wütend. “Immer<br />
wieder sprechen Sie davon. Aber die Welt um uns und die<br />
Bilder von ihr in uns, das ist nicht dasselbe!”<br />
“So ist es.”<br />
“Die Bilder, die wir von der Welt malen und die wir in unseren<br />
Köpfen aufhängen, sie sind weder Originale noch Kopien.<br />
Unsere Sinnesorgane, unser Hirn, unsere Psyche lassen aus<br />
den Informationen, die uns aus der realen Welt erreichen,<br />
Eindrücke entstehen, die eine Welt formen, die anders ist als<br />
die tatsächlich existierende. Das haben Sie selber so erläutert!”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Was wir in unseren Köpfen haben, das ist eine Welt, die wir<br />
für unsere eigenen Belange zurechtgeschustert haben. Eine<br />
Welt, die unseren Bedürfnissen und Eigenarten als biologische<br />
Kreatur entspricht, nicht aber eine Wiedergabe dessen,<br />
was wirklich ist. Das habe ich von Ihnen gelernt!”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Die grüne Farbe der Büsche und Bäume hier”, zürnt der<br />
Maler, “ja die Büsche und Bäume selber, sie existieren so nicht
302 ANSICHTEN<br />
in der Realität. Auch der <strong>Park</strong> existiert nicht so, wie wir ihn<br />
erleben. Unser Bild vom <strong>Park</strong> formt sich erst nach aufwendiger<br />
Übersetzungsarbeit in den <strong>Inter</strong>pretationszentren unseres<br />
Hirns, letztlich in unserer Psyche.” Er zerrt den Hut in<br />
die Stirn. “Zwischen der Quelle der Information und der von<br />
ihr ausgelösten Empfindung in uns besteht keine<br />
unmittelbare Wesensparallelität! Wie, frage ich Sie, können<br />
Sie denn da von Erkenntnisgewinnung sprechen?”<br />
Der Physiker will antworten. Aber der Maler gibt ihm keine<br />
Gelegenheit dazu. “Auch unsere Art zu denken ist nicht dazu<br />
geeignet, ein objektives Bild von der Welt zu entwerfen. Wie<br />
der Bau und die Funktion unseres Körpers, so ist auch unser<br />
Denkapparat und dessen Arbeitsweise das Ergebnis einer<br />
Entwicklung, die zugeschnitten ist auf die Rolle, die der<br />
Mensch in seinem Ökosystem über Hunderttausende von<br />
Jahren gespielt hat, und die er eigentlich auch heute noch<br />
spielen sollte. Haben Sie nicht auch das so gesagt?”<br />
“Ja.”<br />
“Man muß sich das mal vorstellen”, braust der Maler auf:<br />
“Wir haben Augen, Ohren und Hirnwindungen, die sich aus<br />
der ursprünglichen ökologischen Nische des Menschen heraus<br />
entwickelt haben. Und die Natur fesselt uns noch <strong>im</strong>mer an<br />
das mit diesen Strukturen Erkennbare, an das mit ihnen<br />
mögliche Empfinden, Denken und Wissen. Sie zwingt uns,<br />
Archaisches noch <strong>im</strong>mer anzuwenden, und das auch noch auf<br />
vorgegebenen Erlebnisbahnen! Wir sehen, hören, fühlen und<br />
denken auf Schienen! Kein Wunder, daß wir der linearen Ursache-Wirkungs-Philosophie<br />
verhaftet sind, daß wir in einer<br />
drei- oder vierd<strong>im</strong>ensionalen Welt zu Hause sind. Wie können<br />
wir überhaupt erwarten, daß die von uns entwickelte Logik<br />
ihre Entsprechung hat in der Welt um uns? Unser Logikverständnis<br />
ist abhängig von unseren menschenspezifischen<br />
Strukturen und Funktionen, von unserer menschenspezifischen<br />
Weltsicht, von unseren menschenspezifischen<br />
Systemen der Worte, Werte, Begriffe und Denkkategorien.
Erkenntnisgewinnung 303<br />
Auch das haben Sie so gesagt!”<br />
Der Maler macht eine wegwerfende Handbewegung. “Da ist<br />
doch jeder Versuch, Erkenntnis zu gewinnen, Mumpitz.<br />
Nichts als Mumpitz!” Schrill schreit eine St<strong>im</strong>me in ihm:<br />
‘Auch der gottsverdammte Engel – nichts als Mumpitz!’<br />
‘Engel!!’ Wie von Sinnen stößt er den Spazierstock in die Luft,<br />
so hoch, daß ihn der Buckel schmerzt.<br />
Der Künstler starrt den Wissenschaftler an, als wollte er<br />
ihn durchbohren. Einen knisternden Augenblick lang<br />
schweigt er. Dann rammt er den Spazierstock ins morsche<br />
Holz zu seinen Füßen. Seine Augen sprühen Funken. Mit sich<br />
überschlagender St<strong>im</strong>me tobt er: “W…wir sind Angekettete,<br />
wir sind Eingezäunte, wir sind Gefangene!!” Wie ein Wilder<br />
fuchtelt er mit beiden Armen herum, zerhackt die Luft mit<br />
dem Spazierstock. “D…die Ketten, das sind unsere festgezurrten<br />
Denkmuster, unsere progammierten Verhaltensweisen.<br />
Die Zäune, das sind unsere restriktiv konstruierten Sinnesorgane.<br />
Unser Gefängnis, das ist die Natur! Unser Gefängnisdirektor,<br />
das ist Gott!!!”<br />
Die Gefühlswelt des Malers ist explodiert. Sein Gesicht<br />
droht auseinanderzufallen. Er keucht. Es dauert lange, bis er<br />
wieder sprechen kann. “Die Ketten zu sprengen, den Zaun zu<br />
durchbrechen, das ist uns auf ewig verwehrt. Es bedurfte<br />
eines Jahrhundert-Genies, Albert Einstein, um mit Hilfe<br />
mathematischer Denkmuster die Tür zur Realität wenigstens<br />
einen winzigen Spalt breit aufzuzwingen. Aber natürlich war<br />
auch Einstein an die Schienen und Grenzen menschlichen<br />
Erkennens gefesselt. Auch er konnte sich das, was er da<br />
errechnet hatte, nicht wirklich vorstellen. Er hat nur mit<br />
Hilfe seiner Formeln durch den Türspalt geblinzelt.”<br />
Wild mit den Armen herumfuchtelnd, brüllt der Künstler<br />
den Wissenschaftler an: “Ein Narrentanz, das Ganze! Ein<br />
Theaterstück von und mit Beschränkten!! Wie können Sie<br />
denn da von Erkenntnisgewinnung sprechen!?”<br />
Zitternd sitzt er da, vornübergebeugt, ein Gebrochener. Mit
304 ANSICHTEN<br />
hängender Unterlippe flüstert er: “Warum gab uns die Natur<br />
den starken Drang nach Wissen, den hungrigen Blick nach<br />
vorn? Warum schlägt sie uns zugleich mit Blindheit? Warum<br />
tut Gott uns das an?” In Abwehr hebt er die Hand. “Und<br />
warum fordern Sie ein neues Weltverständnis? Warum wollen<br />
Sie eine neue Philosophie, einen neuen Menschen, eine neue<br />
Religion, einen neuen Gott?” Wieder rammt er den Stock ins<br />
morsche Holz. “Wenn es darum geht, tief in die Dinge einzudringen,<br />
etwas Handfestes über real Existierendes, über das,<br />
was wirklich ist, über die Welt, über uns, über Gott in Erfahrung<br />
zu bringen, dann muß das doch in die Hose gehn!!”<br />
Der Physiker bleibt unbeeindruckt. Ruhig sagt er: “Ich<br />
st<strong>im</strong>me Ihnen zu, wenn Sie sagen, daß die reale Welt und das<br />
Bild, das wir von ihr in uns tragen, nicht dasselbe sind. Unsere<br />
Vernunft und Logik, unser Denken und Empfinden spiegeln<br />
nicht die Realität. Sie sind Mittel und Ausdruck unserer besonderen<br />
Eigenart, die Realität wahrzunehmen. Sie sind Teil des<br />
Rollenplans, den die Natur unserer Spezies zuweist. Mit jedem<br />
Versuch, über das Drehbuch der Natur hinauszuwachsen,<br />
kommen wir ins Schleudern, beginnen Begriffe wie Vernunft,<br />
Logik und Wirklichkeit zu verblassen, sich zu entleeren.”<br />
“Eben!”<br />
“Aber die reale Welt und das Bild, das wir von ihr in uns tragen,<br />
sind nicht grundsätzlich verschieden. Was die reale Welt,<br />
uns, und unsere Vorstellung von der realen Welt verbindet,<br />
das ist die gemeinsame Geschichte, das sind die prinzipiell<br />
gleichen Energie-Materie-Konstellationen, das sind die universumweit<br />
wirksamen Ordnungs- und Organisationskräfte.<br />
Als Teil dieser Geschichte, Konstellationen und Kräfte<br />
funktionieren wir nach deren Vorgaben. Und als Teil der<br />
lebenden Natur steuern uns die Gesetze der Entwicklung und<br />
Ausreifung irdischen Lebens. Wir erleben die reale Welt mit<br />
Sinnesorganen, die ein Teil dieser realen Welt sind. Hier<br />
erkenne ich Verbindendes. Hier ist die Brücke!”<br />
“Und? Was wollen Sie damit sagen? Wo bleibt Ihre Extra-
Erkenntnisgewinnung 305<br />
polation ins Grundsätzliche, mit der Sie doch sonst so gerne<br />
aufwarten?”<br />
“Für mich sind die grundsätzlichen Fakten diese: Alles ist<br />
Geschehen. Und alles Geschehen geschieht nach einem Plan.<br />
Weder Wesen noch Ziel des Plans sind für Menschen erkennbar.<br />
Irdisches Leben existiert und evolviert in Ökosystemen.<br />
Die Programme, nach denen Ökosystemmitglieder sich<br />
entwickeln und funktionieren, sind anders, als das für ein<br />
Erkennen der realen Welt erforderlich wäre. Für eine Welterkenntnis<br />
liefert die Natur keiner irdischen Lebensform<br />
die Voraussetzungen – kein Programm, keine Perzeptionsmechanismen,<br />
keine <strong>Inter</strong>pretationsmöglichkeiten. Nur mit<br />
derartigen rollenspezifischen Restriktionen, nur mit der<br />
konsequenten Anwendung des Restriktionsgesetzes, ist<br />
vielartiges organisches Leben möglich, nur so kann es sich<br />
über Milliarden von Jahren in geordneten Bahnen entfalten.”<br />
“Dann können wir also nur sehr wenig wissen?”<br />
“Wissen können wir nur innerhalb des Rahmens, den unsere<br />
Sinne uns setzen. Und selbst da gibt es oftmals nicht erkannte<br />
Rückkopplungen.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Unsere Sinnesausstattung regelt das Erkennen und das<br />
Lösen eines jeden Problems. Unser Hirn formuliert seine<br />
eigenen Fragen. Es gibt seine eigenen Antworten. Und es<br />
gebiert seine eigenen Fehler.”<br />
“Also können wir gar nichts wissen?”<br />
“Wissen können wir nur innerhalb der Grenzen der Menschenwelt.”<br />
“Warum dann unser <strong>Suchen</strong>?”<br />
“Wer nicht nach dem Wesen der Welt sucht, der kann über<br />
sein eigenes Wesen nichts finden. Wer von der Welt nichts<br />
weiß, und nichts von sich, der kann nicht einmal von seinem<br />
eigenen Unwissen wissen. Fehlendes Wissen über das eigene<br />
Unwissen aber ist für uns lebensgefährlich.”<br />
“Was ist an den Grenzen der Menschenwelt?”
306 ANSICHTEN<br />
“An den Grenzen beginnt Vermutung. Darüber hinaus herrscht<br />
eine unserem Geist alles verhüllende Finsterniß.”<br />
“Wie weit sind die Grenzen gesteckt?”<br />
“Ich vermute, eher eng als weit.”<br />
“Was ist außerhalb der Grenzen?”<br />
“Ich weiß es nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es<br />
dort draußen Dinge und Vorgänge gibt, die gänzlich jenseits<br />
unseres Denk- und Vorstellungsvermögens liegen, die soweit<br />
weg sind von unserer Art zu erleben und zu empfinden, daß<br />
wir sie nicht einmal erahnen können – ein Geschehen, das uns<br />
auf ewig verschlossen bleiben wird. Die Frage ist nun, ob das<br />
wirklich Wesentliche, das die Welt ausmacht, eher innerhalb<br />
oder eher außerhalb der Grenzen liegt.”<br />
“Wo liegt es?”<br />
“Ich vermute, eher außerhalb.”<br />
Der Maler ist plötzlich tief ergriffen. “Ja”, sagt er, “ja, die<br />
Grenzen. Da beginnt das Andere, das Unbegreifliche. Das Unbenennbare,<br />
das uns mit Staunen erfüllt und mit Ehrfurcht.<br />
Da beginnt das Reich des Rätselhaften, des Fremden. Das<br />
Reich, für das wir keine Worte haben, keine Begriffe und keine<br />
Vorstellungen.”<br />
Der Physiker nickt. “Eine riesige Welt, die sich für uns der<br />
Anschaulichkeit und Begreifbarkeit entzieht.”<br />
“Warum dann also weitersuchen?”, fragt der Maler, “warum<br />
all dieser Aufwand, all dieses Forschen, wenn wir die Wirklichkeit<br />
doch nicht erkennen können, und wenn uns das Ergebnis<br />
dessen, was wir erforschen, obendrein oftmals noch<br />
Schwierigkeiten bereitet? Das ist doch widersinnig!”<br />
“Für den Menschen bedeutet <strong>Suchen</strong>: Reifen, Erkenntnis<br />
gewinnen, Bewußtsein erweitern. Hier ...”<br />
“Für den Menschen? Erkenntnis gewinnen gibt es nur be<strong>im</strong><br />
Menschen.”<br />
“Nein. Erkenntnisgewinnung ist ein Teil des Ausreifens<br />
aller Arten, ein Ausdruck des sich vollendenden Lebensvorgangs.”
Erkenntnisgewinnung 307<br />
“Der Mensch kann mehr!”<br />
“Im Menschen hat Erkenntnisgewinnung eine verstärkte<br />
Ausprägung erfahren. Das hat unsere Eigenwelt neu<br />
gestaltet, zusätzliche Spielregeln geschaffen und zusätzliche,<br />
intern wirksame Selektionsbedingungen.”<br />
“Wie Sie die Dinge sehen! Wie Sie sie sezieren! Wie Sie<br />
sie s<strong>im</strong>plifizieren! Ihre Sicht ist mir zu analytisch und zu<br />
rational. Es gibt auch Gottvertrauen, Glauben, Geheiligtes.<br />
Müssen wir es nicht vor dem Alles-Wissen-Wollen schützen?”<br />
“Auf Dauer können wir nichts schützen vor dem Wissenwollen.<br />
Auch nicht Dinge, die uns heilig sind.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil der Kern ausreifenden Menschseins die Suche nach<br />
der Wahrheit ist.”<br />
“Menschsein! Dazu gehört auch anderes!”<br />
“Ja. Fürsorge und Rücksichtslosigkeit, Hingabe und Selbstverwirklichung,<br />
Liebe und Haß, Gelehrtheit und Verbohrtheit,<br />
Moral und Verderbtheit. Und wie be<strong>im</strong> Tiersein gibt es<br />
da auch Macht und Ohnmacht, Hunger und Essen, Durst und<br />
Trinken, Trieb und Befriedigung.”<br />
“Sie werfen alles in einen Topf. Da verwischen sich natürlich<br />
die Unterschiede. Die Basis menschlicher Existenz sehe ich<br />
als etwas Separates, als etwas von der übrigen Natur Unterscheidbares.<br />
Als etwas …”<br />
“Die Basis menschlicher Existenz ist nichts Separates. Sie<br />
ist die gleiche wie bei jeder anderen Kreatur. Alles entwächst<br />
dem gleichen Boden. Alles besteht aus dem gleichen Material.<br />
Alles gehorcht den gleichen Gesetzen. Überall herrschen die<br />
gleichen Urantriebe: Selbsterhalt, Vermehrung und Verbreitung;<br />
Aneignung von Energie und Materie; Umwandlung von<br />
Fremdem in Eigenes; Entwicklung und Ausbreitung des Eigenen<br />
zu Lasten des Umgebenden.”<br />
“Ihre Art, zu vereinheitlichen, geht mir zu weit!”<br />
“Im ausreifenden Menschsein werden die Urantriebe zunehmend<br />
individualisiert, intensiviert und kanalisiert – und
308 ANSICHTEN<br />
zwar mit durchschlagender Wirkung. So verzerrt der moderne<br />
Mensch nicht nur das ausbalancierte Zusammenleben<br />
verschiedener Lebensformen, sondern er stört auch die zwischenartliche<br />
Harmonie in der Informationsgewinnung.”<br />
“Sie beschreiben, was Ihrer Ansicht nach geschehen ist und<br />
geschieht. Gründe für die Fortschreibung unserer besonderen<br />
Art der Erkenntnisgewinnung, für unsere Forschungstätigkeit,<br />
liefern Sie nicht!”<br />
“Die Gründe fußen auf unserem Wesen. Wir tun, was wir<br />
nicht lassen können.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Unser wachsender Hunger nach Wissen ist Teil unserer<br />
Evolution. Im tiefsten Grunde ist er nichts anderes als eine<br />
die hypertrophierende Ausbildung unseres Hirns begleitende<br />
Verstärkung des Neugiertriebes. Ja”, nickt der Physiker vor<br />
sich hin, “ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht: In<br />
letzter Konsequenz ist Erkenntnisgewinnung ein Trieb. Und<br />
somit ist das Streben nach Erkenntnis auch ein Ausdruck<br />
unserer Unfreiheit. Wir können nicht anders.”<br />
Irgendetwas <strong>im</strong> Maler grinst: ‘Die hehre Wissenschaft – die<br />
Ausgeburt eines Triebes!’<br />
“Im Umfeld unseres <strong>Suchen</strong>s nach Lebensinhalt, Sinn und<br />
Erkenntnis verselbständigen sich, bis zu einem gewissen<br />
Grad jedenfalls, vielschichtige Antriebskräfte. Sie gestalten<br />
ihre eigene Welt von Kultur, Kunst, Religion und Wissenschaft<br />
– eine Welt subl<strong>im</strong>ierter Bedürfnisbefriedigung. Dabei<br />
bewirkt der vielen Menschen eigene Antriebsüberschuß einen<br />
ständigen Leistungsdruck, ja einen Leistungszwang.”<br />
“Zur Hölle mit dem ganzen Zauber! Was nützt Erkenntnisdrang<br />
uns wirklich? Führt neues Wissen zu neuer Weisheit?”<br />
“Ich hoffe es.”<br />
“Ist das genug?”<br />
“Ohne gezielte, organisierte Erkenntnisgewinnung kann die<br />
moderne Menschheit nicht überleben. Wer nicht erkennen
Erkenntnisgewinnung 309<br />
will, wer die Wirklichkeit nicht erforschen will, wer die<br />
Wahrheit nicht wahrhaben will, dem wird das zum Verhängnis<br />
werden. Nur wenn wir offenen Sinnes von der Natur<br />
lernen, und wenn wir das Erlernte nutzen, um unsere eigene<br />
Welt wieder besser einzugliedern in die Ordnung der<br />
Schöpfung, nur dann haben wir eine Chance, Natur und<br />
Mensch wieder miteinander zu versöhnen.”<br />
“Was nützt das mir? Wie bringt mich das weiter, mich als<br />
Künstler, mich als Sucher nach mir selbst?”<br />
“Nur wer in ständigem Bemühen danach strebt, das Wesen<br />
der Schöpfung zu verstehen, nur der darf hoffen, den<br />
Schlüssel zu finden zum Verständnis seines eigenen Wesens.<br />
Und nur wer sich selbst zu erkennen vermag, der kann seine<br />
Rolle <strong>im</strong> Drehbuch der Natur interpretieren und neu<br />
gestalten.”<br />
“Was also sollen wir tun?”<br />
“Die Forderungen lauten: Erkennen, was erkennbar ist,<br />
und darauf aufbauend unser Leben in Harmonie mit der<br />
Schöpfung neu gestalten. Definieren, was für uns lebensnotwendig<br />
ist, und was getan werden kann, um die Natur vor<br />
uns zu schützen. Revision unseres Weltbildes und Neuordnung<br />
unserer Beziehungen zu Gott.”<br />
“Das also ist des Pudels Kern?”<br />
“Der Kern ist dieser: Unsere Strukturen und Funktionen<br />
sind Teile von Ökosystemen und werden von entsprechenden<br />
Programmen gesteuert. Das Erkennen der realen Welt gehört<br />
nicht zu diesen Programmen. Im Gegenteil, so wie ich das<br />
sehe, will die Natur sich nicht in die Karten kucken lassen.”<br />
“Aber …”<br />
“Die Natur schützt sich vor dem Erkanntwerden, indem sie<br />
ihre Geschöpfe auf dem entsprechenden Auge mit Blindheit<br />
schlägt. Dennoch hat sie zugelassen, jedenfalls bis auf den<br />
heutigen Tag, daß eines ihrer Geschöpfe, der Mensch, damit<br />
begonnen hat, ihr über die Schulter zu sehen. Hier ist ein<br />
Konflikt entbrannt zwischen der Kontrollfunktion der Natur,
310 ERFÜLLUNG<br />
die bestrebt ist, ihr System intakt zu halten, und der Ausbrecherfunktion<br />
des Menschen, der bestrebt ist, sich von den<br />
Fesseln seiner Ökosystembindungen zu befreien.”<br />
“Wie geht der Konflikt aus? Können wir ihn gewinnen?”<br />
“Nicht gewinnen. Nur mit ihm leben.”<br />
“Also zurück zur Steinzeit?”<br />
“Ein Zurück gibt es nicht. Wir müssen fortfahren, der Natur<br />
über die Schulter zu sehen. Wir müssen von ihr lernen. Nur<br />
mit der Natur, nicht gegen sie, können wir leben, können wir<br />
überleben. Nur wenn wir das, was wir mit äußerstem Bemühen<br />
von der Natur lernen können, <strong>im</strong> Einklang mit ihren<br />
Gesetzen und in Achtung vor ihnen umsetzen in ein neues<br />
Weltverständnis, und wenn wir dieses neue Weltverständnis<br />
als Verhaltensanleitung für den neuen Menschen nutzen, nur<br />
dann hätten wir eine Chance, den Konflikt zu bestehen. Jedenfalls<br />
eine Zeit lang.”<br />
3 ERFÜLLUNG<br />
Kirchturmglocke<br />
“Solange ich denken kann,<br />
hat die Glocke meinen Weg<br />
durchs Leben begleitet.”<br />
Lange hatte sie nicht geschlagen, die Kirchturmglocke. Es<br />
fehlte das Geld für eine Reparatur des Uhrwerks und der<br />
Glockenmechanik. Schließlich entschloß sich der Pastor zu<br />
einem für ihn ungewöhnlichen Schritt. Während einer Predigt<br />
fügte er einem Gebet eine persönliche Bitte an. Er bat um<br />
Spenden für die Instandsetzung der Glocke.<br />
Schon nach dem nächsten Gottesdienst fand sich ein großer<br />
weißer Umschlag in der Kollekte. In ihm steckten zehn Tausendmarkscheine.<br />
Mehr als genug für die Reparatur. Der
Kirchturmglocke 311<br />
hochherzige Spender hatte von der Bitte des Pastors gehört<br />
und einen Vertrauten mit dem Umschlag zur Kirche gesandt.<br />
Vater und Tochter dankten ihm in einem Gebet und erbaten<br />
für ihn Gottes Segen. Be<strong>im</strong> darauffolgenden Gottesdienst<br />
gedachte der Pastor des Spenders mit bewegten Worten.<br />
Schon vielen Menschen hatte der hochherzige Spender geholfen.<br />
Immer anonym. Der Maler mag es nicht, wenn man<br />
ihm dankt.<br />
Nun zeigt das weithin sichtbare Zifferblatt der Kirchturmuhr<br />
wieder die Zeit. Nun zählt ihre weithin hörbare Glocke<br />
wieder die Stunden.<br />
Gerade jetzt wieder trifft der große Klöppel den dicken Rand<br />
der alten Glocke. Das verursacht ein kräftiges, mahnendes<br />
Dröhnen. Wie ein Stein, der von einer Klippe in ruhiges Wasser<br />
stürzt, so erzeugt das Dröhnen der Glocke Wellenkreise,<br />
die nach allen Richtungen den Ort ihres Entstehens fliehen,<br />
weit hinein in alle Teile des <strong>Park</strong>s.<br />
Bbuommm, Bbuommm, Bbuommm, …. achtmal dröhnt die<br />
Glocke.<br />
Die Tanzmusik <strong>im</strong> Waldschloß, leise herübergeweht vom<br />
Auf und Ab lauer Abendbrisen in wechselvollem, zarten Crescendo<br />
und Decrescendo, verstummt. Tanzpause. Zwei Enten,<br />
die irgendwas irgendwo am See aufgescheucht hat, und die<br />
jetzt in Panik über den Baumwipfeln ihre Kreise ziehen,<br />
quaken in heller Aufregung. Dann drehen sie ab und fliegen<br />
zurück zum See.<br />
Und nun ist es wieder ganz still <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />
Mitten aus der Andacht dieser Stille springt die helle St<strong>im</strong>me<br />
einer Frau. Laut ruft sie etwas hinaus in die Abendst<strong>im</strong>mung.<br />
Und jetzt lacht sie. Ein perlendes Champagnerlachen.<br />
Vage zuerst, dann deutlicher und lauter, knirschen Schritte<br />
<strong>im</strong> Kies des Hauptwegs. Hand in Hand wandern Inge und<br />
Peter ihrer Bank entgegen, der Bank auf dem Hügel unter der<br />
großen uralten Eiche. Plötzlich rasches Rennen und Hüpfen.
312 ERFÜLLUNG<br />
Den überraschten Peter hinter sich lassend, läuft Inge so<br />
schnell sie nur kann den Hauptweg entlang, über die Brücke,<br />
den Kiesweg hinauf zur Bank. “Erster!”, ruft sie außer Atem<br />
und läßt sich auf die Bank fallen.<br />
“Du bist ja eine tolle Sprinterin!”, pustet der ihr hinterdrein<br />
stürmende Peter. “Da komm ich ja kaum mit!”<br />
“Kein Wunder, nicht mehr der Jüngste und dann auch noch<br />
Raucher!”<br />
Beide lachen. Sie sind ausgelassen und glücklich. Sie<br />
umarmen und küssen einander.<br />
“Vater mag dich”, sprudelt es aus Inge hervor, “er mag dich<br />
sogar sehr! Er hat gesagt: ‘Ich mag deinen Freund. Er ist aufrichtig<br />
und intelligent – und sicher meint er es ehrlich mit dir’.”<br />
“Weiß Gott, das meint er!”<br />
“Ich bin ja so glücklich! Du ahnst gar nicht, was das für mich<br />
bedeutet.” Sie drückt Peter ganz fest den Arm. “Und ich hoffe<br />
von ganzem Herzen, daß auch du Vater magst.”<br />
“Ja, ich mag ihn.”<br />
Mit beiden Armen umschlingt Inge Peters Hals und küßt<br />
ihn auf die Wange. Immer wieder.<br />
Stumm genießen die beiden ihr Glück. Sich umfassend, streicheln<br />
sie einander mit zärtlichen, tastenden Fingern.<br />
Schließlich sagt Peter: “Ich will nicht verschweigen, daß ich<br />
Bedenken hatte. Ein Pastor! Das paßt so gar nicht in die Welt,<br />
in der ich bisher zuhause war. Als Doktorand habe ich mit<br />
Freunden öfters über Wissenschaft und Religion diskutiert.<br />
Dabei sind Pastoren nicht <strong>im</strong>mer gut weggekommen. Aber ich<br />
habe dazugelernt. Das war ein wunderschöner, ein mich tief<br />
bewegender Abend in eurem Haus. Und ein Augenöffner<br />
dazu. So viel Harmonie und Wärme – das hatte ich vorher<br />
noch niemals erlebt. Dein Vater ist voller Güte und<br />
Wohlwollen. Kein Wunder, daß du ihn so sehr liebst.”<br />
Inge umarmt Peter so ungestüm, daß der nach Luft ringt.<br />
‘Mein Gott’, denkt er, ‘mein Gott, was muß die Inge an<br />
Ängsten ausgestanden haben!’
Kirchturmglocke 313<br />
Ganz fest umschlungen sitzen die beiden da auf ihrer Bank,<br />
so als wollten sie einander nie wieder loslassen. Mit weit<br />
geöffneten Herzen erwarten sie die heranschwebende Nacht.<br />
Inges Augen sind voller Tränen. Diesmal sind es Tränen des<br />
Glücks. Lange, sehr lange sitzen sie so. Schweigend. Einander<br />
festhaltend.<br />
Nur langsam, mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen, löst<br />
sich Inge aus der Umarmung. Wieder küßt sie Peter auf die<br />
Wange. Dann sagt sie: “Vater und ich, wir würden uns sehr<br />
freuen, wenn du Samstagabend zu uns kommen könntest.” Als<br />
Peter nicht sogleich antwortet, fügt sie ängstlich hinzu: “Ich<br />
hoffe sehr, daß dir der Termin paßt, daß du kommen kannst.”<br />
“Ich werde gerne kommen. Wieder um die gleiche Zeit?”<br />
“Ja. Ich freue mich! Weißt du, es ist wichtig für uns alle drei,<br />
daß Vater und du euch näher kennenlernt.” Inge hakt sich bei<br />
Peter ein, schmiegt sich an ihn. “Ich möchte so gern, daß du<br />
seine Art zu denken und zu fühlen besser verstehen lernst.<br />
Die Welt, aus der wir kommen, sie ist sehr verschieden von<br />
der Welt, aus der du kommst. Manchmal, wenn wir diskutiert<br />
haben, hatte ich das Gefühl, daß wir zwei verschiedene Sprachen<br />
sprechen. Da können Mißverständnisse viel Schaden<br />
anrichten. Vater kann da helfen. Er versteht es besser als ich,<br />
auch schwierige Dinge so zu formulieren, daß sie ohne<br />
Mißverständnisse vom Gesprächspartner aufgenommen und<br />
oft auch angenommen werden. Auch von jemandem, dem<br />
manches von dem, was uns bewegt, eher fremd ist.”<br />
Inge blickt auf zu Peter. Als der nichts sagt, fährt sie fort:<br />
“Bei unseren Gesprächen fühle ich manchmal, wie das, was<br />
ich sagen will, nicht so richtig ‘rüberkommt. Ich kann das,<br />
was mir am Herzen liegt, nicht <strong>im</strong>mer so auszudrücken, wie<br />
es gemeint ist. Manchmal komme ich mir dann vor, als stünde<br />
ich mit dem Rücken gegen die Wand. Und dann trifft mich die<br />
ganze Wucht deiner Argumente, besser formuliert und schwer<br />
zu widerlegen, obwohl ich manchmal fühle, daß das, was du<br />
sagst, so auch nicht <strong>im</strong>mer ganz richtig ist – nicht ganz richtig
314 ERFÜLLUNG<br />
sein kann. Da bin ich dann eher hilflos.”<br />
“Das klingt ja fast so, als ob ich dir Angst mache. Bin ich<br />
denn wirklich so einer, der seinen Gesprächspartner unerbittlich<br />
in die Enge drängt, der <strong>im</strong>mer recht haben will?”<br />
Inge schüttelt langsam den Kopf. “So scharf würde ich das<br />
nicht formulieren. Aber wenn du so richtig ins Argumentieren<br />
kommst, dann kniest du dich förmlich in die Dinge hinein.<br />
Dann merkt man dir an, wie deine Gedanken dich mit sich<br />
fortreißen. Dann bist du oft am weitesten von mir entfernt –<br />
obwohl wir doch in unseren Gesprächen gerade darum bemüht<br />
sind, einander näher zu kommen.”<br />
Nachdenklich streicht sich Peter mit den Fingerspitzen<br />
über das vorgestreckte Kinn. “Ich versuche, die Wahrheit zu<br />
finden. Nichts sonst. Beides ist oft schmerzlich: die Suche<br />
nach der Wahrheit und die Wahrheit, die ich finde. Auch ich<br />
fühle mich oft an die Wand gedrängt von meinen eigenen<br />
Gedanken, meinen eigenen Erkenntnissen. Oft bin ich<br />
überrascht und nicht selten unglücklich über das, was ich auf<br />
meiner Suche entdecke.” Er wendet den Kopf und blickt Inge<br />
an: “Aber darf ich deshalb aufgeben?”<br />
Da Inge nicht antwortet, sagt er: “Nein, das darf ich nicht.<br />
Ohne Wahrhaftigkeit, ohne Aufrichtigkeit, anderen und mir<br />
selbst gegenüber, würde mein Leben dunkel werden. Ich muß<br />
leben können ohne Scham. Ich will in die Welt hinausschauen<br />
können, ohne die Augen niederschlagen zu müssen und ohne<br />
das, was ich sehe, zu beschönigen, zu verdrehen oder zu<br />
verdrängen.”<br />
Peter streichelt Inges Hand. Die liegt jetzt flach ausgebreitet<br />
neben ihr auf der Bank. “Vielleicht hast du das noch<br />
gar nicht so bemerkt, aber du selbst stellst die schwierigsten<br />
Fragen. Ganz offensichtlich möchtest auch du dir Klarheit<br />
verschaffen, reinen Tisch machen. Wir haben sehr verschiedene<br />
Lebenserfahrungen. Es geht nicht darum, sie zu verwischen<br />
oder zu leugnen. Es geht darum, sie zu erkennen und<br />
anzuerkennen. In gegenseitiger Achtung, <strong>im</strong> Umeinander-
Wissen und <strong>im</strong> Einander-Verstehen können wir dann getrost<br />
ein gemeinsames Leben aufbauen.”<br />
“Ja, Peter, das ist wahr.”<br />
Bbuommm, Bbuommm, Bbuommm, … Es ist neun Uhr.<br />
“Schön, daß sie wieder heil ist, die Kirchturmglocke! Vater<br />
hat sie reparieren lassen. Oben <strong>im</strong> Turm hängt sie. Von meinem<br />
Z<strong>im</strong>mer aus kann ich sie sehen. Durch’s Turmgitter.<br />
Solange ich denken kann, hat die Glocke meinen Weg durchs<br />
Leben begleitet. Ich mag sie nicht missen. Schön, daß sie<br />
wieder heil ist, daß sie mir wieder meine Stunden zählt.”<br />
Lange sitzen die beiden auf ihrer Bank. Stumm. Glücklich.<br />
Brückenvollendung<br />
Brückenvollendung 315<br />
Zärtlich schmiegt Inge sich an ihren Peter. Immer wieder<br />
haucht sie Küsse über sein Gesicht, streichelt seine Wange,<br />
seinen Arm und seine Hände. Alles in ihr ist ganz und gar<br />
Peter zugewandt. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl<br />
durchströmt sie. Ihre große Liebe zu Peter überstrahlt jetzt<br />
alles. Niemals zuvor in ihrem Leben war sie so sehr Frau, so<br />
sehr verlangendes Fühlen.<br />
Peter umarmt und küßt Inge. Wieder und wieder. Ihre Herzen<br />
hämmern in rascher und wilder werdendem Takt. Trieb<br />
erwacht und pulst herauf aus dunklen Tiefen. Atem weht heftiger,<br />
schneller und tiefer.<br />
‘Endlich – endlich!’, denkt Peter, als Inge ihm weich und<br />
warm entgegenschmilzt, als ihr Körper sich ihm verlangend<br />
entgegendrängt. Zwei Liebende finden die Erfüllung ihrer<br />
Sehnsucht, finden endlich ganz zueinander: Herzen, Hände,<br />
Lippen, Körper. Lange lieben sie sich auf ihrer Bank.<br />
All ihre Probleme, all ihre Verschiedenartigkeiten – sie sind<br />
ganz leicht geworden. Alles Trennende entschwebt, löst sich<br />
auf wie Morgennebel in sonnetrinkender Luft. Ihr Glück sorgt<br />
sich nicht. Es fragt nicht. Nicht nach Anfang, nicht nach
316 ERFÜLLUNG<br />
Ende. Es genießt sich selbst.<br />
Solche Vereinigung geschieht in Gott. Sie erhöht das Ich<br />
zum Wir. Sie fügt zwei Teile zum Ganzen.<br />
Die Brücke ist vollendet.<br />
Sie werden wiederkommen, die Probleme. Aber sie werden<br />
keine Gefahr mehr sein für ihre Liebe.<br />
Bbuommm, bbuommm, … Inge lächelt mit geschlossenen<br />
Augen und in tiefem, tiefem Glück. ‘Die Glocke’, denkt sie,<br />
‘zum erstenmal in meinem Leben stört sie mich, zum<br />
erstenmal hätte ich – für ein einziges Mal nur – auf sie<br />
verzichten können. Wieder lächelt sie.<br />
Immer noch eng umschlungen liegen die beiden da. Wie aus<br />
einem wunderschönen Traum erwachend, richten sie sich<br />
langsam auf. Mit großen blanken Augen blicken sie wortlos<br />
in den <strong>Park</strong>, in einen <strong>Park</strong>, der plötzlich ganz anders aussieht,<br />
der auf gehe<strong>im</strong>nisvolle Weise teilgenommen hat an ihrem<br />
Glück. Einen <strong>Park</strong>, dessen Sträucher und Bäume den stillen<br />
Glanz der Erfüllung zu reflektieren scheinen.<br />
Inge ordnet ihre Kleidung. Streicht über ihr Haar und zieht<br />
die schwarze Samtbandschleife fest. Sie küßt Peter. Dann<br />
faltet sie die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />
Tanzen<br />
Sehr lange schweigen Inge und Peter. Ein tiefes, glückliches,<br />
und erlösendes Schweigen. Dann sucht Inge nach einer<br />
Brücke über das Schweigen. Zögernd fragt sie, fast flüsternd:<br />
“Was macht deine Arbeit?”<br />
Peter antwortet nicht. Er muß sich noch zurücktasten aus<br />
seiner Entrückheit. Schließlich räuspert er sich, wischt Haar<br />
aus der Stirn, setzt die Brille wieder auf und zieht die Jacke<br />
wieder an. Umständlich kramt er Tabakbeutel und Pfeife<br />
hervor.
Tanzen 317<br />
“Bist du zufrieden? Kommst du voran?”<br />
Als Peter noch <strong>im</strong>mer nichts sagt, wendet Inge sich ihm zu,<br />
sieht ihn Antwort erbittend an. Aber Peter n<strong>im</strong>mt das gar<br />
nicht wahr. Gebannt starrt er auf den dunklen Boden zu<br />
seinen Füßen. Aus dem Boden scheint etwas zu raunen. Das<br />
Raunen klingt wie die St<strong>im</strong>me seines unglücklichen Vaters.<br />
‘Vergänglich,’ füstert die St<strong>im</strong>me, ‘Glück ist so vergänglich.’<br />
Sacht berührt ihn Inges Hand. “Träumst du?”<br />
Da schreckt er hoch. Blickt in strahlende blaue Augen.<br />
Schließt Inge aufatmend in die Arme. Drückt sie an sich,<br />
ganz, fest.<br />
“Mein geliebter Träumer”. Inge streichelt sein Haar. “So<br />
kenne ich dich noch gar nicht.”<br />
Nach einer Weile sagt sie: “Na, was ist mit deiner Arbeit?”<br />
“Es … es läuft ganz gut. Recht gut sogar. Ich habe allen<br />
Grund, zufrieden zu sein.”<br />
Inge hatte Einzelheiten erwartet, aber Peter ist sehr einsilbig.<br />
Vom Waldschloß her erklingt wieder leise Tanzmusik. Stumm,<br />
einander umarmend, sitzen sie auf ihrer Bank und lauschen.<br />
Die Rhythmen eines Tangos wehen herüber und die hohen<br />
Vibratotöne einer mit Leidenschaft gespielten Geige. Lauter<br />
als sonst können Inge und Peter die Musik hören. Der Wind<br />
hat gedreht. Er kommt jetzt von Süden. Den Tangorhythmus<br />
in sich aufnehmend, wiegt Inge ihren Kopf. Dann auch den<br />
Oberkörper. Der Zopf beginnt sich zu bewegen. Und nun<br />
pendelt er vergnügt hin und her. Sie wiegt sich in den Hüften.<br />
Peter lächelt: “Wir sollten mal wieder Tanzen gehen.”<br />
“Oh ja!” Inge springt auf, stellt sich in Positur, neigt den<br />
Kopf, preßt die Linke auf die schmale Taille und hebt den<br />
rechten Arm drehend und windend in die Höhe. Wie eine heißblütige<br />
Spanierin tänzelt sie mit anmutigen Bewegungen auf<br />
und ab vor der Bank.<br />
“Eine Pr<strong>im</strong>adonna!”, lacht Peter. “Eine ganz besonders schöne.<br />
Und eine sehr temperamentvolle dazu!”<br />
Er steht auf. Steckt Tabakbeutel und Pfeife in die Jacken-
318 ERFÜLLUNG<br />
tasche. Sieht sich um nach Inge. Die tanzt noch <strong>im</strong>mer, mit<br />
erhobenem Arm und windender Hand. Jetzt kommt sie hüftschwingend<br />
auf ihn zu. Die beiden stehen dicht voreinander.<br />
Peter blickt in überglücklich blitzende blaue Augen. Langsam<br />
breitet er die Arme aus. Als Inge ihm entgegengleitet, küßt er<br />
sie lang und innig.<br />
Inge voran, schlendern die beiden den schmalen Kiesweg<br />
hinunter zur Brücke. Einander umfassend beugen sie sich<br />
über das Geländer und blicken in das unter ihnen dahinfließende<br />
Wasser.<br />
“Sieh nur”, ruft Inge, “dort unten. Der große Fisch!”<br />
Peter nickt.<br />
“Was ist das für ein Fisch?”<br />
“Eine Forelle.”<br />
Im Licht des Mondes hebt sich der schmale dunkle Rücken<br />
deutlich ab gegen den hellen Sand des Bachbodens.<br />
Die beiden gehen den Hauptweg entlang in Richtung Waldschloß.<br />
Ganz eng schmiegt Inge sich an ihren Geliebten.<br />
Als Inge und Peter durch einen hohen Torbogen den Restaurantgarten<br />
betreten, empfängt sie pulsierendes Leben. An<br />
Kabeln hängend, rahmen bunte Lampions eine große Tanzfläche<br />
ein und bilden einen Halbkreis um die Terrasse, die als<br />
Bühne für die Musiker dient. In weißem Sommeranzug tänzelt<br />
ein schlanker Geiger temperamentvoll auf und ab vor der<br />
funkelnden Schwärze eines Flügels. So sehr dominiert er die<br />
Bühne, daß man den Bassisten, den Pianisten und den Saxophonisten<br />
zunächst gar nicht wahrn<strong>im</strong>mt.<br />
Auf jedem der zahlreichen Tische brennt eine Kerze in<br />
bauchigem Glas von rötlich-gelber Farbe. “Wie schön das alles<br />
ist!”, sagt Inge. Nach einem Platz Ausschau haltend, stehen<br />
die beiden in der Nähe der Bühne. Der Geiger nickt ihnen zu,<br />
mit hochgezogenen Brauen und umhertaumelnder schwarzer<br />
Stirnlocke.<br />
Inge und Peter wählen einen freien Tisch an einem kleinen<br />
Teich. Dort angekommen, setzen sie sich und studieren die
Tanzen 319<br />
Speisekarte. Dann wandern ihre Augen über das Kerzenmeer.<br />
“Was darf’s sein?”<br />
Ein Kellner ist an ihren Tisch getreten, und nun bestellen<br />
die beiden eine große Käseplatte, einen Apfelsaft und ein Bier.<br />
“Sobald die Getränke da sind, tanzen wir, ja?”<br />
Peter nickt.<br />
Die Musiker haben einen Foxtrott angest<strong>im</strong>mt. Mit verzückten,<br />
ruckartigen Bewegungen stelzt die helle Lichtgestalt des<br />
Geigers vor dem schwarzen Flügel auf und ab. Den Oberköper<br />
drehend und wendend, wirft er Kopf und Geige hin und her,<br />
als wollte er beide unbedingt loswerden. Seine schwarze<br />
Stirnlocke schleudert von einer Seite zur anderen, und fast<br />
<strong>im</strong>mer verdeckt sie eines seiner Augen.<br />
“Der neue Geiger”, sagt Inge, “ist viel besser als der alte.<br />
Gut, daß hier mal eine neue Kapelle Schwung rein bringt.”<br />
Der Kellner serviert den Apfelsaft und das Bier. “Die Käseplatte<br />
kommt gleich.”<br />
“Vielen Dank”, sagt Peter. Die beiden prosten einander zu.<br />
“Auf einen schönen Abend!”<br />
“Ja”, antwortet Inge, “auf einen schönen Abend.”<br />
Kaum haben sie die Gläser abgesetzt, da bittet Peter zum<br />
Tanz. Leicht wie eine Feder folgt Inge jeder seiner Bewegungen.<br />
Wortlos, glücklich, sich ganz einander und der Musik<br />
überlassend, tanzen sie wie <strong>im</strong> Traum. Warm und weich spürt<br />
jeder den Körper des anderen. So tanzen sie lange. Dem<br />
Foxtrott folgt ein slow dance. Noch inniger und vollkommen in<br />
der gegenseitigen Berührung aufgehend, wiegen sie sich <strong>im</strong><br />
Rhythmus der zarten Musik.<br />
Als die Musiker schließlich eine Pause einlegen, umarmt<br />
Peter Inge und küßt sie auf die Wange. Händehaltend gehen<br />
sie zurück an ihren Tisch. Dort machen sie sich mit großem<br />
Appetit über die Käseplatte her.<br />
Inge sieht auf ihre Armbanduhr und erschrickt. “Zeit zum<br />
Aufbruch!” Peter zahlt. Arm in Arm gehen sie zum Hauptweg.<br />
“Was meinst du”, fragt Peter, “wollen wir noch ein bißchen
320 ERFÜLLUNG<br />
spazieren gehen?”<br />
“Ich habe morgen in der Uni eine Diskussionsrunde. Darauf<br />
muß ich mich noch etwas vorbereiten.”<br />
“Worum geht’s denn da?”<br />
“Um Hebbels Tagebücher.”<br />
“Wer ist Hebbel?”<br />
“Friedrich Hebbel, das ist mein Lieblingsautor.”<br />
“Was hat dieser Mann so Herausragendes geleistet, daß<br />
man ihm eine besondere Diskussionsrunde widmet?”<br />
“Hebbel hat bedeutende Dramen geschrieben. Eine seiner<br />
herausragenden Leistungen ist die Art, in der er seine Tragödien<br />
gestaltet hat. Er ist Bewahrer des strengen Stils der<br />
Tragödie, aber auch Pionier sozialer Themen.”<br />
Inge hebt die Arme, streicht ihre Haare zurück und zieht die<br />
Schleife fest. Nachdenklich sagt sie: “Dieser Mann fasziniert<br />
mich.”<br />
“Was fasziniert dich an ihm?”<br />
“Daß er den Tod seines Helden zur Bedingung und Voraussetzung<br />
macht für die Überwindung eines als veraltet erkannten<br />
Weltbildes.” Sie schweigt einen Augenblick. Dann sagt sie:<br />
“Hebbel hat versucht, der unausweichlichen Tragik seines<br />
Helden eine überindividuelle Bedeutung zu verleihen.”<br />
“Hat Hebbel sich auch über Gott geäußert ?”<br />
“Ja. Hebbel hielt es für erforderlich, daß der Mensch die <strong>im</strong><br />
weltlichen Widerspruch gefangene Gottheit erlösen müsse.<br />
Hier aber vermag ich ihm nicht zu folgen.”<br />
Als Peter nichts sagt, fragt Inge: “Rede ich dir zuviel germanistisches<br />
Zeug?”<br />
“Nein, ganz und gar nicht! Ich weiß so wenig über deine<br />
fachlichen <strong>Inter</strong>essen. Ich möchte mehr darüber wissen, mehr<br />
davon lernen. Bitte sprich weiter.”<br />
“Hebbel war nicht nur ein bedeutender Tragiker, er war<br />
auch ein Lyriker, der stilistische Anmut und Gedankenschwere<br />
spannungsreich miteinander zu verbinden wußte. Und er<br />
war ein den Widersprüchen menschlichen Verhaltens mit boh-
endem Intellekt und beißendem Humor nachspürender Erzähler.<br />
In seinen Tagebüchern hat er einen Spiegel der Weltliteratur<br />
seiner Zeit geschaffen.”<br />
“Und über diese Tagebücher werdet ihr morgen diskutieren?”<br />
“Ja. Im germanistischen Seminar.”<br />
“Schon wieder unbekanntes Terrain. Was eigentlich will,<br />
was macht Germanistik?”<br />
“Das kann ich dir jetzt nicht erläutern, wenn ich mich noch<br />
für morgen vorbereiten will. Dazu würde ich die halbe Nacht<br />
benötigen.”<br />
“Vielleicht tut’s auch eine Mini-Kurzfassung?”<br />
“Ich versuch’s mal. Germanistik <strong>im</strong> weiteren Sinne ist die<br />
Wissenschaft von der Lebensart, Religion, Kunst, und Sprache<br />
der Germanen und auch von ihrer Rechtsauffassung. Im<br />
engeren Sinne behandelt sie die deutsche Sprache und die<br />
deutschsprachige Literatur, so wird sie zur Wissenschaft vom<br />
Wesen und geistigen Leben der Deutschen.”<br />
“Dann wird Germanistik nur in Deutschland gelehrt?”<br />
“Nein, auch in anderen Ländern.” Inge knöpft die Bluse zu.<br />
Es ist kühl geworden.<br />
“Macht dir dein Studium Freude?”<br />
“Ja, sehr! Germanistik ist ein hochinteressantes Fach.”<br />
4 GERECHTIGKEIT<br />
Gleichnis<br />
Gleichnis 321<br />
‘Nie wieder!! Niemals!!!’<br />
Auf der Bank am Fluß sitzen Festmacher, Schmied und<br />
Fiedler. Es ist mal wieder nichts los <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />
“Klar”, sagt der Festmacher und rückt die Mütze zurecht,<br />
“klar hab ich den Spannerfilm gesehn. Ich kümmer mich wenig<br />
um Kino. Aber so was muß ‘n Fachmann reinsaugn.” Er
322 GERECHTIGKEIT<br />
nickt. “Nich schlecht. Super Szen’n. Heiße Handlung. Klasse<br />
Kamera. Der Regisseur, der kennt unser Geschäft. Was uns<br />
anmacht? Der weiß das.” Er tickt an den Mützenschirm. Dann<br />
sagt er: “Trotzdem.” Mit Nachdruck schüttelt er den Kopf.<br />
“Trotzdem! Da fehlt was. Das is nur die halbe Sache. Spannern<br />
kommt aus’m Bauch. Da muß Gefahr sein, Jagdst<strong>im</strong>mung,<br />
Prickeln. Erst diese Mischung gibt den großn Kick.” Er nickt.<br />
“Erst das gibt die Melodie, die den Spanner tanzn läßt.”<br />
“Mensch Festmacher, du redest ja auf einman wie so’n<br />
Psychonoge!”<br />
“Was dagegen? Wenn ich will, kann ich eben auch sowas.”<br />
Der Festmacher richtet sich hoch auf. Wie ein Aal, der sich<br />
durch dichtstehende Schilfstengel zwängt, windet er sich hin<br />
und her und sagt dabei gespielt geziert: “Ich kann eben, wenn<br />
ich das für richtig halte, meine Ausdrucksweise und meinen<br />
Sprachstil den Gegebenheiten anpassen.”<br />
Der Schmied brüllt vor Lachen. Er rammt den Ellenbogen in<br />
die Rippen des Fiedlers, daß der zusammenfährt: “Das’n Typ,<br />
wa!?” Immer wieder schlägt er sich mit den mächtigen Pranken<br />
klatschend auf die Schenkel. “Wahnsinn!”<br />
Völlig unbeeindruckt sagt der Festmacher: “Das is genauso<br />
wie mit den Mackern, die mit ‘ner Knarre rumlatschn und<br />
Rehe schießn. Hasn schießn. Entn schießn. Den’n kannst du<br />
noch so’n tolln Film zeign übers Jagn. Deswegn stelln die ihre<br />
Knarre nich auf’n Sperrmüll. Die wolln selber jagn. Selber<br />
schießn.”<br />
“Und senber totmachn!”, ruft der Schmied. “Ohne totmachn<br />
näuft da nix.”<br />
“Ja, Mann. Totmacher sind das. Die habn einfach Spaß am<br />
totmachn.”<br />
“Aber die tun auch was fürs Wind.”<br />
“Tun? Nich viel. Aber redn und schreibn, jede Menge. Von<br />
Wildpflege und Wildhege. Die blasen das auf wie ‘n Luftballon.<br />
Aber n<strong>im</strong>m den’n mal ihr Spielzeug weg. Denn kannst du<br />
was erlebn!” Der Festmacher spuckt. “Klar tun die auch was
Gleichnis 323<br />
fürs Wild. Sonst hättn se ja nix zum Ballern. Den’n geht doch<br />
nur einer ab, wenn se ballern könn’n. Da sind wir Engel gegn!<br />
Wir machn kein’n tot. Wir tun niemand was. Kein’m Reh,<br />
kein’m Hasn, keiner Ente. Niemand!” Er nickt. “Die reinstn<br />
Engel sind wir dagegn!”<br />
“Jäger kümmern sich auch um die Natur!”<br />
“Gut so. Mehr davon!”<br />
“Das’s doch wirknich ‘n Typ, wa? Festmacher for …” Das<br />
Wort bleibt dem Schmied <strong>im</strong> Halse stecken. Im gedämpften<br />
Licht einer <strong>Park</strong>laterne erscheint ein Paar in der Einmündung<br />
des Weges. Die Frau läßt die drei mit ausgestreckten<br />
Beinen auf der Bank sitzenden Männer erstarren und den<br />
Atem anhalten. Eine aufregende Sanduhrfigur schwingt auf<br />
sie zu. Männer verwirrende Brüste tanzen verhalten frei<br />
unter dünnem Tüll. Das hübsche Gesicht umrahmt eine<br />
lange, <strong>im</strong> Laternenlicht leuchtende, blonde Mähne. Inge hat<br />
ihre Haare von der bündelnden Samtbandschleife befreit.<br />
Goldgelb fließen sie herab, weit über ihre Schultern. Der kurze,<br />
be<strong>im</strong> Gehen pendelnde Glockenrock verhüllt nur die<br />
obersten Teile ihrer weißen Schenkel. Lange, schlanke Beine<br />
stelzen anmutig über den Boden. Zum erstenmal in ihrem<br />
Leben trägt Inge Schuhe mit hohen Absätzen. Das gibt ihrem<br />
Gang etwas faszinierend Erotisches, Verzauberndes.<br />
Mit aufgerissenen Augen und hämmernden Herzen saugen<br />
die drei versteinert dasitzenden Spanner die Frau in sich<br />
hinein. Der schlanke Begleiter der jungen Frau blickt abschätzend<br />
auf die drei nachtschwarz gekleideten Gestalten,<br />
zwei mit Schiffermützen, tief in die Stirn gezogen, und einer<br />
mit dunklem Haarschopf. Peter legt den Arm um Inge, so als<br />
wolle er sie beschützen. Der enge Weg am Fluß zwingt das<br />
Paar, dicht an der Bank vorbeizugehen. Inge, der Bank am<br />
nächsten, muß sich sogar in acht nehmen, daß sie den Männern<br />
nicht auf die derben, schwarzen Schuhe tritt. Keiner von<br />
den dreien vermag sich zu bewegen. Fast körperlich spürt<br />
Inge ihr Starren. Das ist ihr sehr unangenehm. Scheu, ver-
324 GERECHTIGKEIT<br />
legen, sagt sie leise: “Guten Abend”, und nickt den Männern<br />
schüchtern zu.<br />
Als die ihre Fassung wieder gewonnen haben – und in der<br />
Lage gewesen wären, den Gruß zu erwidern – ist das Paar<br />
schon hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.<br />
Der Maler hat feuchte Augen. Er beißt sich auf die Unterlippe,<br />
so fest, daß sie zu bluten beginnt.<br />
“Die Königskinder”, sagt der Festmacher.<br />
“Die von Engnand?”<br />
“Nee. Die aus’m Märchn.”<br />
“Was für’n Märchn?”<br />
Als der Festmacher nicht antwortet sagt der Maler: “Da gibt<br />
es ein Märchen von zwei Königskindern. Die konnten<br />
zusammen nicht kommen … das Wasser war zu tief …”<br />
“Seh kein tiefes Wasser.”<br />
“Das ist ein Gleichnis. Die beiden trennen schwer<br />
überbrückbare Unterschiede in ihrer Herkunft, ihren<br />
Erfahrungen und ihrem Denken. Das Leben hat sie ganz<br />
unterschiedlich geprägt.”<br />
“Nu hau doch einer die Naus auf’n Kopp! Jetzt fängt der<br />
Fiedner auch noch an zu spinn’n! Da kriegt man ja Kompnexe!”<br />
Der Schmied schüttelt sich. “Komm mir vor wie ‘ne<br />
Kröte zwischen zwei Genies.”<br />
Der Festmacher rülpst. “Der Quatscher und seine Puppe.”<br />
Erst jetzt entfaltet die Aura des blonden Mädchens ihre<br />
volle Wirksamkeit <strong>im</strong> Maler. Im Leib zuckt es. Er zittert.<br />
Und dann überwältigt ihn wieder diese merkwürdige, diese<br />
besondere St<strong>im</strong>mung. Jetzt, erst jetzt, begreift er, was ihm<br />
da widerfuhr. Wer da an ihm vorbeigeschritten war. Das war<br />
der Engel!! Seit er dieses Mädchen zum erstenmal gesehen<br />
hatte, auf der Bank unter der großen Eiche, in der ersten<br />
Nacht mit dem Festmacher, seitdem hatte er nach ihm gesucht.<br />
Überall. Nirgends hatte er das Mädchen finden<br />
können. Wie von Sinnen springt er auf, will dem Engel<br />
hinterdreinstürmen.
Da packt ihn die Faust an der Jacke und zerrt ihn zurück<br />
auf die Bank. “Du Arsch, du! Reiß dich zusamm’n, Mann! Ich<br />
mag das nich, wenn einer so’ne Rieseneier hat. Du läufst an<br />
meiner Leine oder du gehst über Bord. Is das klar!?”<br />
“J…ja”, stottert der Maler. Ausatmend sackt er in sich zusammen.<br />
“Merk dir das! Du gottsverdammter Zappelfritze!”<br />
“Nu mach den doch nich so pnatt!” Dem Schmied tut der<br />
Fiedler leid.<br />
“Los!”, ruft der Festmacher, “wir wolln mal wieder was zu<br />
sehn kriegn!”<br />
Die drei gehen in die Richtung, die der Festmacher mit einem<br />
kurzen Ruck des Kopfes andeutet. Plötzlich bleibt der<br />
Schmied stehen.<br />
“Was’s los?”<br />
“Komm gneich nach.”<br />
Der Schmied strebt in die Büsche. Heut hat er Papier dabei.<br />
Letztes mal war es schl<strong>im</strong>m gewesen. Wie ein Wiesel hatte er<br />
herumgesucht. Kein Papier zu finden! Buchstäblich in den<br />
letzten Sekunden hatte es dann doch noch geklappt. Links<br />
neben der Bank auf dem Hügel lag ein Papierbogen, sorgfältig<br />
zusammengefaltet unter einem großen Stein. Rasch hatte er<br />
den Stein beiseite gerollt und das Papier an sich gerissen.<br />
Dann war er damit in die Büsche gerannt. Weit genug weg<br />
von der Bank. Festmacher-Gesetz!<br />
Heute läuft alles planmäßig. Schon bald eilt er, erleichtert,<br />
seinen beiden Kumpels hinterher.<br />
Unschuldig<br />
Unschuldig 325<br />
Der Schmied ist ein durch und durch rechtschaffener Mann.<br />
Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß er drei Jahre <strong>im</strong><br />
Zuchthaus gesessen hat.<br />
In einer Schrebergartenanlage hatte der Schmied einen
326 GERECHTIGKEIT<br />
Hilfeschrei gehört. Sofort war er losgerannt. Als er um die<br />
Ecke eines Weges bog, sah er, wie ein Mann eine Frau auf den<br />
Boden drückte. Wie ein Besessener riß er ihre Bluse in Fetzen.<br />
Dann zerrte er in wilder Entschlossenheit an ihrem Rock.<br />
Wieder stöhnte, weinte und schrie die Frau. Da ergriff der<br />
Mann einen großen Stein und schmetterte ihn auf den Kopf<br />
der Frau. Sofort war alles still.<br />
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rannte der Schmied<br />
auf die beiden zu und warf sich mit einem Riesensatz auf den<br />
Mann. Mit all ihrer Kraft kämpften die beiden miteinander.<br />
Schließlich biß der Mann den Schmied so heftig in die Hand,<br />
daß sie vor Schmerz zurückzuckte. Da gewann der andere die<br />
Oberhand. Der Schmied mußte schwere Schläge einstecken.<br />
Dennoch kämpfte er entschlossen weiter. Dann, plötzlich,<br />
raubte ihm ein gewaltiger Faustschlag das Bewußtsein. Wie<br />
eine gefällte Eiche stürzte der Schmied auf die Frau.<br />
Aufgeregte St<strong>im</strong>men näherten sich. Alarmierte Schrebergärtner<br />
rannten herbei. Sie fanden den Schmied auf der Frau<br />
liegend. Für sie war der Fall klar. Wütend schlugen sie auf<br />
ihn ein und verletzten ihn schwer. Sie hätten ihn erschlagen,<br />
wäre nicht die Polizei dazugekommen. “Da ist das Schwein!”,<br />
keuchte einer der Männer. “Schlagt ihn tot!”<br />
Erst vor drei Wochen war hier eine Frau vergewaltigt und so<br />
schwer verletzt worden, daß sie wenig später <strong>im</strong> Krankenhaus<br />
starb. Die Wut der Schrebergärtner war daher verständlich.<br />
Handschellen klickten. Als schwer verletzter Gefangener<br />
taumelte der Schmied zwischen zwei Polizeibeamten denselben<br />
Weg zurück, auf dem er eben noch als mutiger Helfer<br />
herbeigestürmt war.<br />
Der Schmied hörte nicht auf, seine Unschuld zu beteuern.<br />
“Ich hab der Frau helfen wollen!”, stammelte er <strong>im</strong>mer wieder.<br />
“Ich bin unschuldig! Der Täter hat mich niedergeschlagen!”<br />
Niemand glaubte ihm. Staatsanwalt und Richter sahen seine<br />
Schuld als erwiesen an. Und dem Verteidiger fiel nicht viel<br />
ein, das er zugunsten seines Mandanten hätte vorbringen
Unschuldig 327<br />
können. Nach zwei Wochen starb die Frau. Ohne viel Federlesen<br />
wurde der Schmied zu dreißig Jahren Zuchthaus<br />
verurteilt. Eine Berufung, die sein Verteidiger erst auf seine<br />
flehentlichen Bitten hin halbherzig eingereicht hatte, wurde<br />
abgeschmettert.<br />
An diesem Fehlurteil ist der Schmied fast zerbrochen. Immer<br />
wieder hat er gerufen: “Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!!<br />
Ich wollte der Frau doch nur helfn!” Auch des<br />
Nachts, während seine Mitgefangenen in ihren Zellen<br />
schliefen, fing er plötzlich an zu schreien: “Ich will raus hier!<br />
Ich bin unschuldig!!” Aber das brachte ihm nur versteckte<br />
Tritte während des Hofgangs ein. Seine Zellennachbarn waren<br />
es leid, dauernd in ihrer Nachtruhe gestört zu werden.<br />
Der Schmied kann nicht mehr an Gerechtigkeit glauben.<br />
Hoch und heilig hat er sich geschworen, <strong>im</strong>mer und <strong>im</strong>mer<br />
wieder: ‘Wenn ich hier rauskomm, und wenn so was nochmal<br />
passiert: Nie, nie wieder werd ich helfn! Ich werd mir die Ohrn<br />
zuhaltn und die Augn. Aber helfn? Nie wieder!! Niemals!!!’<br />
Nur ein einziger Mensch hatte in dieser schweren Zeit zu<br />
ihm gehalten: Seine Verlobte. Ohne jedes Wenn und Aber war<br />
sie von seiner Unschuld überzeugt. Eine Amerikanerin. Er<br />
liebte sie über alles. Zwe<strong>im</strong>al war er schon mit ihr in Amerika<br />
bei ihren Eltern gewesen. Einmal neun Wochen und einmal<br />
sechs Monate. Schon bald hätte die Hochzeit stattfinden<br />
sollen. Seine zukünftigen Schwiegereltern waren reich. Vom<br />
Wesen her Leute seines Schlages: arbeitsam, bescheiden und<br />
aufrichtig. Von ihrem zukünftigen Schwiegersohn waren sie<br />
sehr angetan.<br />
Seine Verlobte hatte den Schmied <strong>im</strong> Zuchthaus besucht, so<br />
oft das die Regeln zuließen. Um möglichst nah bei ihm sein<br />
zu können, hatte sie ihren Job gewechselt und ein neues<br />
Z<strong>im</strong>mer gemietet, nur eine Busstation vom Zuchthaus entfernt.<br />
Immer wieder hatte sie zu ihm gesagt: “I shall wait for<br />
you, even if you have to stay there all those thirty years.”<br />
Als der Schmied Geburtstag hatte, durfte er außer der Reihe
328 GERECHTIGKEIT<br />
Besuch empfangen. Seine Verlobte hatte ihm eine<br />
wunderschöne Armbanduhr gekauft, vergoldet und mit einem<br />
kunstvoll gefertigten Armband.<br />
Voller Vorfreude war sie mit dem Geburtstagsgeschenk<br />
in der Hand aus dem Bus gesprungen und über die Straße<br />
zum Zuchthaus gestürmt. Da hatte sie ein viel zu schnell fahrendes<br />
Auto erfaßt. Sie starb auf dem Weg ins Krankenhaus.<br />
Diesen Schicksalsschlag hat der Schmied nie verwunden.<br />
Nie wieder konnte er eine andere Frau lieben. Die Armbanduhr<br />
trägt er noch heute. Sie ist das Kostbarste, das er besitzt.<br />
Schon bald nach dem Tod seiner Verlobten wurde der<br />
Schmied aus dem Zuchthaus entlassen. Und das kam so:<br />
Nach einer langen Pause hatten zwei Morde in der Schrebergartenanlage<br />
wieder für Schlagzeilen gesorgt. Die gleiche<br />
Methode, die gleiche Brutalität. Endlich wurde der Täter<br />
gefaßt. Unter einer erdrückenden Last erschütternder<br />
Beweise gestand er. Und schließlich gab er auch zu, daß ihn<br />
vor drei Jahren ein Mann daran hindern wollte, eine Frau zu<br />
vergewaltigen. Da sei es zu einer wilden Schlägerei<br />
gekommen. Er habe den Mann k.o. geboxt und ihn bewußtlos<br />
über der Frau liegen lassen.<br />
Die fürchterlichen Geschehnisse von damals, das entsetzliche<br />
Bild des mit einem Stein zuschlagenden Mannes, seine<br />
Verurteilung, der Tod seiner Verlobten – das alles hat für<br />
<strong>im</strong>mer das Leben des Schmieds verändert.<br />
Neun Mark<br />
Jetzt hat der Schmied seine beiden Kumpels eingeholt.<br />
“Was nos?”<br />
“Nee.”<br />
Zu dritt gehen sie weiter. Da fällt dem Schmied etwas Wichtiges<br />
ein. Er stößt den Festmacher in die Seite.<br />
“Was is?”
Neun Mark 329<br />
“Mein Virus!”<br />
“Hast du ihm Zahnpasta zu fressn gegebn?”<br />
“Knar hab ich das! Der wonnte mich grad man wieder ärgern.<br />
Da hab ich gesagt: ‘Du Aas, du! Jetzt krieg ich dich.<br />
Jetzt kommt Festmachers Rezept!’ Da isser schon zusamm’n<br />
gezuckt. Erste Portion Zahnpasta. Föhn. Da zieht der schon<br />
den Schwanz ein. Zweite Portion, da isser schon schwach.<br />
Dritte Portion, da isser hin. Ehrnich, das war echt coon!”<br />
“Was ist das, coon?” fragt der Maler und wundert sich darüber,<br />
daß er das fragt.<br />
“Er meint cool.”<br />
“Sag ich doch, coon.”<br />
“Und was ist cool?”<br />
“Cool is cool.”<br />
“Right!” ruft der Schmied.<br />
Da hält der Festmacher die Hand auf: “Neun Mark.”<br />
“Wwass?”<br />
“Du glaubst doch nich, daß’n Doktor was umsonst macht.<br />
Oder?”<br />
Sich einander zuwendend, heben die beiden den rechten<br />
Arm, sehen sich in die aufblitzenden Augen, lassen die<br />
offenen Handflächen kräftig gegeneinander klatschen und<br />
boxen sich mit der linken Faust in die Rippen. Wieder sehen<br />
sie sich an. Dann prustn sie los. Und nun brüllen sie<br />
berstende Lachsalven in den dunklen <strong>Park</strong>. Und auch der<br />
Maler lacht ein wenig mit.<br />
“Wir wolln mal ausfächern”, sagt der Festmacher. “Schmied,<br />
du gehst so rum, Fiedler du gehst so rum.” Mit knappen<br />
Handzeichen gibt er die Richtungen an. Wir treffen uns wieder<br />
am Spielplatz. In ‘ner halben Stunde. Vielleicht hat dann<br />
ja einer was gesehn.”<br />
“Annes knar.”<br />
Nach zwanzig Minuten trifft der Festmacher auf den<br />
Schmied.<br />
“Was machst du hier?”
330 GERECHTIGKEIT<br />
“Hatte was anne Angen. Auf’e Bank anne Weide. Is aber nix<br />
gewordn. Da wonnte ich ‘n Abkürzer machn.”<br />
“Okay.”<br />
Beide gehen weiter, in Richtung Spielplatz. Auf dem Weg<br />
dorthin sehen sie ein Paar auf der Wiese liegen. Rein in die<br />
Büsche! Vorsichtig pirschen sie sich an ihr Wild. ‘Nich<br />
schlecht’, denkt der Festmacher. Gespannt beobachten sie das<br />
Geschehen. ‘Gar nich schlecht.’ Aber dann, auf einmal, schreit<br />
eine schrille St<strong>im</strong>me: “Laß das! Ich hab dir schon mal gesagt,<br />
du sollst mich da nicht anfassen!” Wie von der Tarantel<br />
gebissen springt das Mädchen auf und rennt weg. Der Mann<br />
läuft ihr nach.<br />
“So ‘ne Zicke”, zischt der Festmacher.<br />
Durch ein Beet frisch gewässerter junger Ligusterbüsche<br />
stapfen die beiden zurück zum Weg.<br />
“Wie kommst du mit dem neuen Fiedner knar?”<br />
Der Festmacher wiegt den Kopf. “Bescheidn. Gibt sich Mühe.<br />
Muß noch ‘ne Menge lern’. Aber spitz! Ich sag dir, der is<br />
spitz. Wie so’n Karnickelbock. Und scharf is der, wie so’ne Rasierklinge!”<br />
“Trotzdem. So nangsam mag ich den, jedenfanns ‘n bischn.”<br />
Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken über den Mund.<br />
“Aber gestern, hab ich da so’n großes Bind gesehn.”<br />
“Wo?”<br />
“Anne Nitfaßsäune.”<br />
“Und?”<br />
“Da war so’n Macker drauf. Ganz in weiß. Ganz enegant.<br />
Aber ‘n Gesicht wie unser Fiedner. Da hab ich so bei mir gedacht<br />
…”<br />
“Quatsch!”, sagt der Festmacher. “Das Bild hab ich auch gesehn.<br />
Aber der is ‘n berühmter Maler und unsrer is ‘n unberühmter<br />
Fiedler. Der is stinkreich und unsrer is ‘n armer<br />
Sack. Der is ganz vornehm und unsrer is ‘n ordinärer geiler<br />
Bock. Und”, der Festmacher grinst, “der hat kein’ Höcker,<br />
aber an unserm kannst du dein’ Hut aufhängn.”
Neun Mark 331<br />
Der Schmied pendelt mit dem Oberkörper hin und her. “Ich<br />
weiß nich. Ich weiß wirknich nich. Manchman hab ich da so’n<br />
komisches Gefühn. Ich …”<br />
“Quatsch!”, ruft der Festmacher. “Reiner Quatsch!!” Dann<br />
grinst er wieder: “Da war noch so’n großes Bild.”<br />
“Wo?”<br />
“Aufe andre Seite vonne Litfaßsäule.”<br />
“Was für’n Bind?”<br />
“Werbung von Golden-Sarg-Johnny.”<br />
“Wofür wirbt der?”<br />
Der Festmacher feixt.<br />
“Na, was schreibt der?”<br />
“Warum leben Sie noch, wenn wir Sie sooo schön begraben<br />
können!”<br />
“Quatsch”, rümpft der Schmied die runde Nase. “Jetz sag<br />
ich Quatsch!”<br />
“Werbung is stark, Mann. Die dreht dir alles an. Auch<br />
Sachn, die dir schadn.”<br />
“Und Johnny?”<br />
“Der is der Stärkste! Der will dir beibringn, daß du dich umbringst.”<br />
“Warum?”<br />
“Mann, Mann, Mann!! Damit du schneller in sein’m golden’n<br />
Sarg liegn kannst!”<br />
Als sie einige Zeit später am Spielplatz eintreffen, hockt da<br />
ein einsamer kleiner Mann. Gedankenverloren starrt er auf<br />
seine verdreckten schwarzen Schuhe. Er denkt an St. Petersburg.<br />
Dort wird er in der nächsten Woche, als Höhepunkt<br />
einer großen Veranstaltung der Akademie der Künste, einen<br />
Lichtbildervortrag halten mit dem Thema: ‘Die ethischen<br />
Komponenten meines Schaffens’.<br />
“Nu seh sich einer den an!”, sagt der Festmacher.<br />
Der Maler zuckt zusammen.<br />
“Sitzt da rum und vertreibt unsere Kundschaft!”
332 GERECHTIGKEIT<br />
“Was’s nos, Fiedner?”<br />
“Ich … ich hatte grad ‘ne kurze Nummer”, lügt der Maler.<br />
“Die sind grade weggegangen … Wollte mir nur mal die<br />
Schnürsenkel nachziehen.”<br />
“Was? Noch ‘ne Nummer auf’n Spienpnatz?”, staunt der<br />
Schmied. “Geschäft bnüht, wa?”<br />
Benommen sagt der Maler, mehr zu sich selbst, “nächste<br />
Woche kann ich nicht.”<br />
“Mußt die ganze Nacht durchfiedenn, wa?”<br />
Der Maler nickt.<br />
“Nich schlecht”, sagt der Festmacher.<br />
“Du bist auf’e Matte!”, bekräftigt der Schmied. “Mittn<br />
drauf!” Er legt dem Kumpel die Hand auf die Schulter. “Die<br />
begreifn endnich, was se habn an der Vertretung!”<br />
“ –– ?”<br />
“Du bist best<strong>im</strong>mt vien besser ans der ante Fiedner vom<br />
Wandschnoß.”<br />
“Der Neue fiedelt ‘ne Ecke bunter”, sagt der Festmacher.<br />
“Richtig Putz hat der da reingebracht. Wenn die so weitermachn,<br />
geh ich da auch noch mal hin und schwing das Tanzbein.”<br />
“Paß auf bei Damenwahn!”<br />
“Warum?”<br />
“Daß dich die Puppn nich kaputtquetschn.”<br />
“Wieso?”<br />
“Wenn die an dein’n Tisch stürm’n. So’n Mann ham die doch<br />
noch nie gesehn, wa!”<br />
Beide schuckeln.<br />
Der Maler ist zurückgekehrt aus der anderen Welt. Er ist<br />
jetzt wieder hier. Im <strong>Park</strong>. Er grinst.<br />
Die drei gehen weiter.<br />
“Was is mit deiner Werft?”<br />
“Was sonn schon sein damit?”<br />
“Gestern hab ich da was gehört. Die Werft hat finanzielle<br />
Probleme.”
Neun Mark 333<br />
“St<strong>im</strong>mt nich. Mein Chef ist schwer reich. Der hat zwanzig<br />
Minnionen auf’e Kante.”<br />
“Da bin ich reicher.”<br />
“Wass? Du hast doch gar nix!”<br />
“St<strong>im</strong>mt. Aber dein Chef hat fünfundzwanzig Million’n<br />
Schuldn. Also bin fünf Million’n reicher.”<br />
Der Schmied lehnt den Kopf in den Nacken. Aber diesmal<br />
lacht er nicht. Er sagt nur: “Du bist wirknich ‘n Typ!”<br />
Der Festmacher macht eine Bewegung mit dem Kopf:<br />
“Los, laßt uns noch ‘ne Runde dreh’n!” Und so gehen sie in die<br />
von ihm angegebene Richtung, steuern auf das Pastorenhaus<br />
zu.<br />
Zwölfmal dröhnt die Kirchturmglocke. Ganz nah. Ganz laut.<br />
Als der zwölfte Schlag verhallt ist, sagt der Festmacher:<br />
“Macht ‘n bösn Krach, der Apparat da obn. Ohne Bommel war<br />
mir das lieber.”<br />
Sie stehen vor dem Garten des Pastorenhauses. “Neunich”,<br />
erinnert sich der Schmied, “da war was nos bei Pastors. Kerzennicht,<br />
Musik …”<br />
“Vielleicht hattn die ‘ne Party da drin.”<br />
“You never know”, quakt der Schmied. “Vienneicht könn’n<br />
Pastors auch ganz schön ein’n drauf machn. You never know!”<br />
Vor dem Gartenzaun stehend, muß der Maler an seine verunglückte<br />
Expedition denken. Das ist ihm sehr unangenehm.<br />
Er lüftet die Schiffermütze, kratzt mit dünnem Mittelfinger<br />
zwischen Haarnadeln herum, drückt die Mütze wieder ins<br />
Haar und tastet über das Holzschnittgesicht. Dann zerrt er<br />
den Mützenschirm tief vor die Augen. Energisch versucht er,<br />
die Erinnerung wegzuwischen. Da haben es andere Gedanken<br />
leicht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gedanken, die von<br />
weither kommen, die Erinnerungen wieder aufleben lassen,<br />
die auch nach vielen Jahren nichts eingebüßt haben von ihrer<br />
bunten Farbkraft: Erinnerungen an eine Party in einem<br />
früheren Pastorenhaus. Eine Teufelsparty. Und Erinnerungen<br />
an ein Gedicht, das er aus Anlaß dieser Party verfaßt hatte.
334 GERECHTIGKEIT<br />
“Da gibt es ein Gedicht”, sagt er halblaut vor sich hin, ohne<br />
daß er das eigentlich hätte sagen wollen.<br />
“Was für’n Gedicht?”<br />
“… Über ein Pastorenhaus.”<br />
“Naß hörn, Fiedner!”<br />
“Ich glaube nicht, daß ich das noch zusammenkriege.”<br />
“Keine Ausredn! Los, das Gedicht!!”<br />
Der Maler rückt die Schiffermütze zurecht. Das macht er<br />
nun schon fast so gekonnt wie der Festmacher. Er rekapituliert.<br />
Dann hebt er den Kopf und sagt: “Also. Das ging so.<br />
Die Ratte rast, es motzt die Maus.<br />
Geschlürf schleicht zum Pastorenhaus.<br />
Verloren ist’s! Seit Zetiers Zeit<br />
kommt Teufelspack, zum Tanz bereit.<br />
Kichernd kriecht’s aus finsterm Spalt.<br />
Lüstern flüstern Jung und Alt.<br />
Hexen hocken auf den Besen.<br />
Zaubrer zocken mit Gekrösen.<br />
Auf Teufeln, tr<strong>im</strong>mgezurrt mit Gurten,<br />
sieht man nackte Nymphlein spurten.<br />
Und be<strong>im</strong> wilden Walz der Wächte<br />
bubbern Böcken die Gemächte.<br />
Weine wogen aus den Kannen.<br />
Steifes Fleisch läßt Linnen spannen.<br />
Ausgequetscht wie Kirschenkerne<br />
kegeln Knöpfe kreuz und querne.<br />
Fluchen, Keuchen, Rammeln, Stöhnen.<br />
Leiber pumpen, klatschen, dröhnen.<br />
Hähne krähn mit kruder Macht.<br />
Zuende geht die geile Nacht.
Und schon der Sonne erste Strahlen<br />
wandeln Lust in lauter Qualen.<br />
Die Ratte ranzt, es mampft die Maus.<br />
Rasch raus aus dem Pastorenhaus!”<br />
Der Festmacher schuckelt. “Nich schlecht!”<br />
“Bravo!”, ruft der Schmied und klatscht begeistert in die<br />
Hände. “Absonuter Wahnsinn!” Dröhnend bricht sein Beifall<br />
stille Finsternis. Glucksend ruft er: “N reifer Vers!” Dann<br />
rammt er dem Festmacher den Ellenbogen in die Rippen,<br />
kneift ein Auge zu und quakt: “Frei nach Goethe, wa?”<br />
5 BEKENNTNISSE<br />
Machttrieb<br />
Machttrieb 335<br />
“Im Unerfüllbaren hockt der Teufel”<br />
Ein Tablett vor sich hertragend tritt der Gärtner an den<br />
Mahagonitisch. Er serviert die zweite Runde Manhattan,<br />
einen für den MinRat, einen für sich. Dann n<strong>im</strong>mt er Platz.<br />
Seine Augen suchen und finden die des Gastes. Ein kurzes<br />
Nicken. Der andere hält dem Blick stand, erwidert das<br />
Nicken. Beide führen ihre Gläser zum Mund. Trinken.<br />
Abermals finden sich die Augen. Ein kurzes erneutes<br />
Anheben der Gläser, dann stellen sie ihre Drinks ab. Die<br />
Außenseiten der Gläser beschlagen. Dahinter funkelt der<br />
kalte rote Vermouth <strong>im</strong> Widerschein der Deckenstrahler.<br />
Der Gärtner lehnt sich zurück in seinen Sessel. Schließt die<br />
Augen. Streicht mit vorgestrecktem Kinn gedankenverloren<br />
über den Bart. Blickt tief in sich hinein. Und dann beginnt er.<br />
“Mein früheres Leben – das ist die Geschichte eines Erfolgsbesessenen,<br />
eines Meisters der Selbstverwirklichung und des
336 BEKENNTNISSE<br />
Selbstbetrugs. Eines Mannes, der dem Machttrieb erlegen<br />
war. Ich will es kurz machen.” Er nickt. “So kurz wie möglich.”<br />
“Großvater und Vater waren tüchtige Geschäftsmänner. Sie<br />
haben den ursprünglichen Familienbetrieb zu einem großen<br />
Unternehmen ausgebaut. So war mein Lebensweg vorbest<strong>im</strong>mt.<br />
Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften<br />
habe ich promoviert.”<br />
“Sie sind ein Herr Doktor!” ruft der MinRat außer sich.<br />
“War.”<br />
“Wie meinen? Wer in aller Welt kann Ihnen den Doktortitel<br />
wieder aberkennen?”<br />
“Ich habe darauf verzichtet. Noch ganz genau erinnere<br />
ich mich an die komplizierte Problematik meiner Doktorarbeit:<br />
‘Die Ermittlung des Firmenwertes konzerneigener<br />
Tochterunternehmen in Übersee.’ Das war ein Schlüsselerlebnis.<br />
Plötzlich erschienen mir die Wirtschaftswissenschaften<br />
in einem anderen Licht. Plötzlich machte mir die Sache<br />
Spaß.”<br />
“Aber was, in aller Welt, hat Sie dazu veranlaßt, auf Ihren<br />
akademischen Titel zu verzichten?”<br />
Der Gärtner holt eine Schale mit Salzstangen und Nüssen<br />
herbei. “Ein Lernprozeß. Ich war erfolgreich als Wirtschaftswissenschaftler<br />
und später auch als Firmenchef. Zu erfolgreich.<br />
Mein Beruf hat mich aufgefressen. Ich wollte <strong>im</strong>mer<br />
mehr: Größere Erfolge, mehr Einfluß, mehr Macht. Das steigerte<br />
sich zu einer Art Sucht. Wenn ich abends todmüde ins<br />
Bett sank, mußte ich mir vor dem Einschlafen <strong>im</strong>mer erst<br />
aufzählen können, was ich wieder alles vollbracht hatte.<br />
Wenn ich da nicht eine Latte zusammenbringen konnte, war<br />
ich unzufrieden, konnte schlecht schlafen.<br />
Das blieb nicht ohne Folgen. Ich wurde anderen gegenüber<br />
schnell ungeduldig, ihren Sorgen und Nöten gegenüber gleichgültig,<br />
ja kaltherzig. Ausflüge, gemütliche Abende <strong>im</strong> Kreise<br />
meiner Familie am Kamin, solche Ereignisse wurden <strong>im</strong>mer<br />
seltener, wurden <strong>im</strong>mer mehr zu Dingen, die ich als Störung
Machttrieb 337<br />
empfand, als Zeitverschwendung, als Hindernisse auf dem<br />
Weg zu noch größeren Erfolgen, zu noch mehr Macht.”<br />
Der Gärtner nickt vor sich hin. “Es gibt viele Arten von<br />
Sucht und viele Arten von Trieb, aber die Sucht nach Erfolg<br />
und der Trieb nach Macht – wenn sie denn erst einmal eine<br />
solche D<strong>im</strong>ension erreicht haben, wie das bei mir der Fall war<br />
– das sind besonders gefährliche Varianten menschlicher Irrwege.”<br />
“Warum besonders gefährlich?”<br />
“Weil es für den Machttrieb keine erlösende Befriedigung<br />
gibt. Er setzt sich <strong>im</strong>mer wieder neue Ziele. So steigert er sich<br />
ins Unerfüllbare. Und <strong>im</strong> Unerfüllbaren hockt der Teufel. Verlangen<br />
gebiert Verlangen.”<br />
“Aber man kann den Machttrieb doch bekämpfen.”<br />
“Der Machttrieb ist sehr schwer zu bekämpfen. Er ist sehr<br />
alt. Er wurzelt sehr tief. Viele Menschen bewundern die<br />
Mächtigen, werfen sich ihnen zu Füßen. Ihre Autoritätsgläubigkeit<br />
und ihr Wille zur Unterwerfung machen den Machthungrigen<br />
nicht selten zum Ungeheuer.”<br />
“Wie ging es weiter?”<br />
“Ich verlor meine Frau. Sie hatte es satt, tagaus, tagein bis<br />
in die Nacht auf mich zu warten, um dann schließlich ihrem<br />
schon be<strong>im</strong> Essen einschlafenden Mann ins Bett zu helfen.<br />
Immer wieder hatte sie mich gebeten, ja angefleht: ‘Bitte tritt<br />
kürzer. Du bist erfolgreicher als dein Großvater und erfolgreicher<br />
als dein Vater, und du bist erfolgreicher als viele deiner<br />
Konkurrenten. Wann endlich wirst du vernünftig? Wann<br />
endlich wirst du wieder der, den ich geheiratet habe, den ich<br />
geliebt habe?’”<br />
Der Gärtner nickt. “Sie hat gesagt ‘geliebt habe’ … Aber das<br />
habe ich überhört, genauer gesagt, verdrängt. Ich war zu<br />
stark vom Vater geprägt.” Er nippt an seinem Manhattan.<br />
“Erfolg und Macht: das war mein Leben. Das waren meine<br />
Drogen. Ich kam von ihnen nicht mehr los. Selbst dann nicht,<br />
als meine Frau mich schließlich verließ. Sie hatte einen Lie-
338 BEKENNTNISSE<br />
benswerteren gefunden – nicht so reich wie ich, aber ein<br />
Mensch. Wie habe ich den später beneidet! Aber da war es<br />
schon zu spät. Viel zu spät.”<br />
Langsam fährt sich der Gärtner mit rauher Hand über Gesicht<br />
und Bart. “Es gibt viele Drogen in unserem Leben. Nicht<br />
nur Alkohol, Nikotin, Rauschgift, Ideologie und religiöse<br />
Hingabe – auch Macht kann süchtig machen, den Blick für<br />
Realität trüben, Entzugserscheinungen auslösen.”<br />
“Ja”, sagt der MinRat. “Viele Menschen sind süchtig. Ohne<br />
es zu wissen. Nach Selbstüberhöhung, nach dem Ungewöhnlichen,<br />
nach Gehe<strong>im</strong>nisvollem, nach Stars …”<br />
“Meine Frau und ich wurden geschieden. Als unsere Tochter<br />
und unser Sohn wieder einmal bei mir zu Besuch waren,<br />
nahm ich mir viel Zeit für sie. Ich versuchte, den beiden zu erklären,<br />
warum ich so war wie ich war. Und ich hatte den<br />
Eindruck, daß sie mich – wenigstens ein bißchen – verstehen<br />
konnten. Wir sind zusammen in einen Zoo gegangen und in<br />
einen Zirkus. Wir haben eine lange Kahnfahrt gemacht und<br />
uns an einer lustigen Theatervorstellung erfreut. Als die Besuchstage<br />
zu Ende waren, sind wir in guter St<strong>im</strong>mung zum<br />
Flugplatz gefahren. Wir haben uns umarmt und geküßt. Und<br />
wir haben einander lange zugewinkt. – Ich habe meine Kinder<br />
nie wieder gesehen. Auf dem Rückflug zur Mutter ist das<br />
Flugzeug abgestürzt. Beide waren sofort tot.”<br />
Der Gärtner schweigt. Lange. Seine Augen werden feucht.<br />
Er ringt um Fassung. Das Leben hat ihn auf weißglühendem<br />
Feuer geschmiedet. Er ist ein harter Mann geworden. Hart<br />
vor allem gegen sich selbst. Aber er ist ein Mann geblieben,<br />
der weinen kann. Niemals aus Verzweiflung oder Furcht,<br />
wohl aber aus Trauer.<br />
Schließlich sagt er, Tränen wegwischend: “Sie werden es<br />
nicht für möglich halten – und auch ich kann das heute<br />
überhaupt nicht mehr begreifen – der Verlust meiner Frau<br />
und der Tod meiner Kinder waren noch <strong>im</strong>mer nicht genug,<br />
um die Kraft zu gewinnen, die erforderlich war, um meinem
Machttrieb 339<br />
Leben einen neuen Sinn und einen neuen Inhalt zu geben.<br />
Der Schmerz über den Tod meiner Kinder, die tiefe Trauer:<br />
nur wenige Wochen hielten sie mich ab von meiner Arbeit.<br />
Dann kehrte der Alltag zurück. Ich nahm die Zügel wieder in<br />
die Hand. Zögernd zuerst und geschwächt von durchwachten<br />
Nächten voller Tränen und Vorwürfe. Aber dann wurde die<br />
Arbeit auch noch zum Narkotikum.”<br />
Der Gärtner schüttelt den Kopf. “Meine Firma wuchs. Die<br />
Produktion verdoppelte sich. Und damit wuchs, zunächst unbemerkt,<br />
auch die Vergiftung der Umwelt. In einem Randbezirk<br />
meiner He<strong>im</strong>atstadt klagten <strong>im</strong>mer mehr Menschen<br />
über Gebrechen. Aber es dauerte lange, bis ein wissenschaftlich<br />
fundierter Zusammenhang nachgewiesen werden konnte<br />
zwischen unseren Abgasen und den Erkrankungen. Da habe<br />
ich erhebliche Mittel bereitgestellt für die Verringerung der<br />
Umweltbelastung. Natürlich mußte das <strong>im</strong> finanziell<br />
vertretbaren Rahmen bleiben. Ich war ja nicht nur für die<br />
Vergiftung der Umwelt verantwortlich, sondern auch für die<br />
Erhaltung von Arbeitsplätzen. Und – ich wollte meine<br />
geschäftlichen Erfolge nicht schmälern, meine Erfolge, die<br />
mich ja nicht nur unerhört viel Arbeit, sondern auch meine<br />
ganze Familie gekostet hatten.<br />
Wieder gelang es mir, vieles von dem, was mich inzwischen<br />
<strong>im</strong>mer stärker bewegte, zu verdrängen. So liefen die Dinge<br />
weiter, <strong>im</strong>mer weiter. Bis … bis ich an einem Sonntagnachmittag<br />
bei einem kurzen Spaziergang in der Nähe meiner<br />
Firma zwei Kindern begegnete. Einem Mädchen und einem<br />
Jungen. In dem Alter, in dem meine beiden Kinder waren, als<br />
sie starben. Erschrocken blieb ich stehen. Die Kinder sahen<br />
sehr krank aus. Ich bin mit ihnen zu ihren Eltern gegangen.<br />
Da hörte ich, daß sie an Leukämie erkrankt waren. Nächtelang<br />
habe ich am Krankenbett der Kinder gesessen. Ich habe<br />
die besten Ärzte engagiert. Ich habe die Kinder leiden sehen.<br />
Tag um Tag. Nacht um Nacht. Diese Opfer meiner Selbstverwirklichung!<br />
Ich habe gesehen, wie sie <strong>im</strong>mer weniger
340 BEKENNTNISSE<br />
wurden, wie sie sich ans Leben klammerten, wie sie sich<br />
selbst <strong>im</strong>mer wieder Mut machten. Ein Kind starb nach drei,<br />
das andere nach vier Wochen. Da endlich sah ich die andere<br />
Seite meines Lebens!”<br />
Langsam senkt der Gärtner den Kopf. “Jetzt, erst jetzt, war<br />
der Kelch des Leidens voll. Erst jetzt war mir die Kraft erwachsen,<br />
um mein Leben zu ändern. Überdeutlich wurde mir<br />
klar, daß dem Vorwärtsstürmen Grenzen gesetzt sind. Auf<br />
einem Planeten mit begrenzten D<strong>im</strong>ensionen, begrenzten<br />
Ressourcen und begrenzter Belastbarkeit kann die Menschheit<br />
nicht unbegrenzt wachsen.”<br />
Der MinRat nickt.<br />
“Ich begriff, daß vieles von dem, was ich an der Universität<br />
und später als Wirtschaftswissenschaftler und Firmenchef<br />
gelernt hatte, falsch ist. Daß die pr<strong>im</strong>är auf Wachstum<br />
ausgerichtete Wirtschaft und die von ihr lebende, ständig in<br />
Zahl und Anspruch wachsende Menschheit falsch programmiert<br />
sind. Daß wir eine andere Art von Wirtschaft und eine<br />
andere Art von Gesellschaft entwickeln müssen. Daß offene,<br />
stoffentwertende und Energie verschwendende Wirtschaftssysteme<br />
durch geschlossene, stoffrezirkulierende Systeme abgelöst<br />
werden müssen. Daß wir Sonne, Wind und Wasser viel<br />
mehr als bisher als Energiequelle nutzen müssen. Daß wir<br />
nach alternativen Möglichkeiten suchen müssen, um Menschen<br />
in Arbeit und Brot zu halten. Und derer gibt es viele.”<br />
“Ja”, sagt der MinRat, “unsere Politiker und Wirtschaftsführer<br />
machen, wenn ich das mal so sagen darf, Rechenfehler.<br />
Sie fördern das Wachstum der Menschheit. Sie feiern jeden<br />
Anstieg <strong>im</strong> Bruttosozialprodukt. Aber sie vernachlässigen die<br />
Neben- und Folgekosten.”<br />
Der Gärtner nickt. “Sie starren auf betriebswirtschaftliche<br />
Erfolge, aber sie verschließen die Augen vor den volkswirtschaftlichen<br />
Konsequenzen. Die Wahrheit ist doch, daß die<br />
gegenwärtige Industriegesellschaft Leben zerstört, Umwelt<br />
deformiert, Resourcen vergeudet und Arbeitsplätze vernich-
Machttrieb 341<br />
tet. Früher oder später muß das in einer Katastrophe enden.<br />
Vielleicht werden die Überlebenden dann die Achtung und<br />
Erhaltung der Natur zum herausragenden Verfassungsziel<br />
erklären. Vielleicht werden sie aus großem Leid die Kraft<br />
gewinnen für eine neue Moral. Vielleicht … wenn es dann<br />
nicht schon viel zu spät ist.”<br />
“Was müßte geschehen?”<br />
“Viel: Anzahl der Menschen verringern. Verkrustetes Denken<br />
und Handeln entschlacken. Ansprüche einschränken.<br />
Sehkraft schärfen. Kompaßrichtung ändern.”<br />
“Radikaler Kurswechsel?”<br />
“Nicht radikal. Grundlegend, aber wohlüberlegt. Gegenwärtig<br />
werden Wenige <strong>im</strong>mer reicher und Viele <strong>im</strong>mer ärmer. Das<br />
muß nicht so sein.”<br />
“Wie würden Sie das ändern?”<br />
“Neue Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen, vor allem<br />
in den Bereichen Kl<strong>im</strong>a- und Umweltschutz, Forschung und<br />
Technologie, Dienstleistung, Haushaltshilfen und Betreuung,<br />
Kultur, Unterhaltung und Freizeitgestaltung. Neue Produkte<br />
entwickeln, Innovation fördern. Leistungswillen und Kreativität<br />
belohnen und angemessene Gewinne ermöglichen. Nur<br />
Unternehmen, die Gewinne machen, können sichere Arbeitsplätze<br />
schaffen, nur sie können investieren. Und nur so<br />
können soziale Aufgaben finanziert werden.”<br />
“Es mag aus dem Munde eines Verwaltungsbeamten<br />
merkwürdig klingen”, sagt der MinRat, “aber wir müssen<br />
auch den Staatsapparat verkleinern, die Bürokratie<br />
verschlanken und die Gesetzesfülle durchforsten.”<br />
“Richtig. Die Wirtschaft muß schneller und dynamischer<br />
reagieren können. Die Freiräume der Unternehmen müssen<br />
größer, die Belastungen kleiner und die Organisation von<br />
Arbeit flexibler werden. Subventionen und Steuern runter!”<br />
“Wer soll das alles umsetzen?”<br />
“Fachleute, Forschungsinstitutionen und Politiker, die<br />
Sachfragen in den Vordergrund stellen, und für die soziale
342 BEKENNTNISSE<br />
Ausgewogenheit und Pluralismus gewachsener Kulturwerte<br />
keine Fremdwörter sind.”<br />
Der Gärtner geht zum Fenster und kuckt in den dunklen<br />
<strong>Park</strong>. “Ich verkaufte meine Firma und machte die Auflage,<br />
Umweltschutzmaßnahmen durchzuführen. Die Mittel dafür<br />
stellte ich aus meinem Verkaufserlös zur Verfügung. Ich errichtete<br />
eine Stiftung für die ärztliche Versorgung der durch<br />
meine Firma krank gewordenen Menschen und eine zweite<br />
für die Altersversorgung meiner langjährigen Mitarbeiter.” Er<br />
dreht sich um und macht eine ausladende Handbewegung:<br />
“Was Sie hier sehen, das sind einige mir besonders ans Herz<br />
gewachsene Überreste aus dem Haushalt meiner Familie.”<br />
“Haben Sie Ihre Entscheidung niemals bereut?”<br />
Der Gärtner setzt sich wieder. “Nein. Ich habe endlich begriffen,<br />
daß ich ein Teil der Schöpfung bin. So fühle ich mich<br />
aufgerufen, Natur und Leben zu achten und zu schützen.”<br />
‘Das’, denkt der MinRat, ‘ist auch die Lösung für meine<br />
eigenen Probleme!’<br />
“Sehen Sie sich die sogenannten Spitzen der Gesellschaft an.<br />
Da gibt es nicht nur Tüchtige, Kluge und Liebenswerte, sondern<br />
auch Erfolgs- und Machthungrige. Und da gibt es Eitle, in<br />
sich selbst Verliebte. Ständig starren sie in den Spiegel. Einige<br />
helfen auch schon mal ein bißchen nach, wenn es darum geht,<br />
ihre Verdienste ins rechte Licht zu rücken oder rücken zu<br />
lassen. Manch einer versucht gar, mit allen Mitteln, auch<br />
unlauteren, ins Buch der Geschichte aufgenommen zu werden.<br />
Sehen Sie sich die zahlreichen Autobiographien an. Viele davon<br />
sind zu Papier gebrachte Eitelkeiten, Sammlungen von Ichbezogenen<br />
und Ich-belobigenden Halbwahrheiten, Verdrehungen,<br />
nicht selten Lügen. Ich mag sie nicht, diese Leute, die<br />
ständig ihr buntes Gefieder spreizen. Und ich …”<br />
“Aber ist das nicht etwas sehr Menschliches?”<br />
“Ja. Mir geht es um Übertreibungen. Und ich mag sie nicht,<br />
diese professionellen Nichtstuer, diese Leute, deren einzige<br />
‘Leistung’ darin besteht, ein hübsches Sümmchen geerbt zu
haben. Viele von denen geben ihrem Leben weder Sinn noch<br />
Inhalt – ein Lamettaklub von Zeittotschlagern, Langweilern,<br />
Hohlköpfen und Partylöwen.”<br />
Der MinRat lacht: “Ich mag Löwen. Aber bei solchen Löwen<br />
würde auch ich mich nicht wohlfühlen.”<br />
“Und dann gibt es noch eine andere Gruppe von Leitfiguren,<br />
eine Gruppe, der ich selber angehörte: Menschen, die überfordert<br />
sind oder sich selber überfordern, die ihre körperlichen,<br />
seelischen und sozialen Probleme <strong>im</strong>mer wieder selbst<br />
produzieren – Magengeschwüre, Herzinfarkte, Seelenwunden.<br />
Menschen, die die Zeit in kleine Stücke hacken: Termine,<br />
Pflichten, Pläne. Menschen auch, die zufälliges Talent zum<br />
Verdienst hochjubeln und daraus emsig Privilegien stricken.”<br />
Der MinRat nickt vor sich hin. ‘Leid hat diesen Mann geläutert’,<br />
denkt er. ‘Es hat ihm Kraft gegeben. So konnte er sich<br />
von seinen Fesseln befreien. So gebar Leid Kostbares.’<br />
Selbstbescheidung<br />
Selbstbescheidung 343<br />
“Und heute fordern Sie nichts mehr von sich?”<br />
“Da ist ein Rest geblieben: der <strong>Park</strong>, die Aquarien, das<br />
Haus. Da will ich noch <strong>im</strong>mer alles so gut wie möglich richten.<br />
Noch <strong>im</strong>mer bin ich bemüht, keinen Tag zu vergeuden. Noch<br />
<strong>im</strong>mer ist da die Furcht, auch nur einen einzigen Tag nicht<br />
wirklich gelebt zu haben. Stumpfe Selbstzufriedenheit ist mir<br />
zuwider.”<br />
“Ist das nicht auch ein Ausdruck von Existenzangst? Eine<br />
Konsequenz der Furcht vor dem Altern, vor Verfall und Tod?<br />
Vor dem unwiderbringlichen Verschwinden von der Erde, bevor<br />
wir uns ausreichend an ihr erfreuen konnten?”<br />
“Ja. Solche Ängste können zu einer mächtigen Kraft werden.<br />
Wir müssen lernen, besser mit dem Wandel umzugehen.<br />
Altern ist nicht nur naturgewollte Rückbildung. Nicht nur<br />
Verfall. Altern ist auch Reifung und Gewinn. Alter kann ern-
344 BEKENNTNISSE<br />
ten: Einsicht, Freude, Gelassenheit. Alter kann befreien: von<br />
der magnetischen Anziehungskraft triebgefärbter Bilder.<br />
Alter kann die Sicht und den Weg fre<strong>im</strong>achen für den Genuß<br />
höherer Schönheit. Es schenkt mehr Abstand zu den Dingen<br />
und zu uns selbst. Es dämpft und mildert die Süchte und<br />
Triebe, die das Junge oft zu bizarren Tänzen treibt. Jugend<br />
segelt ja nicht nur in der Sonne, badet nicht nur in Lebensfreude.<br />
Jugend zittert auch unter den Peitschenhieben innerer<br />
Zwänge, unter der Wucht ungestümer Antriebe. Da<br />
wird der Lebenstanz leicht zu Verrenkungen, zu Zuckungen<br />
und zum kopflosen Flattern. Triebe bringen nicht nur Lust.<br />
Triebe tyrannisieren auch. Manche Menschen drängeln sie<br />
ins Lächerliche, andere in ethische Abgründe, einige in die<br />
Kr<strong>im</strong>inalität.”<br />
“Haben Sie”, fragt der MinRat, “niemals Angst gehabt, als<br />
Chef einer großen Firma Ziel terroristischer Attentate zu<br />
werden?”<br />
“Doch, das habe ich. Aber die Schutzmöglichkeiten sind begrenzt,<br />
und sie engen den eigenen Freiraum ein. Da muß man<br />
Kompromisse schließen, und man muß akzeptieren, daß ein<br />
Restrisiko nicht zu vermeiden ist.”<br />
“Bei all Ihrer damaligen beruflichen Beanspruchung muß<br />
das doch eine große zusätzliche Belastung gewesen sein.”<br />
“War es.”<br />
“Was halten Sie von der Kritik mancher junger Leute am<br />
Machtmonopol des Staates? Darin sehe ich den Funken <strong>im</strong><br />
Pulverfaß, wenn ich das mal so sagen darf, der manch einen<br />
zum Terroristen werden läßt.”<br />
“Damals habe ich intensiv darüber nachgedacht. Heute ist<br />
da nur noch ein Erinnerungsrest.” Der Gärtner massiert sein<br />
bärtiges Kinn. “Nichts in unserer Welt kann existieren ohne<br />
Ordnung und Gesetz. Und diese beiden nicht ohne kontrollierende<br />
Macht. Ordnung, Gesetz und Macht ermöglichen Zusammenhalt<br />
und Zusammenwirken naturgemäß unterschiedlicher,<br />
auseinanderstrebender oder gegeneinander wirkender
Selbstbescheidung 345<br />
Teile eines Systems. Bei meinen damaligen Überlegungen<br />
habe ich drei prinzipielle Arten von Macht unterschieden:<br />
Grundmacht, Integrationsmacht und Ideenmacht.<br />
Die Grundmacht repräsentiert die Naturgesetze. Sie sind<br />
unerbittlich. Früher oder später wird jeder Verstoß gegen sie<br />
geahndet. Die Grundmacht liegt außerhalb menschlicher Beeinflussungsmöglichkeiten.<br />
Die Integrationsmacht harmonisiert Strukturen und Funktionen<br />
innerhalb von Systemen. Sie besteht aus Beharrungsmacht<br />
und Veränderungsmacht. Das System benötigt beide<br />
für eine langfristige Existenz. Beharrungsmacht strebt nach<br />
Erhalt des Bewährten, Veränderungsmacht nach Neuem. Um<br />
ihre Ziele zu erreichen, muß sie sich gegen die Beharrungsmacht<br />
durchsetzen. Der daraus entstehende Konflikt zwischen<br />
Beharren und Verändern ist naturgewollt, in seinem<br />
Kern ist er ein Teil der Grundmacht. Bei Einhaltung der<br />
Spielregeln führt der Konflikt zwischen Beharren und Verändern<br />
zu einer dem System förderlichen Weiterentwicklung.<br />
Die Ideenmacht produziert Perspektiven. Sie kann die Notwendigkeit<br />
von Beharren oder Verändern bewußt machen. Sie<br />
kann kreative Kräfte und ethische Energien freisetzen – aber<br />
auch gefährliche Auswüchse verbohrter Köpfe. Ihre Felder<br />
liegen in Politik, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion<br />
und in den Medien. Ideenmacht kann den Menschen Freiheiten<br />
geben und nehmen.”<br />
“Wo steht die Wiege des Terrorismus?”<br />
“Dort, wo der Konflikt zwischen Erhalten und Verändern<br />
entartet. Und wo starke Emotionen oder ideologische Verbohrtheit<br />
die Köpfe verdrehen.”<br />
“Und das Gewaltmonopol des Staates?”<br />
“Das ist eine Grundvoraussetzung für geregeltes und sozial<br />
ausgewogenes Zusammenleben. Insofern ist diese Art der<br />
Machtausübung legit<strong>im</strong> und dementsprechend ja auch auf<br />
breiter Basis institutionalisiert. Aber, und das ist ein wesentlicher<br />
Punkt, das Kräftespiel von Beharren und Verändern
346 BEKENNTNISSE<br />
kann sich nur dann normal entfalten, wenn das Gewaltmonopol<br />
des Staates genügend Spielraum läßt für die Veränderung<br />
anstrebenden Kräfte. Ihnen müssen Möglichkeiten eröffnet<br />
werden, sich zu artikulieren, ihre Vorstellungen bekannt zu<br />
machen und in eine faire, kritische Diskussion mit den Beharrungskräften<br />
einzutreten. Eine Gesellschaft, die das nicht<br />
zuläßt, die dieses Überdruckventil verschließt, darf sich nicht<br />
wundern, wenn es zu einer Explosion kommt.”<br />
“Verändern und Entwickeln sind doch eigentlich sehr<br />
positive Dinge.”<br />
“Ja. Aus Drängeln, Ungeduld, Kritik und Ideen der Veränderer<br />
können wichtige Antriebskräfte für den Entwicklungsprozeß<br />
hervorgehen. Unkontrollierte Macht oder Macht, die<br />
sich selbst kontrolliert, rutscht rasch ab in Ineffizienz und<br />
Korruption.”<br />
Der MinRat nickt.<br />
“In dem Konflikt zwischen Beharren und Verändern sind die<br />
Beharrungskräfte meist <strong>im</strong> Vorteil. Sie kontrollieren die für<br />
die Machtausübung wichtigen Institutionen und Produktionsmittel.<br />
Aus diesem Grunde sollten sich diese Kräfte,<br />
mehr als das bisher der Fall war, <strong>im</strong> kritischen Zuhören üben<br />
und in der Selbstbescheidung.”<br />
“Und sie sollten die Veränderer stärker an ihren Überlegungen<br />
für die Gestaltung der Zukunft beteiligen.”<br />
“Richtig”, st<strong>im</strong>mt der Gärtner zu.<br />
“Wo aber die Veränderer keine überzeugenden Argumente<br />
vorweisen können, wo sie mit ideologisch verbrämter Spinnerei<br />
aufwarten, wo sie mit Gewalt gegen Sachen und Menschen<br />
agieren, da muß die Macht des Staates wirksam werden, da<br />
muß der Schutz der Gesellschaft <strong>im</strong> Vordergrund stehen.”<br />
“Das sehe ich genauso”, sagt der Gärtner. “Ideologie ist ein<br />
schlechter Ratgeber. Weg mit den Leithammeln, die mit ideologischem<br />
Schienendenken verheiratet sind! Das gilt gleichermaßen<br />
für soziale, politische und religiöse Führungskräfte.<br />
Weg mit der für Sachentscheidungen wenig nützlichen Rechts-
Links-Polarisierung! Wir brauchen problemorientierte, sachkundige<br />
Köpfe mit Ideen und Sinn für ein menschenwürdiges<br />
Leben in gesunder Natur – Köpfe, die vom frischen Wind der<br />
Realität getragen sind, Köpfe, die einen gangbaren Weg in die<br />
Zukunft suchen.”<br />
“Zukunft ist keine geradlinig weiterwachsende Vergangenheit.”<br />
“Aber nur aus der Vergangenheit und in der Gegenwart<br />
können wir Erfahrungen sammeln. Der Blick zurück hilft, den<br />
Weg voraus zu finden.”<br />
Der MinRat bewundert den Gärtner: Dessen weise Selbstbescheidung,<br />
dieses gelassene Willkommenheißen des Lebensherbstes.<br />
Fast andächtig blickt er zu ihm hinüber.<br />
Testament<br />
Testament 347<br />
Der Gärtner steht auf, geht durchs Wohnz<strong>im</strong>mer und öffnet<br />
den Lüftungsschlitz über dem Panoramafenster. Wieder in<br />
seinem Sessel sitzend, nippt er am Manhattan und löffelt sich<br />
ein paar Nüsse auf den Teller. Dann vollendet er seine Lebensbekenntnisse.<br />
“Das Leben, in dem ich früher zu Hause<br />
war – es ist heute weit entfernt von mir. Es war ein Leben<br />
voller Rennen, Hetzen und Jagen, ein Leben <strong>im</strong>merfort nur auf<br />
der Überholspur. In meinem unruhigen, der Erfüllung<br />
hinterherhetzenden Herzen brannte ein wildes Feuer. Geld<br />
war mir unwichtig, Besitz langweilig. Was zählte waren Erfolg<br />
und Macht, vor allem das prickelnde Erlebnis eines schwer<br />
errungenen Erfolges. Danach war ich süchtig. Der Genuß war<br />
um so größer, der Triumph um so beglückender, je schwieriger<br />
es war, mein jeweiliges Ziel zu erreichen. Mich faszinierte die<br />
Gratwanderung zwischen Gewinnen und Verlieren.”<br />
Der Gärtner betrachtet die Schwielen und Risse an seinen<br />
Händen. “Ich beantragte und erhielt einen neuen Namen,<br />
verlegte meinen Wohnsitz und ließ mir einen Bart und lange
348 BEKENNTNISSE<br />
Haare wachsen. Dann begann ich ein neues Leben. Von der<br />
Pike auf erlernte ich das Handwerk des Gärtners.”<br />
“Das war doch sicher nicht einfach.”<br />
“Nein. Ich war kein Sechzehnjähriger mehr. In den<br />
besonderen Schwierigkeiten und Entbehrungen, die das neue<br />
Leben anfangs mit sich brachte, habe ich so etwas wie eine<br />
selbstauferlegte Buße gesehen.”<br />
“Und wie ging es weiter?”<br />
“Noch vor meinen Kollegen, die mit mir zusammen die Gärtnerlehre<br />
angefangen hatten, wurde ich Geselle, und schon<br />
bald danach machte ich außer der Reihe meinen Meister.<br />
Dann habe ich mich erfolgreich um die Stelle des leitenden<br />
Gärtners hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong> beworben.”<br />
“Und dann begann ein neuer Abschnitt, auch in der Geschichte<br />
des <strong>Park</strong>s.”<br />
“Ja. Der <strong>Park</strong> wurde mein Leben.”<br />
“Sie haben vieles verändert, verbessert.”<br />
“Das Rathaus ließ mir zunächst weitgehend freie Hand.<br />
Erst in jüngster Zeit gibt es hier und da Probleme mit dem<br />
Gartenbauamt. Aber auch als Firmenchef hatte ich meine<br />
Probleme mit dem Amtssch<strong>im</strong>mel – damals mit einigen Beamten<br />
des Wirtschaftsministeriums. So ist mir an den entsprechenden<br />
Stellen Hornhaut gewachsen.”<br />
“Merkwürdig”, sagt der MinRat, “ich kann das gut verstehen,<br />
obwohl ich ja selber aus der Verwaltung komme. Offenbar<br />
haben Sie mit Amtsstuben nicht <strong>im</strong>mer gute Erfahrungen<br />
gemacht.”<br />
“Nein.”<br />
“Das muß doch sehr schwierig sein, wenn so ein Verwaltungsmensch<br />
aus dem Rathaus dazwischenfunkt.”<br />
“Ist es.”<br />
Der MinRat sieht sich erneut um <strong>im</strong> Wohnz<strong>im</strong>mer. “Wenn<br />
ich das alles hier so sehe, ein so erlesenes He<strong>im</strong> – was machen<br />
Sie, wenn es mal einen handfesten Krach gibt mit dem Gartenbauamt<br />
oder den leitenden Herrren <strong>im</strong> Rathaus?”
Testament 349<br />
Der Gärtner zuckt die Schultern, zieht die Mundwinkel<br />
nach unten. Schweigt.<br />
“Ich meine”, der MinRat zögert – “ich meine, wenn die Ihnen<br />
kündigen?”<br />
Der Gärtner trinkt ungerührt einen Schluck Manhattan.<br />
“Dann müssen Sie raus aus Ihrem schönen Haus.”<br />
“Muß ich nicht.”<br />
“Wie meinen? Wieso nicht?”<br />
“Das Haus gehört mir.”<br />
“Was?? Wie ist so etwas möglich? Ein Privathaus <strong>im</strong> <strong>Park</strong>!”<br />
“Früher lag dieses Grundstück außerhalb des <strong>Park</strong>s. Dennoch,<br />
als ich über meinen Freund, den Physiker, das Haus<br />
kaufen wollte – ich hatte durch den Verkauf meines Privatbesitzes<br />
noch genügend Mittel zur Verfügung – stellte sich das<br />
Rathaus quer. Aber dieses alte Haus war abbruchreif, und die<br />
Stadt hatte kein Geld, es wieder instand zu setzen. Als wir<br />
dann den doppelten Preis dessen boten, was Haus und Grundstück<br />
wert waren, lenkten die Herren ein. Die Stadtverwaltung<br />
benötigte das Geld dringend für die Vollendung einer<br />
Schw<strong>im</strong>mhalle, deren Baukosten sich auf unerklärliche Weise<br />
dauernd erhöht hatten. Diese Angelegenheit war inzwischen<br />
zu einem Politikum geworden, und die nächste Wahl stand<br />
vor der Tür. So ging plötzlich alles, was vorher nicht gegangen<br />
war.”<br />
“Und dann?”<br />
“Im letzten Augenblick funkte ein hoher Beamter aus der<br />
Landesregierung dazwischen.” Der Gärtner schmunzelt, “ein<br />
Ministerialrat.”<br />
“Sowas!”<br />
“Der Herr Ministerialrat hatte bereits eine Erweiterung des<br />
<strong>Park</strong>s in Aussicht genommen und wollte partout keinen Privatmann<br />
dazwischen haben. Durchaus verständlich.”<br />
“Das ist ja eine spannende Geschichte!”<br />
“Die Eigentumsverhältnisse des Grundstücks, das für die<br />
<strong>Park</strong>erweiterug vorgesehen war, erwiesen sich als ungeklärt.
350 BEKENNTNISSE<br />
Die Grundbuchauszüge waren bei Kriegsende verloren gegangen.”<br />
“Und dann?”<br />
“Plötzlich fanden sich beglaubigte Kopien, an deren Echtheit<br />
nicht zu zweifeln war. Und wem gehörte das Grundstück?<br />
Meiner Familie.”<br />
“Das gibt’s ja nicht! Das gibt’s ja wirklich nicht! Das ist ja …”<br />
“Es gab keinen Zweifel: ich war Eigentümer des Grundstücks.<br />
Nun mußte der Herr Ministerialrat den früheren<br />
Firmenchef anschreiben und versuchen, mit ihm ins Geschäft<br />
zu kommen, wenn er denn seine Pläne verwirklichen wollte.<br />
Das tat er auch, mit einem Schreiben voller verdrehter Unterwürfigkeits-<br />
und Höflichkeitsfloskeln. Das hat mir Spaß gemacht.<br />
Über den Physiker ließ ich ihn wissen, daß das Grundstück<br />
dem Gärtner übereignet worden ist. Sie können sich das<br />
nicht vorstellen!” Der Gärtner lacht. Noch heute bereitet ihm<br />
das großes Vergnügen. “Der Ministerialrat war wie ausgewechselt!<br />
Postwendend hat er mir geschrieben. Er wollte gern<br />
sofort zu einem Gespräch ‘unter vier Augen’ in die Gärtnerei<br />
kommen. Natürlich hatte ich keinerlei <strong>Inter</strong>esse daran.<br />
Um abermals eine lange Geschichte kurz zu machen: Auch<br />
dieses Haus gehörte bereits mir. Die Summe, die ich der Stadt<br />
als Kaufpreis überwiesen hatte, war von den Herren sofort in<br />
die Schw<strong>im</strong>mhalle gesteckt worden. Eine Katastrophe! Und<br />
das so kurz vor der Wahl! Die haben gezittert. Ein Skandal<br />
schien unabwendbar.”<br />
“Ja und dann?” Der MinRat ist auf die äußerste Kante seines<br />
Sessels gerückt. Da hockt er nun. Steif aufgerichtet. Mit<br />
hüpfendem Adamsapfel.<br />
“Unter strikter Vertraulichkeit habe ich einen Vertrag<br />
ausgehandelt, der eine Enteignung von Haus und Grundstück<br />
zu meinen Lebzeiten ausschließt. Die leitenden Herren der<br />
Bezirksregierung haben gern unterschrieben, und auch der<br />
Herr Ministerialrat hat mitgezeichnet. Dann habe ich denen<br />
das Geld geschenkt.”
“Und was ist mit dem anderen Grundstück geworden?”<br />
“Dieser Teil des <strong>Park</strong>s gehört mir.”<br />
“Das ist ja unglaublich!”<br />
“Aber ich habe ein Testament gemacht, in dem festgelegt ist,<br />
daß mein gesamter Besitz nach meinem Tode der Stadt<br />
gehören und dem <strong>Park</strong> zugute kommen soll. Davon weiß offiziell<br />
nur ein Jurist der Landesregierung. Und der, beziehungsweise<br />
dessen Nachfolger, ist verpflichtet, darüber zu<br />
schweigen.”<br />
Der Gärtner senkt den Kopf und nickt vor sich hin. Dann<br />
sagt er: “So, lieber Aquarienfreund, nun kennen sie mein Gehe<strong>im</strong>nis.<br />
Ich weiß, daß es bei Ihnen gut aufgehoben ist.”<br />
“Das ist es!”<br />
“Und Sie wissen nun auch, daß ich mir keine Sorgen zu<br />
machen brauche wegen einer Kündigung.”<br />
6 EINSICHTEN<br />
Fünf-Sterne-Kaffee 351<br />
“Hat nicht die Wissenschaft die ganze<br />
Menschheit entwurzelt? Stürzt sie nicht<br />
uns alle in einen Strudel von Zerstörung<br />
und Verderben?”<br />
Fünf-Sterne-Kaffee<br />
Schon mehrfach ist Peter nun Gast gewesen <strong>im</strong> Pastorenhaus.<br />
Heute wird er über Nacht bleiben. Das erste Mal. Darauf<br />
freut er sich. Seit seine Eltern gestorben sind – der Vater<br />
unmittelbar nach der Mutter – hat ihm ein Zuhause gefehlt.<br />
Das ist ihm erst jetzt so richtig bewußt geworden, jetzt, da er<br />
diese wunderbare Atmosphäre <strong>im</strong> Pastorenhaus<br />
kennenlernen durfte.<br />
Vor drei Tagen hat Peter einen wichtigen Entschluß gefaßt.<br />
Er will Inge bitten, seine Frau zu werden. Peter hofft, daß es
352 EINSICHTEN<br />
möglich sein wird, sich mit Inge’s Vater zu arrangieren. Er<br />
achtet, ja er verehrt den Pastor. Vater und Tochter – beide<br />
sind sie ungewöhnlich gut und liebenswert. Vieles erleben und<br />
empfinden sie zwar anders als er, aber das kann die Einseitigkeit<br />
mildern helfen, mit der er bisher die Welt gesehen<br />
hat.<br />
Auch der heutige Abend <strong>im</strong> Pastorenhaus wird für Peter ein<br />
Erlebnis. Wieder umfängt ihn nie zuvor gekannte menschliche<br />
Wärme. Wieder genießt er Inges Kochkunst und erfreut<br />
sich ihrer sorgfältigen Aufmerksamkeit als Hausfrau. Und<br />
wieder wird bei Kerzenlicht musiziert. Diesmal Schubert.<br />
‘Wie wunderbar wäre es’, denkt Peter, ‘wenn wir drei eine<br />
Grundlage finden könnten für ein gemeinsames Leben.’<br />
Auch der Pastor hat über ein Leben zu dritt nachgedacht. Er<br />
mag den Peter. Er sucht nach einem Weg zu ihm.<br />
Doch jetzt fordert erst einmal die Müdigkeit ihr Recht. Der<br />
Pastor hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Zudem beginnt<br />
der schwere Rotwein, der allen Dreien so vortrefflich<br />
gemundet hat, seine Wirkung zu entfalten. Mit einer kleinen<br />
Verbeugung und einem freundlichen “Gute Nacht, ihr beiden”,<br />
verabschiedet er sich.” Inge führt Peter ins Gästez<strong>im</strong>mer,<br />
erläutert einige Einzelheiten, umarmt und küßt ihn und zieht<br />
sich zurück in ihr Z<strong>im</strong>mer.<br />
In nahezu jeder Nacht ihres Lebens hat dieses Z<strong>im</strong>mer<br />
ihren Schlaf behütet, war es eine Schutzburg für ihre Gedanken,<br />
Gefühle und Träume. In diesem Augenblick dröhnt auch<br />
wieder, ganz nah und ganz laut, die alte Kirchturmglocke, die<br />
vertraute, verläßliche Begleiterin ihres Lebens. Bbuomm,<br />
bbuommm, bbuommm, … Elfmal.<br />
Peter macht es sich bequem in dem großen Bett des Gästez<strong>im</strong>mers.<br />
Er sucht Schreibmaterial hervor aus seiner<br />
Gepäcktasche, richtet die Nachttischlampe und bringt noch<br />
ein paar Gedanken zu Papier, die ihm am Herzen liegen.<br />
Dann löscht er das Licht. Und schon sinkt er in einen tiefen<br />
Schlaf.
Fünf-Sterne-Kaffee 353<br />
Am nächsten Morgen klopft Inge an die Tür des Gästez<strong>im</strong>mers.<br />
“Aufsteh’n, Frühstück ist fertig!” Erschrocken fährt<br />
Peter hoch: “Guten Morgen! Ich komme so schnell wie möglich<br />
runter.” Er reibt sich die Augen, reckt die Arme in die Höhe<br />
und gähnt. Schlaftrunken wankt er zum Waschbecken, blickt<br />
in den Spiegel, lacht vergnügt sein Spiegelbild an und kneift<br />
ein Auge zu. Er freut sich auf Inge und auf ihren Vater. Und<br />
er freut sich auf’s Frühstück.<br />
Mit strahlendem Gesicht betritt er bald darauf das Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />
“Guten Morgen!”, ruft der Pastor. “Wie haben Sie geschlafen?”<br />
“Ich weiß es nicht. Ich habe das Licht gelöscht, und dann hat<br />
Inge gerufen: ‘Aufstehn, Frühstück ist fertig’. An mehr kann<br />
ich mich nicht erinnern.”<br />
“Das läßt auf einen Tiefschlaf schließen”, lacht der Pastor.<br />
“Offenbar. Es kommt bei mir sehr selten vor, daß ich so fest<br />
schlafen kann. Meistens schlafe ich mit wissenschaftlichen<br />
Problemen ein und wache mit meinen für den Tag geplanten<br />
Exper<strong>im</strong>enten wieder auf.”<br />
“Das hört sich ja schl<strong>im</strong>m an”, sagt Inge, “nur gut, daß dein<br />
Kopf mal eine Pause einlegen konnte.”<br />
Um den Frühstückstisch <strong>im</strong> Wintergarten stehen drei alte<br />
Korbsessel. Eine rote Decke verbirgt die zerschrammte Tischoberfläche.<br />
Das Rot kontrastiert mit weißen Servietten,<br />
hellblauem Geschirr und drei gelben Vasen, in denen blaue<br />
und weiße Sommerastern leuchten. Der Tisch steht zwischen<br />
einer Palme und einem großen Gummibaum, der sich<br />
anschickt, das Glasdach in die Höhe zu stemmen. Duftender<br />
Kaffee, Brötchen, Butter, Honig, Eier.<br />
“Ganz toll hast du das wieder gemacht”, sagt Peter und legt<br />
den Arm um Inges Taille.<br />
“Findest du?”<br />
“Ja. Für mich ist das alles wie ein wunderschöner Traum.”<br />
Dieses besondere Frühstück, das erste zu dritt, hatte den<br />
Pastor veranlaßt, auf den untersten Ast des Pflaumenbaums
354 EINSICHTEN<br />
zu klettern und die ersten reifen Früchte einzusammeln.<br />
Samten-dunkelblau sch<strong>im</strong>mern sie nun auf weißem Teller.<br />
Vater und Tochter beten. Dann schenkt Inge Kaffee ein und<br />
reicht die warmen, knusprigen Brötchen herum. Neben jedes<br />
Gedeck hat sie ein Glas mit frisch ausgepreßtem Apfelsinensaft<br />
gestellt. Jetzt erhebt sie ihr Glas und sagt mit<br />
strahlenden Augen: “Zum Wohl die Herren!”<br />
“Zum Wohl”, antworten Pastor und Peter.<br />
“Im Radio wurde eben herrliches Wetter prophezeit”, sagt<br />
der Pastor. “Wie wär’s mit einer Bootsfahrt? Vielleicht heut<br />
nachmittag?” Er sieht Peter fragend an. Der gibt die Frage<br />
weiter an Inge: “Was meinst du?”<br />
“Dich hat Vater gefragt, also mußt du auch antworten.”<br />
“Ich finde die Idee ganz pr<strong>im</strong>a! Tretboot oder Ruderboot?”<br />
“Ruderboot!”, ruft Inge. “Und du ruderst!”<br />
“Wenn ihr euch meiner Navigationskunst anvertrauen<br />
wollt.”<br />
“Wir können ja Schw<strong>im</strong>mwesten mitnehmen. Wer weiß, was<br />
so ein Botaniker alles anstellt.” Inge knufft Peter in die Seite<br />
und lacht übermütig.<br />
“Der Kaffee schmeckt pr<strong>im</strong>a”, sagt Peter. “Wie machst du<br />
den?”<br />
“Das sag ich nicht!”<br />
Inge rutscht hin und her auf ihrem Korbsessel. Dann wiegt<br />
sie gehe<strong>im</strong>nistuerisch den Kopf. Sie ist unglaublich glücklich.<br />
Und da erwacht dann auch wieder das lustige Mädchen in ihr,<br />
das sie früher einmal war. Früher, da war sie voller liebenswerter<br />
Späße, ein richtiger kleiner Schelm.<br />
Als Peter sie noch <strong>im</strong>mer fragend ansieht, ruft Inge: “Soweit<br />
kommt das noch, daß ich dir mein Gehe<strong>im</strong>nis verrate! Dann<br />
machst du dir selber so einen Fünf-Sterne-Kaffee und kommst<br />
nicht wieder.”<br />
“Mich wirst du hier so schnell nicht wieder los. Und schon<br />
gar nicht so einfach.”<br />
Inge wiegt den Kopf, daß der Zopf pendelt. “Was meinen Sie,
Fünf-Sterne-Kaffee 355<br />
Herr Pastor, können wir dem Botaniker ein so wichtiges Gehe<strong>im</strong>nis<br />
anvertrauen?”<br />
“Ich denke schon, vorausgesetzt natürlich, daß er vernünftig<br />
rudern kann.”<br />
“Das kann er”, sagt Peter. “Allerdings vermag ich nicht so<br />
ohne weiteres Entwarnung zu geben für das Mitnehmen von<br />
Schw<strong>im</strong>mwesten.”<br />
“Sehen Sie, Herr Pastor, da haben wir’s. Gehe<strong>im</strong>nisse aus<br />
mir rausquetschen, aber nicht mal sicher rudern können.”<br />
Peter droht mit dem Zeigefinger. Lacht. “Ich rudre sicher.<br />
Aber vielleicht schaffst du es ja trotzdem, über Bord zu fallen.”<br />
“Ich weiß nicht!”, ruft Inge. “Ich weiß wirklich nicht, ob wir<br />
dem da mit Bart und Brille trauen können.”<br />
Peter holt tief Luft. Dann läßt er mit gespielter Traurigkeit<br />
den Kopf hängen.<br />
“Na ja”, m<strong>im</strong>t Inge die Großzügige, “mit einem gewissen<br />
Risiko müssen wir wohl leben. Also, das Gehe<strong>im</strong>nis ist …” Sie<br />
macht eine spannungserhöhende Pause. Dann ruft sie: “Sehen<br />
Sie nur, Herr Pastor, wie neugierig der Botaniker ist! Das<br />
ganze Gesicht ist ein Fragezeichen.”<br />
“Nun spann den armen Jungen nicht noch länger auf die<br />
Folter. Versprochen ist versprochen.”<br />
“Gar nichts hab ich ihm versprochen. Aber ich sehe ein, daß<br />
das Leiden ein Ende haben muß. Also: ich füge ein bißchen<br />
Kakao dazu und eine Prise Salz.”<br />
“Das ist alles?”<br />
“Das ist alles.”<br />
“Ab sofort gibt’s jetzt auch bei mir zu Hause Fünf-Sterne<br />
Kaffee.”<br />
Inge steht auf und schaltet das Radio ein. Sie möchte gern<br />
wissen, mit welcher Temperatur sie heute nachmittag<br />
rechnen kann. Auf dem See ist es <strong>im</strong>mer etwas kühler. Da<br />
muß man sich entsprechend anziehen. Aber so sehr sie auch<br />
herumsucht, nacheinander alle möglichen Sender einstellt, es<br />
kommt einfach keine Nachricht über das Wetter. Statt dessen
356 EINSICHTEN<br />
werden aus Afrika neue Kämpfe gemeldet zwischen Schwarzen<br />
und Weißen.<br />
Der Pastor schüttelt den Kopf: “Schwarze, Weiße, Gelbe,<br />
Rote – sie sind doch alle Gottes Kinder. Warum nur dieser<br />
Haß gegen das Fremde, diese Intoleranz gegenüber Andersartigem?<br />
Es scheint wirklich sehr schwer zu sein, Lehren aus<br />
Vergangenem zu ziehen. Haß auf Fremdes, ob <strong>im</strong> Aussehen,<br />
Verhalten oder in der Gedankenwelt – das ist eine<br />
verhängnisvolle Eigenart der Menschen. Sie hat schon viel<br />
Leid hervorgebracht.”<br />
Als weder Inge noch Peter daraufhin etwas sagen, fragt der<br />
Pastor: “Was sagt der Ökologe dazu?”<br />
Peter wollte sich eigentlich an diesem schönen Morgen auf<br />
keine Diskussion einlassen. Nun aber sagt er: “Abweichungen<br />
von der Norm abzulehnen, das ist eine uralte Reaktion. Bei<br />
den meisten Tieren wird Fremdes, zumal wenn es nicht<br />
kooperiert, unnachgiebig bekämpft. Diese Reaktion, das<br />
Abstandhalten von Anderem, dient der Arterhaltung.”<br />
“Das”, entgegnet der Pastor, “sollte aber doch kein Grund<br />
sein dafür, daß wir Menschen dieses Verhalten unkorrigiert in<br />
uns fortwirken lassen.”<br />
“Der Ansicht bin ich auch. Aber Korrekturen sind nicht<br />
leicht. Hier stehen alte Triebe gegen neue Einsichten. Über<br />
viele Hunderttausende von Jahre haben die Menschen in kleinen<br />
Gruppen gelebt, in denen jeder jeden kannte. Aus dieser<br />
Zeit stammt die Ablehnung des Fremden. Wir müssen endlich<br />
begreifen, daß dieses Urverhalten nicht mehr in unsere heutige<br />
Zeit paßt.” Peter n<strong>im</strong>mt einen Schluck Kaffee zu sich.<br />
“Hmm”, macht er, sieht Inge an und kneift ein Auge zu. Dann<br />
fährt er fort: “Problematisch wird das allerdings, wenn Fremdes<br />
in Zahl und Einfluß eigene Traditionen zu verdrängen<br />
droht. Dann muß man nach Abhilfe suchen.”<br />
“Das sehe ich genauso”, sagt der Pastor. “Eigene Traditionen,<br />
eigene Wertvorstellungen und eigene Sitten verleihen<br />
einem Volk seine Identität. Im Ausgleich, <strong>im</strong> Neben- und
Fünf-Sterne-Kaffee 357<br />
Miteinander verschiedener Traditionen und <strong>im</strong> gemeinsamen<br />
Teilhaben an neuen Entwicklungen, da liegt die Chance zur<br />
Bewältigung der Zukunft.”<br />
“Leider gibt es viele Menschen, die vom Verstand her wenig<br />
auszurichten vermögen.”<br />
Der Pastor nickt.<br />
“Bei so manchem wird das Verhalten von St<strong>im</strong>mungen oder<br />
Trieben beherrscht, denen nicht in ausreichendem Maße<br />
kontrollierende Willenskräfte gegenüberstehen.”<br />
“Solche Menschen tun mir leid”, sagt Inge.<br />
“Mir auch”, nickt Peter. “Sie sind Sklaven ihrer St<strong>im</strong>mungen<br />
und Triebe. Sie verdienen unser Mitgefühl. Sie sind nie gefragt<br />
worden: ‘Wie willst du sein?’ Sie sind, wie wir alle, das<br />
Ergebnis eines Zeugungsaktes, bei dem Erbgut in einer Weise<br />
verteilt wurde, auf die kein Mensch Einfluß nehmen konnte.”<br />
Inge ist in die Küche gegangen. Dort bereitet sie eine neue<br />
Portion Kaffee zu.<br />
“Verstehe ich das richtig”, fragt der Pastor, “daß es Ihrer Ansicht<br />
nach bei diesen Menschen so etwas wie Schuld gar nicht<br />
geben kann?”<br />
“Schuldig kann doch nur jemand werden, der eine Wahl<br />
hatte, anders zu werden, als er geworden ist. Aus einem Zeugungsakt<br />
eines Katzenpaares kann nur eine Katze<br />
hervorgehen. Wer darf die gezeugte Katze schuldig sprechen,<br />
weil sie kein Hund geworden ist? Oder weil sie sich nicht wie<br />
ein Hund verhält?”<br />
“Die Bibel sagt: Ein jeglicher hat seine Gabe von Gott, einer<br />
so, der andere so. Aber sie lehrt auch, daß man seine Gaben<br />
entwickeln kann.”<br />
“Auch das Entwickeln von Gaben ist eine Gabe.”<br />
Durch die halboffene Küchentür hat Inge die letzten, etwas<br />
lauter gesprochenen Sätze mitgehört. ‘Oh Gott’, denkt sie,<br />
‘hoffentlich beginnt der Peter keinen Streit!’<br />
Und der Pastor denkt: ‘wo bleiben da Sünde und Sühne, wo<br />
Böses und Buße, wo Schuld und Strafe? Der Peter sieht man-
358 EINSICHTEN<br />
ches zu einseitig. Sind Strafe und Belohnung nicht die wirkungsvollsten<br />
Mittel zur Einpassung des Einzelnen in die<br />
Gemeinschaft? Strafe soll helfen. Strafe soll vor weiterer<br />
Schuld schützen! Strafe kann Schuld tilgen. Sie ist die<br />
Voraussetzung für die Wiederaufnahme eines Übeltäters in<br />
die Gesellschaft. Inges Freund gefällt sich offenbar darin,<br />
vieles umzukrempeln.’ Er sieht den jungen Wissenschaftler<br />
prüfend an. Aber er sagt nichts.<br />
So wird ein Streit vermieden. Doch der Sreit wird nur<br />
hinausgeschoben. Noch heute wird sich das Gewitter<br />
entladen. Es geht nicht anders.<br />
Aus der Küche zurückkehrend, sagt Inge: “Nur wer den<br />
anderen zu achten vermag, kann Toleranz üben.” Zu Peter<br />
gewandt fügt sie hinzu: “Du bist doch auch für Toleranz.” So<br />
hofft sie, das Gespräch wieder in ruhigere Bahnen lenken zu<br />
können.<br />
“Ja, das bin ich. Wir sollten einen Menschen nicht beurteilen<br />
nach seiner Hautfarbe, Herkunft, Rasse oder Religion,<br />
sondern danach, was er tut oder nicht tut. Ich freue mich über<br />
Vielfalt. Auch sie ist ein Naturgesetz. Und ich übe mich in<br />
aktiver Toleranz nach dem Motto: Schön, daß es Weiße gibt,<br />
Schwarze, Gelbe und Rote, schade, daß es keine Blauen gibt<br />
und Grüne. Vielfalt bringt Farbe ins Bild. Mangel an Toleranz<br />
ist Mangel an Kultur. Intoleranz ist die Schwester der Dummheit.”<br />
“Wahrlich, so ist es”, st<strong>im</strong>mt der Pastor zu.<br />
Und nun kehrt wieder Ruhe ein in der Frühstücksrunde<br />
und Vorfreude auf die Bootsfahrt.<br />
An der Haustür klopft es. Inge öffnet. Ein Mann steht vor<br />
der Tür. Er möchte den Pastor sprechen. Der Pastor begrüßt<br />
ihn herzlich und geht mit ihm in einen Nebenraum.<br />
In den Wintergarten zurückkehrend sagt Inge: “Ein Gemeindemitglied.<br />
Er sucht Vater’s Rat und Trost. Er ist ein<br />
Pechvogel. Vater muß ihn wieder aufrichten.”<br />
Peter nickt.
Fünf-Sterne-Kaffee 359<br />
Nachdem die beiden ihren Kaffee ausgetrunken haben,<br />
fragt Inge: “Hast du Lust, mit mir in den Garten zu gehen bis<br />
Vater zurückkommt?”<br />
“Gern.”<br />
Inge zeigt Peter den Garten und erklärt ihm einige Einzelheiten.<br />
Schließlich öffnet sie eine enge Tür. Die führt auf einen<br />
kleinen Friedhof. Ehrfurchtsvoll gehen sie an einer Reihe von<br />
Gräbern vorbei. Dann stehen sie vor einem besonders schön<br />
hergerichteten Grab. “Hier ruht meine Mutter.” Inge faltet die<br />
Hände, hebt sie vor die Brust und betet.<br />
Nach einer Weile geht sie zwei Schritte weiter: “Hier wird<br />
einmal mein Vater liegen. Und daneben ich.”<br />
“Hallo, ihr beiden!”, ruft der Pastor. “Ich habe euch gesucht.”<br />
Er geht auf Inge und Peter zu. Bleibt vor dem Grab seiner<br />
Frau stehen, senkt den Kopf und betet. Wie zuvor Inge, faltet<br />
er dabei die Hände und hebt sie vor die Brust. Nach einem<br />
Augenblick des Schweigens hakt er sich bei Inge ein und führt<br />
sie zurück in’s Haus. Auf dem Wege dorthin fragt er: “Hast du<br />
gesehen, wie sehr der Pflaumenbaum gewachsen ist? Er<br />
hängt voller Früchte. Unser kleiner Garten”, wendet er sich<br />
Peter zu, “das ist mein Hobby. Es ist ein wunderschönes<br />
Erlebnis, zu säen, zu pflanzen, zu pflegen und zu ernten. Und<br />
es ist eine große Freude, miterleben zu dürfen, wie alles wächst<br />
und blüht, gedeiht und reift.”<br />
“Das kann ich gut nachempfinden. Daran hätte auch ich<br />
großen Spaß.”<br />
“Na sehen Sie, da haben wir ja etwas Wichtiges gemeinsam.<br />
Sicher kann ich da von Ihnen noch so manches lernen.<br />
Ein Botaniker weiß best<strong>im</strong>mt mehr über den Garten als ein<br />
Pastor.”<br />
“Meine Kenntnisse zielen in eine andere Richtung. Und mir<br />
fehlt es an praktischer Erfahrung. Ich glaube daher, daß ich<br />
eher von Ihnen lernen kann.”<br />
“Na, vielleicht werden wir das ja bald einmal herausfinden.”
360 EINSICHTEN<br />
Lebensfreude<br />
Kaum sind die drei wieder <strong>im</strong> Wintergarten angelangt, da<br />
läßt sie ein Paukenschlag zusammenfahren. Weitere Paukenschläge<br />
folgen, dann rasselnde Trommelwirbel und lautes<br />
Pfeifen.<br />
“Das ist unsere Feuerwehrkapelle!”, schreit Inge gegen den<br />
Lärm an. “Sie gibt ein Konzert.” Dröhnende Marschmusik<br />
setzt ein mit Trompeten und Posaunen und mit klingendem<br />
Schellenbaum. Dicht am Pastorenhaus vorbei marschieren die<br />
Feuerwehrleute. Sie pauken, trommeln und blasen, was das<br />
Zeug hält. Als die Kapelle sich entfernt und die Lautstärke<br />
nachläßt, sagt Inge: “Unsere Feuerwehr ist Spitze.” Sie tanzt<br />
<strong>im</strong> Rhythmus der Musik. “Los, ihr beiden! Auf zum Spielplatz!”<br />
Sie wirft eine weiße Jacke über ihre Schultern. “Los, los, ihr<br />
müden Geister! Auf zum Morgenkonzert!” Die Männer lachen.<br />
Der Pastor holt seinen schwarzen Hut mit der breiten Krempe<br />
und drückt ihn in die weißen Locken. Peter greift nach seinem<br />
leichten Sommerpullover. Und auf geht’s!<br />
Auf dem Spielplatz erwartet sie ein farbenfrohes Bild. Beleuchtet<br />
von schräg einfallender Morgensonne formen die Musiker<br />
einen Halbkreis vor dem dunklen Grün der hohen Eiben.<br />
Auf dem Blau und Rot ihrer Uniformen blitzen goldene<br />
Knöpfe. Weiße Mützen zieren goldgerahmte blaue Schirme.<br />
Rote W<strong>im</strong>pel winken. Gelbe Fahnen flattern. Und über all<br />
dem schweben bunte Luftballons an langen Leinen.<br />
Mitreißende Marschmusik erfüllt den <strong>Park</strong>. Im blankgeputzten<br />
Messing der Blasinstrumente funkelt und zerfließt<br />
Sonne.<br />
Die Feuerwehrmänner dirigiert ein kräftiger, hochgewachsener<br />
Kapellmeister. Von dessen kordeligen Schulterepauletten<br />
baumeln Bögen silberner Schnüre. So energisch fährt<br />
sein Taktstock in der Luft herum, daß bei jedem Abwärtsstoß<br />
der ganze Körper bebt.<br />
Viele Menschen sind gekommen. Einige schunkeln und
Lebensfreude 361<br />
wippen <strong>im</strong> Takt der Musik. Ein hübsches junges Paar tanzt<br />
auf einer Bank in der Nähe des Sandkastens.<br />
Im hinteren Teil des Spielplatzes und auf dem ersten<br />
Abschnitt des Weges zum Waldschloß stehen Würstchenbuden<br />
und geschmückte Wagen, einige mit Bierausschank,<br />
andere mit Fruchtsäften, Milchshakes, Eis und Gebäck.<br />
Kinder drängeln schreiend und hüpfend vor Tischen mit Schokolade,<br />
Zuckerstangen und Lakritzen. Einige kreischen vor<br />
Vergnügen. Inge tänzelt hüfteschwingend zwischen Vater und<br />
Peter. Ihr Zopf wippt und wedelt – auf und ab und hin und<br />
her. Und jetzt st<strong>im</strong>mt sie aus vollem Halse ein in das Lied, das<br />
die Kapelle gerade anst<strong>im</strong>mt, das Herrmann Löns Lied von<br />
der Lüneburger Heide.<br />
“Wie schön das alles ist!”, ruft Peter. Und er denkt: ‘Ich habe<br />
mich zu sehr mit meiner Wissenschaft verheiratet. Inge und<br />
ihr Vater zeigen mir die andere Seite des Lebens. Ich muß<br />
noch viel von ihnen lernen.’<br />
Noch eine Zeitlang schunkeln Inge, Pastor und Peter. Dann<br />
schlendern sie Arm in Arm scherzend und lachend zurück zum<br />
Pastorenhaus. Dort packen sie den Picknickkorb. Die drei<br />
wollen ihre Mittagsmahlzeit <strong>im</strong> Ruderboot auf dem See einnehmen.<br />
Inge stellt Speisen und Getränke zusammen, Pastor<br />
und Peter packen ein. Dabei haben sie eine Menge Spaß.<br />
“Wie bringen wir den Korb zum See?”, fragt Peter.<br />
“Mit dem Rad, vorausgesetzt natürlich, du kannst radfahren.”<br />
“Ich kann.”<br />
“Nun seh’n Sie mal, Herr Pastor! Ist das nicht ein toller<br />
Hecht? Rudern kann der und Pfeife rauchen. Und nun auch<br />
noch radfahren!”<br />
Peter droht mit dem Zeigefinger, und dann n<strong>im</strong>mt er Inge in<br />
den Arm. “Habt ihr denn drei Fahrräder?”<br />
“Haben wir”, antwortet der Pastor schmunzelnd.<br />
Inge versucht abermals, <strong>im</strong> Radio etwas über das Wetter in<br />
Erfahrung zu bringen. Diesmal hat sie Glück. Das Meteoro-
362 EINSICHTEN<br />
logische Institut prophezeit Sonnenschein und Temperaturen<br />
bis zu sechsundzwanzig Grad. “Pr<strong>im</strong>a!” da kann ich ja mein<br />
schickes neues Sommerkleid anziehen.” Immer zwei Stufen<br />
auf einmal nehmend, stürmt sie die Treppe hinauf und<br />
verschwindet in ihrem Z<strong>im</strong>mer. Auch Pastor und Peter gehen<br />
in ihre Z<strong>im</strong>mer. Der Pastor wählt ein buntes Hemd und eine<br />
helle Mütze. Peter rollt seine dünne Windjacke zusammen. Er<br />
wird sie <strong>im</strong> Picknickkorb verstauen. Man weiß ja nie, ob man<br />
den Meteorologen trauen kann!<br />
Der Radweg ist gepflegt und eben. So macht das Radeln<br />
richtig Spaß. Vögel zwitschern, Schmetterlinge taumeln<br />
durch die Luft. Es duftet nach frisch geschnittenem Gras.<br />
Links und rechts des Weges eröffnen sich bezaubernde Blicke<br />
über Wiesen, Buschgruppen und Bäume. Am See<br />
angekommen, stellen sie ihre Räder ab in einem überdachten<br />
Fahrradstand. Dann gehen sie zurück zum Weg. Peter trägt<br />
den Picknickkorb.<br />
Jenseits einer kleinen Rasenfläche bleibt ein sorgfältig gekleideter<br />
Herr stehen. Er zieht den Hut, schwenkt ihn durch<br />
die Luft. “Ich hab’s geschafft!”, ruft er dem Pastor zu. “Ich<br />
hab’s gemacht!”<br />
Der Pastor winkt zurück. “Herzlichen Glückwunsch!”<br />
Nach einigen Schritten fragt Inge leise. “Darf man fragen,<br />
was der Herr gemacht hat?”<br />
“Er hat seine Sportausrüstung zerschlagen.”<br />
“Was? Ist das nicht eher ungewöhnlich?”<br />
“Leider.”<br />
“Was war denn das für eine Sportausrüstung?”, fragt Peter.<br />
“Angelruten und ein Jagdgewehr.”<br />
Vom Anleger her winkt der Chef der Bootsvermietung.<br />
Freudig-überrascht eilt er herbei und begrüßt die drei. Er<br />
verehrt den Pastor. Dessen Tochter kennt er, seit sie laufen<br />
kann. Oft ist sie mit ihren Freundinnen hier am See gewesen.<br />
Aber jetzt ist der Chef doch sprachlos über soviel Schönheit<br />
and Anmut. Einen Augenblick lang ist er ganz verwirrt und
Lebensfreude 363<br />
übersieht die Hand, die Peter ihm entgegenstreckt. Dann aber<br />
ergreift er die Hand und schüttelt sie mit Kraft und Herzlichkeit.<br />
Völlig außer sich ist der Chef über diesen unerwarteten<br />
Besuch. Wie ein Wiesel läuft er umher, wählt ein besonders<br />
schönes Boot aus, zieht es an der Leine an einen Platz,<br />
von dem aus das Einsteigen leicht bewerkstelligt werden<br />
kann, bringt Kissen herbei und schafft den Picknickkorb ins<br />
Boot. Schließlich fragt er, ob alles so in Ordnung sei. Als der<br />
Pastor bejaht und sich bedankt, hockt sich der Chef nieder<br />
und hält mit beiden Händen das Boot, bis alle drei<br />
eingestiegen sind und Platz genommen haben, Inge auf der<br />
Bank <strong>im</strong> Bug, der Pastor <strong>im</strong> Heck und Peter auf der Bank in<br />
der Mitte.<br />
“Ablegen!”, kommandiert Inge.<br />
Ein Schubs. Ein Wurf der Bootsleine. “Gute Fahrt!”, ruft der<br />
Chef und winkt. Und nun beginnt die Ruderpartie.<br />
Peter legt sich in die Riemen.<br />
“Nun seh’n Sie mal, Herr Pastor, der Botaniker kann<br />
tatsächlich rudern. Nicht berauschend, aber für den Anfang<br />
mag’s reichen. Ein bißchen mehr nach links, Herr Doktor!”,<br />
ruft Inge übermütig. “Noch mehr! So ist’s recht. Sie machen<br />
Fortschritte!”<br />
Natürlich weiß Peter, worauf sie da anspielt. “Paß du ja<br />
auf!”, sagt er und gibt sich Mühe, damit das wie eine Drohung<br />
klingt. “Paß nur auf, bis wir wieder an Land sind!” So kennt<br />
er Inge überhaupt nicht. ‘Sie muß sehr glücklich sein’, denkt<br />
er und freut sich darüber.<br />
Am Ufer, hinter einem Busch, hockt ein kleiner, untersetzter<br />
Mann. Den lauernd vorgestreckten Kopf aufgeregt hin- und<br />
herwendend, starrt er durch Äste und Blätter. Voller Ungeduld<br />
zerrt er ein kleines Fernglas aus der Jackentasche und hebt es<br />
mit zitternden Händen vor die Augen. Eine riesige braune<br />
Sportmütze mit mächtigem Schirm umschließt wie ein Ballon<br />
den Kopf. Die weite Windjacke vermag den Höcker hinter den
364 EINSICHTEN<br />
Schultern nicht völlig zu verbergen. Dünne Beine stecken in<br />
engen, dunkelblauen Jeans, große Füße in derben schwarzen<br />
Schuhen. Mit hämmerndem Herzen hatte der Maler die drei<br />
verfolgt. Geduckt war er von Busch zu Busch getrippelt. Sein<br />
Engel ist <strong>im</strong> Boot!!<br />
“Vorsicht Inge!”, ruft der Pastor, “lehn dich nicht zu weit<br />
über Bord!”<br />
“Ich kann schw<strong>im</strong>men! Allerdings weiß ich nicht, ob der<br />
Botaniker schw<strong>im</strong>men kann.”<br />
Peter läßt ein Ruder los und droht mit dem Finger. Hoppla!<br />
Um ein Haar wäre ihm das Ruder entglitten.<br />
“Also so was! Haben Sie das gesehen Herr Pastor? So eine<br />
Leichtsinnigkeit! Ich weiß nicht”, Inge schüttelt den Kopf, daß<br />
der Zopf von Schulter zu Schulter pendelt, “früher war das<br />
Bootspersonal hier zuverlässiger.”<br />
Peter schluckt. Ihm fehlen die Worte.<br />
“Dieses Boot ist glücklicherweise stabil”, wendet sich der<br />
Pastor an Peter. “Eine Zeitlang gab es keinen<br />
funktionstüchtigen Anleger am See. Der verlassene alte<br />
Anleger da hinten”, er zeigt auf eine ferne Uferpartie mit<br />
einer Holzkonstruktion, auf der eine in fl<strong>im</strong>mernder Luft<br />
zitternde weiße Bank zu erkennen ist, “entsprach nicht mehr<br />
in vollem Umfang den Vorschriften für einen Schiffsbetrieb.<br />
Und für die Bootsvermietung stand er wohl auch in zu tiefem<br />
Wasser. Entscheidend aber war, daß dieser Teil des <strong>Park</strong>s zum<br />
naturgeschützten Bereich erklärt wurde.”<br />
“Zur Wildnis”, sagt Inge.<br />
“Neue Anleger gab es noch nicht. In dieser Zeit lieh sich der<br />
Chef der Bootsvermietung ganz leichte Boote. Halb <strong>im</strong> Wasser<br />
und halb auf dem Ufer liegend, wurden sie trockenen Fußes<br />
von den Benutzern betreten und verlassen. Gestiefelt bis zu<br />
den Hüften, haben die Helfer des Chefs die Boote mitsamt der<br />
Benutzer ins Wasser geschoben und später wieder herausgezogen.<br />
Aber diese Boote kenterten leicht. Damit habe ich
Lebensfreude 365<br />
schon schlechte Erfahrungen machen müssen.”<br />
“Das kann man wohl sagen,” erinnert sich Inge. “Ich wollte<br />
Vater abholen. Schon von weitem erkannte ich, daß ein<br />
Boot gekentert war. Dann sah ich, daß Vater und die beiden<br />
Pastoren der Nachbargemeinden uferwärts schwammen.<br />
Voller Angst rannte ich an Bäumen und Büschen vorbei zu der<br />
Stelle, an der sie das Ufer erreichen mußten. Als ich dort<br />
ankam krochen die drei gerade an Land. Das war ein Bild!<br />
Ihre Haare hingen ins Gesicht und die dünnen schwarzen<br />
Sommeranzüge klebten am Körper. Drei schwarze Hüte<br />
dümpelten verlassen auf dem See. Viele Menschen hatten sich<br />
versammelt. Einige lachten schadenfroh. Aber die meisten<br />
klatschten den tüchtigen Schw<strong>im</strong>mern Beifall.”<br />
Die Sonne strahlt. Die Luft ist mild und klar, und sie riecht<br />
wunderbar frisch. Die weite Wasserfläche ist ganz glatt. Wie<br />
ein riesiger Spiegel liegt sie unter dem Boot. Kein Laut ist zu<br />
hören außer dem leisen Platschen und Knarren der Ruder,<br />
das jetzt verstummt. Mit der noch von den letzten Ruderschlägen<br />
in ihm wirksamen Energie treibt das Boot auf dem<br />
Wasser dahin. In sich gekehrt, mit entspannten Sinnen, erfreuen<br />
sich Inge, Pastor und Peter des herrlichen Sees.<br />
“Da!”, durchbricht Inges Flüstern träumendes Schweigen.<br />
Mit der ausgestreckten Rechten weist sie nach vorn und<br />
zur Seite. “Da!! Riesige Fische. Direkt unter der Wasseroberfläche.”<br />
Langsam treibt das Boot auf den linken Teil der Fischversammlung<br />
zu.<br />
Platschen, Spritzen, Gurgeln! Als wäre ein Ungeheuer in den<br />
See gesprungen: Wasserkaskaden, erpeitscht und in die Höhe<br />
geschleudert von den kräftigen Schwanzflossen der in ihrer<br />
Ruhe gestörten und in Panik wegtauchenden Seebewohner.<br />
Inge erstarrt. Und auch die Männer sind erschrocken. Allen<br />
dreien rinnt Wasser über Gesicht und Kleidung. Noch <strong>im</strong>mer<br />
wirbelt, wallt und schäumt es. Wellen breiten sich aus,<br />
verwandeln die Seeoberfläche in eine bewegte Wasserland-
366 EINSICHTEN<br />
schaft, in der reflektierende Sonnenstrahlen zu funkelnden<br />
Lichtblitzen werden.<br />
“Mein Gott!”, ruft Inge, als sie sich vom ersten Schreck erholt<br />
hat. “Sowas hab ich hier noch nie erlebt.”<br />
“Wissen Sie, was das für Fische sind?” fragt der Pastor den<br />
Ökologen.<br />
“Das sind Graskarpfen.”<br />
“Kann man die essen?”<br />
“Ja.”<br />
“Also eine Bereicherung unserer Speisekarte.”<br />
“Auch. Aber sie sind vor allem nützliche Vertilger von Unterwasserpflanzen<br />
und Schilf.”<br />
“Ich hatte mich schon darüber gewundert, daß die Gärtner<br />
nicht mehr wie früher das Schilf mähen.”<br />
“Die Arbeit erledigen jetzt diese Fische.”<br />
“Warum heißen sie Graskarpfen?”, fragt Inge.<br />
Peter greift zu Pfeife und Tabakbeutel. “Nachts, wenn alles<br />
schläft, kriechen sie auf die Wiese und fressen Gras.”<br />
“Waass??”<br />
“Wenn du nicht aufpaßt, werden sie sich auch noch an deine<br />
Erdbeeren ‘ranmachen.” Peter zwinkert dem Pastor zu. Der<br />
schmunzelt vor sich hin.<br />
“Diese Botaniker!”, ruft Inge, “die kohlen sich ganz schön<br />
was zusammen!”<br />
Peter schiebt das Mundstück seiner Pfeife zwischen die Zähne,<br />
ergreift die Ruder und treibt das Boot voran. Nach einer<br />
Weile entzündet er paffend den Tabak. Dann rudert er wieder<br />
weiter.<br />
“Wenn die Graskarpfen sich vermehren”, überlegt der Pastor,<br />
“besteht da nicht die Gefahr, daß sie allmählich alles<br />
kahl fressen <strong>im</strong> See?”<br />
“Die können sich bei uns nicht vermehren.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil ihr Fortpflanzungstrieb durch Umweltbedingungen<br />
angeregt wird, die es bei uns nicht gibt.”
Lebensfreude 367<br />
“Dann muß jeder Graskarpfen zu uns eingeflogen werden?”<br />
“Nein. Man kann erwachsene Fische künstlich in Fortpflanzungsst<strong>im</strong>mung<br />
versetzen.”<br />
“Künstlich?” Der Pastor schüttelt den Kopf. “Wie soll das<br />
funktionieren?”<br />
“Man spritzt ihnen Hormone.”<br />
“Das ist mir aber ein komisches Liebesleben!”<br />
“Im Prinzip nicht anders als bei Menschen. Auch bei uns<br />
wird Fortpflanzung durch Hormone geregelt.”<br />
Wieder schüttelt der Pastor den Kopf.<br />
“Und warum heißen sie Graskarpfen?”, beharrt Inge auf der<br />
Beantwortung ihrer Frage. Sie sieht Peter in die Augen. Als<br />
dort abermals Schalk aufblitzt, sagt sie: “Keine Märchen! Ich<br />
hab dir auch mein Gehe<strong>im</strong>nis anvertraut.”<br />
“Was für ein Gehe<strong>im</strong>nis?”<br />
“Nun hör sich das einer an! Hast du das schon vergessen?<br />
Das mit dem Fünf-Sterne-Kaffee?”<br />
“Wie könnte ich das vergessen!” Peter lacht. “Also, diese<br />
Fische nennt man Graskarpfen, weil sie tatsächlich Gras fressen.<br />
Wo sie am Ufer Gras erreichen können, wird es<br />
abgeweidet. Manchmal schieben sie sich dabei sogar mit dem<br />
Vorderkörper ein Stück aus dem Wasser.”<br />
“Ich hab Hunger”, sagt Inge.<br />
Der Pastor schmunzelt. “Auch ich würde mich nicht ungebührlich<br />
gegen ein Picknick sträuben. Was meinen Sie,<br />
Peter?”<br />
“Gern.”<br />
Inge setzt sich zu ihrem Vater auf die Bank <strong>im</strong> Heck, Peter<br />
wechselt zum Bug. Die mittlere Bank dient als Tisch, den Inge<br />
jetzt mit einem Papiertuch bedeckt. Darauf plaziert der Pastor<br />
Pappteller und Pappbecher. Inge packt belegte Brote aus,<br />
Äpfel, gekochte Eier und für jeden eine reife Pflaume.<br />
Der bucklige Zwerg ist seinem Engel gefolgt. Verbissen hat<br />
er sich durch Büsche gedrängelt, <strong>im</strong>mer am Ufer entlang, als
368 EINSICHTEN<br />
sei er durch eine unsichtbare Leine mit dem Boot verbunden.<br />
Nun klettert er auf eine Erle. Getarnt von dichtstehenden<br />
Blättern hockt er auf einem Ast wie ein riesengroßer böser<br />
Vogel. Unablässig starrt er zum Boot, mit zitterndem Herzen<br />
und zuckendem Gesicht.<br />
Aus der Thermosflasche füllt der Pastor die Becher mit Apfelsaft.<br />
“Hier ist Pfeffer und Salz.” Mit der Hand wirft Inge ihren<br />
Zopf in den Nacken. “Der Nachtisch ist noch <strong>im</strong> Korb. Den<br />
gibt’s aber nur für ganz artige Jungen.”<br />
“Oho!”, protestiert der Pastor, “wir sind <strong>im</strong>mer artig!”<br />
“Na ich weiß nicht”, Inge wiegt den Kopf, “der da mit Bart<br />
und Brille …”<br />
“Das ist denn doch die Höhe! Jetzt hab ich die ganze Zeit<br />
gerudert wie ein Galeerenknecht und dann so was!” Peter<br />
m<strong>im</strong>t den Gekränkten, macht ein trauriges Gesicht.<br />
Als Inge das sieht, lacht sie aus vollem Halse. Ihr Herz<br />
springt vor Vergnügen, und ihr helles Lachen perlt weit über<br />
den See. “Armer Junge”, sagt sie, “sei nicht traurig, du kriegst<br />
auch was ab.”<br />
Schmunzelnd erhebt der Pastor seinen Pappbecher: “Prost<br />
ihr beiden!”<br />
“Prost!”<br />
Enten fliegen vorbei, kommen zurück, kreisen und sausen auf<br />
das Boot zu. Mit starren Flügeln die Balance haltend, nähern<br />
sie sich der Wasseroberfläche. Beine nach vorn, Schw<strong>im</strong>mfüße<br />
gespreizt, zischen sie ins Wasser. Rasch sinken sie in<br />
Schw<strong>im</strong>mposition, schütteln das Gefieder, wackeln mit den<br />
Schwanzdecken, nicken nach Entenart, quaken und schnattern.<br />
Schnabel senkend nehmen sie Wasser auf, heben den Kopf<br />
und lassen das Wasser den langen Hals hinunterrinnen. Ein<br />
paar abwägende Blicke mit schräg gestelltem Kopf, und schon<br />
kommen sie herangepaddelt, schw<strong>im</strong>men um das Boot herum<br />
und betteln um ihren Anteil am Mittagessen.
Lebensfreude 369<br />
“Kommt nur näher”, ruft Inge und wirft den Enten ein<br />
Stückchen Brot zu. Auf dieses Signal haben die gewartet.<br />
Flügelschlagend und Beine tretend stürzen sie herbei. Auch<br />
Pastor und Peter beteiligen sich an der Fütterung. Gierig versuchen<br />
die Enten, sich gegenseitig an Geschwindigkeit und<br />
Geschicklichkeit zu übertreffen. Sie haben alle Scheu verloren.<br />
“Du hast schon am meisten gekriegt”, ermahnt Inge einen<br />
besonders aggressiven Enterich, “nun laß auch mal die<br />
anderen ran!” Dann sagt sie zu ihrem Vater, “füttere du den<br />
Lümmel mal. Lenk ihn ab, dann kann ich den dreien dort<br />
hinten auch mal was zukommen lassen.”<br />
“Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?”, fragt der Pastor.<br />
“Oh, ja”, juchzt Inge “und einen leckeren Kuchen!”<br />
“Klingt gut”, sagt Peter. “Im See-Café?”<br />
“Ja.”<br />
Peter wendet das Boot und n<strong>im</strong>mt Kurs. “Bitte gib mir<br />
Richtungsanweisungen. Ich habe hinten leider keine Augen.”<br />
“Mit dem größten Vergnügen. Dir wollte ich schon <strong>im</strong>mer<br />
gerne mal Richtungsanweisungen geben!”<br />
Während der Rückfahrt herrscht Schweigen. Inge gibt ihre<br />
Anweisungen per Hand. Alle drei genießen den Frieden und<br />
die Stille. Vor dem Boot schw<strong>im</strong>mt ein Tauchvogel. Plötzlich<br />
schwuppst er nach vorn und verschwindet unter der Wasseroberfläche.<br />
In der Ferne winken Segel, weiße, schwarze, gelbe,<br />
rote. Nur das rhythmische Klatschen und Knarren der Ruder<br />
ist zu hören.<br />
Erst als sie dem Anleger schon recht nahe sind, kommen andere<br />
Geräusche hinzu. Aus der Geräuschkulisse löst sich Gesang.<br />
Händehaltend tanzen Kinder <strong>im</strong> Kreis, wie sich später<br />
herausstellt, um einen Topf mit frisch geernteten Möhren.<br />
Jetzt kann man auch die Worte verstehen, die die hellen<br />
St<strong>im</strong>men hinausschmettern:<br />
… Eure Fehler, Euer Borgen,<br />
die drücken uns noch morgen.
370 EINSICHTEN<br />
Ihr meckert an uns rum<br />
und haltet uns für dumm.<br />
Doch macht Ihr uns nicht bang.<br />
Was Ihr könnt, könn’n wir lang.”<br />
Kinder sind wir heut,<br />
doch bald schon sind wir Leut.<br />
Eure Fehler, Euer Borgen,<br />
die drücken uns noch morgen.<br />
Was wollt Ihr uns denn lehren?<br />
Zwar könn’ wir uns nicht wehren,<br />
doch was wir von Euch sehen,<br />
läßt uns die Lust vergehen,<br />
auf Euch noch lang zu hören.<br />
Wir sind’s, die sich empören!<br />
Und dann ruft ein großes Mädchen noch: “Wir sind die neuen<br />
Gören, wir haben’s satt auf euch zu hören, – da ess’n wir<br />
lieber Möhren!” Alles lacht und schreit durcheinander. Dann<br />
löst sich der Kreis auf.<br />
“Wahrlich”, sagt der Pastor leise, “die Kinder haben recht.”<br />
“Was meinst du?”<br />
“Ich meine das, was die Kinder da gesungen haben. Ihre<br />
Vorwürfe sind berechtigt. Wir zerstören ihre Lebensgrundlagen.<br />
Wir machen Schulden, für die sie ihr ganzes Leben<br />
werden zahlen müssen. Eines Tages werden die Macht und<br />
das Recht in ihren Händen liegen. Eines Tages werden sie<br />
über uns richten.”<br />
Da kommt der Chef herbeigelaufen. Er winkt mit beiden<br />
Armen und dirigiert Peter in eine <strong>Park</strong>bucht. Noch bevor das<br />
Boot die Holzbalken des Anlegers erreicht, packt er den Bug,<br />
zieht ihn zu sich heran, übern<strong>im</strong>mt die Leine und befestigt sie<br />
an einem Anlegerpfahl. Dann hockt er sich nieder wie vorhin,<br />
hält das Boot fest und sichert so das Aussteigen. Er sammelt<br />
Picknickkorb, Kissen und die Reste der Mahlzeit ein. “Wie
Lebensfreude 371<br />
war’s, Herr Pastor? Hatten Sie eine gute Ruderpartie? War<br />
alles in Ordnung?”<br />
“Es war alles perfekt. Herzlichen Dank!” Der Pastor zückt<br />
seinen Geldbeutel. Doch der Chef wehrt heftig ab. “Nein, Herr<br />
Pastor, auf keinen Fall. Sie und Ihre Familie sind meine Gäste.”<br />
Aber der Pastor n<strong>im</strong>mt das nicht an. Er bedankt sich nochmals,<br />
legt dem Chef eine Hand auf die Schulter, schmunzelt,<br />
und dann steckt er ihm mit der anderen Hand einen Geldschein<br />
in die Jackentasche.<br />
Der Chef macht eine tiefe Verbeugung. Er ist ein eher ekkiger<br />
und ausdrucksarmer Mann, aber den Pastor verehrt er<br />
wie keinen anderen Menschen auf der Welt.<br />
Das nahe See-Café liegt auf einer winzigen Insel. An deren<br />
Zuwegung angekommen, parken Inge, Pastor und Peter ihre<br />
Räder. Die Insel selbst ist nur über eine schmale Fußgängerbrücke<br />
zu erreichen. Dabei muß man zwei vom Pächter<br />
konstruierte Türschleusen passieren. Sie verhindern ein Entkommen<br />
seiner frei umherlaufenden Tiere: Perlhühner,<br />
Meerschweinchen und Affen. Das Gebäude ist ein Schmuckstück<br />
aus weißem Klinker, dunkelbraunen Sprossenfenstern<br />
vor weißen Tüllgardinen und einem weit hinunterreichenden<br />
Reetdach. Im Gänsemarsch, Inge voran, steigen sie Stufen<br />
empor und betreten nun eine Terrasse, auf der in riesigen<br />
Holzkübeln große Bäume wachsen.<br />
Der Pastor wählt einen Tisch direkt am Wasser. Lächelnd<br />
einander zunickend, rücken sie ihre Stühle zurecht und<br />
nehmen Platz. Der weite See, über dem die Sonne jetzt schon<br />
tief steht, wirkt beruhigend und erfrischend zugleich. In<br />
Sonnenstrahlen aufleuchtend, winkt aus der Ferne die weiße<br />
Bank auf dem verwaisten Anleger zu ihnen herüber. Und<br />
rechts, noch weiter weg, verschw<strong>im</strong>men die riesigen Baumveteranen<br />
der Wildnis in Dunst und Weite. Eine entspannte,<br />
zufriedene Nachdenklichkeit breitet sich aus.<br />
Auf Inges Zopf, dessen Ende jetzt vorn über ihrer linken
372 EINSICHTEN<br />
Schulter liegt, landet ein großer schwarzer Käfer. Vielleicht<br />
will er sich dort nach langem Flug über das Wasser ausruhen.<br />
Als Inge ihn mit angezogenem Kinn fixiert, verhakt er sich in<br />
ihren Haaren. Er verliert den Halt und beginnt zu strampeln.<br />
Inge greift nach ihm mit langen, zarten Fingern. “Hab keine<br />
Angst, du”, sagt sie leise. “Ich will dir helfen. Bei mir findest<br />
du ohnehin nichts zu fressen.” Jetzt hat sie den Käfer befreit<br />
und läßt ihn an ihrem senkrecht emporgestreckten Zeigefinger<br />
hochkriechen. “Flieg, Käfer, flieg!”, singt sie. “Glück für<br />
Dich! Und bring auch du mir Glück!” Da pumpt der Käfer ein<br />
paarmal, entfaltet seine Flügel und surrt davon.<br />
Inge blickt ihm nach. In seichtem Auf und Ab und sachtem<br />
Hin und Her zieht er seine Bahn. “Ein schöner Käfer”, sagt<br />
sie. “Sicher wird er mir Glück bringen.”<br />
‘Wenn er es könnte’, denkt Peter, ‘ich bin gewiß, er würde es<br />
tun.’ Die beiden sehen einander an, Aug in Aug: “Ja, ich hoffe<br />
er bringt dir Glück!”<br />
Der Pächter kommt. “Dre<strong>im</strong>al Kaffee und dre<strong>im</strong>al Apfelkuchen<br />
mit Sahne”, sagt der Pastor.<br />
Peter hängt seinen Gedanken nach. “Glück”, sagt er<br />
versonnen. Abermals treffen sich zwei Augenpaare. “Was ist<br />
das für dich?”<br />
“Das, was ich <strong>im</strong> Augenblick empfinde. Ich bin sehr<br />
glücklich.”<br />
Wer wollte ihr widersprechen? Dieser schönen jungen Frau<br />
mit den strahlenden blauen Augen, dem zauberhaften Lächeln,<br />
den schneeweißen, von vollen roten Lippen umrahmten<br />
Zähnen, den in der Sonne leuchtenden, langen blonden Haaren?<br />
Ein Maler, der das Glück in einem Bild festhalten wollte<br />
– wie könnte er ein eindrucksvolleres Motiv, wie ein geeigneteres<br />
Modell finden?<br />
Als die beiden Männer nichts sagen, ruft Inge: “Meint ihr<br />
nicht, daß ich glücklich bin?” Mit einer kecken Bewegung<br />
ihres Kopfes schwingt sie den Zopf auf die andere Schulter.<br />
Dann sieht sie mit blitzenden Augen die beiden Männer an,
Lebensfreude 373<br />
einen nach dem anderen – die beiden Männer, die ihr alles<br />
bedeuten, die ihr ganzes Leben ausmachen, und die jetzt so<br />
friedlich vereint neben ihr sitzen.<br />
“Ja doch”, sagt der Pastor, “ja. Wir alle drei haben viel<br />
Grund, glücklich zu sein – und dankbar.”<br />
“Ich hoffe, ich wünsche mir so sehr, daß dieses Glück ewig<br />
währt.”<br />
Peters Blick wandert über den See, dann über die Büsche<br />
und Bäume am Ufer. “Das kann es leider nicht”, sagt er.<br />
“Glück ist vergänglich, wie alles auf der Welt. Ein Glück, das<br />
dauert, hört auf, ein Glück zu sein.” Er sieht Inge in die Augen:<br />
“Wer sich zu sehr nach dem Glück sehnt, dem wird nicht<br />
selten Unglück aus dem Glück.”<br />
Inge legt die Hand auf den Arm ihres Vaters: “Herr Pastor,<br />
bitte sagen Sie dem jungen Mann da, daß er unrecht hat.”<br />
“Der Peter hat nicht unrecht.” Mit der freien Hand zieht der<br />
Pastor die Sportmütze tiefer ins Gesicht. “Es kommt aber<br />
<strong>im</strong>mer darauf an, was man unter Glück versteht und wie man<br />
damit umgeht.”<br />
Peter holt seinen Tabakbeutel hervor und seine Pfeife. Beides<br />
legt er vor sich auf den Tisch. Dann beginnt er damit, sich ein<br />
Pfeifchen zu stopfen. “Glück”, sagt er dabei, “das ist ein vorübergehender<br />
Zustand. Du kannst hier nicht einen ganzen Tag<br />
lang sitzen und erwarten, daß das Glücksgefühl, das du in<br />
diesem Augenblick empfindest, die ganze Zeit über anhält.”<br />
“Mußt du denn <strong>im</strong>mer alles zerreden? Ich bin ganz einfach<br />
glücklich. Sehr glücklich sogar. Und ich habe gerade jetzt das<br />
Gefühl, daß das auch so bleibt.”<br />
Irgendetwas irritiert sie plötzlich. Langsam hebt sie den<br />
Kopf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Terrasse sitzt ein<br />
kleiner, merkwürdiger Mann. Er trägt eine sehr große Sportmütze<br />
und eine Sonnenbrille, deren riesige schwarze Gläser<br />
sein Gesicht bis auf den Wulstlippenmund nahezu vollständig<br />
verdecken. Die schwarzen Gläser sind auf sie gerichtet. Als
374 EINSICHTEN<br />
ihr Blick die Gläser trifft, zuckt der Mann zusammen und<br />
wendet den Kopf zur Seite. – Es war schwierig für den Maler,<br />
den dreien zu folgen. Außer sich war er vor Wut, als sie plötzlich<br />
vom Bootsanleger wegradelten. Aber er hatte ihr Ziel<br />
erahnt. Im See-Cafe hat er das Ebenbild des Engels tief in<br />
sich hineingesogen. Minutenlang. Diese Vollkommenheit,<br />
dieses Meisterwerk der Natur, vor dem selbst seine besten<br />
Bilder nicht bestehen können. Diese Unschuld. Dieser Wisser<br />
um seine Schuld. Verflucht sei diese Kreatur! Wieder zuckt er<br />
zusammen. Angst flammt auf. Und dann, ganz plötzlich,<br />
glaubt er, <strong>im</strong> Engel seinen Richter zu erkennen. Er preßt die<br />
Lippen aufeinander, so fest, daß alles Blut aus ihnen weicht.<br />
‘Ich muß den Engel loswerden!’<br />
“Der Peter hat recht”, sagt der Pastor. “Leider. Aber in dem,<br />
was er sagt, liegt doch auch Trost. So haben auch die weniger<br />
glücklichen Zeiten, ja, sogar die traurigen, eine wichtige<br />
Funktion. Trauer bereitet den Weg zu neuem Glück.” Er<br />
schweigt. Dann sagt er: “Dafür gibt es ein eindrucksvolles<br />
Beispiel aus meinem Leben.”<br />
Inge weiß, wovon er redet. Sie schmiegt sich an ihren Vater<br />
und streichelt dessen Hände. Die liegen gefaltet vor ihm auf<br />
rot-weiß kariertem Tuch. Ihr Blick wandert noch einmal hinüber<br />
zu dem Tisch, an dem der seltsame Mann gesessen hatte.<br />
Der Tisch ist leer. Sie sieht sich um. Der Mann ist spurlos<br />
verschwunden.<br />
Ganz gegen seine Gewohnheit ist es nun der Pastor, der<br />
noch einmal zurückfindet in das Thema, das eigentlich schon<br />
ausdiskutiert war. “Wie relativ Glück sein kann”, sagt er, “das<br />
geht auch aus einer Geschichte hervor, die mir ein Freund<br />
erzählt hat.<br />
Der Zweite Weltkrieg ging zuende. Während eines Lehrgangs<br />
teilte der Freund ein Kasernenz<strong>im</strong>mer mit einem Offizierskameraden.<br />
Seit Wochen hatte es nur sehr wenig und gar<br />
nichts Vernünftiges zu essen gegeben. Die beiden waren total
Lebensfreude 375<br />
ausgehungert. Als sie eines Tages in ihr Z<strong>im</strong>mer kamen, lag<br />
da ein Paket auf einem kleinen Tisch. Das abgegriffene<br />
braune Packpapier war verschnürt mit altem, auffaserndem<br />
Bindfaden. ‘Das Paket kam von meiner Mutter’, erzählte mir<br />
der Freund, ‘zu meinem Geburtstag. Den hatte ich<br />
vollkommen vergessen. Mein Kamerad machte sofort kehrt<br />
und war bereits dabei, das Z<strong>im</strong>mer wieder zu verlassen. Er<br />
ahnte wohl, daß etwas Eßbares in dem Paket war. Ich lief ihm<br />
nach und hielt ihn am Arm zurück. Dann verschloß ich die<br />
Tür. Wie zwei Verschwörer hockten wir einander gegenüber<br />
an dem Tisch. Ich öffnete das Paket. Darin war ein Kuchen.<br />
Unansehnlich und ganz trocken. Den teilen wir uns, sagte ich.<br />
Mein Kamerad, ein harter Soldat, der schon viel Schl<strong>im</strong>mes<br />
<strong>im</strong> Krieg erlebt hatte, schluchzte: Das werde ich dir nie vergessen!<br />
Über den Tisch hinweg ergriff er meine Hand und<br />
schüttelte sie lange. Gemeinsam verschlangen wir den Kuchen.<br />
Er war sehr glücklich. Und ich war es auch.’<br />
So einen Kuchen”, fährt der Pastor fort, “den würden wir<br />
heute mit Empörung zurückweisen.” Er nickt. “Ein und<br />
derselbe Kuchen kann großes Glück bedeuten, aber auch ein<br />
großes Ärgernis. Das hängt ganz davon ab, was man vorher<br />
erlebt hat.”<br />
“Siehst du”, sagt Peter, “Glück ist …” Er schweigt. Dann<br />
sagt er: “Wir Menschen sind merkwürdige Wesen. Wir denken<br />
und empfinden in Gegensätzen: Schwarz-Weiß, Kalt-<br />
Heiß, Gut-Böse, Glück-Unglück. Und wir merken nicht e<strong>im</strong>al,<br />
daß diese Begriffspaare nichts anderes sind als jeweils<br />
entgegengesetzte Enden ein und derselben Meßlatte.”<br />
“Wichtiger als die Suche nach dem eigenen Glück”, sagt der<br />
Pastor, “sind der Wille und die Fähigkeit, das Leid anderer zu<br />
lindern.”<br />
Mit weißem Spitzenhäubchen auf schwarzem Haar tänzelt,<br />
erhobenen Armes ein Tablett balancierend, eine Kellnerin<br />
herbei. Auf dem Tablett dampfen drei Tassen duftenden Kaffees.<br />
Und unter üppigen Sahnehauben locken frischgebak-
376 EINSICHTEN<br />
kene Apfelkuchen.<br />
“Ohh!”, ruft Inge, “das sieht ja lecker aus!”<br />
Die Kellnerin serviert. Sie lächelt den Pastor an. Der nickt<br />
ihr zu. “Prost Kaffee!”, ruft er. Strahlend erheben Inge und<br />
Peter ihre Tassen.<br />
“Hmm”, macht Peter, “schmeckt pr<strong>im</strong>a.” Er legt seinen Arm<br />
um Inges Taille. “Aber bei weitem nicht so gut wie dein Fünf-<br />
Sterne-Kaffee.”<br />
Inge und Peter sehen einander in die Augen. Ein Blick<br />
voller Liebe. Zärtlich zieht Peter seine Freundin an sich.<br />
Dann streichelt er über ihren Scheitel.<br />
Mit großem Vergnügen machen die drei sich über die Apfelkuchen<br />
her. Kaum hat Inge den ersten Bissen hinuntergeschluckt,<br />
da sagt sie: “Aber sieh mal, Vater, du und ich, wir<br />
beide leben doch schon seit vielen Jahren <strong>im</strong> Glück<br />
miteinander. Oder etwa nicht?”<br />
“Ja, Inge, und dem Herrn sei Dank dafür.”<br />
“Warum muß sich das ändern?”<br />
“Es muß sich nicht ändern. Unser Glück beruht auf einer<br />
besonderen Konstellation. Wir beide geben uns unablässig<br />
Mühe <strong>im</strong> Umgang miteinander. Wir stellen keine großen Ansprüche.<br />
Unsere Welt wird nicht von Fordern und Habenwollen<br />
beherrscht, sondern von Geben und Dankbarsein.<br />
Hinzu kommt, daß wir beide durch den Verlust deiner Mutter<br />
so unendlich viel Leid erfahren haben, daß uns dadurch ein<br />
Fundament gewachsen ist, das auch unendlich viel Glück zu<br />
tragen vermag. Und du und ich, wir leben in Gott.”<br />
“Ja”, sagt Inge und legt ihrem Vater beide Hände auf den<br />
Arm.<br />
Peter ist wiederum bewegt von dieser besonderen Beziehung<br />
zwischen Vater und Tochter. Verstohlen blickt er von<br />
seinem Apfelkuchen auf und zu den beiden hinüber.<br />
Noch <strong>im</strong>mer ruhen Inges Hände auf dem Arm des Pastors.<br />
Dessen freie Hand legt sich jetzt langsam, wie schützend,<br />
über die zarten Finger. Inges Augen suchen und finden die
Lebensfreude 377<br />
ihres Vaters: “Und was ist mit dem h<strong>im</strong>mlischen Glück? Verheißt<br />
nicht die Bibel guten Menschen ewiges Glück <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel?”<br />
Peter will antworten. Aber er schweigt. Und er denkt: ‘Wo<br />
ist der H<strong>im</strong>mel? Wo sind sie, die guten Menschen? Ist der<br />
Mensch nicht beides, gut und böse? Und wurde die Bibel nicht<br />
von Menschen geschrieben? Und ist sie nicht voll von unglaubwürdigen<br />
Verheißungen, die Bibel?’ Mit gesenktem Kopf<br />
blickt er stumm vor sich hin.<br />
Und der Pastor? Ganz unerwartet wird er der Notwendigkeit<br />
enthoben, auf eine so schwierige Frage zu antworten.<br />
Und das kommt so: Einer der Affen des Café-Pächters saß <strong>im</strong><br />
Baum. Direkt über dem Tisch der drei. Lungernd hatte er<br />
auf seinen Lieblingskuchen gestarrt. Immer näher hatte es<br />
ihn gedrängt an diese Köstlichkeit. Gierig hatte er den Arm<br />
weit vorgestreckt und mit Fingern und Zehen einen daumendicken,<br />
morschen Ast umklammert. Immer weiter hatte er<br />
sich vorgewagt. Plötzlich war der Ast gebrochen – mit lautem,<br />
berstenden Knacken!! Wild mit Armen und Beinen in der Luft<br />
herumrudernd stürzt er auf den mit Sahne bedeckten Apfelkuchen<br />
vor dem Pastor. Der Affe kreischt, stößt Inges Kaffeetasse<br />
um und rennt, noch <strong>im</strong>mer kreischend, davon.<br />
Da sitzt er nun, der Herr Pastor. Gesicht, Hemd und Hose<br />
sind über und über mit Sahnespritzern und Kuchenstückchen<br />
bekleckert. Aber nach dem ersten Schreck schmunzelt das<br />
sonnengebräunte Gesicht. Und nun lacht es gar. Und Inge<br />
und Peter und auch die Gäste am Nachbartisch, sie alle<br />
lachen mit.<br />
Der Pächter stürzt herbei und auch die Kellnerin. Sie hat<br />
ein Tuch in der Hand. Beide entschuldigen sich. Eifrig beginnt<br />
die Kellnerin damit, den Pastor zu säubern. Der nickt ihr<br />
freundlich zu, n<strong>im</strong>mt ihr das Tuch aus der Hand, steht auf<br />
und vollendet das Säuberungswerk. “So ein Kerl”, sagt er<br />
dabei, “so ein Kerl! Aber ich glaube, der hat sich noch mehr erschrocken<br />
als ich.”
378 EINSICHTEN<br />
Die Kellnerin bringt einen neuen Apfelkuchen mit einem<br />
riesigen Sahneberg darauf. Und Inge bekommt eine frische<br />
Tasse Kaffee.<br />
Als die drei auf dem Weg zu ihren Rädern die schmale<br />
Brücke hinter sich lassen, sieht Inge, wie sich die Äste eines<br />
Busches bewegen. Und dann erkennt sie, für eine Sekunde<br />
nur, den kleinen Mann mit der großen Sonnenbrille. Hastig<br />
drängelt er durch Blätterwerk.<br />
Tagelang hatte der Maler keine Ruhe finden können. Das<br />
Bild des Engels hatte ihn verfolgt, pausenlos, erbarmungslos.<br />
Selbst nachts, wenn er sich eingeschlossen hatte in seinem<br />
großen Schlafz<strong>im</strong>mer, konnte er dem Engel nicht entkommen.<br />
Er war einem Nervenzusammenbruch nahe. Da war er zum<br />
<strong>Park</strong> gefahren und hatte sich <strong>im</strong> Wagen verkleidet. ‘Ich muß<br />
den Engel suchen. Ich muß ihn finden. Im <strong>Park</strong>. In seinem<br />
Haus, seinem Z<strong>im</strong>mer, seinem Bett! Dieser verfluchte Engel!<br />
Ich muß ihn loswerden!!’<br />
Streitgespräch<br />
Die letzten goldroten Strahlen der Abendsonne sind hinter<br />
den Baumkronen versunken. Der H<strong>im</strong>mel wird fahl. Dämmerung<br />
kriecht in den <strong>Park</strong>. In der Küche des Pastorenhauses<br />
flammt Licht auf. Im Wohnz<strong>im</strong>mer kniet Peter vor dem<br />
Kamin. Er schiebt Zeitungspapier unter Zweige. Dann entzündet<br />
er es. Flammen züngeln. Es knistert und knackt.<br />
Flackernder Feuerschein belebt das dunkle Z<strong>im</strong>mer.<br />
Weinflaschen in den Armen, kommt der Pastor zurück aus<br />
dem Keller. Mit dem Ellenbogen schließt er die Tür. Er setzt<br />
die Flaschen ab auf dem Eichentisch, schaltet das Licht ein<br />
und sucht eine Flasche aus. Schmunzelnd wendet er sich der<br />
Schublade zu und entn<strong>im</strong>mt ihr einen Korkenzieher. Sorgfältig<br />
dreht er ihn ein und klemmt die Flasche zwischen die
Streitgespräch 379<br />
Schenkel. Dann beginnt er damit, den Korken zu ziehen. Der<br />
sitzt erstaunlich fest. Mit hochrotem Gesicht kämpft der<br />
Pastor mit dem störrischen Korken. Als Peter das sieht,<br />
springt er hinzu. Doch jetzt kommt der Korken in Bewegung.<br />
Mit einem empörten ‘Propp’ verläßt er widerwillig, aber mit<br />
großem Schwung den Ort, an dem er so lange geruht hatte.<br />
Der Pastor prüft Korken und Wein. Dann schenkt er ein, zuerst<br />
Peter, dann sich.<br />
Inge bereitet in der Küche das Abendessen zu.<br />
“Zum Wohl!”, nickt der Pastor, mit noch <strong>im</strong>mer gerötetem<br />
Gesicht.<br />
“Zum Wohl.”<br />
Voller Behagen genießt der Hausherr den ersten Schluck<br />
seines Lieblingsweines. Dann läßt er sich mit einem<br />
fröhlichen Seufzer in den Sessel fallen. “Das war ein<br />
herrlicher Ausflug in Gottes Natur”, sagt er und n<strong>im</strong>mt sich<br />
seinen Zigarrenkasten vor.<br />
“Mir hat das auch große Freude bereitet.” Peter holt Tabakbeutel<br />
und Pfeifchen hervor.<br />
“Das Feuer tut gut”, sagt der Pastor. “Der Herbst kündigt<br />
sich an.” Er beschneidet, befeuchtet und entzündet seine Zigarre.<br />
Ihm ist so richtig wohl zumute. Und er ist seinem<br />
Herrn unendlich dankbar dafür, daß Inges Freund ein so<br />
guter Kerl ist. Immer wieder hatte ihn die Furcht geplagt, daß<br />
seine Tochter eines Tages einen Mann ins Haus bringen könnte,<br />
der so gar nicht zu ihnen paßt, der diese einmalige Beziehung,<br />
die ihn mit seiner Tochter verbindet, nachhaltig<br />
stören könnte. Als er dann hörte, daß Inge einen Wissenschaftler<br />
kennengelernt hatte, und als sie ihm von ihren ersten<br />
Gesprächen berichtete, da schienen sich seine schl<strong>im</strong>msten<br />
Befürchtungen zu bewahrheiten. Niemals hätte er sich Inge<br />
in den Weg gestellt. Niemals aber auch hätte er nach dem Tod<br />
seiner Frau einen Bruch mit seiner Tochter ertragen können.<br />
Eine Trennung von Inge hätte er nicht überlebt.<br />
Hausherr und Gast paffen vergnügt vor sich hin. Da klingelt
380 EINSICHTEN<br />
das Telephon. Als der Pastor gerade dabei ist, sich zu erheben,<br />
kommt Inge aus der Küche gelaufen. Sie winkt ihrem Vater,<br />
wieder Platz zu nehmen, und n<strong>im</strong>mt den Hörer ab.<br />
Eine Weile horcht sie mit zunehmend besorgtem Gesicht.<br />
Dann schüttelt sie energisch den Kopf und ruft in den Hörer:<br />
“Nein … Nein! Tu das bitte nicht … auf gar keinen Fall! Bitte<br />
warte auf mich … Ja … Ich komme sofort!” Sie wendet sich<br />
den beiden Männern zu: “Meine Freundin ist in großen<br />
Schwierigkeiten. Ich muß sofort zu ihr. Bitte habt Verständnis.<br />
Sie braucht dringend Hilfe und Beistand.”<br />
“Ich komme mit”, ruft der Pastor und springt aus seinem<br />
Sessel.<br />
“Nein! Das ist eine reine Frauenangelegenheit. Ich komme<br />
so schnell wie möglich zurück.” Und schon ist Inge in der<br />
Küche verschwunden. Kurz darauf rennt sie aus dem Haus.<br />
Die beiden Männer sehen sich ratlos an.<br />
Der Pastor zieht an seiner Zigarre und nickt vor sich hin.<br />
‘Frauenangelegenheiten’, denkt er. ‘Ja, die Frauen. Sie erleben<br />
manches anders als wir Männer. Sie haben ihre eigenen<br />
Angelegenheiten. Und sie haben ihre eigenen Erlebnisformen.<br />
Zum Feinen wie zum Groben, zum Milden wie zum Wilden,<br />
zum Lieben wie zum Hassen.’<br />
“Kennen Sie die Freundin?”<br />
“Inge hat mehrere Freundinnen. Ich habe keine Ahnung,<br />
wer da angerufen hat oder um was es sich handeln könnte.”<br />
Der Pastor zuckt die Schultern. “Aber ich bin mir sicher, Inge<br />
wird das Richtige tun.”<br />
Als Inge den kleinen Wagen eilig durch die Straßen lenkt,<br />
schon mitten auf dem Wege ist zu ihrer Freundin, da wird ihr<br />
erst so richtig klar: Vater und Peter sind zum erstenmal allein<br />
<strong>im</strong> Haus! Diese beiden so verschiedenen Männer, mit so verschiedenen<br />
Lebenserfahrungen, mit einer so verschiedenen<br />
Art zu denken, zu fühlen, die Welt zu sehen. Es muß, es wird<br />
ein Gewitter geben! Aber, denkt sie weiter, das kann ich auf
Streitgespräch 381<br />
die Dauer ohnehin nicht verhindern. Ich kann nur hoffen und<br />
beten, daß es nach dem Gewitter weitergeht, daß das Gewitter<br />
die Luft reinigt, Klarheit schafft, aber nichts unwiederbringlich<br />
zerstört. Es muß sich zeigen, wie das ausgeht.<br />
Was aber, wenn es schief geht? Mit Peter könnte ich ohne<br />
Vater nicht leben. Aber auch ohne Peter möchte ich jetzt nicht<br />
mehr sein. Sie schüttelt den Kopf. Auch ohne Peter könnte ich<br />
nicht leben. Sie hält Zwiesprache mit ihrem Gott. Bittet ihn,<br />
fleht ihn an, ihr beizustehen, ihr zu helfen. Ihrem Vater und<br />
ihrem Peter zu helfen.<br />
Der Pastor hat nachgeschenkt. Die Männer prosten<br />
einander zu. Jeder denkt dabei an Inge, aber keiner sagt es.<br />
Beide lieben Inge, jeder auf seine Weise. Beide wissen, daß sie<br />
ohne diesen Engel nicht leben können. Und sie wissen auch,<br />
daß Inge sie beide braucht. Was für eine Situation! Bei der<br />
Verschiedenheit dieser beiden Männer!!<br />
Aber Hoffnung ist geke<strong>im</strong>t und gewachsen. Hoffnung auf<br />
ein Arrangement, auf einen Kompromiß. Beide suchen<br />
danach. In zunehmendem Maße haben sie einander schätzen<br />
und die Aufrichtigkeit des anderen respektieren gelernt. Hier<br />
kann der Schlüssel liegen für die Vermeidung einer<br />
Katastrophe, für die Gestaltung der Zukunft: Wahrhaftigkeit<br />
und gegenseitige Achtung in Kenntnis und Anerkenntnis<br />
unüberbrückbarer Unterschiede.<br />
So tasten sich Pastor und Peter mit großer Vorsicht an die<br />
Diskussion heran, die nun unvermeidbar geworden ist, an die<br />
geistige Auseinandersetzung, die sie führen müssen, ganz<br />
gleich, ob jetzt oder später, an das Streitgespräch, das über<br />
das Schicksal von drei Menschen entscheiden wird. So wie sie<br />
beschaffen sind, müssen sie diese Auseinandersetzung mit<br />
offenem Visier austragen.<br />
‘So sei es denn’, denkt der Pastor und zieht an seiner Zigarre.<br />
Er bläst den Rauch zur Decke, etwas kräftiger und energischer<br />
als sonst. Dann beginnt er mit einem Thema, zu dem sich
382 EINSICHTEN<br />
Peter bereits in einer Weise geäußert hatte, die darauf<br />
schließen läßt, daß hier noch am ehesten gemeinsamer Grund<br />
gefunden werden kann. “Sie haben sich”, sagt er mit ruhiger<br />
St<strong>im</strong>me, “zum Thema Toleranz geäußert. Ich würde gern mehr<br />
darüber wissen, wie Sie <strong>im</strong> Einzelnen dazu stehen.”<br />
“Toleranz ist Duldsamkeit gegenüber anderen – ihren<br />
Überzeugungen, Anschauungen und Verhaltensweisen. Nur<br />
auf ihrem Acker können Güte und Weisheit gedeihen.”<br />
Als Peter nicht weiterspricht, sagt der Pastor: “Das sehe ich<br />
genauso. Für mich gehört zur Toleranz darüber hinaus Verstehenkönnen<br />
und Helfenwollen. Und auch Wissen um die eigene<br />
Verlorenheit ohne die anderen.”<br />
“Toleranz”, fährt Peter fort, “ist Voraussetzung für Fairneß<br />
und Einsicht. Und nur wo diese beiden zu Hause sind, kann<br />
es Wahrhaftigkeit geben.” Er wiegt den Kopf. “Bei so manchem<br />
allerdings ist Toleranz nichts anderes als eine Form von<br />
Gleichgültigkeit.” Er pafft. “Für mich hat neben der passiven<br />
Toleranz, dem wohlwollenden Erdulden von Andersartigem,<br />
die aktive Toleranz, die Freude an der Vielfalt, am Anderssein,<br />
einen hohen Stellenwert.”<br />
“Ist die Wissenschaft tolerant?”<br />
“Die Wissenschaft ist intoleranter als sie gemeinhin zugibt<br />
und als es ihrer Sache dienlich wäre. Das mag verständlich<br />
sein, entschuldbar ist es nicht. Verständlich wird es, wenn<br />
man bedenkt, wie schwierig es oft ist, neue Erkenntnisse zu<br />
gewinnen, und zwar mit Methoden, die den strengen Maßstäben<br />
der Naturwissenschaft gerecht werden. Oft ist es<br />
mühsam, neu gewonnene Erkenntnisse in ein Gedankengebäude<br />
einzubauen, das in sich widerspruchsfrei ist. Erst<br />
wenn das gelungen ist, sprechen wir von ‘Wahrheit’. Eine<br />
solche Wahrheit kann einem lieb werden, und sie kann den<br />
eigenen Konzeptionen in einem so starken Maße<br />
zugrundeliegen, daß es schmerzlich wird, sie aufzugeben. So<br />
hängen manche Wissenschaftler mehr an einer solchen<br />
‘Wahrheit’, als sie es nach dem neuesten Stand der
Streitgespräch 383<br />
Erkenntnis tun sollten. Und dann werden sie den Verkündern<br />
neuer Ideen gegenüber schnell intolerant.”<br />
Peter pafft und schüttelt dabei den Kopf. “Diese Leute vergessen<br />
ganz einfach oder wollen nicht wahrhaben, daß so<br />
manche große Idee oder Entdeckung zunächst als falsch<br />
angesehen, später aber als richtig erkannt wurde. Und sie<br />
vergessen, daß sich viele ‘Wahrheiten’ <strong>im</strong> Laufe der Zeit als<br />
revisionsbedürftig oder gar als falsch erwiesen haben. Wissenschaftlich<br />
erarbeitete Wahrheiten sind <strong>im</strong>mer vorläufige<br />
Wahrheiten. Sie stehen ständig unter dem Vorbehalt der Bewährung.”<br />
“Sie sind also nicht nur anderen geistigen Bereichen gegenüber<br />
sehr kritisch, sondern auch gegenüber der eigenen<br />
Domäne.”<br />
“Ja. Ich übe überall Kritik, wo ich erkenne, daß die Wahrheitsfindung<br />
beeinträchtigt wird. Da nehme ich mir nahestehende<br />
Bereiche keineswegs aus, ebensowenig wie mich<br />
selber.”<br />
“Das ist lobenswert.” Die Zigarre zwischen Zeige- und<br />
Mittelfinger haltend, macht der Pastor mit dem Arm einen<br />
Bogen durch die Luft. “Aber laufen Sie dabei nicht Gefahr, bei<br />
der Wahrheitssuche in der Methodenwahl einseitig zu<br />
werden?”<br />
“Wie darf ich das verstehen?”<br />
“Ich meine, daß es verschiedene Wahrheiten gibt, und daß<br />
nicht alle Wahrheiten mit den Methoden der Wissenschaft<br />
erkennbar und überprüfbar sind.”<br />
“Gewiß. Aber für mich müssen die Methoden der Wahrheitsfindung<br />
schlüssig sein, in sich logisch und überprüfbar.”<br />
“Damit schränken Sie aber die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung<br />
erheblich, um nicht zu sagen unzulässig, ein.”<br />
Der Pastor steht auf, legt Holz nach <strong>im</strong> Kamin und füllt die<br />
Gläser.<br />
“Auch dem kann ich zust<strong>im</strong>men. Aber solange ich keine<br />
anderen, keine besseren Methoden zu Gebote habe, muß ich
384 EINSICHTEN<br />
mit denen arbeiten, die mir zur Verfügung stehen.”<br />
“Selbst auf die Gefahr hin, daß das Bild, das Sie auf diese<br />
Weise von uns und von der Welt konstruieren, schief ist?”<br />
“Ja. Mir ist da ein schiefes Bild, das in seiner Schiefheit<br />
überprüfbar ist, lieber als ein gerades Bild, das nur scheinbar<br />
gerade ist, bei dem der Wunsch nach Geradheit zum Maßstab<br />
gemacht wurde.” Peter pafft. Mit zusammengezogenen Brauen<br />
und gerunzelter Stirn sieht er den Rauchwolken nach.<br />
“Das ist mir eher ein – verzeihen Sie – verlogenes Bild. Damit<br />
könnte ich nicht einverstanden sein. Aber ich gebe gerne zu,<br />
daß zu einem besser ausgewogenen Bild, als es die Wissenschaft<br />
zu erstellen vermag, auch andere Bereiche menschlichen<br />
Erlebens gehören. Die Malerei etwa und die Musik. Sie<br />
glauben gar nicht, Herr Pastor, was für wunderbare Gefühle<br />
in mir entstanden sind dadurch, daß Sie und Inge hier<br />
musiziert haben! Die St<strong>im</strong>mung, die wundervolle Harmonie,<br />
die in Ihrem Hause herrscht – so etwas hatte ich noch niemals<br />
zuvor erlebt. Das hat mich tief bewegt. Das hat mir ganz neue<br />
Erlebnisqualitäten erschlossen. Dafür bin ich Ihnen und Ihrer<br />
Tochter sehr dankbar.”<br />
“Darauf lassen Sie uns anstoßen.”<br />
“Gern.”<br />
Die beiden Männer erheben ihr Glas, schauen einander in<br />
die Augen. Lang, ernst.<br />
“Zum Wohl.”<br />
“Zum Wohl.”<br />
“Die Harmonie, die Sie in diesem Hause empfinden”, sagt<br />
der Pastor, nachdem er sein Glas abgesetzt hat, “sie hat auch<br />
etwas zu tun mit dem Geist, der dieses Haus erfüllt. Inge und<br />
ich sind gläubige Christen.” Langsam führt er die Zigarre zum<br />
Mund, zieht mehrmals und entläßt aus gespitzten Lippen<br />
einen feinen Rauchstrahl. In ernster Nachdenklichkeit fährt<br />
er mit gewölbter Hand über weiße Locken. “Ich meine, daß<br />
das Christentum für die Menschheit viel getan hat, tun kann<br />
und tun wird.”
Streitgespräch 385<br />
Peter schweigt. In Gedanken ermahnt er sich zur Zurückhaltung.<br />
Erst als der Pastor nicht weiter spricht, sagt er: “Ich<br />
glaube Ihnen, daß das Christentum für Sie und für Inge viel<br />
getan hat, tut und tun wird.” Er überlegt. “Ich glaube auch,<br />
daß das Wort des Christengottes eine Stütze für Sie ist und<br />
eine Richtschnur – daß Sie daran Halt und Zuversicht finden.”<br />
“Gottes Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf<br />
meinem Wege.”<br />
“Und weil dem so ist, und weil ich Sie und ihre Welt achte,<br />
möchte ich lieber nicht weiter über das Christentum sprechen.”<br />
“Warum nicht?”<br />
“Weil mein Wesen und meine Erfahrung mich dazu<br />
zwingen, diese Dinge anders zu sehen als Sie.”<br />
“Ich würde Ihre Art, die Dinge zu sehen, gerne kennenlernen.”<br />
“Ich sehe die Dinge sehr viel anders.”<br />
“Ich respektiere das.” Der Pastor nippt am Wein. “Ich kann<br />
sachliche Kritik ertragen.” Er bläst Rauch zur Z<strong>im</strong>merdecke.<br />
“Ich will versuchen, Ihnen geduldig zuzuhören – auch wenn<br />
das schwierig sein sollte – solange ihre Kritik an meiner<br />
Religion der ernsthaften Suche nach der Wahrheit entspringt,<br />
die ich an Ihnen kennengelernt habe, und die ich zu würdigen<br />
weiß.”<br />
‘Jetzt passiert es doch noch’, denkt Peter. ‘Wie aber sollte,<br />
wie könnte ich das verhindern. Ich kann mich einfach nicht<br />
verstellen’. Nervös fahren seine Finger herum <strong>im</strong> Bart. Ganz<br />
fest n<strong>im</strong>mt er sich vor, einer harten Konfrontation aus dem<br />
Wege zu gehen: “Sehen Sie, Herr Pastor, “ich liebe Ihre Tochter<br />
über alles, und ich empfinde große Achtung vor Ihnen, ja,<br />
respektvolle Freundschaft – wenn ich das als der Jüngere so<br />
offen sagen darf.”<br />
Der Pastor nickt. Mehrmals. In seinem Gesicht leuchten Zust<strong>im</strong>mung<br />
und Herzlichkeit.<br />
“Sie und Ihre Tochter verbindet eine ganz einzigartige, eine<br />
ganz wunderbare Beziehung. Ich will diese Beziehung auf kei-
386 EINSICHTEN<br />
nen Fall belasten, sie nicht stören, nicht zerstören.”<br />
“Das werden Sie nicht, solange Sie wahrhaftig sind.” Der<br />
Pastor blickt zur Z<strong>im</strong>merdecke. Er atmet tief. Und jetzt sieht<br />
er Peter in die Augen: “Sie und ich, wir haben keine andere<br />
Wahl. Wir sind sehr verschieden. Wir können und wollen uns<br />
nicht verleugnen. Was wir aber tun können, ja, was wir tun<br />
müssen, wenn unsere Beziehung Bestand haben soll, das ist,<br />
diese Verschiedenartigkeit offen darzulegen, sie genauer<br />
kennenzulernen. Und sie dann, soweit das irgend möglich ist,<br />
zu akzeptieren.”<br />
“Sie haben recht. So ist es.”<br />
“Inge hat mir gesagt, daß Sie aus der Kirche ausgetreten<br />
sind.”<br />
“Ja.”<br />
“Warum?”<br />
“Nicht, um die Kirchensteuer zu sparen.” Peter ist innerlich<br />
sehr erregt. Aber er bringt es fertig, zu schmunzeln.<br />
“Das glaube ich Ihnen gern.” Auch der Pastor schmunzelt.<br />
“Ich muß Ihnen weh tun, Herr Pastor, wie ich auch schon<br />
Inge weh getan habe. Ich wünschte, ich könnte das<br />
vermeiden, aber bei einer ehrlichen Antwort auf Ihre Frage<br />
kann ich das nicht.”<br />
“Nur zu!”<br />
“Das Christentum”, sagt Peter, sich vorsichtig vorantastend,<br />
“fußt auf Überlieferungen über Leben, Lehren und Tod des<br />
Jeschua aus Galiläa, später Jesus Christus genannt. Das<br />
Überlieferte ist erst 50 bis 150 Jahre nach seinem Tod niedergeschrieben<br />
worden. Nachforschungen haben ergeben, daß die<br />
Schreiber nicht mit historischer Objektivität berichteten, sondern<br />
in der Absicht, den christlichen Glauben zu begründen.<br />
So haben sie ausgewählt, gewichtet, ausgeschmückt und wohl<br />
auch verdreht. Bis auf den heutigen Tag haben die Kirchenoberen<br />
das Auswählen und Umauswählen, das Übersetzen<br />
und Umübersetzen, das Ausdeuten und Umausdeuten weitergeführt.<br />
Es gibt daher viele Auslegungen, viele Kirchen
Streitgespräch 387<br />
und viele Bibeln. Ich glaube, daß Jesus sich außerordentlich<br />
wundern würde, wenn er erleben könnte, was die Kirchenoberen<br />
aus seinen Lehren gemacht haben.”<br />
“Das Alte Testament”, antwortet der Pastor mit fester, tiefer<br />
St<strong>im</strong>me, “ist für Juden und Christen eine Offenbarungsurkunde.<br />
Das, was Gott durch Menschen sprach, hat später seinen<br />
Niederschlag in verschiedenen Büchern gefunden. Durch<br />
Auswahl, Neuordnung und Neufassung der Texte dieser<br />
Bücher blieb die Bibel lebendig. Die verschiedenen Bibelausgaben<br />
sind ein zeitgesegnetes Dokument des ernsthaften<br />
Bemühens vieler Generationen von Gottesmännern. Wahrlich,<br />
sie sind ein lebendiges Zeugnis der Worte und Weisheit<br />
Gottes. Und des <strong>Suchen</strong>s der Menschen nach sich selbst und<br />
nach dem Herrn.”<br />
Peter schweigt.<br />
“Die Bücher des Alten Testamentes”, fährt der Pastor fort,<br />
“sind in einem Überlieferungsprozeß entstanden. Gott hat zu<br />
den Gottesmännern in Gleichnissen gesprochen. Im Verlaufe<br />
des Zeitgeschehens bedürfen Gleichnisse der Aktualisierung.”<br />
Als Peter weiterhin schweigt, sagt der Pastor: “Nur zu mit<br />
ihrer Kritik!”<br />
Peter räuspert sich. Dann sagt er: “Jesus beschränkte seine<br />
Lehren auf die Juden. Es ging ihm nicht darum, eine neue<br />
Religion zu stiften. Er wollte den jüdischen Glauben reformieren<br />
und auf diese Weise sein Volk vorbereiten auf das<br />
Reich Gottes. Andere Völker waren ihm Feindbilder oder<br />
gleichgültig. Jesus sah sich als Retter und Heilbringer des<br />
jüdischen Vokes, als den Messias, den Gott <strong>im</strong> Alten Testament<br />
verheißen hatte. Mit jeder Faser seines Herzens wurzelte<br />
er <strong>im</strong> jüdischen Glauben. Jesus war <strong>im</strong>mer ein Jude, nie<br />
ein Christ.” Peter pafft. “Das ist der Boden, auf dem das Christentum<br />
gewachsen ist.”<br />
“Sie haben sich mit Jesus und dem Christentum offenbar<br />
sehr intensiv beschäftigt.”<br />
“Ja. Ich habe viel gelesen und viel mit einem befreundeten
388 EINSICHTEN<br />
jungen Doktor der Theologie diskutiert. Mir liegt sehr daran,<br />
Ihre und Inges Welt besser zu verstehen.”<br />
“Darüber freue ich mich.”<br />
“Ich versuche <strong>im</strong>mer”, setzt Peter ermutigt seinen Gedankengang<br />
fort, “zu unterscheiden zwischen dem, was Jesus<br />
offenbar gewollt hat und dem, was die Chronisten und Kirchenoberen<br />
daraus gemacht haben.”<br />
“Und was haben die Ihrer Ansicht nach daraus gemacht?”<br />
“Etwas, das unerhört viel Unglück über die Erde gebracht<br />
hat und auch heute noch viel Unglück verursacht.” Peter<br />
schweigt. Dann pafft er wieder. “Aus meiner Sicht hindert das<br />
Christentum die Menschen daran, zu sich selber zu finden.<br />
Unter dem Einfluß des Christentums können die Menschen<br />
nicht die Augen öffnen, nicht die Verantwortung auf sich<br />
nehmen für das, was sie auf der Erde anrichten. Das Christentum<br />
läßt die Menschheit verblendet und geblendet in den<br />
Abgrund stürzen.”<br />
Der Pastor bleibt ruhig. Ernst sagt er: “Das müssen Sie mir<br />
bitte begründen.”<br />
“Das fängt schon an mit der Art, in der das Christentum<br />
Toleranz praktiziert. Die kirchlichen Amtsträger sind unduldsam<br />
gegen jeden ‘Irrtum’, der – wie sie das sehen – Gott die<br />
Ehre und den Menschen das Heil entzieht. Die Bibel gebietet:<br />
‘du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’. Um aber der<br />
geschichtlichen Wahrheit gerecht zu werden, müßte dieser<br />
Satz fortgeführt werden: Und wenn du das nicht glaubst,<br />
dann schlag ich dir den Schädel ein! Siehe die Inquisition.<br />
Siehe die Religionskriege. Siehe die furchtbaren Wunden, die<br />
die Missionare zusammen mit Siedlern und Politikern zum<br />
Beispiel in Afrika und in Amerika den dort lebenden Menschen<br />
und der Natur geschlagen haben. Überall in der Welt<br />
hat das Christentum Menschen entwurzelt, sie rücksichtslos<br />
ihrer eigenen Religion beraubt, ihre Kultur zerstört. Viele<br />
dieser Menschen sind bis heute entwurzelt. Sie haben ihre<br />
Identität nicht wieder finden können. Ganze Kulturkreise
Streitgespräch 389<br />
sind durch das Christentum unwiderbringlich vernichtet<br />
worden. Keine andere Religionsgemeinschaft hat soviele<br />
Glaubenskriege geführt, soviel unterdrückt, gefoltert und<br />
getötet wie das Christentum.”<br />
Peter sieht den Pastor an. Als der nichts sagt, fährt er fort:<br />
“Und was hatten die Missionare den Missionierten denn<br />
anzubieten? Ist nicht unsere eigene Welt kaputt? Zeigt es sich<br />
nicht heute, daß die Indianer, um nur ein Beispiel zu nennen,<br />
eine normalere, eine natürlichere Beziehung zu ihren Göttern<br />
und deren Schöpfung hatten als die Christen zu ihrem Gott<br />
und dessen Schöpfung? Welch unglaubliches Leid hat die<br />
christliche Botschaft ‘Seid fruchtbar und mehret euch und<br />
füllet die Erde und macht sie euch untertan’ verursacht! Denken<br />
Sie an die geschändete Umwelt, an die Ausbeutung von<br />
Boden, Tier und Pflanze! Die Verbindung von europäischem<br />
Tatendrang und Besitzhunger mit christlicher Arroganz und<br />
Besessenheit hat auf allen Kontinenten eine blühende Buntheit<br />
andersartiger Kulturen und Glaubensrichtungen mit unvorstellbarer<br />
Brutalität nach eigenen Vorstellungen umgestaltet<br />
oder ausgerottet. Geblieben sind allenfalls Kulturtrümmer<br />
– Zeugen des größten Völkermordes und der größten<br />
Kulturvernichtung aller Zeiten, Reste einer auf <strong>im</strong>mer<br />
verlorenen menschlichen Vielfalt und Lebensfülle.”<br />
“Ja”, sagt der Pastor ernst, “ja, wir haben viele Fehler gemacht.<br />
Wir haben die Botschaften unseres Herrn nicht <strong>im</strong>mer<br />
in seinem Sinne ausgelegt. Wir haben viel gesündigt am<br />
Menschen und an der Natur. Ich wünschte, ich könnte Ihnen<br />
widersprechen. Ich kann es nicht. – Aber ich bin sicher: Die<br />
Missionare waren guten Willens. Sie waren zutiefst überzeugt<br />
von dem Guten, das sie den Menschen bringen wollten.”<br />
“Das glaube auch ich. Die Verantwortung tragen die Kirchenoberen.<br />
Angeblich <strong>im</strong> Namen Christi, aber vor allem in<br />
Wahrnehmung ihrer eigenen <strong>Inter</strong>essen, haben sie zielstrebig<br />
und rücksichtslos ihre Macht ausgebaut. Ein sehr wirksames<br />
Instrument war dabei ihre Kunst, die Menschen <strong>im</strong>mer wie-
390 EINSICHTEN<br />
der in Schuldgefühle zu verstricken, ihnen <strong>im</strong>mer wieder<br />
Schuld einzureden, einzupredigen. Erst auf dem Boden der<br />
Schuld der Menschen und ihrer Ängste konnte sich die Macht<br />
der christlichen Kirche voll entfalten. Mit dem Einreden von<br />
Schuld, dem Inaussichtstellen von Vergebung und dem<br />
Versprechen eines Weiterlebens nach dem Tode <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel<br />
für diejenigen, die sich kirchenkonform verhalten, hat das<br />
Christentum seinen weltweiten Siegeszug angetreten. Hier<br />
liegen dessen Erfolge, nicht in der ethischen Weiterentwicklung<br />
der Menschen. Die hat unter einer fast zweitausendjährigen<br />
Herrschaft des Christentums nicht stattgefunden.”<br />
Der Pastor schweigt.<br />
“Unter der Herrschaft des Christentums können die Menschen<br />
sich nicht in ausreichendem Maße bewußt werden, daß<br />
sie für all das, was sie hier auf Erden anrichten, selber die<br />
Verantwortung tragen. Sie können nicht in Gedankenfreiheit<br />
ihren Kopf erheben. Sie können nicht versuchen, ihr Schicksal<br />
in die eigene Hand zu nehmen. Sie können nicht endlich<br />
begreifen, daß da niemand ist, der ihnen vergeben kann oder<br />
will. Niemand, der sie beschützen kann oder will. Genau<br />
daran krankt unsere Welt!”<br />
Noch <strong>im</strong>mer schweigt der Pastor.<br />
“Die Christenoberen haben die Lehren Christi, das, was dieser<br />
gute Mensch offenbar wirklich gewollt hat, zu oft den<br />
eigenen <strong>Inter</strong>essen gemäß zurechtgebogen.”<br />
“Das ist schl<strong>im</strong>m, was Sie da sagen. Sehr schl<strong>im</strong>m. Aus<br />
Ihren Worten klingt Verbitterung. Es muß schwer sein, mit<br />
solchen Gedanken und Vorstellungen zu leben.”<br />
“Was sagen Sie zu meiner Kritik?”<br />
Der Pastor wiegt den Kopf. Seufzt. Mit dem Zeigefinger<br />
klopft er weiße Asche von der Zigarre. “Auch ich bin über so<br />
manches in der Art, wie Christentum praktiziert wird, nicht<br />
eben glücklich. Manches, zu vieles von dem, was Sie voller<br />
Bitterkeit gesagt haben, muß ich mir einfach anhören, kann
Streitgespräch 391<br />
ich nicht guten Gewissens zurückweisen.” Er sieht Peter in<br />
die Augen: “Aber hat das Christentum den Menschen nicht<br />
auch unendlich viel Gutes gebracht? Hat es nicht unzähligen<br />
Menschen Halt gegeben? Ja! Das Leben und Sterben Christi<br />
hat Millionen und Abermillionen Trost gespendet und ein<br />
Vorbild geliefert. Es hat ihrem Leben Anleitung, Sinn und<br />
Inhalt gegeben.”<br />
“Warum mußte Jesus sterben? Weil ihm Gott eingeredet<br />
hatte, daß er sein Sohn ist? Weil der Vater den Sohn <strong>im</strong> Stich<br />
gelassen hat? Weil dem Vater bei der Erschaffung des Menschen<br />
Fehler unterlaufen sind? Und wie kann der ans Kreuz<br />
genagelte, sterbende Christus Trost und Vorbild sein? Muß<br />
ein so schrecklich Gemarterter nicht eher Angst einflößen?<br />
Angst vor einem Gott, der seinen Sohn solchen Fürchterlichkeiten<br />
aussetzt?”<br />
“Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen<br />
Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren<br />
werden, sondern das ewige Leben haben.”<br />
“Alle, die an ihn glauben? Ist das genug? Viele Juden sehen<br />
<strong>im</strong> Christentum einen ‘billigen’ Glauben. Und darin wiederum<br />
erkennen sie den Grund dafür, daß das Christentum das ältere<br />
Judentum <strong>im</strong> Römischen Reich so leicht beiseite drängen<br />
konnte.”<br />
“Billiger Glauben?”<br />
“Die christliche Religion gewährt das ewige Leben schon<br />
allen, die glauben. Die jüdische Religion erst allen, die das Gesetz,<br />
die Thora, befolgen.”<br />
“Sie verstehen die große Bedeutung falsch, die dem Leiden<br />
und Sterben Christi zukommt.”<br />
“Warum hat dann das Leiden und Sterben Christi – der<br />
große Erlöserversuch des Christengottes – die Angst und das<br />
Leid nicht weggenommen von den Gläubigen?”<br />
Der Pastor sieht Peter an mit Augen, in denen der versinkt.<br />
“Weil Angst und Leid zu Läuterung führen können.”<br />
Der Pastor senkt den Kopf und schweigt. Nach einer ganzen
392 EINSICHTEN<br />
Weile sagt er: “Das Christentum hat sehr viel für die Menschen<br />
getan. Es hat Millionen und Abermillionen auf einen<br />
besseren Weg geführt. Ohne das Christentum wäre vieles<br />
Schl<strong>im</strong>me noch viel schl<strong>im</strong>mer. Ohne Christentum wäre dem<br />
Bösen <strong>im</strong> Menschen Tür und Tor geöffnet worden, wäre unsere<br />
Welt schlechter, als sie es ohnehin schon ist. Das Christentum<br />
hat, <strong>im</strong> Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,<br />
Angst nicht geschürt, sondern verringert. Es hat vielen geholfen,<br />
ihr Leid leichter zu ertragen. Es hat Schmerzen gelindert,<br />
Kranken in ihrer Not beigestanden, Verzweifelnden<br />
neue Hoffnung gegeben, Sterbenden das Abschiednehmen<br />
erleichtert.”<br />
Peter nickt. “Sicher haben Sie auch selber während Ihres<br />
langjährigen Dienstes am Menschen viel Gutes getan, viel<br />
Not und Leid gelindert. Vielen Menschen geholfen, sich wieder<br />
aufzurichten, wieder zu hoffen, vielen Menschen das Sterben<br />
erleichtert und vielen Überlebenden ermöglicht, ihren<br />
Verlust leichter zu ertragen.”<br />
“Ich habe das versucht.”<br />
“Vielleicht”, sagt Peter plötzlich mit ganz anderer St<strong>im</strong>me,<br />
“vielleicht wäre mein Vater nicht so früh gestorben, … vielleicht<br />
wäre er noch heute am Leben …, wenn … wenn er<br />
einem Pastor begegnet wäre. Wenn er Ihnen begegnet wäre.”<br />
“Woran ist Ihr Vater gestorben?”<br />
“Am Tod meiner Mutter. Er verfiel in eine tiefe Depression.<br />
Er …” Peters St<strong>im</strong>me versagt. Er schluckt und ringt um Fassung.<br />
“Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr.”<br />
Der Pastor ist erschüttert. Er senkt den Kopf. Mit leiser,<br />
zitternder St<strong>im</strong>me sagt er: “Das wäre auch mit mir passiert –<br />
wenn es Inge nicht gegeben hätte.”<br />
Lange schweigen die beiden, gefangen in Gedanken, die einander<br />
ähnlicher nicht sein könnten.<br />
“Der Dienst am Menschen”, sagt Peter schließlich, “ist etwas<br />
sehr Gutes, etwas, das ich sehr hoch einschätze.” Nach einer<br />
Pause fügt er hinzu: “Es ist etwas, das ich am Christentum be-
Streitgespräch 393<br />
wundere. Und es ist etwas, das vielleicht auf eine andere Weise<br />
nur weniger wirksam erreicht werden kann.”<br />
“Richtig! Das, was Sie zuletzt gesagt haben, berührt einen<br />
ganz wichtigen Aspekt: Religionsausübung hat <strong>im</strong>mer auch<br />
eine Qualität des Zu-sich-selber-Findens, des Meditierens.<br />
Hier stehen subjektive Empfindungen <strong>im</strong> Vordergrund. Hier<br />
wird das Innerste des Menschen angesprochen – und spricht<br />
zurück. Dieser Aspekt des Glaubens, diese Erfahrung am ureigensten<br />
Ich, sie ist auf andere Weise nicht erreichbar. Und<br />
sie ist nur sehr bedingt, wenn überhaupt, der wissenschaftlichen<br />
Analyse zugänglich. Hier zählt nur, oder doch ganz pr<strong>im</strong>är,<br />
die Wirkung. Das ist so ein bißchen wie in der Medizin.<br />
Wenn ein Mittel einem Kranken hilft, dann ist es das richtige.<br />
Auch dann, wenn die Wirkungszusammenhänge nicht bekannt<br />
sind, ja, sogar dann, wenn alle Logik, wenn all unser<br />
gegenwärtiges Wissen gegen eine Heilwirkung spricht. Wer<br />
heilt hat recht.”<br />
Peter nickt.<br />
“Und wenn das Gespräch mit dem Pastor oder der Gottesdienst<br />
oder der Glaube es vermögen, zu helfen und zu heilen,<br />
einem Trauernden Trost zu spenden, einem Verzweifelten<br />
neue Hoffnung zu geben, einem in sich Zerrissenen erneut<br />
innere Harmonie zu bescheren, warum nehmen wir das nicht<br />
an, sind ganz einfach dankbar dafür? Das ‘Warum, Wieso,<br />
Wodurch’ ist zweitrangig. Die Heilwirkung ist da. Sie ist<br />
unbestreitbar.”<br />
Wieder nickt Peter.<br />
“Wahrlich, unsere Welt ist voller Schrecken, voller Haß,<br />
voller Bösem. Warum sollten wir nicht jede Möglichkeit ergreifen,<br />
um mit Hilfe des Christentums eine bessere Welt, ein<br />
besseres Ich anzustreben? Warum sollten wir uns die göttliche<br />
Gabe versagen, uns am Glauben aufzurichten, zu stärken?<br />
Der Gottesdienst, das Ritual, die Atmosphäre, die eine Kirche<br />
austrahlt, das gemeinsame Singen, das gemeinsame Beten –<br />
all das gibt dem Menschen neue Kraft, gibt dem Beladenen
394 EINSICHTEN<br />
neue Zuversicht. Ohne diesen Rahmen und ohne den Glauben<br />
fehlt der Quell, der den Dürstenden laben kann. Hier durchbricht<br />
der Mensch mit seinem Gebet Grenzen. Hier kommt es<br />
zu einer Auflösung der Einsamkeit, zu einer Wegnahme der<br />
Angst, zu einer Verklärung des Menschseins. Und es kommt<br />
zu einer Vergeistigung seiner Sorgen, Hoffnungen und Wünsche.<br />
Hier entgrenzt sich die Tagesbeschränkung des Menschen<br />
ins Ewige.”<br />
“Den meditativen Aspekt habe ich in meinen Überlegungen<br />
zu wenig berücksichtigt.”<br />
“Dieses <strong>Suchen</strong>, dieses Eintreten in die große Halle<br />
wunderbarer Stille, es gleicht einem Hineinschweben in das<br />
Zentrum des Universums, einem Teilhaben am Herzschlag<br />
Gottes.”<br />
“Aber Meditieren ist nicht nur an Religion gebunden und<br />
schon gar nicht nur an das Christentum. Meditieren, dieses<br />
tiefe Sich-Besinnen, In-Sich-Hineinhören, dieses Sich-Sammeln<br />
und Entspannen, dieses Erleben mystischer,<br />
transzendentaler Kräfte und ihrer Wirkungen – und auch das<br />
Herbeiführen außergewöhnlicher seelischer und körperlicher<br />
Zustände und die Nutzung der Kräfte, die dadurch aktiviert<br />
werden – all das kann durch eine Reihe von Vorstellungen,<br />
Ritualen und Beschwörungen erreicht werden.”<br />
Der Pastor wiegt den Kopf. Er ist mit dem, was Peter da gesagt<br />
hat, nicht voll einverstanden. Aber er verzichtet darauf,<br />
diesen Diskussionspunkt weiter zu vertiefen. Nun spitzt er<br />
die Lippen, hebt den Zeigefinger: “Und vergessen wir die<br />
Liebe nicht! Diese höchste Gnadengabe des Herrn, die nur<br />
den Menschen zuteil geworden ist.” Mit dem ihm eigenen tiefdringenden<br />
Blick sieht er Peter in die Augen. “Wahrlich, die<br />
Liebe ist etwas Großes, etwas, um das sich unser Menschsein<br />
rankt wie um einen unsichtbaren Pfeiler. Seit Menschengedenken<br />
hat sie Dichter und Denker in ihren Bann gezwungen.<br />
Was wäre ein Goethe ohne die Liebe? Sie ist <strong>im</strong> wahrsten<br />
Sinne des Wortes etwas Einmaliges – die Liebe zwischen
Mann und Frau, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die<br />
Liebe der Kinder zu ihren Eltern, ja, die Liebe zwischen<br />
Menschen überhaupt. Und natürlich die Liebe zum Herrn.”<br />
“Ja”, sagt Peter und denkt an Inge, “die Liebe ist etwas<br />
Wunderschönes.” Mit feinfühlenden Fingerspitzen streicht er<br />
sacht über den Bart. “Wirklich ganz wunderschön”, sagt er<br />
noch einmal und senkt den Blick. Dann jedoch meldet sich<br />
wieder sein kritischer Verstand zu Wort: “Die Liebe hat viele<br />
Gesichter. Auch sie speist sich aus dunklen Quellen – Quellen,<br />
aus denen Sinnliches und Triebhaftes quillt. An den<br />
verschiedenen Gesichtern der Liebe sind sehr unterschiedliche<br />
Kräfte und Gefühle beteiligt. Neben dem Sehnen nach Glück,<br />
Partnerschaft und Selbstbestätigung, neben dem Wunder der<br />
Erfüllung gibt es da auch Süchte und Böses. Denken Sie nur<br />
einmal an die aus Liebe geborene Eifersucht, an die Macht der<br />
Eigenliebe. Hier kommen Gesichter der Liebe zum Vorschein,<br />
die in unserem Nachdenken über sie oft ein eher verstecktes<br />
Dasein führen: das Bestreben, etwas für sich allein in Anspruch<br />
zu nehmen, Besitzergreifung des Gegenstandes der<br />
Liebe und körperliche Befriedigung.”<br />
Der Pastor will etwas einwenden. Aber Peter bemerkt das<br />
gar nicht. Als sei er plötzlich ganz allein flüstert er vor sich<br />
hin. “Das alles sagt auch ein bewegendes Gedicht:<br />
“Wie sehr wir doch die Liebe lieben!<br />
Besingen, preisen, golden schmieden!<br />
Liebe ist Wunder, zeugt Leben<br />
Liebe ist Glück, bringt Segen,<br />
Liebe ist Erfüllung, wärmt Seelen<br />
Liebe kann zum H<strong>im</strong>mel heben<br />
Wie sehr wir doch uns selbst belügen!<br />
Wie erbaulich wir die Welt verbiegen!<br />
Streitgespräch 395
396 EINSICHTEN<br />
Liebe ist auch Neid, Begehren<br />
Liebe ist auch Angst, Entbehren,<br />
Liebe ist auch Sucht und Selbstverehren<br />
Liebe kann auch Gut in Bös verkehren<br />
Wir lieben nicht nur die Liebe!<br />
Wir lieben auch die eig´nen Siege!<br />
Nur wem das Du so nah ist wie das Ich<br />
Nur wer vergeben kann, versteh´n, verzichten<br />
Nur der liebt den anderen wahrlich und wirklich<br />
Nur der darf der Liebe ein Denkmal errichten”<br />
“Auch die Liebe unterliegt dem alles regierenden Gesetz von<br />
Anziehung und Abstoßung. Nicht selten erweisen sich Liebe,<br />
narzißtische Schwärmerei, Egoismus und Sucht als<br />
Verwandte.”<br />
Mit seiner tiefen Baritonst<strong>im</strong>me sagt der Pastor ruhig:<br />
“‘Seid niemand nichts schuldig’, so steht es in der Bibel, ‘denn<br />
daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den anderen liebet,<br />
der hat das Gesetz erfüllt’. Liebe”, fährt er fort, “ist auch<br />
die gute, die hilfreiche Tat. Liebe ist Zuwendung.”<br />
“Liebe”, entgegnet Peter, “gibt es nicht nur bei Menschen.<br />
Ich sehe der menschlichen Mutterliebe Vergleichbares auch<br />
bei Tieren, zum Beispiel bei Affen, Hunden und Katzen.” Er<br />
pafft. Dann nickt er mehrmals, ganz leicht nur, aber mit Best<strong>im</strong>mtheit.<br />
Er pflichtet einem in ihm aufflackernden Gedanken<br />
bei, bevor er diesen noch formuliert und ausgesprochen<br />
hat: “Nur den Menschen zuteil geworden”, sagt er schließlich,<br />
“ist etwas anderes. Mehr als alle seine Mitgeschöpfe ist der<br />
Mensch dazu fähig, den Gegenstand seiner Liebe zu quälen,<br />
ja, zu töten.”<br />
Der Hausherr erhebt sich, geht zum Kamin, schiebt Asche<br />
beiseite, legt Holz nach, richtet Scheite. “Müssen wir denn<br />
<strong>im</strong>mer alles nur mit dem Verstand erfassen wollen?”, fragt er
Streitgespräch 397<br />
über die Schulter, “alles bis ins Kleinste analysieren? Alles in<br />
Erfahrung bringen, was in Erfahrung zu bringen ist?”<br />
Er kommt zurück, gießt Wein nach und setzt sich wieder.<br />
“Die Bibel sagt: ‘Verlaß dich auf den Herrn von ganzem<br />
Herzen, und verlaß dich nicht auf deinen Verstand, sondern<br />
gedenke an Ihn in allen deinen Wegen, so wird Er dich recht<br />
führen.’” Der Pastor n<strong>im</strong>mt einen Schluck Wein zu sich. “Sie<br />
wissen es selber, Peter: Der forschende Verstand beschert uns<br />
täglich neue Erkenntnisse. Aber die Wissenschaft stellt uns<br />
täglich auch vor neue Probleme. Die Wissenschaftler errichten<br />
Gedankengebäude, auf deren Zinnen uns schwindelig<br />
wird. Sie stellen uns vor Abgründe, vor denen uns schaudert.<br />
Aber sie geben uns keinen Halt, keine Stütze. Sie lassen<br />
uns in der Kälte stehen, in der Kälte der Einsamkeit, des<br />
Alleinseins auf Erden, in der Eiseskälte des leeren Weltraums.”<br />
Der Pastor senkt den Kopf. Nachdenklich betrachtet er<br />
seine Hände. Diese Hände, die so viel gesegnet, so viel berührt,<br />
so viel getröstet haben. Dann fährt er fort: “Wahrlich,<br />
ich sage Ihnen, wir sind nicht umgeben von Leere und Kälte.<br />
Wir sind umgeben von einem Universum voller Liebe und<br />
voller Harmonie. Und wo diese Liebe und diese Harmonie sich<br />
in den Menschen verbinden zu einem mächtigen Strom des<br />
Glaubens, da wächst die Hoffnung, da erblüht die Zuversicht.<br />
Da wird uns die Gewißheit der Gnade und Barmherzigkeit<br />
Gottes.”<br />
“Ich wünschte mir, ich könnte das so sehen wie Sie. Ich<br />
wünschte mir, ich könnte daran glauben.”<br />
“Viele Menschen frieren in der Rationalität der Wissenschaft.<br />
Sie sehnen sich nach Wärme, Gemeinsamkeit, Harmonie<br />
und Orientierung. Nicht von ungefähr gibt es <strong>im</strong> Menschen<br />
ein starkes Bedürfnis nach Religion. Ich rechne die<br />
Religion zu den Grundbedürfnissen der Menschheit. Was <strong>im</strong>mer<br />
die Wissenschaft zu leisten vermag, ethische Orientierung<br />
und moralische Führung kann sie uns nicht geben.”
398 EINSICHTEN<br />
Der Pastor nippt an seinem Weinglas. “Und welcher Art<br />
sind sie denn, die Erkenntnisse der Wissenschaft? Bringen sie<br />
den Menschen wirklich etwas – etwas außer Schwindelgefühl,<br />
Schaudern vor Abgründen und Zittern vor Kälte? Viele Erkenntnisse<br />
der Wissenschaft bringen den Menschen Not und<br />
Tod, und das in der vielfältigsten Weise. Fast alle großen<br />
Probleme, vor denen wir heute stehen, sind in letzter Konsequenz<br />
Auswirkungen der Wissenschaft: Umweltzerstörung,<br />
Vernichtung ganzer Tier- und Planzenarten, Hunger, Verkrüppelung<br />
und Hinschlachten von Millionen unschuldiger<br />
Menschen. Beflügelt von Wissenschaft und Technologie haben<br />
sich die Menschen in den Industrienationen auf Kosten der<br />
Armen in den sogenannten Entwicklungsländern und auf<br />
Kosten der Umwelt rücksichtslos bereichert. Und denken Sie<br />
einmal an die furchtbaren modernen Massenvernichtungswaffen!”<br />
Der Pastor entzündet seine Zigarre. “Die Wissenschaft<br />
hat nicht nur Augen zum Sehen und Ohren zum Hören,<br />
sie hat auch Fäuste zum Schlagen. Atombomben, Wasserstoffbomben,<br />
Neutronenbomben, Chemiewaffen, biologische Waffen,<br />
all diese entsetzlichen Massenvernichtungstechnologien,<br />
die heute den Menschen – selbst irrsinnigen Potentaten – zur<br />
Verfügung stehen, sie sind die Früchte der Wissenschaft. Wo<br />
soll sie hinführen, diese sich ständig selbst verstärkende und<br />
beschleunigende wissenschaftlich-technologische Entwicklung?<br />
Wo sollen sie enden, diese Wahnvorstellungen vom<br />
Alles-Wissenwollen, vom rücksichtslosen Sich-Selbst-Verwirklichen?<br />
Was soll er uns bescheren, dieser wildgewordene<br />
Reigen von Trieb, Genußsucht, Aggression, Machtstreben, Erkenntnisgewinnung<br />
und genialischem Wahn?<br />
Sie haben gesagt”, fährt der Pastor fort, “das Christentum<br />
habe die Ur-Völker in Amerika, in Afrika und sonstwo ihrer<br />
kulturellen und religiösen Wurzeln beraubt. Hat nicht die<br />
Wissenschaft die ganze Menschheit entwurzelt? Stürzt sie<br />
nicht uns alle in einen Strudel von Zerstörung und Verderben?<br />
Ja, die Wissenschaft ist die Wurzel vielen Übels. Sie ist der
Streitgespräch 399<br />
Motor, der die Selbstvernichtung der Menschheit in Gang<br />
gesetzt hat, der diesen fürchterlichen Prozeß ständig anheizt<br />
und beschleunigt. Wo bleiben da die Besonnenen, die In-sich-<br />
Gekehrten, die Gläubigen? Wahrlich, es werden ihrer <strong>im</strong>mer<br />
weniger.”<br />
Peter nickt. Was der Pastor da gesagt hat, berührt ihn tief.<br />
“In vielem”, sagt er bedrückt, “was Sie da gesagt haben, muß<br />
ich Ihnen zust<strong>im</strong>men. Die Wissenschaft ist Erkenntnisquelle<br />
und Vernichtungsquelle in einem. Sie trägt das Licht ins<br />
Dunkel, so können wir sehen. Aber das Licht der Wissenschaft<br />
ist kein kaltes Licht. Es ist das Licht des Feuers. Wissenschaft<br />
erhellt und erleuchtet nicht nur, sie setzt auch in Brand,<br />
entzündet und zerstört. Die Feuergefährlichkeit der Wissenschaft<br />
ist <strong>im</strong> Taumel der Erkenntnisfreude unterschätzt<br />
worden.”<br />
“Wahrlich, das ist sie.” Der Pastor betrachtet seine Zigarre<br />
und pafft einige Rauchwölkchen vor sich hin. “Ganz gewiß.”<br />
“Aber”, entgegnet Peter, “können wir auf das Feuer<br />
verzichten, weil es nicht nur wärmt, leuchtet und für uns<br />
arbeitet, sondern auch vernichtet, sich gegen uns richten<br />
kann? Wie das Feuer, so sind doch auch die Wissenschaft und<br />
die von ihr erarbeiteten Erkenntnisse weder gut noch böse.<br />
Die Menschheit entscheidet darüber, was sie damit macht.”<br />
“Da gibt es Grenzen. Die Bibel gebietet: ‘Bis hierher sollst<br />
du kommen und nicht weiter’.”<br />
“Für Auseinandersetzungen zwischen Menschen”, fährt<br />
Peter fort, “liefert die Wissenschaft Methoden, nicht aber Motive.<br />
Ich kenne keinen Krieg, den Wissenschaftler begonnen<br />
hätten, und keinen, der für die Durchsetzung wissenschaftlicher<br />
Ideen geführt worden wäre, schon gar nicht für die<br />
Erweiterung wissenschaftlicher Macht.” Seine Pfeife beiseitelegend,<br />
schüttelt er den Kopf: “Wir dürfen das Feuer des<br />
Wissenwollens nicht löschen, nur weil wir uns daran<br />
verbrennen können oder weil wir uns fürchten vor dem, was<br />
uns sein Schein enthüllen mag. Wenn wir vor uns selbst
400 EINSICHTEN<br />
bestehen wollen, wenn wir uns neu einrichten wollen in dieser<br />
sich wandelnden Welt, dann müssen wir den Mut aufbringen,<br />
Licht zu machen und uns umzusehen. Nur wenn wir sehen,<br />
wo wir stehen, nur wenn wir erkennen, was uns umgibt, nur<br />
wenn wir uns bemühen zu begreifen, woher wir kommen, wer<br />
wir wirklich sind – nur dann können wir zu uns selber finden,<br />
Mensch sein, Mensch werden. Nur dann können wir angemessen<br />
reagieren.”<br />
“Angemessen reagieren, ja, aber was bedeutet das? Letztlich<br />
ist doch entscheidend, was das Reagieren bewirkt, wohin es<br />
führt. Und da stellt sich mir die Frage: Was bekommt dem<br />
Menschen langfristig besser – religiöse Unterwerfung unter<br />
Gott oder intellektuelle Auslieferung an die Wissenschaft?”<br />
“Keine Auslieferung! Mit der Wissenschaft leben, sie uns<br />
nutzbar machen, aus ihr Wahrheit gewinnen, Einsicht und<br />
Weisheit.”<br />
“Woher kommt die Weisheit? Und wo ist die Stätte der<br />
Einsicht? Die Weisheit ist verhüllt vor den Augen aller Lebendigen.<br />
Gott allein weiß den Weg zu ihr. Er allein kennt<br />
ihre Stätte. Ich sage Ihnen, Peter, alles <strong>Suchen</strong> des Menschen<br />
nach Wissen und Weisheit mündet am Ende <strong>im</strong> Religiösen.”<br />
Mit gefurchter Stirn sieht der Pastor hinüber ins Feuer des<br />
Kamins. Dann sagt er: “Wir werden hier keine vollständige<br />
Übereinst<strong>im</strong>mung in unseren Ansichten und Überzeugungen<br />
erzielen. Aber das haben wir ja auch nicht erwartet. Oder?”<br />
“Nein, das haben wir nicht.” Peter fährt mit unruhigen Fingern<br />
in seinem Bart herum. “Aber ich möchte doch noch etwas<br />
hinzufügen dürfen. Das Leben, das wir Menschen heute führen,<br />
ist ohne Wissenschaft nicht möglich. Ohne Wissenschaft<br />
könnten wir weder unseren Lebensstandard halten, noch könnten<br />
wir Milliarden von Menschen ernähren, noch uns ihrer<br />
Krankheiten annehmen, noch unsere Zukunft planen. Ein<br />
Zurück gibt es nicht, es sei denn, wir akzeptieren den Weg in<br />
die Katastrophe.”<br />
“Ja”, sagt der Pastor mit einem Anflug von Bitterkeit, “so-
Streitgespräch 401<br />
weit haben sich die Dinge schon entwickelt. Soweit haben wir<br />
es schon gebracht.”<br />
“Die Wissenschaft”, gibt Peter zu bedenken, “ist nicht nur<br />
Erkenntnisquelle für den Neugierigen, sie ist auch die wichtigste<br />
Investition der Menschheit in die Sicherung ihrer Existenzgrundlagen<br />
und in die Gestaltung ihrer Zukunft.”<br />
“Auch ich hoffe”, entgegnet der Pastor, “daß der große Aufwand<br />
an finanziellen Mitteln und geistigem Bemühen vieler<br />
unserer besten Köpfe nicht nur Bewährtes in Frage stellt,<br />
nicht nur Unsicherheit verursacht und Zerstörung, sondern<br />
auch konstruktive Hilfe leistet für die Gestaltung unseres Lebens<br />
und des Lebens unserer Kinder. Vor allem darin sehe ich<br />
als Geistlicher die Berechtigung wissenschaftlicher Forschung.”<br />
Der Pastor erhebt sich und schenkt Wein nach. Dann sagt<br />
er: “Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich bin<br />
gleich zurück.” Er verläßt das Wohnz<strong>im</strong>mer.<br />
Allein, fährt sich Peter, den letzten Gedankenaustausch rekapitulierend,<br />
mit Zeige- und Mittelfinger durch den Bart. Er<br />
überlegt, ob er zu weit gegangen ist in seinen Äußerungen.<br />
‘Nein’, sagt er sich schließlich, ‘nein, das bin ich nicht. Ich<br />
meine sogar, daß das Gespräch bisher ganz gut verlaufen ist.<br />
Besser jedenfalls, als ich befürchtet hatte.’ Er greift zum Glas.<br />
‘Der Wein schmeckt wirklich gut.’<br />
Der Pastor kommt zurück. Besorgt blickt er auf seine Armbanduhr:<br />
“Wo nur die Inge bleibt! Ich hoffe, sie hat ihrer<br />
Freundin helfen können und wird bald zurück sein!” Mit einem<br />
leisen Seufzer n<strong>im</strong>mt er wieder in seinem Sessel Platz<br />
und greift zur Zigarre. “Noch ein Wort zur Ethik. Die biblischen<br />
Zehn Gebote präzisieren die ethischen Richtlinien des<br />
Christentums. Sie formen die Grundlage für menschliches<br />
Miteinander. Die Verkündigung dieser göttlichen Gebote und<br />
die ständige Ermahnung der Kirche, diese auch einzuhalten,<br />
das sind Grundpfeiler unserer Kultur.”<br />
“Wohl wahr. Aber so manche Forderungen der christlichen
402 EINSICHTEN<br />
Ethik schießen auch über das Ziel hinaus. Sie haben keine<br />
Basis in der Natur. Die Konsequenz utopischer Christenethik<br />
ist ein zunehmendes Auseinanderfallen von Glauben und<br />
Wissen, von Sollen und Handeln. Im übrigen ist die Essenz<br />
der Zehn Gebote Bestandteil fast jeder Religion und Kultur.<br />
Diese Richtlinien können nicht als etwas spezifisch Christliches<br />
in Anspruch genommen werden. Sie sind grundsätzliche<br />
Anleitungen für menschliches Verhalten und haben dementsprechend<br />
ihren Niederschlag auch in weltlichen Gesetzbüchern<br />
gefunden. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten,<br />
daß diese Richtlinien an sich mit Religion wenig zu<br />
tun haben. Das, was den Kern der Religion ausmacht, das ist<br />
der ausschmückende, historische, mystische und rituelle Rahmen,<br />
in dem diese ethischen Forderungen jeweils angeboten<br />
werden. Und auch da habe ich be<strong>im</strong> Christentum Kritik anzumelden.”<br />
“Soo??” Der Tonfall des Pastors hat sich geändert.<br />
Peter spürt, daß er sich einer Grenze nähert. Er wird unsicher.<br />
Er schweigt. Und er ermahnt sich abermals zur Zurückhaltung.<br />
Dann aber sagt er: “Mir ist da vor kurzem ein<br />
Buch in die Hände geraten. Es trägt den Titel: “Die Fünf Weltreligionen.”<br />
*<br />
“Der Autor, Professor für Indologie und vergleichende Religionswissenschaften,<br />
schreibt über Brahmanismus, Buddhismus,<br />
Chinesischen Universismus, Christentum und Islam.<br />
Seine Darstellungen, Analysen und Synthesen bestechen<br />
durch Sachkenntnis und Sorgfalt. Unter anderem kommt er<br />
zu dem Schluß, daß es nicht nur christliche, sondern auch<br />
außerchristliche Zeugnisse gibt für eine historische Existenz<br />
Jesu.”<br />
“Wahrlich, derer gibt es viele.”<br />
“Als historischer Kern ergibt sich seiner Ansicht nach etwa<br />
folgendes Bild. Jesus war der älteste Sohn des Joseph und der<br />
* H. von Glasenapp, 1982, Eugen Diederichs Verlag, Köln
Streitgespräch 403<br />
Maria. Er hatte noch mehrere Schwestern und vier Brüder,<br />
Jakobus, Joses, Judas und S<strong>im</strong>on. Jesus war ungefähr dreißig<br />
Jahre alt, als er mit seiner öffentlichen Tätigkeit begann.<br />
Diese hat insgesamt offenbar nur ein einziges Jahr oder wenig<br />
länger gedauert. Eine außerordentlich kurze Zeitspanne, gemessen<br />
an den jetzt schon fast zweitausend Jahre währenden<br />
<strong>im</strong>mensen Wirkungen, die seine Tätigkeit verursacht hat.<br />
Jesus verkündete Lehren, die vor ihm bestanden hatten, vor<br />
allem Lehren des Judentums. Seine originäre Leistung bestand<br />
nicht darin, daß er – wie dies später der eher fanatisch<br />
missionierende Paulus getan hat – ein neues theologisches<br />
System schuf, sondern daß er überkommenen Lehren eine<br />
besondere Ausschmückung und einen besonderen Charakter<br />
gab. Durch wundervolle, gefangennehmende Gleichnisse, die<br />
seiner Welt als Bauhandwerker entlehnt waren, und durch<br />
kernige Formulierungen verlieh er dem Überkommenen eine<br />
starke Ausstrahlungskraft.”<br />
Der Pastor nickt.<br />
“Unsere Welt aber war Jesus völlig fremd. In dem Maße, in<br />
dem sein Wirken unter den Menschen seiner Zeit ein Echo<br />
fand, fühlte er sich – wie viele andere Menschen vor und nach<br />
ihm – als göttlicher Verkünder und Erlöser. Seine Muttersprache<br />
war aramäisch. Die Rekonstruktion dessen, was er<br />
gesagt hatte, wurde durch große Lücken in der Dokumentation<br />
erschwert und durch absichtsvolles Um- und Ausdeuten der<br />
Chronisten in vielfältiger und meist undurchschaubarer Weise<br />
abgewandelt und ergänzt. So weichen die Texte seiner Predigten<br />
in der Literatur oftmals erheblich voneinander ab. Auch<br />
der mir befreundete junge Doktor der Theologie kam bei seinen<br />
Nachforschungen zu dem Schluß, daß in den Evangelien<br />
Wortwendungen überliefert sind, die nicht auf Jesus<br />
zurückgeführt werden können. Sie sind Jesus erst lange nach<br />
seinem Tod zugeschrieben worden. Zeit verändert. Zeit<br />
verfremdet. Wo keine historische Kontinuität besteht, wird<br />
Erinnerung rasch lücken- und fehlerhaft. Offenbar waren die
404 EINSICHTEN<br />
Evangelisten bestrebt, das schändliche Scheitern ihres Messias<br />
<strong>im</strong> Nachhinein umzudeuten in einen gottgewollten Plan und in<br />
einen glorreichen Sieg.”<br />
Da der Pastor nichts sagt, fragt Peter: “Wer war Jesus wirklich?<br />
Was ist der Kern der heute erkennbaren historischen<br />
Wahrheit? Jesus war ein israelitischer Prophet von hoher Sensibilität<br />
und Impulsivität. Aus sorgfältigen Literaturstudien<br />
hat mein theologischer Freund den Schluß gezogen, daß Eltern<br />
und Geschwister Jesus für radikal, ja, zeitweise für verrückt<br />
gehalten haben. Jesus konnte sanft sein aber auch grob,<br />
anziehend aber auch abstoßend, extrem in der Forderung nach<br />
Einhaltung von Gesetzen, aber auch grundlos großzügig <strong>im</strong><br />
Vergeben. Es gibt viele verschiedene Vorstellungen über diesen<br />
Messias. Nach den meisten Chronisten war Jesus ein<br />
aufrechter, einfacher Mann. Immer wieder hat er vergeblich<br />
gehofft, daß Gott sich zu ihm bekennen möge. Vermutlich hat<br />
er sehr darunter gelitten, daß dies niemals geschehen ist.”<br />
Peter schweigt eine Weile. Dann fährt er fort: “Für Jesus<br />
war ein direkter Weg zu Gott das Gebet. Dabei entriet er aber<br />
der Zurschaustellung. Und ein Gebet sollte nichts enthalten,<br />
das Gottes Wesen widerspricht, auch nichts, das anderen<br />
Menschen Nachteil bringt. Also darf man <strong>im</strong> Krieg nicht um<br />
den eigenen Sieg bitten. Das ‘Vaterunser’ ist nicht seine<br />
Schöpfung. Alle Bitten in diesem Gebet fußen auf jüdischen<br />
Vorbildern. Das Judentum, eine Hochreligion, die aber den<br />
nationalen Bereich nicht überschritten hat, ist die geschichtliche<br />
Voraussetzung für das Wirken und Wollen Christi.”<br />
Peter überlegt, ob er weiterreden soll. Aber dann sagt er<br />
sich, ‘es muß sein, es muß jetzt alles auf den Tisch.’ “Das Symbol<br />
des Christentums ist das Kreuz. Aber so mancher Chronist<br />
bezweifelt, ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben ist. Keiner<br />
seiner Jünger, keiner der Überlieferer dessen, was damals<br />
geschah, war dabei als Jesus starb.”<br />
“Das Todesurteil”, sagt der Pastor, “wurde von einem römischen<br />
Gericht gefällt. Die Kreuzigung ist eine römische Hin-
Streitgespräch 405<br />
richtungsart, keine jüdische.”<br />
“Ja”, nickt Peter, “die Römer verurteilten zu dieser ihrer<br />
furchtbarsten Strafe desertierte Soldaten, Aufständische und<br />
entlaufene Sklaven. Der Verurteilte starb unter entsetzlichen<br />
Qualen. Meist dauerte das länger als einen Tag. Nach der<br />
Überlieferung war für Jesus schon nach sechs Stunden alles<br />
vorüber. Dann erbat und erhielt ein angesehener Bürger aus<br />
Jerusalem den vom Kreuz Genommenen und bestattete ihn<br />
<strong>im</strong> eigenen Familiengrab. Alle Jünger waren geflohen. Eine<br />
totale Niederlage ohne jede Größe.”<br />
Peter sieht den Pastor an. Der blickt vor sich hin. “Die Wende<br />
kam erst später, vor allem mit Paulus. Der hatte Jesus nie<br />
gekannt Aus dem Tod Jesu entwickelte er ein Gedankengebäude,<br />
das viele Menschen gefangen nahm. Paulus erfand den<br />
Mythos der Auferstehung. Er machte aus der Auferstehung<br />
die göttliche Bestätigung des Messias, die es tatsächlich niemals<br />
gegeben hat.”<br />
“Paulus …”<br />
“Paulus war der erste Theologe. Er erschuf nicht nur den<br />
Sohn, sondern auch den Vater: den Gott der Theologen. Paulus<br />
pervertierte das Lebensbejahende des Jesus in eine naturfremde<br />
Lebensverneinung. Der Gott des Paulus und der Gott<br />
der Theologen ist nicht der Gott des Jesus.”<br />
Peter pafft. Dann sagt er: “Das Christentum lehrt Barmherzigkeit,<br />
aber es ruft auch auf zu erbarmungslosem Kampf<br />
gegen Andersgläubige. Es verschreibt sich der Nächstenliebe,<br />
aber es verkündet auch ein Heil, das aus einem Menschenopfer<br />
kommt. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Vergebung<br />
und Verdammung, aus Liebe und Drohung.”<br />
“Wie meinen Sie das, Drohung?”<br />
“Ist das keine Drohung, wenn es in der Bibel heißt: ‘Wer da<br />
glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht<br />
glaubt, der wird verdammt werden’? Ist das Jüngste Gericht<br />
keine Drohung? Sollen da nicht alle guten und alle bösen<br />
Taten eines jeden Menschen erbarmungslos gegeneinander
406 EINSICHTEN<br />
aufgerechnet werden?”<br />
“Die Bibel sagt: ‘Seid barmherzig, wie auch euer Vater<br />
barmherzig ist.’”<br />
“Wie kann der Christengott beides sein, barmherziger<br />
Schöpfer und unbarmherziger Richter? Wie paßt denn das zusammen?<br />
Und wenn dieser Gott die Menschen erschaffen<br />
hätte, so würde er doch am Ende zu Gericht sitzen über seine<br />
eigenen Taten. Be<strong>im</strong> Jüngsten Gericht würde er sich selber<br />
Noten geben, nichts sonst.”<br />
Peter klopft seine Pfeife aus <strong>im</strong> Aschenbecher. “Und was eigentlich<br />
bedeutet Bestrafung durch den Christengott? Ich<br />
sehe nur Willkür. Die trifft den Guten wie den Bösen. Warum<br />
Strafe und Leid auch für streng Gläubige? Es gibt da keinerlei<br />
erkennbare Kausalität.”<br />
“Kausalität! Das <strong>Suchen</strong> nach einem Grund führt meist<br />
nicht weit. Die Bibel sagt: ‘Einen andern Grund kann niemand<br />
legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christ’.”<br />
“Die Kirchenoberen machen aus so manchem Göttliches.<br />
Und sie behaupten zu wissen, was dem Menschen zusteht.<br />
Was aber steht ihm zu?” Peter schüttelt den Kopf. Dann sagt<br />
er: “Mich hat noch etwas anderes nachdenklich gest<strong>im</strong>mt.”<br />
“Was?”<br />
“Warum hat Jesus gesagt, ‘ich bin nicht gekommen, Frieden<br />
zu bringen, sondern das Schwert’?”<br />
“Jesus ging es vor allem um Frieden innerhalb eines Volkes,<br />
nicht zwischen Völkern. Dennoch, <strong>im</strong> Kern heißt die Botschaft:<br />
‘Friede auf Erden’.”<br />
“Das ist auch wieder so eine Botschaft, über die offenbar<br />
kaum jemand wirklich nachgedacht hat.”<br />
“Wie können Sie so etwas behaupten?!”<br />
“Bitte lassen Sie uns das einmal durchdenken.”<br />
Widerstrebend willigt der Pastor ein.<br />
“Frieden ist für mich Zusammenleben von Individuen oder<br />
Gruppen ohne beschädigende Gewalt, geregelt durch einvernehmliche<br />
Ausarbeitung, Anerkennung und Anwendung von
Streitgespräch 407<br />
Ordnung mit dem Ziel einer Entschärfung von Gegensätzen<br />
durch Kompromisse.” Er sieht fragend zum Pastor hinüber.<br />
Der nickt.<br />
“Frieden beinhaltet Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung<br />
eigener Ziele sowie die Befolgung konfliktbegrenzender Vereinbarungen.<br />
Frieden ist also mehr als die Abwesenheit von<br />
Krieg.”<br />
“Einverstanden.”<br />
“Können wir uns dann auf die Kurzformel einigen: Frieden<br />
ist ein Zustand sich fortschreibender, gewaltfreier oder doch<br />
einvernehmlich gewalteinschränkender Koexistenz?”<br />
“Ja.”<br />
“Das ist ein Zustand, der <strong>im</strong> Programm der Entstehung und<br />
Entfaltung irdischen Lebens nicht vorgesehen ist. Das ist etwas<br />
von der Schöpfung nicht Gewolltes. Die Natur zwingt alle<br />
ihre Geschöpfe, auch den Menschen, unerbittlich zu fortgesetzter<br />
Gewaltanwendung, und zwar insgesamt in unerhörtem<br />
Ausmaß. Dieser unbestreitbare Sachverhalt widerspricht<br />
zugleich auch anderen christlichen Geboten, so dem Gebot ‘Du<br />
sollst nicht töten’. Wir müssen töten um zu leben. Jeden Tag.<br />
Jeder Bissen unserer Nahrung enthält Teile anderer Lebensformen,<br />
die wir vorher töten mußten oder die wir töten, indem<br />
wir sie verzehren. Das ist die Realität. Wer das nicht sieht, ist<br />
blind!”<br />
“Sie sehen manches zu einseitig. Jesus hat auch gesagt:<br />
‘Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet’.<br />
Hier, in den beiden Worten ‘in mir’, liegt der Kern der<br />
christlichen Botschaft. Wer gerecht geworden ist durch den<br />
Glauben, der hat Frieden in und mit Gott durch unsern Herrn<br />
Jesum Christ.”<br />
Jedes Wort abwägend, setzt Peter seinen Gedanken fort:<br />
“Welche Kraft, mit welcher Botschaft auch <strong>im</strong>mer, diese auf<br />
Konflikt, Gewaltanwendung und Töten beruhende irdische<br />
Ordnung geschaffen hat, sie kann unmöglich gleichzeitig die<br />
Forderung erheben: ‘Friede auf Erden!’ Das wäre blanker
408 EINSICHTEN<br />
Hohn. Aus meiner Sicht stammt die Gott in den Mund gelegte<br />
Forderung ‘Friede auf Erden’ von Menschen, von solchen, die<br />
es nicht besser wußten, oder von solchen, die es besser wußten<br />
und daher gelogen haben. Wie viele andere Forderungen der<br />
Bibel, so ist auch diese Forderung bestenfalls Wunschdenken.<br />
Den Christengott als Schöpfer irdischen Lebens zu sehen und<br />
ihm gleichzeitig die Botschaft vom Frieden und das Gebot ‘Du<br />
sollst nicht töten’ zuzuschreiben, das paßt nicht zusammen.”<br />
Den Pastor beginnen diese so rücksichtslos dahin geschleuderten<br />
Angriffe auf seine Religion zu schmerzen. Seine Geduld<br />
wird auf eine harte Probe gestellt. Natürlich weiß er, was<br />
ein Bruch zwischen ihm und Peter für seine Tochter bedeuten<br />
würde. Seine tiefe Liebe zu Inge gibt ihm die große Kraft, die<br />
er jetzt braucht, um dieses Streitgespräch durchzustehen, um<br />
die harte Kritik des jungen Wissenschaftlers an seiner Religion,<br />
an seinem Herrn, zu ertragen. Leise sagt er: “Ich liege<br />
und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir,<br />
daß ich sicher wohne.”<br />
“Kein Wunder also”, fährt Peter hartnäckig fort, “daß der<br />
Mensch als Produkt der Natur so große Schwierigkeiten hat<br />
mit der Herstellung und Bewahrung von Frieden. Aber mit<br />
ihrer gewaltigen Veränderungs- und Vernichtungsmaschinerie<br />
können die Menschen ohne Frieden nicht überleben. Sie<br />
müssen daher lernen, Frieden zu organisieren, groteskerweise<br />
notfalls mit Gewalt. Die Natur hilft ihnen da nicht weiter,<br />
die Schöpfung läßt sie da <strong>im</strong> Stich. Die Fähigkeit zum<br />
Frieden müssen wir uns selbst mühsam erarbeiten. Niemand<br />
und nichts bringt oder schenkt uns Frieden. Wir selbst müssen<br />
ihn erringen. Das ist die Botschaft!”<br />
Der Pastor wiegt den Kopf. Er hat seine Fassung<br />
zurückgewonnen.<br />
“Frieden auf Erden”, fährt Peter fort, “kann es niemals<br />
geben, Frieden unter Menschen nur, wenn wir die uns von der<br />
Natur verliehenen Eigenschaften zu ändern oder doch zu<br />
kontrollieren vermögen.”
Streitgespräch 409<br />
“Voraussetzungen für Frieden”, entgegnet der Pastor “sind<br />
Bescheidenheit, Achtung der Menschenwürde und eine als<br />
gerecht empfindbare soziale Weltordnung. Hinzu kommt die<br />
höchste Tugend der Politik: Mut zum Ausgleich. Ich sehe<br />
manches anders als Sie. Aber Ihre Sicht hat ihr eigenes Gewicht.<br />
Frieden ist ein hohes Ziel, dem wir uns ständig neu verpflichten<br />
müssen. Gewalt hat viele Gesichter und viele Masken.<br />
Was wir lernen müssen, das ist die Anwendung von<br />
Gewalt innerhalb anerkannter Regeln und Gesetze, und zwar<br />
<strong>im</strong> weltweiten Maßstab.” Nach einer Pause fügt er hinzu: “Im<br />
christlichen Glauben hat der größte Teil der Menschheit seit<br />
zweitausend Jahren gelebt und überlebt. In ihm wurzeln die<br />
geistigen Vorstellungen der meisten Menschen auch noch<br />
heute.”<br />
Peter nickt. “Im Grunde zwei nicht unähnliche Perspektiven.”<br />
“Zwei ähnliche Perspektiven”, sagt der Pastor. “Und wir<br />
sollten daher auch gemeinsam versuchen, zurückzufinden zu<br />
den Wurzeln dessen, was Jesus wirklich gewollt hat. Die<br />
Essenz der Lehren Jesu hat in zweitausend Jahren nichts von<br />
ihrer Bedeutung für den Menschen verloren, und sie hat<br />
nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Kern der Lehren<br />
Jesu liegt die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. In<br />
Seinen Lehren schlummern die Kräfte, denen der Mensch<br />
nicht entsagen darf, wenn er die Herausforderungen unserer<br />
Zeit bestehen will.”<br />
Peter fingert in seinem Bart. Er nickt. ‘Der Pastor hat da<br />
nicht unrecht’, denkt er. Und er denkt auch, ‘der Mann fordert<br />
mir Respekt ab.’ Aber dann führt ihn plötzlich ein neuer<br />
Gedanke zurück zu seiner Argumentation von vorhin: “Noch<br />
etwas anderes, das Jesus laut Bibel gesagt hat, habe ich mir<br />
eingeprägt. Er hat gesagt: ‘Ich bin gekommen, den Menschen<br />
zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre<br />
Mutter.” Und dann hat er noch gesagt: ‘Wer Vater oder Mutter<br />
oder Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner
410 EINSICHTEN<br />
nicht wert.’”<br />
Das trifft den Pastor mitten ins Herz. Auch er kennt<br />
natürlich Bibelstellen, die ihm Schmerzen bereiten. Die so gar<br />
nicht in das Bild passen, das er von seinem Herrn und von<br />
dessen Lehren in sich trägt. Aber diese Bibeltexte sind in<br />
einem solchen Ausmaß in der Minderheit, und ihr Sinn läßt so<br />
manche Deutungsmöglichkeit zu, daß er sie <strong>im</strong>mer wieder<br />
zugedeckt hat, daß er sie überdeckt hat mit all dem Schönen,<br />
all dem Großartigen, das da geschrieben steht in der Bibel. Er<br />
verfügt über sehr viel Wohlwollen, und er kann sehr viel Kritik<br />
ertragen. Aber diese Hartnäckigkeit des jungen Wissenschaftlers,<br />
diese Rücksichtslosigkeit, mit der er argumentiert,<br />
das geht ihm allmählich doch zu weit. Inges Freund kann<br />
wirklich sehr aggressiv sein. Ist er zu unerbittlich? Kann man<br />
das alles nicht auch anders sagen? Oder ist er einfach zu<br />
offen? Gilt ihm die Suche nach der Wahrheit mehr als alles<br />
andere?<br />
Der Pastor gibt sich große Mühe, gerecht zu bleiben, seine<br />
Zusage einzuhalten. Hatte er Peter nicht aufgefordert, offen<br />
seine Meinung zu sagen? Und hatte er ihm nicht auch<br />
zugesagt, sich seine Kritik anzuhören? So sagt er jetzt: “Das<br />
ist mir alles zu pointiert vorgetragen und zu einseitig<br />
herausgesucht aus einer Fülle sehr positiver Lehrinhalte und<br />
wundervoller Offenbarungen. Auf diese Weise muß natürlich<br />
ein verzerrtes Bild entstehen.”<br />
Der Pastor erhebt sich und sieht nach dem Feuer. Zurückkommend<br />
läßt er sich schwer in den Sessel fallen. Er n<strong>im</strong>mt<br />
einen Schluck Wein zu sich. Dann wendet er sich Peter zu:<br />
“Ich hatte Ihnen gesagt, daß ich versuchen will, Ihnen geduldig<br />
zuzuhören. Also, bitte, machen Sie weiter, vollenden<br />
Sie Ihre Kritik.”<br />
Peter ist abermals <strong>im</strong> Zweifel, ob er fortfahren soll. Er sieht<br />
hinüber zum Pastor. Seine Augen versinken in dessen ernstem,<br />
tiefdringendem Blick. Einen Augenblick lang wagt er nicht zu<br />
sprechen. Erst als der Pastor aufmunternd nickt, findet er zu
Streitgespräch 411<br />
sich zurück: “Was haben die Kirchenoberen aus den Lehren<br />
Christi gemacht? So manche Vertreter der heutigen Kirche<br />
wollen nicht drängelnde Denker, sie wollen duckende Diener.<br />
Sie wollen nicht Aufrechte, sie wollen Gebeugte. Nur wer den<br />
Kopf senkt, nur wer mitläuft, kommt weiter.”<br />
“Selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum<br />
widersetze dich nicht der Zucht des Allmächtigen.”<br />
“Leben heißt voranschreiten, sich korrigieren, sich weiterentwickeln.<br />
Das alles suchen diese Leute verbissen zu verhindern.<br />
Gezielt verhüllen oder verbrämen sie die Ergebnisse<br />
kritischer Religionsforschung. Diese Leute sind Meister geworden<br />
<strong>im</strong> Konservieren. Sie machen die Kirche zur Mumie!”<br />
Als der Pastor nicht antwortet, fährt Peter fort: “Im letzten<br />
Jahr war ich <strong>im</strong> Krankenhaus. Dort wurden mir die Mandeln<br />
entfernt. Leider hatte ich vergessen, mir etwas zu lesen mitzunehmen.<br />
Da fand ich ein Exemplar der Bibel in der Schublade<br />
meines Nachttisches. Ich war <strong>im</strong>mer der Ansicht gewesen,<br />
die Bibel sei ein gutes Buch. So habe ich darin gelesen.<br />
Immer wieder. Ich habe verschiedene Texte miteinander<br />
verglichen, habe versucht, Zusammenhänge herzustellen, in<br />
das einzudringen, was da wirklich geschrieben steht. Ich habe<br />
nicht einen Vers gelesen und dann darüber meditiert, sondern<br />
ich habe versucht, mit kritischem Abstand mir eine Übersicht<br />
über das zu verschaffen, was da eigentlich drin steht in<br />
diesem Buch. Das hat mich so aufgeregt, daß ich die ganze<br />
Nacht kein Auge schließen konnte. Das Alte Testament strotzt<br />
vor bitter-süßen Geschichten, vor…”<br />
“Das Alte Testament reicht weit zurück, in die Zeit, als das<br />
Volk Israel aus der Wüste in das verheißene Land zog.”<br />
“… vor Betrügereien und Unsittlichkeiten, vor Greueltaten<br />
und Morden, vor Unfug und …”<br />
“Herr Doktor!!!”<br />
Mit lautem Aufprall fällt das Gartentor ins Schloß, hallt<br />
Laufschritt herüber aus dem Garten. Die Haustür wird aufgerissen<br />
und dann die Tür zum Wohnz<strong>im</strong>mer.
412 EINSICHTEN<br />
Da steht sie nun, zu Tode erschrocken und weiß wie Kreide.<br />
Sofort erkennt Inge: Das Gewitter hat stattgefunden. Mit vor<br />
Furcht bebenden Lippen fragt sie: “Habt ihr euch gestritten?”<br />
“Sei unbesorgt”, sagt der Pastor, scheinbar völlig ruhig. Er<br />
steht auf, geht hinüber zu seiner Tochter und n<strong>im</strong>mt sie in<br />
den Arm. Aber Inge spürt, daß er zittert. “Nun erzähl uns erst<br />
einmal, wie es bei dir, bei deiner Freundin, gegangen ist. Danach<br />
werden wir dann über unser Gespräch berichten.”<br />
Inge schluckt. Sie braucht einen Augenblick, um sich zu<br />
sammeln. Unsicher beginnt sie zu erzählen, stockend zuerst,<br />
dann in zunehmendem Maße voller Mitleid und Sorge. Sie<br />
setzt sich in den dritten Sessel. Nur das Wichtigste erzählt<br />
sie. Dabei blickt sie <strong>im</strong>mer wieder von dem einen zum anderen.<br />
Peter hält den Blick meist gesenkt. Der Pastor ist voller<br />
Anteilnahme. Er fragt, ob er helfen kann.<br />
“Nein. Was überhaupt an Hilfe und Trost möglich war, das<br />
habe ich getan. Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu ihr<br />
fahren.” Wieder blickt Inge voller Angst auf die beiden Männer.<br />
Hin und her irrt ihr Blick. Von einem zum anderen. “Und<br />
wie ist es bei euch gegangen?”<br />
Mit einer Handbewegung lädt der Pastor Peter ein, auf<br />
diese Frage zu antworten. Der aber schüttelt abwehrend den<br />
Kopf und sagt: “Herr Pastor, Sie sind der Ältere und der<br />
Erfahrenere … und auch der Bessere, um unsere Diskussion<br />
für Inge zusammenzufassen.”<br />
Der Pastor schmunzelt: “Nicht ungeschickt.” Er erhebt sich,<br />
holt ein drittes Glas. “Laßt uns zunächst einmal anstoßen,<br />
alle drei.” Mit zitternder Hand füllt er die Gläser.<br />
Dann sagt er mit seiner tiefen Baritonst<strong>im</strong>me ganz ruhig:<br />
“Zum Wohl, ihr beiden.”<br />
“Zum Wohl”, antwortet Peter mit trockener Kehle.<br />
Die drei trinken.<br />
Das alles gibt dem Pastor Gelegenheit, die Fassung wieder<br />
zu erlangen, zu überlegen, was er sagen wird.<br />
Als sie getrunken haben, sagt Inge: “Es war sehr leicht-
Streitgespräch 413<br />
sinnig von mir, euch beide ohne Aufsicht so lange allein zu<br />
lassen.”<br />
Die beiden Männer lächeln gequält. Peter schämt sich des<br />
von ihm verursachten Streites.<br />
Abermals n<strong>im</strong>mt der Pastor einen kleinen Schluck Wein zu<br />
sich. Und dann formuliert er seine Antwort auf Inges Frage.<br />
Langsam, jedes Wort sorgfältig abwägend, beginnt er: “Unser<br />
Gespräch war offen und schon aus diesem Grunde ein gutes<br />
Gespräch.” Er blickt hinüber zu Peter. Als der nickt, fährt er<br />
fort: “Wir sind sehr verschieden in unseren Erfahrungen,<br />
Ansichten und Überzeugungen. So haben wir auch aus<br />
unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und argumentiert.<br />
Das hat auch zu – Kontroversen geführt. Ich kann keineswegs<br />
alles akzeptieren, was Peter gesagt hat. Und ihm wird es mit<br />
meinen Entgegnungen nicht anders gehen. Aber wir<br />
respektieren unsere Verschiedenartigkeiten.” Erneut sieht er<br />
Peter an. Der nickt jetzt heftig. “Keiner hat versucht, den<br />
anderen über den Tisch zu ziehen, wie man so sagt. Daher<br />
sind die Unterschiede auch bestehen geblieben. Wir haben<br />
viel übereinander in Erfahrung gebracht. Ich für meinen Teil<br />
meine, daß dieses Gespräch nicht nur notwendig war, sondern<br />
auch nützlich.” Wieder nickt Peter. “Dieses Streitgespräch<br />
mußte geführt werden, früher oder später. Das Bekenntnis zu<br />
unseren Übereinst<strong>im</strong>mungen, aber auch zu den zum Teil unüberbrückbaren<br />
Unterschieden hat die Funktion eines reinigenden<br />
Gewitters gehabt. Und es hat, glaube ich, auch eine<br />
Grundlage geschaffen, auf der wir langfristig miteinander<br />
leben, ja gute Freunde werden können.”<br />
“All dem kann ich voll und ganz zust<strong>im</strong>men.” Peter sieht<br />
den Pastor an mit einem Blick voller Bewunderung und tiefer<br />
Dankbarkeit. “Das haben Sie wunderbar gesagt, Herr Pastor.”<br />
Und dann sagt er: “Es war gut, daß ich Ihnen den Vortritt<br />
gelassen habe. So korrekt und so fair hätte ich das nicht sagen<br />
können. Auch ich bin sehr froh darüber, daß wir mit diesem<br />
Gespräch eine Grundlage geschaffen haben, an der sich zu-
414 EINSICHTEN<br />
künftige, auch kontroverse Diskussionen werden messen lassen<br />
müssen. Ein Pastor und ein Wissenschaftler, das ist eine<br />
brisante Mischung. Da muß man vorsichtig umgehen mit dem<br />
Feuer.”<br />
“Ja”, sagt der Pastor, “besonders, wenn man Raucher ist.”<br />
Und nun lachen alle drei.<br />
Peter steht auf, geht auf den Pastor zu. Der erhebt sich<br />
ebenfalls. Sie reichen einander die Hand, schütteln sie ganz<br />
fest, nähern sich einander, deuten gar eine Umarmung an.<br />
Dann nehmen sie wieder Platz.<br />
Abseitsstehend holt Inge tief Luft. Die Hand streicht über<br />
tränenfeuchte Augen. Sie läßt die Schultern sinken und entläßt<br />
einen für die Männer unhörbaren Seufzer. Rasch dreht<br />
sie sich um und geht in die Küche. Dort holt sie ihr geblümtes<br />
Taschentuch hervor, trocknet Tränen und schneuzt sich. Dann<br />
faltet sie die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />
“Danke”, sagt sie am Schluß laut, “danke, lieber Gott!”<br />
Die Männer erheben ihre Gläser und prosten einander zu.<br />
Sie sind sehr ernst, aber auch sehr erleichtert.<br />
Peter steht erneut auf und geht hinüber zum Pastor. Auch<br />
der erhebt sich.<br />
“Herr Pastor, ich danke Ihnen aus vollem Herzen. Und ich<br />
entschuldige mich für meine Hitzköpfigkeit.”<br />
“Danke.”<br />
“Es ist zum Verzweifeln mit mir. Ich hatte mir so fest vorgenommen,<br />
mich in meinen Äußerungen zurückzuhalten. Aber<br />
wenn eine Diskussion so richtig heiß wird, brennt bei mir<br />
<strong>im</strong>mer wieder die Sicherung durch. Und dann sage ich auch<br />
Dinge, die ich so nicht hatte sagen wollen … und so auch nicht<br />
hätte sagen dürfen. Nochmals: ich entschuldige mich. Es tut<br />
mir leid.”<br />
“Schon gut, Peter. Schon gut. Aber in der Sache, <strong>im</strong> Prinzip,<br />
wollen Sie sicher nichts zurücknehmen von dem, was Sie gesagt<br />
haben.”<br />
“Nein”, sagt Peter, “das will ich nicht.” Er sieht dem Pastor
Streitgespräch 415<br />
offen in die Augen. “Aber ich habe viel gelernt. Sie und Inge<br />
haben mir Seiten des Christentums vorgelebt, die ich vorher<br />
nicht kannte.” Er nickt. “Seiten, mit denen ich gut leben kann.<br />
Und Seiten auch, die ich bewundere.”<br />
Abermals reichen die beiden Männer sich die Hand. Und<br />
dann kommt es tatsächlich zu einer Umarmung.<br />
Als Inge in diesem Augenblick die Küchentür öffnet und die<br />
sich umarmenden Männer sieht, schießen ihr die Tränen in<br />
die Augen. Ganz schnell und ganz leise schließt sie die Tür<br />
wieder.<br />
Gedankenverloren geht der Pastor langsam in den Teil des<br />
Wohnz<strong>im</strong>mers, in dem das Klavier steht. Vor dem Bild seiner<br />
Frau bleibt er stehen. Dann setzt er sich und bedeutet Peter,<br />
zu ihm zu kommen und auf dem Stuhl neben ihm Platz zu<br />
nehmen.<br />
“Ich möchte Ihnen etwas sagen, Peter”, beginnt er mit<br />
ernster St<strong>im</strong>me. “Sie haben sich mir vorbehaltlos und ganz geöffnet.<br />
Da will ich nicht zurückstehen. Neben Kritik haben Sie<br />
Zweifel geäußert an den historischen Wurzeln meines Glaubens.<br />
Ich habe da meine eigenen Nachforschungen betrieben.<br />
Und ich sage Ihnen jetzt etwas, das ich noch keinem lebenden<br />
Menschen gesagt habe.” Er schiebt die Unterlippe vor und<br />
nickt stumm vor sich hin. “Etwas, das bisher stillen Gesprächen<br />
mit meinem Gott und mit meiner verstorbenen Frau<br />
vorbehalten war.”<br />
Überrascht wendet sich Peter dem Pastor zu. Der hat den<br />
Blick auf das Bild seiner Frau gerichtet. Erst nach einer Weile<br />
spricht er weiter: “Ich habe die Quellen studiert, aus denen<br />
unser Wissen über die Entstehung des Christentums fließt.<br />
Vor allem unser Wissen über die Kreuzigung und die Auferstehung.<br />
Das sind zwei tragende Säulen meines Glaubens.<br />
Ich bin auf Lücken gestoßen, auf Ausschmückungen und auf<br />
Ungere<strong>im</strong>tes. Es gibt keine Berichte von Augenzeugen. Und<br />
das, was die Überlieferer geschrieben haben, widerspricht<br />
sich in so manchem. Kein Richter dürfte solchen Zeugen
416 EINSICHTEN<br />
Glauben schenken. Ich kann nicht ausschließen, daß die<br />
historische Wahrheit anders ausgesehen hat, als es in den<br />
Schriften der Apostel zu lesen ist.”<br />
Peter blickt stumm auf seine Knie. Er kann gar nicht<br />
fassen, was der Pastor da sagt.<br />
“Die Auferstehung Jesu”, fährt der Pastor fort, “ist das Herz<br />
des Christentums. Aber wir wissen nichts darüber. Die fünf<br />
Zeugnisse der Auferstehung stammen von Paulus, Markus,<br />
Matthäus, Lukas und Johannes. Sie berichten über Erzählungen,<br />
die in der Urgemeinde die Runde machten. Da kursierten<br />
recht unterschiedliche Geschichten. Eine kritische<br />
Überprüfung der Texte der fünf Apostel deckt Widersprüche<br />
auf. Im übrigen wurden früher von vielen großen Männern<br />
Geschichten über deren Auferstehung erzählt. So mußte ich<br />
mir schließlich eingestehen, daß es eine Auferstehung möglicherweise<br />
gar nicht gegeben hat.”<br />
Peter schluckt. “Und dennoch sind Sie ein tiefgläubiger<br />
Christ.”<br />
“Ja.”<br />
“Wenn die historischen Säulen nicht tragen, worauf gründet<br />
sich dann Ihre Gläubigkeit?”<br />
“Auf den Geist, der Jesus Christus, seine Jünger und seine<br />
Gemeinde erfüllte. Und der uns Gläubige noch heute erfüllt.<br />
Dieser Geist hat in den Herzen ungezählter Menschen ein<br />
riesiges Feuer entfacht. Aus diesem Feuer sind Gedanken, Gefühle<br />
und Gewißheiten gereift. Aus ihnen erwuchs Lebendiges:<br />
Ein gewaltiger Baum des Glaubens, dessen mächtige Äste und<br />
Zweige haben die Säulen umrankt. Wahrlich, das Gewachsene<br />
ist <strong>im</strong> Laufe der Zeit so stark geworden, so mächtig und auch<br />
so real, daß es der historischen Einzelheiten nicht mehr so<br />
sehr bedarf. Im Verlaufe von zwei Millennien ist hier<br />
Großartiges entstanden, etwas, das sich selber trägt.”<br />
“Haben Sie nie mit Inge über die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen<br />
gesprochen?”<br />
“Nein.”
“Bitte sprechen Sie mit ihr! Ihre Einsichten werden für Inge<br />
nützlich sein. Sie werden ihr ermöglichen, ihr bedingungsloses<br />
Gottvertrauen zu relativieren und in stärkerem Maße<br />
eigene Verantwortung zu entwickeln. So könnte sie ihr Leben<br />
freier gestalten und sich selber besser schützen.”<br />
“Ich werde mit Inge sprechen.”<br />
“Danke!”<br />
Peter schweigt. Und er denkt: ‘Hoffentlich tut der Pastor<br />
das bald.’<br />
Abschied<br />
Abschied 417<br />
Auch heute schmeckt das Essen vorzüglich. Peter genießt<br />
Inges Kochkunst. Gelegentlich nicken sie einander zu.<br />
Ansonsten herrscht Schweigen.<br />
Nach dem Dankgebet falten sie ihre Servietten zusammen<br />
und reichen einander die Hand. Mit freundlichen Worten und<br />
einem Wangenkuß bedankt sich Peter bei der Hausfrau. Die<br />
lächelt: “Es freut mich, daß es dir geschmeckt hat.”<br />
Inge ist unendlich glücklich darüber, daß die beiden Männer<br />
die kritische Probe in ihrer Beziehung bestanden haben.<br />
Der Pastor sieht Inge an und dann Peter. In seinen Augen<br />
leuchtet Wärme auf. Er erhebt sein Glas und sagt: “Dem<br />
Herrn sei Dank! Er hat uns beigestanden.” Er wendet sich seiner<br />
Tochter zu: “Und offenbar auch deiner Freundin.”<br />
“Ja”, sagt Inge.<br />
Entspanntes Schweigen.<br />
Plötzlich steht Peter auf, stellt sich hinter seinen Stuhl, legt<br />
beide Hände auf dessen Rückenlehne und räuspert sich. Er<br />
sieht den Pastor an und danach Inge. Einen Augenblick lang<br />
bleibt er stumm. Vater und Tochter wenden sich ihm zu, mit<br />
einem Ausdruck von Überraschung und mit erwartungsvollem<br />
<strong>Inter</strong>esse.<br />
Peter räuspert sich noch einmal. Dann beginnt er: “Sehr
418 EINSICHTEN<br />
verehrter Herr Pastor.” Er macht eine Verbeugung zum<br />
Pastor hin. Dann wendet er sich zur Seite und sagt, etwas<br />
leiser, “meine geliebte Inge.” Erneut dem Pastor zugewandt,<br />
fährt er fort: “Es mag unmodern geworden sein, es mag auch<br />
nicht formgerecht sein – wie auch <strong>im</strong>mer – hiermit halte ich<br />
an um die Hand Ihrer Tochter. Ich verspreche Ihnen, ich<br />
werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Inge<br />
glücklich zu machen. Und ich verspreche Ihnen ebenso, daß<br />
ich alles tun will, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen,<br />
daß wir drei gut miteinander auskommen können,” abermals<br />
räuspert er sich, “daß wir in Harmonie und in Freundschaft<br />
miteinander leben können.”<br />
Der Pastor steht auf, geht zu Peter hinüber und umarmt<br />
ihn. Er ist tief bewegt. Ohnehin hatte ihn das Streitgespräch<br />
stärker erschüttert, als er sich hatte anmerken lassen. So<br />
manches von dem, was der Peter ihm da so ungestüm vor die<br />
Füße geschleudert hatte, zerrte nicht zum erstenmal an<br />
seinem Herzen. Seine Augen werden feucht. “Eigentlich”, sagt<br />
er mit trockenem Mund und schwerer Zunge, “eigentlich<br />
müßte ich jetzt etwas sagen, eine kleine Rede halten … Aber<br />
ich kann das jetzt nicht.” Er unterdrückt Schluchzen. “Ich bin<br />
sehr glücklich.” Er atmet tief und versucht, Tränen<br />
zurückzuhalten. Doch das gelingt ihm nicht ganz. Am<br />
äußeren Rand der Augenlider glitzert es: Tränen von der Art,<br />
wie sie verstohlen aus den Tiefen des Herzens hochzuquellen<br />
scheinen. Er schluckt. “Ich … ich bin sehr dankbar … für<br />
einen solchen Schwiegersohn.”<br />
“Oh, Peter, mein geliebter Peter!” Inge fliegt in ausgebreitete<br />
Arme. “Ich will dir eine gute Frau sein!!”<br />
Am nächsten Morgen steht Inge in aller Frühe auf und fährt<br />
zu ihrer Freundin. Gott sei Dank geht es ihr besser. Das<br />
Schl<strong>im</strong>mste scheint überwunden zu sein. So fährt sie, so<br />
schnell ihr das möglich ist, zurück und bereitet das Frühstück<br />
zu.
Abschied 419<br />
Inge, Peter und Pastor sind sehr glücklich über die schwer<br />
errungene Voraussetzung für ein Leben zu dritt. Am Frühstückstisch<br />
umarmen sie einander und sprechen<br />
händehaltend gemeinsam das Morgengebet. Für Peter ist dies<br />
der schönste Tag in seinem Leben. Er hat eine wundervolle<br />
Frau gefunden. Er hat wieder eine Familie!<br />
Be<strong>im</strong> Frühstück wird heute mehr geredet als sonst. Hin und<br />
her fliegen die Worte. Die drei sprechen über Peters bevorstehende<br />
Reise nach Amerika. Vor kurzem hatte er eine ehrenvolle<br />
Einladung erhalten. An der Universität von Kalifornien<br />
in Los Angeles wird er einen Vortrag halten und anschließend<br />
drei Wochen in einem dortigen Institut mit amerikanischen<br />
Kollegen wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente durchführen. Sobald<br />
er zurück ist, soll die Hochzeit stattfinden. Darüber machen<br />
sie jetzt voll aufgeregter Vorfreude ihre Pläne.<br />
Schließlich erheben sich die drei und sprechen das Dankgebet.<br />
Der Pastor n<strong>im</strong>mt Abschied. “Ich muß zu einer schwerkranken<br />
Frau. Sie bedarf meines Zuspruchs. Auf Wiedersehen,<br />
mein lieber Peter! Alles, alles Gute!” Er umarmt seinen<br />
Schwiegersohn mit großer Herzlichkeit. “Komm gesund zurück!<br />
Ich freue mich auf das Wiedersehen mit dir.”<br />
“Auf Wiedersehen! Drei Wochen, das ist keine lange Zeit. Sie<br />
werden wie <strong>im</strong> Flug vergehen.”<br />
Peter fährt zurück in seine Wohnung und packt die Koffer.<br />
Um 17:45 Uhr fliegt seine Maschine. Zuerst geht es nach London,<br />
dann nach Los Angeles. Inge wird ihn um 15:00 Uhr<br />
abholen.<br />
Auf der Fahrt zum Flugplatz geraten Inge und Peter in einen<br />
Stau. Langsam und mit vielen Stops schleicht die Wagenkolonne<br />
dahin.<br />
“Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!”, ruft Inge und<br />
trommelt mit ungeduldigen Fingern auf dem Lenkrad herum.
420 EINSICHTEN<br />
“Ich mache mir Sorgen!”<br />
Auch Peter wird nervös. Aber er sagt: “Überlassen wir das<br />
mal dem Schicksal. Es gibt Leute, die sind zu spät zum Flugplatz<br />
gekommen und verdanken diesem Umstand ihr Leben.”<br />
Der Stau löst sich auf. Nun geht es zügig voran.<br />
Am Flugplatz findet Inge sofort einen <strong>Park</strong>platz. “Glück<br />
muß man haben!”, strahlt sie und springt aus dem Wagen.<br />
Das Abfertigungspersonal treibt winkend zur Eile. So schnell<br />
das die Koffer zulassen, eilen sie zum Schalter.<br />
Nur wenig später stehen sie vor der Flugscheinkontrolle.<br />
Mit laut hallender Aufdringlichkeit werden die letzten Passagiere<br />
aufgefordert, sich an Bord zu begeben.<br />
Plötzlich erfaßt Inge Angst. Tränen überfluten die Augen.<br />
Ungestüm schlingt sie die Arme um Peters Hals. Mit<br />
bebender St<strong>im</strong>me flüstert sie: “Ich liebe dich von ganzem<br />
Herzen. Ich kann es gar nicht erwarten, bis du zurück bist.<br />
Bis wir Mann und Frau sind. Bis wir auf ewig vereint sind.”<br />
Große Liebe will Ewigkeit. Sie will nichts wissen von Anfang,<br />
nichts von Ende. Und doch ist ihr das Ende <strong>im</strong>mer nah.<br />
Inge und Peter umarmen einander ganz, ganz fest, so als<br />
wollten sie sich nie wieder loslassen. Sie küssen sich mit<br />
großer Inbrunst. Dann reißt Peter sich los, greift nach seiner<br />
Tasche und läuft zur Kontrolle. Rasch zeigt er Ausweis und<br />
Flugschein vor. Ein kurzes Winken. Und dann rennt er davon.<br />
Ein Abschied auf ewig.
1 BRÜDER<br />
Rollenwechsler<br />
IM HERBST<br />
“Das’n Hammer.<br />
‘N riesn Rudi!”<br />
Wenn es darum geht, die Welt um uns herum unmittelbar<br />
wahrzunehmen, dann ist das Auge das effektivste Sinnesorgan.<br />
Die s<strong>im</strong>ultane Punkt-für-Punkt-Wiedergabe dessen,<br />
was uns umgibt, das blitzschnelle Erfassen von Gestalten, D<strong>im</strong>ensionen,<br />
Farben und Perspektiven, all dies kann nur das<br />
Auge leisten. Kein Wunder also, daß das zuschauende, das<br />
beobachtende, das aufdeckende Sehen – der Voyeurismus – <strong>im</strong><br />
Leben des Malers schon <strong>im</strong>mer eine große Rolle gespielt hat.<br />
Das Auge eines Malers, zumal eines genialen, ist sein zentrales<br />
Erlebnisorgan.<br />
Aber mit dem voyeuristischen Jagen <strong>im</strong> nächtlichen <strong>Park</strong><br />
hat das leidenschaftliche Leben und Wirken des Malers eine<br />
neue, eine prickelnde D<strong>im</strong>ension hinzugewonnen. Die bis zum<br />
Bersten mit Spannung, Lust und Angst aufgeladene Atmosphäre<br />
während der Jagd auf Liebespaare ist zu einer zusätzlichen,<br />
schillernden Facette geworden in seinem an Sinnesnahrung<br />
reichen Leben. Hier kann er sich verlustieren, ohne<br />
sich zu verantworten. Hier fließt eine besondere Art von Erregung<br />
aus der gefahrvollen Überschreitung von Grenzen, aus<br />
dem Eindringen in Verbotenes. Und hier genießt er das Erlebnis,<br />
durch unerlaubte Zeugenschaft Frauen zu erniedrigen.<br />
Auf seinen <strong>im</strong>mer häufiger werdenden Jagdzügen hat sich<br />
das Verhältnis des Malers zum Festmacher und zum Schmied<br />
verändert. Aus Abscheu ist Achtung geworden. Zuerst hatte<br />
sich alles in ihm gesträubt gegen diese Barbaren. Erst als er
422 BRÜDER<br />
sie näher kennenlernen konnte, wurde ihm erkennbar, daß sie<br />
in ihrer herben Einfachheit Eigenschaften offenbaren, mit denen<br />
er sich nicht messen kann: ‘Wahrhaftig sind sie und<br />
schnörkellos, meine beiden Brüder der Nacht, derb und verwegen,<br />
aber kreuzehrlich. Auf sie ist Verlaß. Trifft das auch<br />
auf mich zu? Und auf welchen meiner Freunde? Festmacher und<br />
Schmied sind aus einem Guß, in sich ganz. In mir aber wohnt<br />
viel Halbes und viel Doppeltes. Und vieles, das miteinander<br />
nicht auskommt.’<br />
Seine beiden Jagdgefährten sind zu Stützen geworden bei<br />
seinem Streben nach mehr Wahrhaftigkeit und zu Vorbildern<br />
bei seinem Ringen um mehr Ehrlichkeit gegen sich selbst.<br />
Endlich gesteht er sich ein, daß seine Eskapaden <strong>im</strong> <strong>Park</strong> ihm<br />
nicht nur Antriebe liefern für seine Kreativität, sondern daß<br />
die Mischung aus Sex, Jagdfieber und Angst ihm auch einen<br />
großen Lustgewinn verschafft.<br />
Anders hat sich das Verhältnis des Malers zum Physiker<br />
entwickelt. Dessen Fachwissen, philosophische Einsichten und<br />
faszinierende Visionen haben ihm zwar tiefe, nie zuvor erahnte<br />
Einblicke in Naturgeschehen beschert, sein Weltverständnis<br />
in unerwartetem Ausmaß verändert und bereichert und<br />
ihn zutiefst bewegt. Aber sie haben ihm auch Hoffnung und<br />
Halt genommen. Sie haben ihm den Glauben geraubt: den<br />
Glauben an sich und seinen Gott – zwei Säulen, ohne die das<br />
gebrechliche Haus seines Wesens keinem Sturm mehr standhalten<br />
kann.<br />
Was ist am Ende herausgekommen? Letztlich doch vor allem<br />
Verzweiflung und Haß. Verzweiflung über das eigene<br />
Schicksal. Haß auf den Gott, dem sein Werk so völlig mißlang,<br />
und Haß auf den Engel, der ihn so unbarmherzig verfolgt.<br />
Der Maler sucht jetzt nicht mehr Vergebung. Er sinnt auf<br />
Rache. ‘Wer hat mich gemacht, so wie ich bin? Was ist mir ein<br />
Gott, der sich hinter seinem Werk versteckt? Was soll mir ein<br />
göttlicher Richter, der mir weder vergeben kann, noch mich<br />
strafen?’ Wem es nicht gelingt, starke Schuldgefühle zu mei-
Rollenwechsler 423<br />
stern, den können sie bis in den Irrsinn treiben. Hier triumphiert<br />
die Tragödie, die aus seinem kranken Körper kommt.<br />
Hier vollendet sich der Fluch, der auf seiner zerrissenen Seele<br />
lastet.<br />
Die Vorbereitungen zur Jagd verlaufen nach einem eingefahrenen<br />
Ritual. Bevor der Maler aus der Garage fährt, bedeckt<br />
er die Hintersitze mit einer Folie und plaziert darauf<br />
Jagdkleidung, Seil und Schiffermütze. Die groben schwarzen<br />
Schuhe schiebt er unter den Beifahrersitz. Das Fernglas, die<br />
Taschenlampe, das Taschenmesser und den Beutel mit Haarnadeln<br />
legt er ins Handschuhfach. Alles auf den Hintersitzen<br />
Liegende wird mit einer schwarzen, zum Leder des Wagens<br />
passenden Decke überzogen. Zurückgekehrt ins Haus legt er<br />
die Ringe ab. An jedem Mittwoch abend holt er den Geigenkasten<br />
aus dem großen Tresor, schiebt ihn auf die Decke <strong>im</strong><br />
Fond und befestigt ihn mit eigens dafür installierten Gurten.<br />
Nach dem Musizieren hüllt er sein kostbares Instrument in<br />
Daunendecken, die <strong>im</strong> Kofferraum bereitliegen.<br />
Den Maler betreut eine vornehme ältere Dame. Ihr obliegt<br />
auch die Aufsicht über das Hauspersonal. Natürlich weiß sie<br />
inzwischen, daß der Hausherr gern auf Jagd geht. Immer<br />
nachts. Ohne Gewehr. Keiner Fliege kann er ein Leid zufügen.<br />
Er will nur beobachten, nur mit den Augen jagen.<br />
Auch heute chauffiert der Maler seinen Wagen auf Umwegen<br />
in eine wenig benutzte Nebenstraße, die direkt am<br />
<strong>Park</strong> gelegen ist. Der dünne Zeigefinger berührt einen<br />
Knopf, und schon versiegeln elektrische Jalousien die Fenster.<br />
Abgeschirmt von der Außenwelt und innerlich bereits<br />
bebend, schlüpft der Bucklige aus der Rolle des genialen<br />
Künstlers in die Rolle des geilen Fiedlers. Etliche Stunden<br />
später kehrt der Zwerg dann in umgekehrter Reihenfolge<br />
zurück in seine Malerwelt.<br />
Der Rollenwechsel bereitet großes Vergnügen. Nach dem<br />
Umkleiden verbirgt der Maler die Tageskleidung unter der
424 BRÜDER<br />
Decke <strong>im</strong> Fond. Voller Ungeduld stülpt er die große Schiffermütze<br />
über die hochgesteckten Haare, stopft die Leine in die<br />
Jackentasche und steckt das Fernglas ein. Dann biegt er mit<br />
tastenden Fingern Jalousienlamellen nach unten. Geduckt,<br />
Wulstlippen klaffend und Brauen hochgezogen, prüft er, ob<br />
die Straße überall ganz frei ist. Ein dünner Streifen<br />
nächtlichen Straßenlichts läßt das Weiß seiner Augen<br />
aufglitzern. Eine bebende Hand öffnet die Tür.<br />
Gebückt, mit eingezogenem Kopf und lauernden Augen<br />
schlüpft der Zwerg aus seinem Wagen. Er legt die Tür ins<br />
Schloß und wartet, bis sie sich leise elektrisch zugezogen hat.<br />
Dann betätigt er die Zentralverriegelung, aktiviert damit auch<br />
die Alarmanlage und versteckt schließlich den Autoschlüssel <strong>im</strong><br />
gefütterten Brustbeutel. Einen kurzen Augenblick lang verharrt<br />
er hinter einem Baum. Sich vorsichtig vorneigend prüft<br />
er nochmals, ob die Straße ganz frei ist. Licht teilt das Holzschnittgesicht<br />
in einen weißen und einen schwarzen Teil.<br />
Dann machen federnde Füße ein paar Schritte. Ausgestreckte<br />
Arme und gespreitzte Finger biegen Zweige beiseite. Witternd<br />
und kopfwendend schlüpft eine große brünstige Ratte in eine<br />
andere Welt.<br />
Auch heute verläuft der Auftritt auf der anderen Bühne<br />
ohne Zwischenfälle. Geduckt <strong>im</strong> Gebüsch lauernd, fühlt der<br />
Bucklige, wie der Pulsschlag in die Höhe schnellt, wie der<br />
Atem schneller und tiefer wird, wie sich wieder diese merkwürdige,<br />
aufstachelnde Gefühlsqualität einstellt – diese<br />
Mischung aus einem Anflug von Schwerelosigkeit, lustvoller<br />
Erwartung und Furcht. Unaufhaltsam drängt es ihn vorwärts,<br />
durch dunkle Büsche, über Wege und Wiesen, an<br />
leeren Bänken vorbei und wieder durch dichtes Blättermeer.<br />
Mit aufgischender Gier verschlingt er die Fülle der auf ihn<br />
einstürmenden Sinneseindrücke. Wieder betören ihn die<br />
Bilder, Geräusche und Gerüche des nächtlichen <strong>Park</strong>s. Und<br />
wieder löst all das einen wilden Tanz aus in seinen Emotionen.<br />
‘Schon diese Ouvertüre’, denkt er, ‘ist ein eindringliches,
Rollenwechsler 425<br />
ein wundersames Erlebnis. Darauf möchte ich nicht mehr<br />
verzichten.’<br />
Seine Sinnlichkeit wird nicht vom Eros geadelt. Im finsteren<br />
<strong>Park</strong> entledigt sich wogende Wollust jedweder Scham. Frech<br />
fließt sie nach außen. Ungehemmt ergießt sie ihre zitternde<br />
Zähflüssigkeit über den zündelnden Zauber der nächtlichen<br />
Szene. Und dann stürzt sich der Bucklige tief hinab in die<br />
schwarzen Höhlen seines Leibes. Dort kann er alles bis zur<br />
Neige auskosten. Dort kann das wilde Tier in ihm ungezügelt<br />
herumtoben.<br />
Er genießt das mit allen Fasern seines gespaltenen<br />
Herzens. Wie manch anderer ständig von Trieben Getriebene,<br />
so hat auch er eine besondere, auf die eigenen Bedürfnisse<br />
ausgerichtete Unruhedynamik entwickelt. Die aus innersten<br />
Urtiefen fortwährend unter Erlebniszwang Gestellten mögen<br />
reich sein an Sinnesnahrung, sie sind arm an disponierbaren<br />
Freiräumen. So ein bißchen leben sie wie Ameisen, die, erbarmungslos<br />
angetrieben von unerbittlichen inneren Kräften<br />
und von außen aufheizender Sonnenenergie, <strong>im</strong>merfort rennen,<br />
schuften und schleppen, <strong>im</strong>mer weiter, bis sie tot sind.<br />
Welch wunderbares Geschenk ist es doch, das von Gott Gegebene<br />
ausschöpfen zu können, ohne dazu außergewöhnlicher<br />
Anregungen zu bedürfen, seine Gaben entfalten, sein Leben<br />
genießen zu können in reiner, natürlicher Sinnlichkeit, durch<br />
Tore gehen zu können ohne Schlüssel!<br />
Jetzt betritt der Bucklige einen Weg, an dem mehrere neue<br />
Bänke aufgestellt worden sind. Auf diesem Weg begegnet er<br />
dem Schmied.<br />
“Hanno!”<br />
“Hallo!”<br />
“Was gehabt?”<br />
“Nein. Nichts los.”<br />
Gemeinsam beginnen sie, eine Runde zu drehen. Aber so
426 BRÜDER<br />
sehr sie auch suchen, es ist kein Jagdobjekt zu sehen. So gehen<br />
sie zurück zum Hauptweg. Da drängelt sich dem Schmied<br />
eine Frage auf die geschundene Zunge. Eine Frage, die er <strong>im</strong>mer<br />
schon einmal stellen wollte: “Wo fiedenst du eigentnich?”<br />
Seit langem hat der Maler diese Frage befürchtet. Dennoch<br />
verweigern sich jetzt die Wulstlippen dem Reden. Geduckt<br />
schielt er hinüber zum Schmied. Zuckungen in der harten Gesichtslandschaft<br />
verraten Verunsicherung.<br />
“Der Festmacher sagt, du fiedenst in so’m Knub.”<br />
Zögernd nickt der Zwerg.<br />
“Was für’n Knub?”<br />
‘Verdammt noch mal! Was soll ich sagen? Wir sind jetzt gute<br />
Freunde. Aber lügen muß ich. Sonst ist der Teufel los!’ Der<br />
Maler beschließt: So wenig lügen wie möglich, so wenig sprechen<br />
wie nötig. Und keine Einzelheiten!<br />
Da stellt der Schmied auch schon die nächste Frage: “Wo ist<br />
der? Muß ich mir man ansehn.”<br />
“Oohh! … Das ist nicht so einfach … Verdammt teuer.”<br />
“Hab ich mir schon gedacht! Nur für ganz feine Pinken, wa?”<br />
“Ja.”<br />
“Fühnst du dich denn da wohn? Ich mein … du bis doch ‘n<br />
ganz armer Sack.”<br />
Wieder weiß der Maler nicht, was er sagen soll.<br />
Der Schmied mißdeutet sein Schweigen. Er bleibt stehen.<br />
“Mit armer Sack”, sagt er schließlich, “das hab ich nicht so<br />
gemeint.” Er zögert. “Ich wonnte dich nicht kränken. Ich mein<br />
nur …” Langsam fährt sein Handrücken über den breiten<br />
Mund. Dann fällt die Pranke auf die Schulter des kleinen<br />
Kumpels: “Nix für ungut, Fiedner. Du bis ‘n Guter.”<br />
Sie gehen wieder weiter. Der Schmied überlegt. Ihn beschäftigt<br />
das alles sehr. “Der Festmacher sagt, du machst da nur<br />
man Vertretung, wenn einer von der Band nich kann.”<br />
Der Maler nickt.<br />
“Ganz schön gewitzt, der Festmacher! Der weiß <strong>im</strong>mer wo’s<br />
nang geht.”
Der Schmied entscheidet sich, nach links abzubiegen. Der<br />
Weg wird schmaler, versinkt <strong>im</strong> tiefen Dunkel hoher Kiefern.<br />
Keine Menschenseele weit und breit. Sie wenden sich nach<br />
rechts. Im Halbbogen erreichen sie einen größeren Weg und<br />
inspizieren dort die Bänke. Nichts. Gar nichts. Ungeduldig<br />
flüstert der Maler: “Noch <strong>im</strong>mer nichts los.”<br />
“Nee.”<br />
“Die Leute bumsen nicht mehr wie früher.”<br />
“St<strong>im</strong>mt nicht!” Mit einem Ruck hebt der Schmied den Kopf,<br />
holt tief Luft, sieht seinen Kumpel an und zieht die Augenbrauen<br />
hoch. Er ahmt den Gesichtsausdruck nach, den der<br />
Festmacher aufzusetzen pflegt, wenn er eine seiner Verkündigungen<br />
von sich gibt: “Die fickn anne”, sagt er, “anne. Man<br />
muß bnoß Gnück habn, daß man da auch was von sieht.”<br />
Feine Dame<br />
Feine Dame 427<br />
Und dann meint der Schmied, seinem Kumpel so einiges<br />
klarmachen zu müssen. “Hunde, Vögen, Menschn – anne<br />
bumsn. Ganz reine Sache. Knar wie ‘n Gebirgsbach. Schmutzig<br />
wird das erst bei vienen ganz fein’n Neutn. Die ziehn da<br />
ein’n ab! Ich sag dir, das is’n Hammer. Die markiern ‘n Heinigen.<br />
Jedenfanns nach außn. Aber inn’n – trüb sag ich dir.<br />
Und schmutzig. Die tun so, ans wenn das was Schnechtes<br />
wär. Knaun, betrügn, bumsn, die tun so, ans wenn das annes<br />
dassenbe wär. Wenn die da so genehrt rumredn, ich sag dir,<br />
annes neere Nuft. Die tanzn da rum ums Fickn wie ums<br />
Fegefeuer. Aber die sagn nicht die Wahrheit. Die nügen, daß<br />
die Bankn biegn. Die machn vien kaputt. Auch so’ne schöne<br />
Sache wie das Bumsn. Warum? Ich sag dir warum: wein se<br />
senber kaputt sind. Viene von den ganz fein’n Neutn sind so<br />
kaputt, die kön’n nicht man mehr gradeaus red’n. Fickn,<br />
Bumsn – Gott bewahre, das ist nicht schicknich. Weißt du wie<br />
die das nenn’n? Ge-schnechts-ver-kehr! Was für’n Wort! Ver-
428 BRÜDER<br />
kehr! Fehnt nur der Führerschein und Verkehrsregenn. Niemans<br />
bei rot, wa?” Der Schmied lehnt den Kopf zurück und<br />
lacht lauthals.<br />
Der Maler grinst verschmitzt und schuckelt mit den Schultern.<br />
“Früher, da war ich bei ein’m Knempnermeister angestennt.<br />
Da war mir noch kein Kessen um die Ohr’n gefnogen.<br />
Da hatt ich noch nicht diesn bnödn Sprachfehner. Und da<br />
sah ich auch noch ganz gut aus. Da mußte ich manchman<br />
Nachtdienst machn. Einman”, grient er vergnügt, “einman<br />
mußte ich in so ‘ne große weiße Vinna. Riesn Ding. Ich kningen.<br />
Die Tür geht auf. Da steht eine ganz feine Dame. Hübsch.<br />
Jung. Rote Haare. Morgenmanten aus Seide. Ganz hohe Absätze.”<br />
Sie passieren eine Bank. Der Fiedler macht eine fragende<br />
Kopfbewegung. “Jupp”, macht der Schmied. So setzen sie sich.<br />
“Die feine Dame, die strahnt mich an. Sie sagt, nee, sie fnötet”<br />
– der Schmied spricht jetzt in ganz hohen, singenden<br />
Tönen – “ ‘Grüß Gott, Herr Knempner! Wie schön, daß Sie gekommen<br />
sind. Und noch so spät am Abend. Bitte, kommen Sie<br />
herein.’<br />
Das war wirknich eine ganz feine Dame. Die ist nich gegangn,<br />
die ist geschwebt.” Der Schmied steht auf. Ein Schwung<br />
seiner Arme hilft ihm, den schweren Körper auf die Ballen zu<br />
liften. Kokett legt er die Finger dahin, wo normalerweise eine<br />
Taille zu sein hat. Und nun tänzelt er, den ansehnlichen Hintern<br />
kräftig schwenkend, vor dem Maler auf und ab. “ ‘Bitte<br />
schön’, fährt er dabei in singenden, hohen Tönen fort, ‘hier<br />
hinein, Herr Knempner.’ ”<br />
Der Maler quietscht vor Vergnügen. Aus schräggestellten<br />
Augen schielt er hinüber zu seinem Kumpel.<br />
Der versucht, die eleganten Handbewegungen der jungen<br />
Frau nachzuahmen: “‘Ja, und jetzt bitte nach rechts, ins Bad.’”<br />
Der Schmied setzt sich wieder. “Gond, überann Gond!” Er<br />
nickt. “Wahnsinn! Ich sag dir, das war ‘n Hammer! Auf ein-
Feine Dame 429<br />
man hat die feine Dame ihr’n nacktn Arm ausgestreckt. Ganz<br />
dicht an mir vorbei hat sie auf die gondene Armatur gezeigt:<br />
‘Dort, dort neckt es. Immer man wieder. Ein bißchen nur. Aber<br />
<strong>im</strong>mer man wieder.’<br />
Der Maler lacht, stumm, mit hüpfendem Höcker. Die Erzählung<br />
des Schmieds beginnt, ihm einen Riesenspaß zu bereiten.<br />
“Ich hab mein Werkzeug ausgepackt. Die Rohrzange mit<br />
Nappen umwickent, damit ich ja kein’n Kratzer mach an der<br />
Gondarmatur. Ich wonnte die gondene Mutter nachzieh’n. Da<br />
setzt sich die Dame auf den Rand von der großn Wanne. Direkt<br />
vor mir. Und schiebt nangsam den Bademanten beiseite.<br />
Ich sag dir! Wahnsinn! Ich bin band ausgerutscht. Diese Beine!!<br />
Und denn hat se so getan, ans wenn meine Arbeit sie<br />
interessiert. Ganz nach vorn gebeugt hat se sich. Dabei is ihr<br />
Bademanten obn – wie ganz von senbst – aufgegang’n. Die<br />
hatte Tittn! Richtige Mondkucker mit großn Saugern. Da steh<br />
ich drauf! Und denn hat se gesagt: ‘Schade, daß mein Mann<br />
nicht da ist, der hätte Ihnen best<strong>im</strong>mt gerne zugesehen bei Ihrer<br />
interessanten Arbeit. Aber der ist in New York. Und der<br />
kommt erst übermorgen wieder.’<br />
Ich hab nochman annes festgezogn. Und denn hab ich gesagt:<br />
‘Gnädige Frau,’” – er dreht sich scharf zur Seite, “gnädig,<br />
wa? – ‘das sonnte jetzt in Ordnung sein.’<br />
‘Oh, vienen Dank!’ Ich wonnte gehn. Aber da hat die feine Dame<br />
mich am Arm festgehanten: ‘Da ist noch etwas.’ Und dann<br />
hat se mich ins Schnafz<strong>im</strong>mer geführt. Ich sag dir, ich sag dir!<br />
So was hast du noch nich gesehn. Honnywood! Riesn Z<strong>im</strong>mer.<br />
Mitten drin ‘n großes, rundes Bett. Und überann Spiegen. Die<br />
feine Dame hat mich angekuckt. Ganz merkwürdig hat die<br />
mich angekuckt. Und ans ich nix gesagt und nix getan hab, da<br />
hat se auf den großn Einbauschrank gezeigt mit nauter Spiegentüren.<br />
‘Die Tür da’, hat se gesagt, ‘die knemmt. Immer man<br />
wieder.’<br />
War aber nix kaputt. Ich hab die Tür ‘n paar man auf- und
430 BRÜDER<br />
zugemacht und zwei Schraubn nachgezogn. Denn hab ich gesagt:<br />
‘Sonnte die Tür man wieder Probneme machn, da rate<br />
ich Ihnen, honen Sie den Schreiner.’<br />
‘Ja’, hat sie gefnötet. ‘Vienen herznichen Dank, mein Nieber.’”<br />
Der Schmied knufft seinen Kumpel mit dem Ellenbogen<br />
in die Seite, daß der zusammenzuckt. “‘Mein Nieber’, hat die<br />
feine Dame zu mir gesagt!” Er lacht. “Und denn hat se mich<br />
wieder so komisch angekuckt.<br />
Aber ich bin raus aus dem großn weißn Haus. Draußn hab<br />
ich zu mir gesagt: Du dummer Hund, du! Die wonnte doch nur<br />
bumsn. Warum hast du’s ihr nicht gemacht? Aber denn hab ich<br />
auch zu mir gesagt: Sonn’n die fein’n Neute sich doch senber<br />
bumsn! – Und bei so’ner feinen Dame, da wär ich auch aus’m<br />
Takt gekomm’n.”<br />
Der Maler kreischt vor Vergnügen. Berstendes Lachen explodiert.<br />
Eine sonderbare Mischung aus rasendem Schluckauf<br />
und Pferdegewieher. Er preßt beide Hände vors Gesicht. Sein<br />
Oberkörper pendelt vor und zurück. Immer wieder. Und sein<br />
Buckel hüpft und hüpft und hüpft. Hört einfach nicht mehr<br />
auf zu hüpfen.<br />
Es dauert lange, bis er wieder sprechen kann. Nach Luft<br />
ringend und mit Lachtränen in Augen und Gesichtsfurchen<br />
fragt er schließlich: “Bist du da mal wieder hingegangen?”<br />
“Ja. So nach drei Wochn. Da hat mich der Hafer gestochn. Da<br />
bin ich wieder hin zu der großn weißn Vinna. Ich hab mir gesagt,<br />
vienneicht is da man was nos. Und denn war ich auch<br />
schon drin <strong>im</strong> Gart’n. Im Schnafz<strong>im</strong>mer war Nicht. Rötniches<br />
Nicht.<br />
Ich bin rauf auf’n Ast von ‘nem Baum. Von da konnte ich<br />
annes genau sehn. Die feine Dame und ein Mann. Die wänzn<br />
sich rum auf dem großn rundn Bett. Ganz nackt. Ein Knappfenster<br />
war off’n. Die Dame hat gestöhnt und geschrien. Ich<br />
sag dir, und wie die geschrien hat! Mir sind band die Ohr’n<br />
abgefann’n. Aber nicht ‘geschnechtsverkehr mich!’ hat die geschrien.<br />
Nee, ‘fick mich!’ hat die geschrien. Und denn hat se wie-
Feine Dame 431<br />
der gestöhnt. Und denn hat se wieder geschrien: ‘Du sonnst<br />
mich fickn, du Schuft!’<br />
Sachen habn die da gemacht auf dem großn Bett, das war mir<br />
richtig peinnich. Und denn hat se geschrien: ‘Du Schwein du!<br />
Du gottsverdammtes Schschweinnn!’ Und denn hat se wieder<br />
gejammert. Ganz naut. So was hab ich noch nie ernebt. Nach<br />
‘ner Weine bin ich runter vom Baum. Da hat die Dame <strong>im</strong>mer<br />
noch geschrien: ‘Du Schwweinn!’ Ich war schon ‘n Stück weg<br />
vom Schnafz<strong>im</strong>mer, da hab ich die Dame <strong>im</strong>mer noch schreien<br />
hörn. Und wie die geschrien hat! ‘Du kannst annes mit mir<br />
machen’, hat se geschrien. ‘Annes! Du Schwein du! Du<br />
gottsverdammtes Schschschwweinnn!!’”<br />
Klatschend schlägt der Maler die Hände zusammen, <strong>im</strong>mer<br />
wieder. Tief aus dem Bauch heraus explodiert wiehernd<br />
wildes Gelächter. Unglaublich laut. Tränenbäche rinnen über<br />
das Holzschnittgesicht. Und noch lange hüpft der runde Rükken.<br />
“Ich sag dir”, grient der Schmied und freut sich, daß sein<br />
Kumpel so sehr lacht, “da sind wir Stümper gegn. Ganz große<br />
Stümper! Die fein’n Neute, die ziehn da ein’n ab!”<br />
Noch <strong>im</strong>mer gluckst der Maler.<br />
Der Schmied fährt sich mit dem Handrücken über den breiten<br />
Mund. Er empfindet große Genugtuung. Seine Geschichte<br />
haut den Fiedler so richtig vom Hocker.<br />
Schließlich dreht sich der Maler steifrückig seinem Kumpel<br />
zu und sagt mit tränentropfenden Wulstlippen: “Da hast du ja<br />
wirklich tolle Dinge erlebt!” Wieder gluckst er. Wischt sich mit<br />
der Hand übers Gesicht. Schüttelt den Kopf und rückt seine<br />
Schiffermütze zurecht. Endlich beruhigt er sich, holt tief Luft<br />
und sagt ausatmend: “Ja.” Er nickt vor sich hin. “Ja, <strong>im</strong> Grunde<br />
hast du nicht unrecht.”<br />
“Was heißt <strong>im</strong> Grunde?” ruft der Schmied empört. “Red<br />
kein’n Scheiß! Und was heißt nicht unrecht? Ich hab recht. Und<br />
wie recht ich hab!”<br />
Der Maler zieht die Schultern hoch. Da hat er sich fast ver-
432 BRÜDER<br />
raten! “Ja, du hast recht.”<br />
“Knar hab ich recht!”<br />
Sie stehen auf und fahren fort, ihre Runde zu drehen. Nach<br />
ein paar Schritten sagt der Schmied: “Zuerst – ans der Festmacher<br />
da so mit dir ankam und ans wir zum erstenman<br />
zusamm’n geredet habn – da hab ich so bei mir gedacht, der<br />
neue Fiedner, der hat auch so was vom fein’n Pinken. Nur ganz<br />
wenig … aber <strong>im</strong>merhin.”<br />
Unmerklich zuckt der Maler zusammen. ‘Der Schmied’,<br />
denkt er, ‘irgendwie hatte auch ich das Gefühl, daß der mir<br />
nicht so ganz getraut hat. Der hat eine feine Antenne. Da muß<br />
ich vorsichtig sein!’<br />
Doch da boxt ihm sein Kumpel auch schon in die Rippen, so<br />
kräftig, daß er einen Hüpfer macht. “Das’n Ding, wa? Du und<br />
‘n feiner Pinken!” Der Schmied lehnt den Kopf zurück und<br />
lacht. Ein schönes, helles, befreiendes Lachen. “Nix für ungut”,<br />
sagt er. “Nix für ungut, Fiedner. Du bist ‘n Guter.”<br />
Nach einer Weile fügt der Schmied hinzu: “Ich winn die ganz<br />
fein’n Neute nicht schnecht machn. Nicht anne jedenfanns.<br />
Da gibt’s auch ‘ne Menge Gute. Was mir die Ganne übernaufn<br />
näßt, das ist dieses verdrehte, eingebindete Getue. Und diese<br />
gottsverdammte Vernogenheit!”<br />
Noch <strong>im</strong>mer ist nichts los <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />
Fernsehen<br />
Da kommt den beiden der Festmacher entgegen. “Hallo!”,<br />
ruft er schon von weitem.<br />
Als er vor dem Schmied steht, erhebt er die Rechte und begrüßt<br />
seinen Freund wie <strong>im</strong>mer. Dann wendet er sich dem<br />
Fiedler zu, und zum erstenmal erhebt er auch ihm gegenüber<br />
den rechten Arm. Für einen kurzen Augenblick ist der Maler<br />
verwirrt. Er stutzt. Aber dann gibt er sich innerlich einen<br />
Ruck, hebt ebenfalls den Arm und läßt die geöffnete grazile
Fernsehen 433<br />
Hand mit den dünnen Fingern gegen die mächtige Rechte des<br />
Festmachers klatschen. Gleichzeitig knufft er ihn mit der linken<br />
Faust in die Seite. Er macht das recht ungelenk. Aber das<br />
fällt den anderen beiden nicht weiter auf.<br />
“Schon was gehabt?”<br />
“Nee. Du?”<br />
“Kurze Nummer.”<br />
“Wo?”<br />
“Vor der Hecke.”<br />
“Gut?”<br />
“Ging so.”<br />
Sie drehen zu dritt eine Runde. Nur auf einer Wiese ist was<br />
los. Da liegt ein Paar. Aber als der Festmacher die Lage peilt,<br />
stellt er fest: “Die penn’n!”<br />
Sie gehen noch eine Weile. Dann setzen sie sich auf die Bank<br />
vor der großen Ulme.<br />
Der Schmied wendet sich dem Festmacher zu: “Ich geh man<br />
kurz, wo der Kaiser zu Fuß hingeht.”<br />
Der Festmacher nickt Erlaubnis. “Aber weit genug weg von<br />
der Bank!”, ruft er dem Freund nach. Der hebt den linken<br />
Arm und eilt davon.<br />
“Glaubst du an Engel?”, hört sich der Maler plötzlich fragen.<br />
“Mir is noch keiner begegnet … Dir?”<br />
“Ja.”<br />
“Mit Flügeln und so?”<br />
“In Menschengestalt.”<br />
“Da kenn ich nur ein’n – den Schmied. Sei froh, wenn dir so<br />
ein Guter begegnet!”<br />
“Mein Engel ist nicht nur gut, der ist auch unhe<strong>im</strong>lich.”<br />
“Wo siehst du den?”<br />
“Der ist in mir.”<br />
“In dir? Ein Engel?” Der Festmacher spuckt. Dann formt der<br />
Mund ein O. Bedächtig wischen Daumen und Zeigefinger über<br />
die Mundwinkel. Er wendet den Kopf und gibt dem Fiedler<br />
einen Blick von solch bohrender Intensität, daß der die Augen
434 BRÜDER<br />
auf den dunklen Boden richtet. “Ein Engel in dir kann nich nur<br />
gut sein.”<br />
“Der ist auch unhe<strong>im</strong>lich …”<br />
“Vielleicht, weil du auch unhe<strong>im</strong>lich bist … Vielleicht is das<br />
dein schlechtes Gewissn!”<br />
Da fährt ein Blitz durch den Maler, daß ihm der Höcker zittert.<br />
Betroffen schweigt er, löst die Arme aus der Verschränkung<br />
und läßt sie baumeln.<br />
Der Schmied kommt zurück.<br />
“Wo warst du gestern?”, fragt ihn der Festmacher.<br />
“Zu Haus. Hab ferngesehn.”<br />
“Du dickes Ei! Wie kannst du vor der Glotze hockn!? Mord<br />
und Totschlag, Diebstahl und Krieg. Ich versteh die Welt nich<br />
mehr. Gewalt und Katastrophn in den Nachrichtn. Bosheit<br />
und Verbrechn als Unterhaltung! Die sind doch krank. Die<br />
das Programm machn und die den Scheiß auch noch reinsaugn.<br />
Total bekloppt! Meine Glotze hat schon lange ihrn<br />
Geist aufgegebn. Seitdem gibt’s bei mir kein Fernsehn mehr.<br />
Und auch kein Radio. Und keine Zeitung. Seitdem geht’s mir<br />
besser. Ich sag euch, unser Fernsehn hier das is das einzig<br />
wahre. Immer spannend. Nix Böses. Reine Natur. Wir tun niemand<br />
was. Wir wolln nur’n Happn Spaß. Wie kannst du da<br />
vor der Glotze hockn?”<br />
Der Schmied druckst. “So ist das ja nun auch wieder nicht.<br />
Da gibt’s auch <strong>im</strong>mer man was Gutes. Gestern gab’s ‘n tonnen<br />
Finm über Spinnen.”<br />
“Sag ich doch”, grinst der Festmacher, “die spinnen.”<br />
“Nee, nee.” Der Schmied duckt sich und fährt mit gespreizten<br />
Fingern in der Luft herum: “Spinnen! Tiere! Was das annes<br />
für Spinnen gibt! Und was die annes könn’n. Wahnsinn!<br />
Und vorige Woche, da gab’s ‘n Bericht über Hyänen. Über ihr<br />
Faminienneben, und wie die sich Nahrung verschaffn. Das sind<br />
ganz niebe Tiere. Und sehr intennigent. Bei den’n sind die<br />
Muttis Chef.”<br />
“Auch das noch!!”, ruft der Festmacher empört. “Das hat
Fernsehen 435<br />
mir noch gefehlt! Ich kann meine Alte so schon kaum bändign.”<br />
“Bei den’n muß das so sein. Sonst kriegn die ihre Kinder<br />
nich groß.”<br />
“Ich kann Hyänen nicht leiden”, sagt der Maler plötzlich. Es<br />
ist das erste Mal, daß er eine eigene Meinung äußert <strong>im</strong> Kreise<br />
seiner nächtlichen Brüder. Er hat sich strikte Zurückhaltung<br />
auferlegt, will sich durch Äußerungen über seine Ansichten<br />
und Gefühle nicht verraten. Aber Hyänen kann er nun wirklich<br />
nicht leiden.<br />
“Warum nich?”<br />
“Wie die schon aussehen.”<br />
“Dafür könn’n die nix.”<br />
“Mich stößt dieses Aasfressen ab. Furchtbar finde ich das.”<br />
“Das is ihre Rolle in der Natur.”<br />
“Die fressn nicht nur Aas”, ruft der Schmied dazwischen.<br />
“Die jagen auch senbst. Die fressen auch ganz frisches, noch<br />
warmes Fneisch. Sehr gute Jäger sind das sogar.”<br />
“Trotzdem”, sagt der Maler, “trotzdem. Mich schaudert,<br />
wenn ich mitansehen muß, wie Hyänen sich über Leichen hermachen.”<br />
“Red kein’n Quatsch, Mann! Hast du keine Augn <strong>im</strong> Kopp??<br />
Was tun denn die Menschn? Die machn sich doch dauernd<br />
über Leichn her. Was glaubst du denn, wie lange so’n Schwein<br />
oder so’n Rind tot <strong>im</strong> Schlachthof rumhängt. Und wie lange<br />
Teile von den’n be<strong>im</strong> Schlachter rumliegn. Oder bei andern<br />
auf’n Ladentisch. Oder bei dir <strong>im</strong> Kühlschrank? Die meistn<br />
Leichn, die der Mensch ißt, sind Tage oder Wochn alt.” Der<br />
Festmacher schüttelt den Kopf. “Überleg dir, was du sagst.<br />
Ich mag das nich, wenn einer ohne zu denkn so’n Scheiß<br />
daherquatscht!”<br />
Der Maler zuckt zusammen, sagt kein Wort mehr.<br />
“Wirknich”, kommt der Schmied auf sein Anliegen zurück,<br />
“da gibt’s auch gute Sachn <strong>im</strong> Fernsehn. So was sonntn die<br />
man öfters zeign.”
436 BRÜDER<br />
“Bloß nich! Denn hockst du noch mehr vor der Glotze, und<br />
wir verliern hier ‘n großn Künstler.”<br />
“Nee, nee! Fernsehn kann gut sein. Aber mit hier kommt<br />
das nicht mit. Ich bneib euch treu.” Der Schmied grient mit<br />
breitem Mund und sieht seine beiden Freunde an, zuerst den<br />
Festmacher, dann den Fiedler. Sein Gesicht strahlt Freude<br />
aus und Dankbarkeit dafür, daß er mit solch guten Kumpels<br />
auf Jagd gehen kann.<br />
Jetzt wendet er sich dem Fiedler zu. Der tut ihm leid, weil<br />
der Festmacher ihn so zusammengestaucht hat. “Siehst du<br />
fern?”<br />
“Meistens nur Weltgeschehen.”<br />
“Kaputte Welt”, sagt der Festmacher.<br />
“Yes, sir! Zu vien Vernogenheit und zu vien Ungerechtigkeit!<br />
Zuviene faune Tricks. Und vien zu vien Getue.”<br />
“So isses. Ich mag das nich. Und auch nich diese vieln Verbrechn.”<br />
Das Wort Verbrechen weckt Erinnerungen. “Voriges Jahr, da<br />
war hier mal so’n Verbrecher. Hat Handtaschn geklaut. Kunststück,<br />
wenn die da bumsn. Aber ich will hier ‘n sauberes Revier.<br />
Keine Verbrecher! Natürlich hab ich rausgekriegt, wer<br />
das war.”<br />
“Festmacher kriegt <strong>im</strong>mer annes raus!” Der Schmied<br />
strahlt. “Festmacher sorgt für Gerechtigkeit. Festmacher<br />
entkommt kein Verbrecher. Keiner!! … Festmacher for President!”<br />
“Ich hab mir den Macker zur Brust genomm’n. Hab ihm<br />
‘ne Rede gehaltn. Ganz ruhig. Ganz höflich. Und denn hab<br />
ich ihm eins in die Kiemen geknallt. Da isser umgefalln. Als<br />
er sich wieder rappelt, da hat er gemurrt. Da hab ich ihn mit<br />
der Linken ans Hemd gefaßt und ihn ganz dicht an mich<br />
rangezogn. Ihm ganz tief in die Augen gekuckt. Da hat er<br />
gezittert wie ‘n Hase be<strong>im</strong> Bumsn. Ganz freundlich hab ich<br />
gefragt: ‘Is noch was?’ Als er nich gleich geantwortet hat, da<br />
hab ich wieder ausgeholt. Und rrummmsss!!, hab ich ihm
noch eins in die Fresse geknallt. Noch’n bißchn glatter als<br />
be<strong>im</strong> erstnmal. Da isser wieder umgefalln. Da hatt’s ‘ne Weile<br />
gedauert, bisser versucht hat, sich wieder zu rappeln. Da<br />
isser ers noch mal wieder zusamm’ngesackt. Und denn isser<br />
‘n ganzes Stück gekrochn. Wie so’n besoffener Maikäfer. Und<br />
denn isser weggehumpelt.” Er nickt. “Der is nie wieder gekomm’n.”<br />
Der Festmacher zieht die Mütze in die Stirn: “Selbstkontrolle<br />
nennt man das. Die vom Fernsehn kenn’n nur das Wort.<br />
Aber der Sinn des Wortes – der is den’n noch nich in den Sinn<br />
gekomm’n.”<br />
Hüne<br />
Hüne 437<br />
Auf dem von Laternen beleuchteten Weg kommt ein Paar<br />
heranspaziert. Langsam, einander zugewandt, schlendern die<br />
beiden auf die Bank zu, auf der Festmacher, Schmied und<br />
Fiedler sitzen. Ein Hüne von Mann, weit über zwei Meter, mit<br />
gewaltigen Schultern, und ein graziles, bildhübsches Mädchen<br />
mit langen schwarzen Haaren und dunklen, glänzenden<br />
Augen, in denen ein merkwürdig erregtes Erwartungsleuchten<br />
flammt. Die riesige Gestalt des Hünen ist ganz und gar in<br />
pechschwarzes Leder gehüllt. Mächtige, tätowierte Hände<br />
fingern und fummeln in ungezähmter Lust über den Körper<br />
des Mädchens, als wären sie gänzlich unabhängig von dem<br />
scheinbar gemächlich dahinstapfenden Koloß. Eingerahmt vom<br />
Schwarz des hochgestellten Jackenkragens, leuchtet eine weiße<br />
Visage unter kahlrasiertem Glatzkopf. Hypnotisch stechende<br />
Augen forschen <strong>im</strong> hingebungsvoll aufwärts gerichteten<br />
Gesicht des Mädchens. Klobige Hacken unter schwarzen Lederstiefeln<br />
malträtieren polternd und knirschend den Boden.<br />
Wie die Bocksfüße des Satans.<br />
Als das ungleiche Paar hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden<br />
ist, sagt der Festmacher leise: “Mit dem Macker
438 BRÜDER<br />
möcht ich mich nich anlegn!”<br />
“Right!”, flüstert der Schmied und verzieht den breiten<br />
Mund. “Das ‘n Hammer. ‘N riesn Rudi!”<br />
Der Festmacher wiegt den Kopf. “Aber seiner Puppe würd<br />
ich schon mal ‘n Gefalln tun.”<br />
Der Fiedler grinst. Dann rückt er seine Mütze zurecht.<br />
Die drei stehen auf.<br />
“Los!”, kommandiert der Festmacher leise, “Schmied, du<br />
gehst so rum. Wir geh’n da rum.” Mit kurzen Bewegungen seiner<br />
Rechten gibt er die Richtungen an.<br />
“Endnich wieder was anne Angen!”<br />
Der Hüne und das Mädchen gehen auf eine <strong>im</strong> dichten Gebüsch<br />
stehende Bank zu. Vor der Bank stehend küssen sie einander<br />
lange und leidenschaftlich. Dann setzen sie sich.<br />
‘Nich schlecht’, denkt der Festmacher. Er sieht den Fiedler<br />
an, zieht die Brauen hoch, spitzt die dünnen Lippen, nickt und<br />
kneift ein Auge zu. Der Hüne und seine Freundin sind voll miteinander<br />
beschäftigt. Festmacher und Fiedler stehen links,<br />
der Schmied rechts von der Bank <strong>im</strong> Gebüsch. Sie können einander<br />
sehen. Jetzt winkt der Schmied sogar und grient mit<br />
breitem Mund. Die beiden winken zurück.<br />
Langsam wird das <strong>im</strong>mer hitziger auf der Bank. Der Hüne<br />
zieht seiner Freundin den unteren Teil der Bluse aus dem<br />
engsitzenden Rock. Dann knöpft er die Bluse auf. Knopf für<br />
Knopf. Dabei küßt er das Mädchen schmatzend mit schlekkender<br />
Zunge. Ein Knopf verhakt sich <strong>im</strong> Stoff. Mit beiden<br />
Händen ergreift der Hühne die frei herunterhängenden<br />
unteren Blusensäume und hilft seiner Freundin dabei, sich<br />
die Bluse über den Kopf zu ziehen. Das Mädchen trägt weder<br />
Unterhemd noch BH.<br />
Der Maler schluckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er<br />
auf den mondscheinverzauberten, schlanken, schneeweißen<br />
Oberkörper, über den die langen schwarzen Haare herniederrieseln<br />
wie bei einer Märchenfee. Mit rasenden Sinnen verschlingt<br />
er die aufwärts gerichteten, kleinen festen Brüste mit
Hüne 439<br />
den vorwitzigen Nippeln, die aus großen, dunklen Warzentellern<br />
ragen. Der Bucklige erzittert. Gänsehaut kriecht über<br />
seinen Körper. Gierig greift die Hand weit nach vorn ins<br />
Gebüsch. Der Festmacher sieht, wie sich auf der entblößten<br />
weißen Haut des Zwerges raabenschwarze Haare sträuben.<br />
Der Zwerg will mehr sehen. Seine dünnen Finger umklammern<br />
einen daumendicken, morschen Ast. Er beugt sich vor.<br />
Immer weiter. Plötzlich bricht der Ast – mit lautem, berstenden<br />
Knacken!!<br />
Der Hüne springt auf. “Spanner!”, brüllt er wie ein Löwe.<br />
“Spanner!!”<br />
Der Festmacher packt den Kumpel an der Schulter. Reißt ihn<br />
nach hinten. Davonstürmend zerrt er den Maler hinter sich<br />
her. Der Zwerg stolpert. Stürzt. Doch der Festmacher reißt ihn<br />
wieder hoch.<br />
“Euch werd ich’s zeigen!”, brüllt der Hüne und stürmt krachend<br />
durch die Büsche. Zum Glück in die falsche Richtung.<br />
So gewinnen Festmacher und Fiedler etwas Zeit. Aber dann<br />
sieht der Hüne die beiden Spanner in der Ferne davonlaufen.<br />
Polternd rennt er hinterdrein. “Ich schlag euch windelweich!”,<br />
brüllt er. “Ihr Ratten. Ich schlag euch tot! Ihr Ungeziefer. Alle<br />
beide!”<br />
Und jetzt beginnt eine Hetzjagd, die der Maler nie vergessen<br />
wird. Schon bald ist er erschöpft. Will aufgeben. Aber der<br />
Festmacher läßt seinen Kumpel nicht <strong>im</strong> Stich. Mit großer<br />
Kraft zerrt er ihn durch Sträucher und Büsche. Den Fiedler<br />
an der Hand, schlägt er Haken wie ein Hase. Manchmal<br />
scheint es, als hätten sie den Hünen endlich abgeschüttelt.<br />
Aber dann ist der wieder hinter ihnen her. Nur die Geschicklichkeit<br />
und die einmalig guten Ortskenntnisse des Festmachers<br />
können den beiden jetzt noch helfen.<br />
Die feuchtgewordene Hand des Fiedlers entgleitet dem vorwärtsstürmenden<br />
Festmacher. “Bleib bei mir!”, zischt er über<br />
die Schulter dem abermals stolpernden und dann zusammensackenden<br />
Fiedler zu. “Bleib bei mir!!” Aber der Maler liegt
440 BRÜDER<br />
am Boden. Er hat aufgegeben. Da läuft der Festmacher zurück.<br />
Packt den Kumpel am Kragen und schleift ihn hinter<br />
sich her. Zum Glück überfliegt in diesem Augenblick mit Donnergetöse<br />
ein Flugzeug den <strong>Park</strong>. So kann der Hüne das Rascheln<br />
und das Keuchen nicht hören.<br />
Jetzt sind sie am Rande eines großen Gestrüpps angelangt.<br />
“Hier rein!”, zischt der Festmacher außer Atem. Wechselt<br />
den Griff. Schleift den Bewegungslosen unter Zweige. Er hat<br />
eines seiner Verstecke erreicht: ein dicht verzweigtes Dornengestrüpp.<br />
Für den Notfall hatte er hier, dicht über dem Boden,<br />
ein Einschlupfloch frei gehalten. Durch dieses Loch schleift er<br />
den Kumpel. Keuchend robbt er, sich mit dem Ellenbogen und<br />
mit beiden Knien vorwärts stemmend und den Fiedler hinter<br />
sich herzerrend, durch einen niedrigen, etwas gewundenen<br />
Tunnel <strong>im</strong> Astwerk bis in die Mitte des Gestrüpps. Dort hatte<br />
er schon vor Jahren eine Art Höhle ausgesägt. Und er hatte<br />
zum Ausruhen ein Stück Baumstamm da hineingeschafft.<br />
Darauf setzt er sich jetzt, erschöpft und nach Luft ringend.<br />
Dann wuchtet er den Kumpel neben sich. Doch der kann sich<br />
nicht mehr aufrecht halten, rutscht vom Stamm, ist einer<br />
Ohnmacht nahe.<br />
Wie einen Kranken bettet der Festmacher den Fiedler zu<br />
seinen Füßen. N<strong>im</strong>mt ihm die Mütze ab. Läßt seinen Kopf<br />
zu Boden gleiten. Öffnet Jacke und Hemd. Mit der Mütze<br />
fächelt er ihm frische Luft zu. Der Fiedler bewegt sich nicht.<br />
Da streicht ihm der Festmacher mehrmals mit der mächtigen<br />
Rechten über den mit Haarnadeln gespickten Kopf. Das beruhigt.<br />
Endlich öffnet der Fiedler die Augen. Dankbar drückt<br />
er dem Festmacher die harte Faust. Er weiß: ‘Diese Faust hat<br />
mir das Leben gerettet.’<br />
Allmählich kann der Festmacher wieder ruhiger atmen. Höchste<br />
Zeit! Das Flugzeug ist nur noch von fern zu hören. Und jetzt<br />
wird es wieder ganz still <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.<br />
Wie ein bösartiges Ungeheuer giert der Hüne auf und ab vor<br />
dem Dornengebüsch. Immer wieder versucht er, sich in das
Hüne 441<br />
dichtverzweigte Gestrüpp zu zwängen. Das aber ist unmöglich,<br />
führt nur dazu, daß die Dornen das schwarze Leder aufschlitzen.<br />
Er kocht vor Wut. Schließlich sagt er sich: In dem Gestrüpp<br />
können die nicht sein, aber die können sich auch nicht<br />
in Luft aufgelöst haben. Irgendwo hier müssen die stecken!<br />
Fieberhaft sucht er umher. Bleibt stehen. Lauscht angestrengt<br />
in die Nacht. “Ich krieg euch!!”, brüllt er. “Ihr Dreckskerle! Ihr<br />
Satanspest!!” Wild droht er mit riesigen rotknöcheligen Fäusten.<br />
“Ich bin Boxer. Ich schlag euch sämtliche Knochen kaputt<br />
in eurem verfilzten Leib. Ich krieg euch, ihr verdammten<br />
Wanzen! Wenn ich mit euch fertig bin, seid Ihr Rollstuhlfahrer!!”<br />
Der Maler zittert. Wie ein Kind in Not greift er nach der<br />
Festmacherfaust.<br />
Der Schmied hört den Hünen toben. Er überlegt, wie er helfen<br />
kann. Da kommt ihm eine Idee. Er läuft zu dem Mädchen<br />
auf der Bank, stellt sich ein paar Meter vor ihr auf. Bleibt<br />
ganz ruhig stehen. Kuckt sie ununterbrochen an. Und richtig:<br />
Nur ein paar Sekunden steht er so, da fängt die an zu schreien,<br />
als sollte sie gleich lebendig gebraten werden: “Rüdiger!”,<br />
schreit sie, “Rüdiger!! Hilf mir!!”<br />
Sofort n<strong>im</strong>mt der Schmied Reißaus. ‘Das genügt’, denkt er.<br />
Als der Hüne angestürmt kommt, ist er längst über alle Berge.<br />
Der Festmacher durchschaut das Manöver. “Gut gemacht,<br />
Schmied”, flüstert er. “Gut gemacht.” Von weitem hört er die<br />
schrille St<strong>im</strong>me des Mädchens. Der Hüne versucht, seine<br />
Freundin zu beruhigen. Die aber kreischt: “Ich will weg hier!<br />
Sofort will ich hier weg! Nie wieder geh ich mit dir in den<br />
<strong>Park</strong>! Nie wieder!!”<br />
Der Festmacher wiegt den Kopf und grinst. “Wir habn ‘n Kunden<br />
verlorn”, sagt er leise. “Aber auf so ‘n Kunden kann ich verzichtn.”<br />
Der Maler nickt und grinst zurück. Es ist wirklich erstaunlich,<br />
wie schnell der den Schock überwunden hat!<br />
Sie bleiben noch eine Weile in ihrem Versteck. “Besser is
442 BRÜDER<br />
besser”, raunt der Festmacher. Schließlich sagt er: “Mach deine<br />
Haarnadeln raus. Wir lassn unsere Mützn ersmal hier. Und<br />
wir gehn einzeln. Jeder für sich. So kann der Boxer uns nich<br />
wiedererkenn’n, wenn der hier noch rumspukn sollte. Wir<br />
treffn uns am Spielplatz. Ich geh zuerst und peil die Lage.<br />
Wenn ich in’n paar Minutn nich zurück bin, kommst du nach.”<br />
Der Maler nickt. Wieder grinst er.<br />
Als der Festmacher den Spielplatz betritt, sitzt da schon der<br />
Schmied auf einer Bank. Sofort springt der auf und läuft seinem<br />
Freund entgegen. “Das war eng, wa?”<br />
“Ja. Wie hast du die Puppe zum Schrei’n gekriegt?”<br />
“Hab mich da nur man so hingestennt. Da hat se auch schon<br />
losgeheunt. Wie ‘ne Sirene!”<br />
Beide schuckeln.<br />
“Gut gemacht!”, lacht der Festmacher und klopft dem<br />
Freund auf die Schulter. Dann wird er ernst: “Der Fiedler muß<br />
noch ‘ne Menge lern’n. Lehnt sich da aufn morschn Ast. Bis<br />
der bricht. Wenn der in Fahrt kommt, dreht der durch. Wilder<br />
Bock! Immer mit Vollgas. Schnell geil, schnell Schiß, schnell<br />
wieder alles vergessn!! Den nehm ich mir noch mal vor.” Er<br />
kratzt herum in den Schnittlauchhaaren. “Na ja. Is ja nochmal<br />
gut gegangn.”<br />
“Ja. Ihr habt noch man vien Gend gespart.”<br />
“Wieso?”<br />
“So ‘n Ronnstuhn ist nich binnig.”<br />
Sie sehen sich an, Aug in blitzendes Aug. Mit Macht klatschen<br />
ihre erhobenen Handflächen gegeneinander. Mit Wucht<br />
rammen sie sich die Linke in die Seite. Und dann platzen sie<br />
los. Wie Donner dröhnt Ihr Gebrüll durch den <strong>Park</strong>. Berstendes,<br />
befreiendes Lachen. Mit dem hopsenden Auf und Ab ihrer<br />
Schultern und dem hüpfenden Glucksen ihres Zwerchfells<br />
schütteln sie auch die Anspannung aus ihren Körpern. Und<br />
die Angst.<br />
Der Maler kommt. Er lacht und winkt mit beiden Armen.<br />
Nebeneinander, Festmacher in der Mitte, gehen die drei in
Hüne 443<br />
Richtung Hauptweg. Dabei hält der Festmacher dem Fiedler<br />
eine seiner kurzen markanten Reden. Am Schluß sagt er:<br />
“Schreib dir das hinter die Ohr’n!”<br />
“Ja”, sagt der Maler.<br />
Nach einer Pause sagt der Festmacher: “Du mußt dich mehr<br />
zusammennehm’n, Fiedler! Du brauchst jemand, der dich an<br />
die Leine n<strong>im</strong>mt! Geh nich allein. Wart auf mich!”<br />
Der Maler nickt.<br />
Jetzt sind sie an einer der drei schönen gestifteten Bänke<br />
angekommen.<br />
“Setz dich, Schmied. Und du, Fiedler, du holst ersmal<br />
unsere Mützn.”<br />
Da sitzen sie nun, die beiden Freunde, die Ellenbogen auf<br />
den Knien. Mit leeren Augen kucken sie stumm auf den dunklen<br />
Erdboden. Sie sind froh, daß auch diesmal wieder alles gut<br />
gegangen ist.<br />
“Was wär der <strong>Park</strong> ohne dich!”, quakt der Schmied. “Was<br />
wär ich ohne dich!” Er legt seinem Freund die Hand auf den<br />
Unterarm. Seine Gedanken wandern zurück zu der Erzählung<br />
des Festmachers über den Handtaschendieb. “Auch dem<br />
hast du’s gegeb’n!”<br />
“Wovon redest du?”<br />
“Von dem Verbrecher, der hier Handtaschn geknaut hat.”<br />
“Ach so.”<br />
“Gut, daß du hier für Ordnung sorgst. Dasses wenigstens<br />
hier Gerechtigkeit gibt! Hier. Im <strong>Park</strong>. Und daß wenigstens<br />
hier kein Verbrecher ungestraft bneibt!”<br />
“Ja.”<br />
Der Schmied denkt nach. Plötzlich sagt er, langsam, jedes<br />
einzelne Wort betonend: “Was machst du, wenn hier man ein<br />
Mord passiert? Hier. Im <strong>Park</strong>?”<br />
“Red kein’n Scheiß, Mann!”<br />
“Ich mein nur … ich mein nur, wenn. Und wenn die Ponizei<br />
den Mörder nicht findet. Du findest den doch best<strong>im</strong>mt.”<br />
“—.”
444 BRÜDER<br />
“Was machst du denn?”<br />
“—.”<br />
“Na? Was machst du??”<br />
Als der Festmacher noch <strong>im</strong>mer nichts sagt, läßt der Schmied<br />
seine Frage durch beharrendes Schweigen antwortfordernd<br />
<strong>im</strong> Raum hängen.<br />
Da sagt der Festmacher ruhig und best<strong>im</strong>mt: “Denn treff ich<br />
mich mit dem.”<br />
“Waas??”<br />
“—.”<br />
“Wo?”<br />
“Am altn Anleger. Am See.”<br />
“Ja und denn?”<br />
“Da fällt der denn rein.”<br />
Der Maler kommt. Schnell biegt er in den Weg. Grinsend<br />
winkt er mit den Mützen. Rasch setzt er sich zu den beiden.<br />
Am Schmied vorbeireichend übergibt er dem Festmacher dessen<br />
Mütze. Aus der Hosentasche kramt er Kamm und Haarnadeln<br />
hervor. Mit Sorgfalt kämmt er die langen, schwarzen<br />
Haare. Dann beginnt er, Haarnadeln zwischen den Wulstlippen<br />
und mit der Linken lange Strähnen in die Höhe hebend,<br />
seine Haare hochzustecken.<br />
“Wahnsinn!”, grient der Schmied. “Wie so’ne Finmdiva.” Er<br />
schuckelt mit den Schultern. “Nur nich so hübsch.”<br />
Lange sitzen die drei nebeneinander auf der Bank. Die Pause<br />
tut gut.<br />
Politiker<br />
“Wißt ihr, was Spinnen machn wenn die gebumst habn?”,<br />
fragt der Schmied und n<strong>im</strong>mt so das Gespräch von vorhin wieder<br />
auf.<br />
“Nee.”
Politiker 445<br />
“Das Weibchen frißt das Männchen auf. Jedenfanns machn<br />
das einige von den’n.”<br />
Pause.<br />
“Wenn ich meiner Alten schmeckn würde, die würde mich<br />
auch auffressn.”<br />
Pause.<br />
“Wißt ihr, daß Spinnen auch Ankohon trinkn? Jedenfanns,<br />
wenn se wenchn habn?”<br />
“Nee.”<br />
“Denn sind die richtig besoffn!” Der Schmied kratzt sich am<br />
Kopf. “Und denn spinn’n die fansch rum!”<br />
Wieder Pause.<br />
“Wie die Menschn”, sagt der Festmacher. “Nur die Menschn<br />
spinn’n oft auch falsch rum ohne Alkohol.” Er rülpst. “Seht<br />
euch die Politiker an. Was die sich zusamm’n spinn’n! Viele<br />
Politiker quatschn nur. Machn tun die nur wenig. Und Denkn<br />
tun die nur seltn – und wenn, denn meist nur an die nächste<br />
Wahl, nich an die nächste Generation.”<br />
“Yes, sir”, ruft der Schmied. “Und auch die Wahrheit sagn die<br />
nur sentn.”<br />
“Wahrheit”, sinniert der Festmacher und setzt seine Verkündermine<br />
auf, “Wahrheit, das is ‘ne Sache für sich. Ich hab<br />
das mal probiert.” Er spuckt. “Wenn ich meiner Mutter die<br />
Wahrheit gesagt hab, gab’s Prügel. Wenn ich meiner Altn die<br />
Wahrheit gesagt hab, gab’s Krach. Da hat’s bei mir geknackt.<br />
Da hab ich die Sache geändert. Da hab ich gelogn. Und da ging<br />
alles wie geschmiert. Ich sag euch, Wahrheit braucht <strong>im</strong>mer<br />
zwei: ein’n der se sagt und ein’n, der se verträgt.”<br />
Der Festmacher rückt die Mütze zurecht. Dann kommt er<br />
zurück auf sein Thema. “Viele Politiker quatschn nur. Auch<br />
von Demokratie quatschn se nur. Das is für die meist das, was<br />
se selber wolln. Was sagn die, wenn die Bürger was anderes<br />
wolln? ‘Der Bürger hat unsere Botschaft nicht verstanden.’<br />
Oder: ‘Es ist uns nicht gelungen, unsere Botschaft deutlich zu<br />
machen.’ Arschlöcher!” Er macht eine wegwerfende Handbe-
446 BRÜDER<br />
wegung. “Daß ihre Botschaft Scheiße is, auf die Idee komm’n<br />
die gar nich. Kaum einer von den Typn geht mal hin zu den<br />
Bürgern und fragt: ‘Leute, was wollt ihr? Was paßt euch nich?’<br />
Denn würdn se mal hörn, was Sache is. Daß viele von den<br />
Leutn die Schnauze voll habn. Von dem Mist, den die Politiker<br />
verzapfn. Von dem Schlamm und Dreck, mit dem se um sich<br />
schmeißn.”<br />
“Was die Leute wonn’n”, sagt der Schmied, “ist auch nicht<br />
<strong>im</strong>mer richtig.”<br />
“Okay. Aber die solln die Leute wenigstens anhörn. – Und<br />
warum sch<strong>im</strong>pfn die auf die Leithammel links außn und<br />
rechts außn? Die tun doch nix anderes als sie selbst: suchn<br />
Wähler, wolln Macht, wolln das tun, was se für richtig haltn.<br />
Wer wählt denn schon Extremisten, wenn die großn Parteien<br />
vernünftig sind, wenn der’n Politiker ihre Schularbeitn machn<br />
und nich dauernd am Fenster rumsteh’n, ihre Federn spreitzn<br />
und mit Dreck um sich schmeißn? Ehrlich, mich kotzt das an!”<br />
“Festmacher geht man wieder auf große Fahrt, wa? Anne<br />
Menschn machn Fehner. Ponitiker sind Menschn.”<br />
“Denn solln se sich auch so benehm’n! Aber die benehm’n<br />
sich wie Halbgötter. Wenn die sich besuchn, was für’n Hallas!<br />
Weiße Mäuse. Militärische Ehren – wenn ich das bloß hör!<br />
Festessen, Ausflüge. Die nehm’n sogar ihre Muttis mit. Schon<br />
mal überlegt, was das kostet? Und was da für Zeit ausfällt,<br />
in der se lieber arbeitn solltn? Da gib’s nämlich ‘ne Menge<br />
Arbeit. Aber was machn die? Die feiern sich selbst. Halt’n sich<br />
für die Größtn! Richtige, ehrliche Arbeit? Das überlassn se ander’n.<br />
Dem Volk. Mir, dir, dem Fiedler. Aber unser Geld ausgebn,<br />
das könn’n se. Das könn’n se besser als alles andre!”<br />
“Sch<strong>im</strong>pf nicht so vien. Was sonn die denn machn da obn!”<br />
“Die sind nich da obn. Die stehn aufn Teppich. Genau wie wir.<br />
Was solln die machn? Drei Sachn solln die machn: Weniger<br />
Hallas, weniger Dreck, mehr Arbeit. Und die solln ihre Arbeit<br />
so machn, daß da auch was bei rauskommt. Seht euch die Welt<br />
an. Denn wißt ihr, was Politiker machn!”
“Du zienst scharf. Warum mußt du übertreibn?”<br />
“Wer scharf zielt, sieht nur die Zwölf, nich die ganze Scheibe.<br />
Klar gibt’s auch gute Politiker, sonst wär’s ganz zappenduster.<br />
Aber ‘s gibt zu wenig gute und zuviel schlechte. Das isses!” Der<br />
Festmacher schürzt den Mund, zieht die Brauen hoch, hebt<br />
den Kopf, so als wollte er noch etwas sagen. Aber er sagt nichts.<br />
“Nix geht ebn über Spanner!”, quakt der Schmied vergnügt.<br />
“Annes reine Engen!”<br />
“Nu übertreib mal nich!”<br />
“Hast du senbst gesagt, die reinstn Engen sind wir!” Der<br />
Schmied lehnt den Kopf zurück und lacht. Ihm ist so richtig<br />
wohl <strong>im</strong> Kreise seiner Freunde. Und so fährt er sich voller<br />
Behagen durchs krause Haar. Setzt sich aufrecht. Sieht mit<br />
lustigen, blitzenden Augen in den dunklen <strong>Park</strong>. Und dann<br />
st<strong>im</strong>mt er das Spannerlied an, das der Festmacher gedichtet<br />
und das er ‘vertont’ hat. Quakend singt er nach einer schwerfällig<br />
dahinstapfenden Melodie verbogener Noten:<br />
Der Affe kreischt, es furzt die Naus,<br />
Spanner schneichn aus dem Haus.<br />
Sie suchn weder Has noch Hirsch<br />
Und trotzdem gehn sie auf die Pirsch.<br />
Keinem Wesn tun sie weh,<br />
Keiner Ente, keinem Reh.<br />
Warum sie denn zum Jagn geh’n?<br />
Sie wonn’n nur man ‘n bischn seh’n,<br />
Wie andre ihre Nummern schiebn,<br />
Sich so recht von Herzn niebn.<br />
Politiker 447<br />
Der Maler juchzt vor Vergnügen. Er wischt sich über die Augen.<br />
Dann lacht er stumm vor sich hin. Ihm macht das alles<br />
einen Riesenspaß.<br />
Da sagt der Festmacher: “Und denn stirbt das Lustgewinsel.<br />
Und denn senken sich die Pinsel.”
448 BRÜDER<br />
“Right!”, ruft der Schmied und klatscht sich übermütig auf<br />
die Schenkel.<br />
Ja, die drei sind glückliche Spanner. Meist führt ein Spannerdasein<br />
in trostlose Einsamkeit; denn die meisten Voyeure<br />
jagen einzeln. Und auch Jäger und Beute existieren getrennt<br />
voneinander. Die Verbindung läuft nur über die Süchte des<br />
Spanners. Keine Wechselseitigkeit, kein Emotionsaustausch.<br />
Nur da, wo Spanner gemeinsame Sache machen, wird der<br />
Fluch der Einsamkeit durchbrochen. Da herrscht Brüderlichkeit.<br />
Und diese Brüderlichkeit ist ein hohes Gut. Ernsthafte<br />
Konflikte werden vermieden. Was der andere sonst noch<br />
macht, außerhalb der Jagd, darum kümmert man sich nicht.<br />
Da lebt jeder vom anderen getrennt. Aber während des gemeinsamen<br />
Jagens, da gelten eherne Gesetze: gegenseitige<br />
Unterstützung und rückhaltlose Aufrichtigkeit. Weh dem, der<br />
dagegen verstößt!<br />
“Los Leute! An die Arbeit! Wir wolln noch mal was zu sehn<br />
kriegn.” Die drei stehen auf, recken und strecken sich. Dann<br />
weist der Festmacher die Richtung: Zum Hauptweg.<br />
Füße<br />
Wohl zehn Minuten mögen sie gegangen sein, da bleibt der<br />
Festmacher mit einem Ruck stehen, streckt beide Arme aus,<br />
gebietet: Halt! Stumm weist er mit dem Kopf auf zwei Füße.<br />
Kaum sichtbar liegen die da am Wegrand. Versteckt unter<br />
Sträuchern. Fußspitzen nach oben. Männerfüße. Jemand anders<br />
wären die gar nicht aufgefallen. Die drei stehen um die<br />
Füße herum. Die bewegen sich nicht.<br />
“He”, ruft der Festmacher, “was machst du da?”<br />
… Nichts rührt sich.<br />
“Hier is kein Schlafz<strong>im</strong>mer. Los Mann, steh auf!”
Füße 449<br />
Als sich noch <strong>im</strong>mer nichts rührt, tritt der Festmacher<br />
leicht gegen die rechte Fußsohle. Keinerlei Reaktion.<br />
“Da st<strong>im</strong>mt was nich. Zieht den mal raus da aus’m Busch.”<br />
Schmied und Fiedler ziehen an den Füßen. Doch <strong>im</strong>mer wieder<br />
verhaken sich die Arme des Mannes <strong>im</strong> Gestrüpp.<br />
“Deine Leine!”, herrscht der Festmacher den Maler an. Als<br />
der die Leine aus der Tasche zieht, sagt er: “Bind Äste und<br />
Zweige beiseite, daß wir den da rauskriegn … Die rechts da, du<br />
Dösel!”<br />
Wieder ziehen Schmied und Fiedler an den Füßen. Stück für<br />
Stück kommt ein sorgfältig gekleideter, älterer Mann zum<br />
Vorschein. Der war in die Sträucher gestürzt. Das bezeugen<br />
umgeknickte Zweige. Der Festmacher kniet nieder, lockert<br />
den Schlips des Mannes und knöpft den Hemdkragen auf.<br />
Rasch zieht er sich die Jacke aus, faltet sie zu einer flachen<br />
Nackenstütze und schiebt sie dem Mann unter’s Genick.<br />
Dann öffnet er dessen Jackett, beugt sich nieder, legt ein Ohr<br />
auf die linke Brustseite und lauscht. Er zieht die Mundwinkel<br />
nach unten und richtet sich wieder auf. Mit den Kuppen von<br />
Zeige- und Mittelfinger prüft er, die Augen schließend, ob<br />
noch Puls zu spüren ist in der Halsschlagader.<br />
“Tot?”, fragt der Schmied.<br />
Es dauert einige Zeit, bis der Festmacher antwortet. Schließlich<br />
schüttelt er den Kopf. “Nee. Ohnmächtig. Aber schon ganz<br />
kalt. Der hat da schon ‘ne Weile gelegn. Los, Fiedler, hol ‘ne<br />
Flasche Mineralwasser vom Waldschloß. Und bring ‘n Pappbecher<br />
mit.” Er langt in die Hosentasche. “Hier is Geld.”<br />
Der Maler zieht die Schultern hoch.<br />
“Was is?”<br />
“Ich bleib lieber hier und helf dir.”<br />
Der Festmacher ist nicht gewohnt, daß man seine Anordnungen<br />
nicht sofort befolgt. Aber er ist jetzt voll damit beschäftigt,<br />
dem Ohnmächtigen zu helfen. Da hat er keine Zeit<br />
für Zurechtweisungen. “Los, Schmied, mach du das.”<br />
“Annes knar!” Der Schmied n<strong>im</strong>mt das Geld und rennt los.
450 BRÜDER<br />
“Ohne Kohlensäure!”, ruft der Festmacher ihm nach.<br />
Ohne sich umzusehen, hebt der Schmied den linken Arm.<br />
Der Mann stöhnt leise.<br />
“Was fehlt dir?” Der Festmacher spricht langsam, laut und<br />
ruhig. “Wie könn’n wir dir helfn?” Er greift unter den Kopf des<br />
Kranken und hebt ihn etwas an. Für einen Augenblick öffnet<br />
der Mann die Lider. Starre, graue Augen fixieren den Helfer<br />
mit merkwürdig leerem Blick. Dann schließen sich die Lider<br />
wieder. Der Mann versinkt erneut in Ohnmacht.<br />
“Los, pack an! Wir tragn den zu der Bank da.” Der Festmacher<br />
n<strong>im</strong>mt seine Jacke wieder an sich, zieht sie sich über,<br />
greift dem Ohnmächtigen unter die Achseln und gibt seinem<br />
Kumpel mit einem Kopfnicken das Zeichen, ebenfalls anzupacken.<br />
Der Maler geht in Kniebeuge und ergreift mit jeder<br />
Hand eine Ferse. Als der Festmacher nochmals nickt, richten<br />
die beiden sich langsam auf und heben den Mann in die Höhe.<br />
Der Mann ist schwer. Der Maler verspürt einen starken,<br />
stechenden Schmerz in seinem Rücken. Er stöhnt laut auf.<br />
“Reiß dich zusamm’n, Mann!”<br />
Schritt für Schritt schleppen sie den Ohnmächtigen zur<br />
Bank. “Diese Fiedler!”, sch<strong>im</strong>pft der Festmacher, “könn’n grademal<br />
ihre gottsverdammte Fiedel hebn!”<br />
Erneut stöhnt der Maler. Er hat fürchterliche Schmerzen.<br />
Endlich haben sie die Bank erreicht. “Ich muß einen Augenblick<br />
pausieren. Mein Rücken macht nicht mit.”<br />
Der Festmacher verzieht den Mund und zieht die Pupillen<br />
unter die Lider. Dann streift er sich die Jacke von den Schultern<br />
und breitet sie aus auf der Bank.<br />
“Geht’s jetzt?”<br />
Als der Maler nickt, gibt der Festmacher mit einer Kopfbewegung<br />
das Kommando. Gemeinsam wuchten sie den<br />
Mann auf die Bank. Wieder stöhnt der Maler.<br />
“Sieh nach, was der in sein’n Taschn hat. Hol alles raus!”<br />
Als der Maler ihn fragend ansieht, sagt der Festmacher:<br />
“Der hat sicher Angehörige. Vielleicht müssn wir die benach-
Füße 451<br />
richtign. Vielleicht findn wir auch was, womit wir dem helfn<br />
könn’n. Los, Mann, mach schon!”<br />
Da kramt der Maler die Taschen aus. Zuerst die Jackentaschen,<br />
dann die Hosentaschen: Schlüssel, Taschentuch, Geldbörse,<br />
Kugelschreiber, Notizbuch, Brieftasche …<br />
“Notizbuch! Taschenlampe!”<br />
Der Festmacher blättert. Er findet nichts, das ihm weiterhelfen<br />
könnte.<br />
“Portjuchhe! Mehr Licht!” Einige Hundertmarkscheine, ein<br />
Fünfziger, ein paar Zehner, eine Quittung. Da, was is das? “Mehr<br />
Licht! ‘N Rezept. Mann, Mann, Mann! So’ne Sauklaue! Kann<br />
ich nich lesn. So’n Doktor, der schreibt wie einer in ‘ne Achterbahn.<br />
Kannst du das lesn?” Er reicht dem Fiedler das Rezept.<br />
“Das Rezept ist ausgestellt auf den Namen Gerhard Müller.”<br />
“St<strong>im</strong>mt.” Der Festmacher inspiziert gerade die Brieftasche.<br />
“Das is der hier. Müller steht auch in sein’m Ausweis.”<br />
“Was steht drauf auf dem Rezept? Was braucht der?”<br />
“Der braucht …” Der Maler liest. Der Festmacher versteht<br />
ihn nicht.<br />
“Deine Jacke! Los, zieh deine Jacke aus!”<br />
Widerstrebend gehorcht der Maler. Sein Rücken braucht<br />
Wärme. Als er endlich aus der Jacke schlüpft, reißt sie ihm der<br />
Festmacher aus der Hand. Mit zugleich raschen und ruhigen<br />
Griffen breitet er sie aus über dem Ohnmächtigen. Dann setzt<br />
er sich neben ihn, korrigiert dessen Haltung, legt Kopf und<br />
Arme bequemer.<br />
“Los, lauf zum Doktor! Zum <strong>Park</strong>eingang. ‘N paar hundert<br />
Meter links vom großn Denkmal. Und bring den Doktor mit.”<br />
Der Maler fürchtet sich davor, daß ihn der Arzt erkennen<br />
könnte. “Es ist fast Mitternacht. Der schläft längst.”<br />
Der Festmacher mißt ihn hart aus schräggestellten Augen.<br />
“Das is mir scheißegal. Klingel den raus! Klingel, bis der aus<br />
der Koje fällt. Oder schmeiß dem die Scheibn ein.” Los, Mann,<br />
rausch ab!”<br />
Der Maler rührt sich nicht vom Fleck. Auf keinen Fall will
452 BRÜDER<br />
er in seinen Jagdklamotten außerhalb des <strong>Park</strong>s gesehen werden,<br />
schon gar nicht von einem Arzt, den er mitten in der<br />
Nacht aus dem Bett geklingelt hat.<br />
“Worauf wartest du?”, zischt der Festmacher leise, “soll der<br />
hier erst krepiern?”<br />
“Ich kenne den Arzt”, lügt der Maler. “Der mag mich nicht –<br />
und ich den auch nicht.”<br />
“Du Arsch, du! Du gottsverdammter Arsch. Hier liegt einer<br />
und verreckt, und du willst dem nich helfn, weil du den Doktor<br />
nich magst!”<br />
Da kommt der Schmied angerannt. Er pustet und keucht. In<br />
einer Hand hält er eine Flasche Mineralwasser, in der anderen<br />
einen Pappbecher. Er ringt nach Luft.<br />
“Schenk den Becher halbvoll und gib ihn mir.” Der Festmacher<br />
hebt den Kopf des Mannes, öffnet mit Daumen und<br />
Zeigefinger dessen Mund einen Spalt breit und läßt aus dem<br />
etwas zusammengefalteten Becher Wasser über die Zunge rinnen.<br />
Der Mann schluckt. Noch etwas Wasser. Wieder schluckt<br />
der Mann. Und noch ein drittes Mal.<br />
Der Riese reißt dem Zwerg das Rezept aus der Hand. Stößt<br />
es dem Schmied vor den Bauch. “Hier! Das is ‘n Rezept. Renn<br />
zum Doktor um die Ecke. Klingel den raus. Und bring ihn mit.<br />
Sag ihm, es geht um Lebn oder Tod.”<br />
“Annes knar!”, keucht der Schmied, macht auf dem Absatz<br />
kehrt und rennt los.<br />
Dem Maler ist zumute, als habe er einen schl<strong>im</strong>men Verrat<br />
begangen. Er weiß: Das wird der Festmacher nie vergessen,<br />
das wird er mir nie verzeihen. Er ist verzweifelt. Zitternd<br />
dreht er sich zur Seite. Seine Augen suchen die des Festmachers.<br />
Der aber starrt geradeaus.<br />
“Tut mir leid”, krächzt der Zwerg mit einem Anflug ungeheurer<br />
Verlassenheit in Gebärde und St<strong>im</strong>me und mit einem<br />
Gesicht, in das jetzt die Angst kriecht. “Tut mir sehr leid …<br />
Ich hätte gleich zum Arzt laufen sollen … Ich will gerne helfen<br />
… Aber …”
Füße 453<br />
Der Festmacher sagt nichts. Mit zusammengezerrten Brauen<br />
und fest verschlossenem Mund kehrt er dem anderen hartes<br />
Schweigen zu.<br />
Plötzlich erinnert sich der Festmacher an die erste Begegnung,<br />
an das erste Mal, das er dem neuen Fiedler auf dem erleuchteten<br />
Kiesweg ins Gesicht gesehen hatte. Ganz deutlich<br />
sieht er nun das Gesicht vor seinem inneren Auge, in allen<br />
Einzelheiten. Und dann erinnert er sich an das große Bild, das<br />
er heute auf dem Weg zum <strong>Park</strong> in einem hell erleuchteten<br />
Schaufenster gesehen hat – an den elegant gekleideten Herrn<br />
mit den langen, gepflegten schwarzen Haaren. Unter dem Bild<br />
stand in großen Buchstaben: ‘Ein weltberühmter Bürger unserer<br />
Stadt.’ Der Festmacher kneift den Mund zum Strich.<br />
‘Weh ihm! Weh ihm wenn er lügt!!’<br />
Nochmals flößt der Festmacher dem Mann etwas Wasser<br />
ein. Als der wiederum schluckt, versucht er das abermals.<br />
Doch nun schluckt der Mann nicht. Da hört er auf damit und<br />
läßt dessen Kopf langsam auf die Bank sinken. Er beugt sich<br />
hinunter. Den Mund nah am Ohr des Ohnmächtigen, sagt er<br />
langsam, laut und best<strong>im</strong>mt: “Wir helfen dir.” So als wäre es<br />
ein alter Freund, fügt er hinzu: “Hab keine Angst. Der Doktor<br />
kommt gleich. Es wird alles wieder gut.” Er legt einen Arm<br />
um die Schulter des Ohnmächtigen und ordnet mit der freien<br />
Hand die Jacken so, daß sie die kühle Nachtluft abhalten.<br />
“Wir machn das schon.”<br />
Plötzlich öffnet der Mann die Augen, sieht den Festmacher<br />
an. Ein schwerer, müder Blick. Voller Dankbarkeit.<br />
“Du bist herzkrank?”<br />
Der Mann nickt, ganz schwach.<br />
“Das Rezept in deinem Portjuchhe, is das richtig?”<br />
Wieder nickt der Mann.<br />
“Wir holn den Doktor. Der kommt gleich. Solange mußt du<br />
noch durchhaltn.” Ruhig und best<strong>im</strong>mt sagt er wieder: “Wir
454 BRÜDER<br />
machen das schon.”<br />
Der Kopf des Mannes sinkt zur Seite.<br />
“Renn, Schmied! Renn!!”, murmelt der Festmacher. Dann<br />
holt er tief Luft. Schließlich flüstert er, so als wäre der Schmied<br />
noch <strong>im</strong>mer da: “Und bring den Doktor mit.”<br />
Die dumpfe Stille der Nacht wirkt auf einmal sehr bedrükkend.<br />
Kein Lüftchen regt sich. Kein Laut ist zu hören. Der<br />
ganze <strong>Park</strong> scheint ohnmächtig zu sein.<br />
Warten! Warten auf den Schmied. Die Zeit verrinnt. So langsam.<br />
Wieder fächelt der Festmacher dem Mann frische Luft zu.<br />
‘Hoffentlich is der Doktor zu Haus’, denkt er. ‘Hoffentlich is<br />
das ein Mensch! Ein Mensch, der hilfsbereit is. Der mitkommt.<br />
Dem sein Schlaf nich wichtiger is, als ein’m andern Menschn<br />
das Lebn zu rettn!’<br />
Minuten werden zu Stunden. Der Festmacher richtet sich<br />
auf, hebt den Kopf, dreht und wendet sich, reckt den Hals,<br />
späht angestrengt in die Nacht. ‘Schmied, wo bleibst du?’<br />
Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … aufdringlich laut<br />
dröhnt die Kirchturmglocke durch den stummen <strong>Park</strong>. Durch<br />
einen <strong>Park</strong>, der den Atem anhält. Zwölfmal. Mitternacht. Wie<br />
von einer Totenglocke kommt das Dröhnen dem Festmacher<br />
aufeinmal vor. ‘Schmied, Schmied, wo bleibst du??’<br />
Wieder versucht der Festmacher, dem Mann etwas Wasser<br />
einzuflößen. Aber es gelingt ihm nicht. Das Gesicht des Ohnmächtigen<br />
wird aschfahl. Der Kopf rollt zur Seite. Es sieht so<br />
aus, als ob der Tod nach ihm greift.<br />
‘Schmied … Schmied!!’<br />
Eine Ewigkeit …<br />
Da!! Ein Licht, zwei Lichter! Da kommt ein Auto! Auf dem<br />
Hauptweg kurvt es lang, sehr schnell. Biegt schleudernd um<br />
die letzte Kurve. Schießt auf die Bank zu. Kommt auf dem<br />
Kies rutschend und knirschend zum Stehen. Heraus stürzen<br />
Schmied und Arzt. Als der an der Bank angelangt ist, ruft er:<br />
“Mein Gott, das ist ja der Gerhard!”
Füße 455<br />
“Sie kenn’n den?”<br />
Während der Arzt mit hastenden Händen eine Spritze aufzieht,<br />
sagt er: “Ja. – Vorhin, auf dem Rezept, da hab ich nur<br />
was von Müller gelesen. Davon gibt’s ‘ne Menge. Aber der hier,<br />
das ist ein alter Freund von mir.” Fliegende Finger reinigen<br />
Haut. Umklammernde Fäuste stauen Blut. Rasch holt der<br />
Festmacher die Taschenlampe hervor und leuchtet dem Arzt.<br />
Der führt die Nadel ein, drückt lebensrettende Flüssigkeit in<br />
die schlaffe Vene.<br />
Alle vier starren auf den Ohnmächtigen. Der rührt sich nicht.<br />
Minutenlang nicht. Dann stöhnt er leise und bewegt den Arm.<br />
Die Spritze beginnt zu wirken.<br />
“Sie haben dem Herrn Müller das Leben gerettet”, sagt der<br />
Arzt aufatmend. “Wo haben Sie ihn gefunden?”<br />
“Der lag da <strong>im</strong> Busch. Wir hab’n ihn da rausgezogn und hierher<br />
gebracht.”<br />
Mehrmals mühsam Luft holend, erwacht der Mann. Aus<br />
dunkler Geisterwelt zurückgekehrt, öffnet er die Lider. Er<br />
sieht den Arzt. Lächelt. “Vielen Dank”, flüstert er kaum hörbar,<br />
“vielen herzlichen Dank!”<br />
“Denen da mußt du danken. Diesen drei Herren da. Die<br />
haben dir das Leben gerettet.”<br />
“Vielen Dank, meine Herren … vielen, vielen Dank … Ich<br />
weiß gar nicht … was ich sagen soll, … wie ich Ihnen danken<br />
soll. Ich …”<br />
“Sei still”, sagt der Festmacher. “Ersmal wieder auf die Beine<br />
komm’n! Wir hab’n nix Besonderes gemacht.”<br />
Da erinnert sich der Mann an diese feste, ruhige St<strong>im</strong>me. Sie<br />
hatte ihm Mut gemacht, als er sich bereits anschickte, diese<br />
Welt für <strong>im</strong>mer zu verlassen. Wie durch eine dichte, schwere<br />
Nebelwand hatte ihn die St<strong>im</strong>me während seiner Bewußtlosigkeit<br />
erreicht und in den kurzen Halbwachperioden dazwischen.<br />
Auch jetzt beruhigt sie ihn. Er gehorcht ihr sofort.<br />
“Ich würde gerne Ihre Namen und Anschriften haben”, sagt<br />
der Arzt. “Ich bin sicher, Herr Müller wird sich bei Ihnen noch
456 BRÜDER<br />
besonders bedanken wollen. Zwei Jahrzehnte war er Chef in<br />
unserem Polizeirevier. Er hat vielen Menschen geholfen, und<br />
er weiß Hilfe zu würdigen wie kaum ein anderer. Jetzt ist er<br />
pensioniert. Sein Hobby ist der <strong>Park</strong>. Hier verbringt er viele<br />
Stunden. Aber er sollte nicht allein in den <strong>Park</strong> gehen. Das<br />
hab ich ihm schon oft gesagt.”<br />
Der Kranke lächelt schwach und flüstert: “Bitte um Nachsicht.<br />
Meine Frau ist verreist. Aber ich wollte so gern in den<br />
<strong>Park</strong>. Ich…”<br />
“Nu machn Se mal!”, ruft der Festmacher. “Nu sehn Se mal<br />
zu, daß Sie mit dem ins Warme komm’n. Der is völlig ausgekühlt.<br />
Los, los, fahrn Sie den Mann sofort nach Hause. Ich<br />
komm mal vorbei in Ihre Praxis und geb Ihnen mal unsere<br />
Nam’n.”<br />
Erstaunt hebt der Arzt den Kopf und wendet ihn dem<br />
großen Mann mit der schwarzen Schiffermütze zu. Sekundenlang<br />
blickt er in die klaren harten Augen. Fast körperlich<br />
fühlt er die starke Ausstrahlung des anderen. Widerspruchslos<br />
beugt er sich einer starken Persönlichkeit, blickt zu Boden<br />
und wendet sich ab. Auch der Kranke nickt ergeben Zust<strong>im</strong>mung.<br />
In dieser nächtlichen Stunde zählen nur die Weisheit und<br />
die Kraft, die aus dem Herzen kommen.<br />
Der Arzt greift seinem Freund stützend unter den Arm. Der<br />
Festmacher springt hinzu und hilft, den Kranken zum Auto<br />
zu bugsieren. Der Schmied läuft voraus, öffnet die Beifahrertür<br />
und schiebt den Sitz so weit wie möglich nach hinten.<br />
Dann helfen die drei dem Kranken in den Wagen.<br />
Bevor der Arzt einsteigt, sagt er: “Haben Sie sehr, sehr herzlichen<br />
Dank! Ich wünschte mir, es gäbe mehr solche Männer!”<br />
Er n<strong>im</strong>mt Platz, schließt die Tür, startet und wendet den<br />
Wagen. Dann steigt er nochmals aus und ruft: “Ihr seid großartige<br />
Menschen, ihr drei! Wirklich ganz großartig!!” Zum<br />
Riesen gewandt fügt er hinzu: “Bitte vergessen Sie nicht, bei<br />
mir vorbeizukommen!”
Füße 457<br />
Der Festmacher tickt mit dem Zeigefinger an den Mützenschirm.<br />
Da fährt der Arzt davon.<br />
Die drei Spanner sehen dem sich rasch entfernenden Auto<br />
nach. “Noch mal Glück gehabt!”, sagt der Festmacher. “Bin<br />
froh, daß alles geklappt hat.” Er wendet sich nach links: “Gut<br />
gemacht, Schmied!” Seine Mütze zurechtrückend, sieht er aus<br />
den Augenwinkeln nach rechts, hinüber zum Fiedler. Aber er<br />
sagt nichts.<br />
Zerknirscht starrt der Maler auf seine schwarzen Schuhe.<br />
Mit einem Ausdruck jammervoller Zerbrochenheit.<br />
“Du warst doch der große Meister!”, ruft der Schmied, “Festmacher<br />
weiß <strong>im</strong>mer, wo’s nang geht! Dir hat der sein Neben<br />
zu verdankn.” Er fährt sich mit dem Handrücken über den<br />
Mund. “Kein Mensch hätte den überhaupt gefundn, da unter’m<br />
Busch. Und denn die Idee mit Rezept und Doktor!” Der<br />
Schmied sieht hinauf zu seinem großen, dicht neben ihm stehenden<br />
Freund. Dann macht er “Jupp!” und quakt: “You are<br />
the greatest! Du kriegst jedes Ding in’n Kasten. Wahnsinn!”<br />
Er verbeugt sich: “Festmacher for President!”<br />
Den Festmacher rührt das nicht: “Ich geh mal pinkeln.”<br />
Der Maler ist verzweifelt. Leise stöhnt er auf. Mit einem tiefen<br />
Atemzug zieht er die Schirmmütze in die Stirn. Dann wendet<br />
er sich dem Schmied zu. Eigentlich mehr, um überhaupt<br />
etwas zu sagen, fragt er: “Wieso sprichst du Englisch?”<br />
“War man mit ‘ner Amerikanerin vernobt.”<br />
“In die Brüche gegangen?”<br />
“Nee … Gestorbn … Tödnich verungnückt.” Der Schmied ist<br />
plötzlich wie angefaßt. Er dreht sich ab, so, daß der andere<br />
sein Gesicht nicht sehen kann. Hilflos zuckt er mit den Schultern,<br />
läßt in tiefer Traurigkeit den Kopf sinken.<br />
“Tut mir sehr leid!”<br />
Der Schmied nickt. Er ist dankbar für die Anteilnahme. Niemals<br />
wird er dieses Mädchen vergessen. Nie! Stockend sagt er,<br />
ganz leise, unterbrochen von ruckartigem Einatmen, das wie
458 BRÜDER<br />
Schluchzen klingt: “Manche Männer … geh’n von einer Frau<br />
zur andern … <strong>im</strong>mer weiter … bis sie bei einer bneibn, die sie<br />
begräbt … Ich hatte eine Frau gefundn, bei der wär ich gebniebn<br />
… Ewig.” Er schüttelt den Kopf … “Aber ans sie tot<br />
war, durfte ich sie nicht man begrabn … Ihr gehört mein Herz<br />
… Immer weiter … Bis ich tot bin … Und andere mich<br />
begrabn.”<br />
Der Zwerg ist tief bewegt. Er stellt sich auf die Zehenspitzen<br />
und legt dem Schmied den Arm um die Schulter, zieht ihn zu<br />
sich heran. Nie zuvor hatte ihn ein solches Mitgefühl erfaßt.<br />
In seinem ganzen Leben hatte er niemals wirkliche Liebe<br />
erfahren – und er hatte niemals wirkliche Liebe geben können.<br />
Der Schmied hat Saiten in ihm zum Klingen gebracht,<br />
von denen er nicht einmal ahnte, daß sie existieren. Ein<br />
warmer Strom der Zuneigung erfüllt ihn. Für ihn steht der<br />
Schmied an einem anderen Ufer – an einem Ufer, nach dem er<br />
sich zeitlebens gesehnt hatte. Plötzlich empfindet er dem<br />
Schmied gegenüber so etwas wie innige Zuneigung, ja, wie<br />
brüderliche Liebe. “Wohnst du allein?”<br />
Der Schmied nickt.<br />
“Ist das nicht sehr einsam? Ich meine, so ganz allein in der<br />
Wohnung. Immer so ganz allein zu leben?”<br />
Dem breiten Mund entringt sich Seufzen, diese besondere<br />
Form des Atmens. Tränen füllen die sonst so lustigen Augen.<br />
Der Schmied zieht die Mundwinkel nach unten und zuckt hilflos<br />
mit den Schultern … “Was heißt annein? … Viene Neute<br />
neben zu zweit und sind annein … Ich bin nicht einsam … ich<br />
hab gute Freunde … Den Festmacher … Und … dich.”<br />
‘Ja’, denkt der Maler, ‘der Schmied! So viel Gutes trägt sich<br />
selbst.’ Dieser einfache Mann ist für ihn zu einer Art Idol geworden.<br />
Ein in sich selbst Ruhender, Unverfälschter, ja, ein<br />
Unverfälschbarer. Sich selber aber sieht er als etwas Unreines,<br />
als einen mißratenen Zwitter, als eine Mißgeburt voller<br />
Gegensätzlichem, voller Zerrissenheit und voller äußerer und<br />
innerer Häßlichkeit.
Das aber st<strong>im</strong>mt so nicht ganz. Auch <strong>im</strong> Maler wirkt Gutes.<br />
Als Gegenpol zum häßlichen Gesicht und zum verunstalteten<br />
Körper, bei dem die Natur kaum mit Abstoßendem gespart<br />
hat, schenkte sie ihm eine viele Menschen beglückende kreative<br />
Ausstrahlung allerhöchsten Ranges. Das ging bei ihm<br />
wohl nur, indem Gutes, Böses und Triebhaftes hart miteinander<br />
gemischt wurden, und indem Reines, Unreines und Abscheuliches<br />
ständig umeinander kreisen müssen.<br />
“An die Arbeit!”, ruft der zurückkehrende Festmacher.<br />
“Höchste Zeit, daß wir mal wieder was zu sehn kriegn. Wir<br />
gehn getrennt. Ich und der Schmied, wir gehn links rum. Du<br />
gehst rechts rum. Wir treffn uns”, der Festmacher sieht auf<br />
seine Armbanduhr, “gegen halb zwei bei der großn Rotbuche.”<br />
Ganz Tier<br />
Ganz Tier 459<br />
Der Mond entschwindet hinter dunklen Wolken. Wie nahendes<br />
Unheil schweben sie über dem <strong>Park</strong>. Geduckt, mit<br />
hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf schleicht<br />
und schlängelt der Maler durch die Büsche.<br />
Er ist erleichtert, weil jetzt aufflammendes Jagdfieber einen<br />
radikalen St<strong>im</strong>mungswechsel herbeischleudert. Nach einigen<br />
Minuten verläßt er, <strong>im</strong>mer unruhiger, <strong>im</strong>mer erregter, wie<br />
eine vom Hunger gequälte, aufgeregt umherschnüffelnde Ratte,<br />
das Gebüsch und huscht hinaus auf einen schmalen Pfad.<br />
Den kennt er von vielen Pirschtouren mit dem Festmacher.<br />
Nur wenig vor ihm verliert sich der Pfad in stockdunklem<br />
Nichts. Einen Steinwurf weit schleicht er den Pfad entlang.<br />
Dann biegt er ab nach rechts, verschwindet wieder <strong>im</strong> Gestrüpp.<br />
Alle Zerknirschtheit, alle Anteilnahme, all seine anderen<br />
Ichs – wo sind sie? Sie sind weg, einfach weg!! Den Maler<br />
steuern seine Säfte. Er ist ganz Tier.<br />
Unwiderstehbar treibt den Buckligen eine dunkle Macht.<br />
Immer weiter. Vorwärts! Geilheit brodelt empor wie eine auf-
460 BRÜDER<br />
gischende Welle am Fels. Vorwärts!!<br />
Da! Was ist das? Hat da nicht ein Mädchen gestöhnt? Oder<br />
waren das schon wieder seine flatternden, sich verselbständigenden<br />
Sinne?<br />
Nein! Da ist es wieder, das Stöhnen. Lauter jetzt und von<br />
keuchendem Atmen begleitet.<br />
‘Vielleicht ist das der Engel? Dieser verfluchte, dieser gottsverdammte<br />
Engel!! Ich muß ihn loswerden. Ich muß ihn aus<br />
dem Weg schaffen!’ Das hat er nun schon oft gedacht. Er zuckt<br />
zusammen. ‘Wenn ich leben will, muß der Engel sterben! Ich<br />
muß ihn töten!!’ Dieser Entschluß ist das Kind seines Leibes<br />
und seines Kopfes. Er ist der irre Versuch eines Verzweifelnden,<br />
seine Welt wieder in Ordnung zu bringen.<br />
Langsam schiebt er sich vorwärts. Mit enormer Kraftanstrengung<br />
bremst er, wie eine jagende Raubkatze innerlich<br />
zitternd, überschüssiges Temperament. Auf keinen Fall will<br />
er wieder Fehler machen. Er konzentriert sich auf jede seiner<br />
Bewegungen. Immer weiter dringt er vor, mit den Füßen vorsichtig<br />
die Bodenoberfläche prüfend und mit den Händen behutsam<br />
Zweige beiseite schiebend. Ganz langsam. Immer weiter.<br />
Schritt für Schritt. Immer weiter in die Richtung, aus der<br />
das Stöhnen kommt.<br />
Jetzt sch<strong>im</strong>mert Licht durch kahler werdende Büsche. Es<br />
kommt von einer Laterne am Weg. Das Herz macht einen<br />
Sprung. Ein Liebespaar! Und nun hämmert das Herz, als wollte<br />
es die Rippen zerbrechen. In den Eingeweiden flattert es und<br />
kreischt wie tausend aufgescheuchte Fledermäuse. Halbnackt<br />
liegen die beiden da.<br />
Dichter ran!<br />
Der Rock der Frau ist hochgerutscht. Ihre nackten weißen<br />
Schenkel sind weit geöffnet. Ihre weißen Arme umschlingen<br />
den noch bekleideten Oberkörper des auf ihr liegenden Mannes.<br />
Dessen nackter heller Hintern ist in unablässiger Bewegung.<br />
Gespenstisch leuchtet alles Nackte <strong>im</strong> fahlen Licht der<br />
Laterne. Ein unwirkliches Bild. Noch lauter stöhnt das Mäd-
Ganz Tier 461<br />
chen. Ganz merkwürdig kontrastiert das Weiß der Körper gegen<br />
das Schwarz der Decke, die die beiden als Unterlage auf<br />
dem Waldboden ausgebreitet haben.<br />
Vorwärts!!<br />
Im Buckligen tanzen, wogen und wirbeln archaische Akteure.<br />
Sie zwingen ihn näher, <strong>im</strong>mer näher an das aufpeitschende<br />
Bild. Nur noch wenige Meter ist er von dem Paar entfernt.<br />
Die Verzweigung der Büsche wird spärlicher. Er ist<br />
nicht mehr vor den Blicken der beiden geschützt, sollten sie<br />
sich einmal umschauen. Da erinnert er sich an etwas, das der<br />
Festmacher ihn gelehrt hat: er legt sich flach auf den Boden,<br />
schiebt mit beiden Händen feuchte Walderde zusammen und<br />
bestreicht damit sein Gesicht.<br />
Nun fühlt er sich sicher.<br />
Er robbt näher heran an das sich liebende Paar. Noch näher.<br />
Jetzt könnte er die weißen Schenkel des Mädchens fast berühren.<br />
Das Kinn auf übereinander getürmte Fäuste gestützt,<br />
saugt er mit glitzernden, weitaufgerissenen Augen das Erjagte<br />
in sich hinein. Eine schneeweiße Haut hat das Mädchen.<br />
Und kurze schwarze Haare. Von hämmerndem Herzen gepeitscht,<br />
rauscht Blut durch den Körper des Buckligen wie<br />
Wildwasser nach gnadenlosem Unwetter. Es gurgelt durch die<br />
Adern, dröhnt in den Ohren, rebelliert in den Schläfen, steift<br />
den Muskel und das Fleisch. Plötzlich dreht er sich auf die<br />
Seite. Sein Keuchen mit dem Stöhnen des Mädchens vermischend,<br />
beginnt er, steif wie ein Dolch, zu onanieren. Völlig<br />
von Sinnen starrt er dabei unentwegt auf das Schauspiel dicht<br />
vor sich. Bis er zitternd und zuckend den Höhepunkt erreicht.<br />
Einen Augenblick lang bleibt der vom Trieb Erlöste erschöpft<br />
liegen. Dann schiebt er sich, Stück für Stück, rückwärts.<br />
Schließlich richtet er sich gebückt auf. Blickt noch einmal<br />
zurück. Dann schleicht er sich davon.<br />
Als er schon eine ganze Strecke von dem Paar entfernt ist,<br />
flüstert er: “Das war was!” Und er denkt: ‘Da lohnt es sich, die<br />
Dinge in Kauf zu nehmen, die ich nicht so mag.’ Jetzt hat er
462 BRÜDER<br />
eine kleine Quelle erreicht. Er kniet nieder und beugt sich<br />
über das klare, kühle, glucksend davonfließende Wasser. Mit<br />
beiden Händen wäscht er Erde vom Gesicht. Dann trocknet er<br />
sich ab mit seinem Taschentuch. ‘Das mach ich mal wieder’,<br />
n<strong>im</strong>mt er sich ganz fest vor. ‘Warum müssen die anderen <strong>im</strong>mer<br />
dabei sein? Nächstes Mal geh ich allein.’<br />
Das ist gefährlich! Denn wenn seine Emotionen explodieren,<br />
verkleistern Angst und Geilheit die Vernunft. Dann tanzt der<br />
Teufel zu Tisch. Wer aber mit dem Satan soupiert, der braucht<br />
inneren Abstand. Wer den nicht hat, dem wird’s schnell zu<br />
heiß. Dem sieden die Sinne, dem schmilzt das Gewissen. Dem<br />
kocht der Kopf, dem brodeln die Hoden. Der steigt über Zäune.<br />
Der wird blind und taub gegen Gefahr und Gesetz.<br />
Im Buckligen ist es wundersam ruhig geworden. Wohltuende<br />
Wärme breitet sich aus, erfaßt Körper und Seele. Wie eine<br />
Schneeflocke, so sinkt der Rest der Erregung taumelnd<br />
und schaukelnd zu Boden, landet, sich auflösend, in den<br />
Gefilden eines anderen Ichs. <strong>Suchen</strong>d ersehnen Sinne<br />
Sanftheit und Stille.<br />
Mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten<br />
Armen schreitet der Maler der riesigen Rotbuche entgegen. Er<br />
ist glücklich. Und er ist zufrieden. Endlich war alles perfekt.<br />
Endlich hat er alles ganz allein geschafft. ‘So ein bißchen’,<br />
denkt er, ‘ist das wie bei der Vollendung eines Kunstwerks,<br />
wenn am Ende alles st<strong>im</strong>mt, wenn Erschöpfung, Erfüllung<br />
und Dankbarkeit gegen Gott die zufriedene Seele wiegen.’<br />
Als er bei der Rotbuche eintrifft, ist vom Festmacher und<br />
vom Schmied noch nichts zu sehen. So setzt er sich auf eine<br />
Bank.<br />
Seine Augen starren geradeaus. Wie die Augen eines hölzernen<br />
Heiligen in einer Prozession. Wie die toten Augen, die<br />
über die Köpfe der tragenden und verehrenden Gläubigen<br />
hinweg mit rundem Schwarz und ovalem Weiß unentwegt und<br />
unbewegt ins Leere starren. Es wäre absurd, <strong>im</strong> Maler einen
Ganz Tier 463<br />
Heiligen sehen zu wollen. Aber wohnt nicht letztlich in allem,<br />
was die Schöpfung hervorgebracht hat, irgendwo auch etwas,<br />
das wir als heilig bezeichnen könnten? Und wenn dem denn so<br />
wäre, müßte dann nicht auch <strong>im</strong> Maler irgendwo Heiliges zu<br />
finden sein?<br />
Da ist etwas in ihm, das sehnt sich nach reiner Vollendung<br />
als Mensch und als Künstler. Und da ist etwas, das sehnt sich<br />
nach Vergebung, nach Buße, nach Gott. Aber auch der Teufel<br />
ist in ihm zuhaus. Der drängelt ihn an Abgründe. Der schreit,<br />
hüpft und tanzt. Der läßt die Triebe triumphieren. Und der<br />
haßt den Engel: ‘Wenn du dein Leben genießen willst’, flüstert<br />
der Teufel, ‘wenn du deine Kreativität zu voller Blüte bringen<br />
willst, dann muß der Engel sterben! Er hat dich um deine<br />
Schaffenskraft gebracht. Er hat dich in den Abgrund gestürzt.<br />
Vergiß das nie!’<br />
Der Maler schüttelt sich. Er will den Teufel nicht. Langsam<br />
neigt er sich vornüber, stützt die Ellenbogen auf die Knie und<br />
n<strong>im</strong>mt den wirren Kopf in beide Hände. Ein dunkles Tor in<br />
seiner Seele öffnet sich. Scheu tritt er ein. Schemenhaft zuerst,<br />
dann deutlicher und kräftiger werdend, schweben Darsteller<br />
auf die innere Bühne. Noch <strong>im</strong> Nebel seiner Dumpfheit<br />
beginnen sie unmerklich ihre Tänze. Sie wehen, wogen und<br />
winken. Allmählich ziehen sie seine Aufmerksamkeit auf sich,<br />
und schließlich dominieren sie seinen Geist.<br />
Der Maler blickt in sein Innerstes. Dort sieht er die Gestalt<br />
des Physikers, noch schemenhaft, in geisterhaften, dünnen<br />
Gedankennebeln, dann auch die des Schmieds. Er hört sie flüstern.<br />
Hört ihr Fordern nach mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.<br />
‘Freilich’, beginnen seine eigenen Gedanken sich<br />
zu formen, ‘wir leben in einer verlogenen und verbogenen Vorstellungswelt.<br />
Unser tägliches Leben ist voller eingeübter und<br />
ausgehöhlter Verhaltensweisen. Wir ertrinken in einer Flut<br />
sinnentleerter Rituale, Worthülsen und Sprachfloskeln. Das<br />
Denken und Empfinden vieler Menschen wird best<strong>im</strong>mt von<br />
ungeprüften Vorurteilen. Der Schmied, dieser gute Kerl, hat
464 BRÜDER<br />
recht: zu viel Verlogenheit, zuviel Getue.’<br />
‘Was ist das für eine Gesellschaft! Auf der einen Seite befiehlt<br />
sie jungen Männern, das Handwerk des Tötens zu erlernen,<br />
lehrt sie, wie man mit möglichst geringem Aufwand möglichst<br />
viele Menschen verletzt, verkrüppelt, umbringt, wie man<br />
horrende Massenvernichtungswaffen mit max<strong>im</strong>alem Nutzeffekt<br />
einsetzt. Auf der anderen Seite fühlt sich die gleiche<br />
Gesellschaft verpflichtet, eben diese jungen Männer zu<br />
schützen vor dem Anblick eines Koitus, etwas Natürlichem,<br />
Schönem, etwas, dem wir alle unser Leben verdanken. Auf<br />
der einen Seite schickt diese Gesellschaft Menschen mit Gott<br />
in den Tod, auf der anderen zwingt sie hoffnungslos kranke<br />
Sterbewillige mit teuflischer Technik, am Leben zu bleiben,<br />
versagt ihnen einen Tod in Würde.’<br />
Der Maler schüttelt sich. ‘Was, in Gottes Namen, sind das<br />
für Kräfte, die diese überformalisierte, übermoralisierte, überverlogene<br />
Welt geschaffen haben? Diese Welt, in der Sport<br />
zum bitteren Kampf geworden ist, in der das Kommerzielle,<br />
das Laute, das Gewalttätige dominieren? In der Kunst und<br />
Wissenschaft Anliegen eines viel zu kleinen Zirkels sind? In<br />
der <strong>im</strong>mer mehr Menschen das natürliche Lustgefühl von<br />
Geist und Körper verlieren und <strong>im</strong> Begriff sind, das Lachen zu<br />
verlernen? Was sind das für Kräfte, die alles und jedes gesetzlich<br />
regeln wollen? Für die eine Erziehung zu gehorsamen<br />
Untertanen ein hohes Ziel ist? Aus Lust machen sie Pflicht,<br />
aus Freude am Leben Forderungen des Lebens. So wird aus<br />
Sinnerfüllung Sinnentleerung!’<br />
Der Maler springt auf. Erregt zockelt er auf und ab vor der<br />
Bank. ‘Diese Kräfte müssen wir entlarven! Sie müssen verschwinden!!’<br />
Es dauert eine Weile bis die Stichflamme des<br />
Zorns verlöscht, bis er wieder ruhiger wird. Ausatmend sackt<br />
er auf die Bank.<br />
Langsam schwebt erneut die Gestalt des Schmieds auf die<br />
Bühne seines Gedankentheaters. Leuchtend steht er da, der<br />
Schmied, diese kreuzehrliche, kristallreine Seele. ‘Vollkom-
Ganz Tier 465<br />
men recht hat der Schmied! Der Liebesakt ist in sich völlig<br />
rein. Und daß es einem be<strong>im</strong> Liebesakt – und be<strong>im</strong> Zusehen –<br />
heiß ums Herz wird, Leidenschaft auflodert, auch das entspricht<br />
unserer Natur. In letzter Konsequenz wurzelt alle<br />
Kunst in der Erotik. Generationen von Malern haben sich in<br />
der Darstellung nackter Menschen und oft auch in, zumindest<br />
angedeuteten, Liebesakten verewigt. Wo Nacktheit, ja Geilheit<br />
<strong>im</strong> Gewande der Kunst auftritt, da glauben die Moralapostel,<br />
das vertreten zu können. Diese Pharisäer, diese verabscheuungswürdigen<br />
Heuchler! Warum können nicht auch<br />
wir, wie andere Kulturen, Sexualität als das sehen, was sie<br />
wirklich ist: etwas ganz und gar Natürliches?<br />
Sexualität ist das Herz allen Lebens. Die Natur hat sie aller<br />
normalen Kreatur tief in ihr Wesen eingepflanzt. Wer die<br />
Sexualität tabuisiert, wer sie mit Drohungen und Angst beschädigt,<br />
wer sie mit Schuld belädt, der verformt den Menschen.<br />
Der vergiftet seine Seele, der verfremdet seine Liebe,<br />
der krümmt seinen Rücken.<br />
Ich verstelle niemandem den Weg in eine unnatürliche<br />
Sexualitätslosigkeit. Ich billige jedem seine eigenen Besonderheiten<br />
zu. Aber auch ich beanspruche das Recht auf einen<br />
eigenen Weg. Das Recht auf mich selbst. Keiner Gruppe darf<br />
erlaubt werden, den eigenen Geschmack, die eigenen Maßstäbe<br />
zu Richtlinien für alle anderen zu erklären. Keiner<br />
Gruppe darf gestattet sein, die ihr gemäßen Verhaltensweisen<br />
anderen aufzuzwingen. Genau das aber ist <strong>im</strong>mer<br />
wieder versucht worden. Und das wird versucht bis auf den<br />
heutigen Tag. Hier beginnt Anmaßung. Hier beginnt Vermessenheit!<br />
In unserer Gesellschaft gilt es eher als fein, strenge moralische<br />
Maßstäbe anzulegen.’ Der Maler schmunzelt: ‘Der<br />
Schmied würde jetzt sagen, ‘jedenfanns nach außn’. Er schüttelt<br />
den Kopf: ‘Hier wird Schindluder getrieben mit dem<br />
schlechten Gewissen, das best<strong>im</strong>mte Gruppen den Menschen<br />
<strong>im</strong>mer wieder einreden, ja einpflanzen von Jugend an. Ich for-
466 BRÜDER<br />
dere mehr Raum für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit!<br />
Warum sind die Prediger übertriebener Zwänge und Enthaltsamkeiten<br />
so lange geduldet worden? Obwohl das, was sie predigen,<br />
aller Natur zuwiderläuft? Obwohl sie keinen überzeugenden<br />
Grund für ihre Forderungen ins Feld führen können?’<br />
Der Maler schüttelt den Kopf. Leise sagt er: “Wer eigentlich<br />
sind denn hier die Außenseiter?” Und er beantwortet seine<br />
Frage in Gedanken: ‘Es sind die Prediger unnatürlicher Enthaltsamkeit!<br />
Sie müssen kritisiert werden. Ihre Vorstellungen,<br />
ihr Verhalten, ihre Zielsetzungen: all das ist wider das<br />
Leben, wider die Natur, wider die Schöpfung. Wir dürfen nicht<br />
länger dulden, daß sie ihre Außenseiterrolle ummünzen in die<br />
eines Wächters’.<br />
Stumm nickt der vom Schicksal Begnadete und<br />
Geschlagene vor sich hin. ‘Freilich’, formen sich weitere<br />
Gedanken, ‘freilich, das Sich-Befreien aus gesellschaftlichen<br />
Zwängen und Fesseln birgt Risiken. Es erfordert Stärke.<br />
Nicht selten führt es in die Vereinsamung.’<br />
Der Maler steht auf. Er dehnt den verunstalteten Rücken,<br />
geht ein paar Schritte vor der Bank auf und ab und rollt die<br />
Schultern. Dann setzt er sich wieder. Und schon taucht er erneut<br />
ein in das Theaterspiel seiner Gedanken: ‘Wenn mehr<br />
Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit Einkehr halten sollen, dann<br />
muß das Recht auf den eigenen Weg einen höheren Stellenwert<br />
erhalten. Überall da, wo anderen kein vermeidbarer Schaden<br />
zugefügt wird, muß Freiheit herrschen – Freiheit in den<br />
Möglichkeiten, sich zu entfalten und sich zu sich selbst zu<br />
bekennen! Ungezählte Menschen wurden und werden gezwungen,<br />
in Abhängigkeit, Unfreiheit und Unrecht zu leben.<br />
Über Millionen von Jahren waren die weitaus meisten Menschen<br />
Knechte: Willkürobjekte von Hordenführern, Leibeigene<br />
von Herren, Unterworfene von Fürsten, Königen und Priestern.<br />
Sie waren eine Sache, ein Gegenstand der <strong>Inter</strong>essen<br />
Mächtiger. Sie wurden ausgebeutet von Dienstherren. Sie wurden<br />
drangsaliert von weltlichen und religiösen Vorschriften
und von vielen bösen Drohungen. Es ist an der Zeit, den<br />
gebeugten Nacken aufzurichten!’<br />
“Da!”, raunt der Schmied und zupft den Freund am Ärmel,<br />
“da sitzt der Fiedner und träumt.” Er lacht leise. “Der träumt<br />
best<strong>im</strong>mt, er ist Paganini!” Die beiden gehen auf den Träumer<br />
zu. Erst <strong>im</strong> letzten Augenblick, als sie schon fast die Bank<br />
erreicht haben, auf der er so einsam und so völlig in sich versunken<br />
sitzt, schreckt der Maler hoch aus seinen Gedanken.<br />
“Grüß Gott, Herr Paganini”, quakt der Schmied und grient.<br />
Der Fiedler bringt ein gequältes Grinsen zustande.<br />
“Du hast ganz schön was verpaßt! Wir habn was gehabt.<br />
Wahnsinn!”<br />
“Ich … ich bin nicht so recht in St<strong>im</strong>mung. Ich mach Schluß<br />
für heute. Ich geh nach Haus.”<br />
Festmacher und Schmied wollen noch mal den Spielplatz<br />
inspizieren. Dann wollen auch sie nach Hause gehn.<br />
Staatskarosse<br />
Staatskarosse 467<br />
In sich versunken, wandert der Künstler durch den <strong>Park</strong>. Er<br />
verschränkt die Arme auf dem Rücken und senkt den Blick.<br />
All das, was ihn sonst am nächtlichen Jagen so berauscht, das<br />
n<strong>im</strong>mt er wie durch einen Schleier wahr, mit gedämpften Sinnen.<br />
Gedankenverloren geht er den Hauptweg entlang. Seine<br />
Nachdenklichkeit verläßt ihn nicht. Sie hat jetzt etwas von<br />
Schwermut an sich. Aber sie schwebt über einer Ebene von Zufriedenheit.<br />
Das erfolgreiche Jagderlebnis beschert ihm innere<br />
Ruhe. Und es stärkt seine Selbstsicherheit als Jäger.<br />
Nach einigen hundert Metern biegt er ein in den Weg, der<br />
ihn zu seinem Wagen führen wird. Wieder muß er an den<br />
Schmied denken. Er beneidet ihn um seine Aufrichtigkeit und<br />
Schuldlosigkeit. Auch hat er längst erkannt, daß der Fest-
468 BRÜDER<br />
macher eine in sich sehr gefestigte Persönlichkeit ist. Ein<br />
Mann, der ihm Respekt abfordert. Und dessen elementare innere<br />
und äußere Kraft er zugleich achtet und fürchtet.<br />
Was würden die Menschen sagen, mit denen er sein Tagesdasein<br />
teilt, wenn sie um seine Freundschaft mit solchen<br />
Männern wüßten? Die vielen Bewunderer, die Galeristen, die<br />
Käufer seiner Bilder? Aufschreien würden sie vor Entsetzen<br />
und Empörung. Es ist schlechterdings nicht auszudenken, was<br />
passieren würde, wenn die Welt von seinen nächtlichen Eskapaden<br />
hörte! Man würde ihn verdammen. Man würde ihn<br />
mit Verachtung strafen, ihn aus der Gesellschaft verstoßen!!<br />
Noch <strong>im</strong>mer ganz in Gedanken ist der Maler am Rande des<br />
<strong>Park</strong>s angelangt. Und da schleicht sich ein Grinsen in die harten<br />
Züge. Er steht vor den Büschen, durch die hindurch das<br />
Bild seines Wagens sch<strong>im</strong>mert. Die Rückverwandlung vom<br />
geilen Fiedler zum genialen Künstler fällt heute anders und<br />
abrupter aus als sonst. Er hat mit der inneren Umpolung später<br />
begonnen.<br />
Noch einige Schritte und … wie eine Staatskarosse steht der<br />
schwere schwarze Mercedes vor ihm. Im gewienerten Lack<br />
tanzen, funkeln und zerfließen die Lichter der nächtlichen<br />
Straße.<br />
Der Künstler genießt den plötzlichen Szenenwechsel. Mit<br />
verschmitzten Augen späht er rasch nach links und dann nach<br />
rechts. Die Straße ist leer. Keine Menschenseele ist zu sehen.<br />
Vergnügt holt er, noch <strong>im</strong>mer grinsend, den Wagenschlüssel<br />
aus dem Brustbeutel hervor und schließt die Tür auf. Dann<br />
bückt er sich und will geschwind in den Wagen schlüpfen.<br />
Da bohrt sich ein kräftiger Finger hart in den Nacken. Zu<br />
Tode erschrocken zuckt der Maler zusammen – als habe ihm<br />
jemand die eiskalte Mündung eines geladenen Revolvers in<br />
die nackte Haut gestoßen. Entsetzt fährt er herum und richtet<br />
sich auf. Dicht über ihm blitzen die Augen des Festmachers.<br />
Aus ihnen funkeln Mißtrauen und Drohung.<br />
“Dein Wagn??”
Staatskarosse 469<br />
Vor Schreck beginnt der Maler zu husten. Dann begreift er,<br />
daß das Husten ihm Zeit schenkt, Zeit, um den Schock zu überwinden,<br />
Zeit, um nach einer plausiblen Ausrede zu suchen. So<br />
hustet er weiter, täuscht einen Hustenanfall vor. Schließlich<br />
ruft er: “M … Mensch hast du m … mich erschreckt!” Die Antwort<br />
fordernden funkelnden Augen noch <strong>im</strong>mer dicht über<br />
sich, lügt er: “Nein, natürlich nicht! Das ist nicht mein Wagen.<br />
Der gehört meinem Chef. Den muß ich jetzt abholen.”<br />
“Wo?”<br />
“Be<strong>im</strong> Klub.”<br />
Das Mißtrauen weicht nicht aus den drohenden Augen.<br />
Da sagt der Zwerg: “Willst du mitkommen?”<br />
“Nee. Meine Alte wartet.” Der Festmacher sieht sich den<br />
Wagen an. “Tolle Kutsche! Muß stinkreich sein, dein Chef.”<br />
“Das ist er”, lügt der Maler. Und dann setzt er seiner Lügerei<br />
noch einen drauf: “In letzter Zeit arbeite ich bei ihm auch<br />
noch als Aushilfsfahrer.”<br />
“Gleich drei Uhr nachts. Und <strong>im</strong>mer noch <strong>im</strong> Dienst! Ganz<br />
schön hart, Mann.”<br />
Der Maler nickt. Er ist froh, noch einmal davongekommen<br />
zu sein. “Ich muß jetzt los.”<br />
Hartes Schweigen.<br />
Der Festmacher spuckt. Langsam formen die dünnen Lippen<br />
ein O. Nachdenklich wischen Daumen und Zeigefinger<br />
über die Mundwinkel. “Also bis Mittwoch.”<br />
“Ja”, sagt der Maler … “Bis Mittwoch.”<br />
Der Festmacher sieht sich den großen schwarzen Mercedes<br />
noch einmal an. Ganz genau. Langsam geht er rundherum um das<br />
funkelnde Fahrzeug. Mit stechenden Augen. Keine Einzelheit<br />
entgeht ihm. Er hat das visuelle Gedächtnis eines Fotoapparats.<br />
Dann wendet er sich ab. Geht schnurstracks nach Hause.<br />
“Weh dem, wenn er lügt!”, sagt er vor sich hin. “Ich krieg das<br />
raus! Mit mir kann der das nich tun. Nich mit mir! Ich schlag<br />
den kurz und klein!!!” Er spuckt. “Denn sitzt der bis zum Tod<br />
<strong>im</strong> Stuhl. Im Stuhl mit Rolln!”
470 GÖTTER<br />
2 GÖTTER<br />
Neuer Mensch<br />
“Die Schöpfungsexplosion, also das,<br />
was die Wissenschaft den Urknall<br />
nennt, das ist für mich der zentrale<br />
Akt für die Regeneration Gottes, für<br />
die Zurückgewinnung seiner vollen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten.”<br />
“Unsere Gespräche haben mich in zunehmendem Maße bewegt”,<br />
sagt der Maler. “Ich habe viel darüber nachgedacht.”<br />
Aus zusammengekniffenen Augen blickt er hoch zum Physiker.<br />
“Ihnen gefällt der Mensch nicht. Ihrer Ansicht nach ist da<br />
einiges nicht in Ordnung.”<br />
“Vieles ist da nicht in Ordnung. Wir brauchen einen neuen<br />
Menschen!”<br />
“Huhh!” feixt der Maler und ringt die Hände. “Einen neuen<br />
Menschen! Wo soll der herkommen?” Er findet diese Forderung<br />
eher unsinnig. “Wieder einmal! Wie oft ist der Ruf nach<br />
einem neuen Menschen schon erhoben worden! Zu oft, wie ich<br />
meine, als daß man noch ernsthaft an eine Verwirklichung<br />
solcher Wunschvorstellungen glauben könnte.”<br />
“Ja, viele Philosophen haben einen neuen Menschen gefordert,<br />
aber meist mit einer unrealistischen Zielsetzung. Die hätten<br />
sich den ‘alten’ Menschen zuerst genauer ansehen sollen.<br />
Unsere über Millionen von Jahren gewordenen Strukturen,<br />
Funktionen und Verhaltensweisen lassen sich nicht per Beschluß<br />
korrigieren.”<br />
“Also müssen wir ewig am Konflikt zwischen So-Sein und<br />
Anders-Sein-Sollen leiden?”<br />
“Wir dürfen den Menschen nicht <strong>im</strong>mer nur sagen, daß sie<br />
anders sein sollen. Wir müssen ihnen auch begehbare Wege<br />
zeigen.”
Neuer Mensch 471<br />
“Wo geht’s lang?”<br />
“Kein Weg führt vorbei am Erkennbaren.”<br />
“Sagen Sie mehr über die Wege!!” Wieder flammt Hoffnung<br />
auf <strong>im</strong> Maler. Wieder glaubt er, seinem Ziel näher kommen zu<br />
können: dem Ausgleich zwischen Leib und Kopf, der Balance<br />
zwischen Trieb und Geist, der Vollendung seines Genies in<br />
innerer Harmonie und Reinheit.<br />
So laßt dem Narren seine Träume. So gönnt ihm die Sehnsucht<br />
nach Balance und Vollkommenheit. Noch surrt der Gepeitschte<br />
wie ein Kreisel. Doch seht ihn euch genau genug an!<br />
Beginnt da nicht schon das Taumeln? Und müßte er dann<br />
nicht bald stürzen?<br />
“Wo sehen Sie die Chance?”, ruft der Maler erregt. “Wo liegt<br />
das Gehe<strong>im</strong>nis für die Verwirklichung Ihrer Forderung nach<br />
einem neuen Menschen?”<br />
“Wir müssen uns von der Vorstellungswelt falscher Propheten<br />
befreien und von alten, heutzutage als Blendwerk erkennbaren<br />
Weltbildern. Wir müssen uns losreißen von Prägungen<br />
und Bindungen, die unseren fragenden Geist einseitig festlegen.<br />
Der unmündige, sich bedingungslos einem Gottvater<br />
ausliefernde Mensch muß mündig werden. Er muß lernen,<br />
seine Ängste auszuhalten. Daraus muß er die Kraft gewinnen,<br />
die erforderlich ist, um sich und seine Welt zu ändern, um sich<br />
zu einem neuen Selbst zu entwickeln und sich zu diesem<br />
neuen Selbst zu bekennen – zu dessen Möglichkeiten, Grenzen<br />
und Verantwortlichkeiten.”<br />
“Möglichkeiten, Grenzen, Verantwortlichkeiten”, echot der<br />
Maler enttäuscht. Doch dann wiegt er den Kopf. “Ja”, sagt er<br />
schließlich. “Ja. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Wenn<br />
Sie den freien Willen leugnen, wie soll der Mensch verantwortlich<br />
handeln können? Freiheit ist Voraussetzung für Verantwortlichkeit.”<br />
“Wir müssen unterscheiden zwischen äußerer und innerer
472 GÖTTER<br />
Freiheit.”<br />
“Wie …”<br />
“Freiheit von äußeren Zwängen – gesellschaftlichen, politischen,<br />
religiösen – ist durchaus erreichbar, Freiheit von<br />
inneren Zwängen nur sehr bedingt. Im ständigen Ringen um<br />
innere Freiheit, um die Beeinflussung des sich in uns formenden<br />
Willens und in der Akzeptanz der uns zuwachsenden<br />
Verantwortlichkeiten gegenüber Mitgeschöpf und Umwelt, da<br />
entscheidet sich unser Schicksal. Da liegt die Crux menschlicher<br />
Existenz. Da liegt der Kompaß für den Weg in die Zukunft!”<br />
“Goethe läßt seinen Faust sagen: ‘Das ist der Weisheit letzter<br />
Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der<br />
täglich sie erobern muß’.”<br />
“Ein weises Wort.”<br />
“Sie haben <strong>im</strong>mer wieder von einer tierischen Hypothek <strong>im</strong><br />
Menschen gesprochen. Rücken Sie jetzt davon ab?”<br />
“Nein. Die Hypothek ist da. Wir müssen den Zins zahlen. Der<br />
Zins, das ist die Verpflichtung, unsere Verantwortlichkeit aus<br />
eigener Kraft weiterzuentwickeln.”<br />
“Hat Verantwortlichkeit eine genetische Basis?”<br />
“Ja. Im Verlaufe von Jahrhunderttausenden haben sich Voraussetzungen<br />
für verantwortliches Handeln in unserem Erbgut<br />
angesiedelt.”<br />
“Angesiedelt? Wie kann man sich sowas vorstellen?”<br />
“Vermutlich in Form erblich fixierter Schaltungsbahnen <strong>im</strong><br />
Gehirn.”<br />
“Und darauf können wir heute aufbauen?”<br />
“Ja.”<br />
“Wie?”<br />
“Mit unseren Wertvorstellungen. Mit Einsicht und Rücksicht.”<br />
“Was meinen Sie mit Einsicht und Rücksicht?”<br />
“Sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewußt werden, sich<br />
an anerkannten moralischen Prinzipien messen. Sich zurück-
Neuer Mensch 473<br />
nehmen, sich als Teil des Ganzen sehen.”<br />
“Sch<strong>im</strong>mert da Ihr neuer Mensch durch?”<br />
“Ja. Es gilt, eine neue Art von Wahrhaftigkeit anzustreben<br />
und eine neue Bescheidenheit. Wir müssen ehrlicher umgehen<br />
mit unseren Problemen – den alten, die wir aus unserer tierischen<br />
Vergangenheit mit uns herumschleppen, und den neuen,<br />
die aus unserer zunehmenden Macht gegenüber Leben und<br />
Leblosem erwachsen. Wir müssen unsere Ansprüche einschränken<br />
und mehr Zurückhaltung üben <strong>im</strong> Verändern und<br />
Ausbeuten der Natur. Das sind meine Forderungen an den<br />
neuen Menschen. Wer diese Forderungen erfüllt, ist ein neuer<br />
Mensch. Nur ein solcher Mensch kann Mitgeschöpf und Umwelt<br />
achten, schützen und bewahren. Nur ein solcher Mensch<br />
kann die Überlebensspanne der Menschheit verlängern helfen.<br />
Nur ein solcher Mensch kann in Würde leben.”<br />
“Würde!”, krächzt der Maler. “Würde!! Die Christen fordern<br />
seit zweitausend Jahren Würde – Würde des Menschen als<br />
Ebenbild Gottes.”<br />
“Würde ist in vieler Munde.”<br />
“Aber wenige haben darüber nachgedacht. Und kaum jemand<br />
weiß, was das wirklich ist.”<br />
“Würde”, entgegnet der Physiker, “kann man nicht nur fordern.<br />
Würde verlangt auch: eigenes achtungsförderndes Verhalten<br />
und eigenes Sich-Zurücknehmen. Würde beinhaltet<br />
Wahrhaftigkeit, Verantwortlichkeit und Bescheidenheit. Würde<br />
ist Maßhalten.”<br />
“Sie verlangen Bescheidenheit und Maßhalten und sind doch<br />
selber unbescheiden und maßlos.”<br />
“In welcher Weise?”<br />
“Ihr Wissenwollen, Ihr Verändernwollen, Ihr Belehrenwollen<br />
– sind sie nicht unbescheiden, maßlos?”<br />
“Ich bin unbescheiden <strong>im</strong> Streben nach Erkenntnis und<br />
Wahrhaftigkeit. Ich bin maßlos <strong>im</strong> Fordern nach Maßhalten<br />
und <strong>im</strong> Zurückweisen rücksichtslosen Ausbeutens. Aber ich<br />
bin nicht unbescheiden und maßlos in der Vorteilsuche, <strong>im</strong>
474 GÖTTER<br />
Besitzstreben und …”<br />
“Was also kritisieren Sie?”<br />
“Ich kritisiere die dumpfe und verantwortungsscheue Art, in<br />
der die meisten Menschen leben, das weitverbreitete Desinteresse<br />
an den wesentlichen Dingen unserer Existenz, die<br />
zurechtgebogenen Gefälligkeitsvorstellungen über die Welt<br />
und über uns selbst und die scheinheiligen Begründungen für<br />
so manches Handeln. Zu vieles wird solange hin und her gedreht,<br />
gewendet und gebogen, bis das Ergebnis dazu taugt, uns<br />
zu gefallen, unser Gewissen zu beruhigen, bis – wenigstens<br />
an der Oberfläche – alles wieder zu st<strong>im</strong>men scheint.” Der<br />
Physiker hebt den Zeigefinger: “Wer aber die Dinge verdreht,<br />
wer Schein- und Gefälligkeitslösungen der erkennbaren Wahrheit<br />
vorzieht, der entwickelt eine eigene, eine besondere Beziehung<br />
zur Wirklichkeit, der beteiligt sich an der Konstruktion<br />
eines schiefen Weltbildes. Der entwickelt sich zu einem<br />
Menschen, wie wir ihm sehr häufig begegnen, zu einem Menschen,<br />
den ich ablehne. Ein solcher Mensch klärt nicht auf, er<br />
vernebelt. Ein solcher Mensch sucht nicht die Wahrheit, er<br />
verschließt vor ihr die Augen. Ein solcher Mensch ist unser<br />
aller Untergang.”<br />
Neue Religionen<br />
Wie Irrlichter huschen Gefühle und zucken Gedanken herum<br />
in der verschlungenen Malerpsyche. Der Wissenschaftler<br />
hat mal wieder vieles durcheinandergewirbelt. Mühsam versucht<br />
der Künstler, Ordnung wiederherzustellen, Streitendes<br />
zu zügeln, Wankendes zu festigen.<br />
Das gelingt ihm nur teilweise. Er ist verunsichert. Und er<br />
ist verärgert. Plötzlich schlägt der Ärger um in Resignation.<br />
Zerknirscht gesteht sich der Künstler ein, daß der Wissenschaftler<br />
seine Hoffnungen nicht erfüllt, daß der Schlüssel,<br />
dem er <strong>im</strong> Hirn des Physikers nachgespürt hat, nicht schließt.
Neue Religionen 475<br />
Da ist wenig, das seine schöpferischen Energien anregt. Da ist<br />
nichts, das seiner Schaffenskraft zu neuem Höhenflug verhelfen<br />
könnte, und nichts, das dem erhofften Ausgleich zwischen<br />
Leib und Kopf nützlich sein könnte. Verstand und Logik<br />
sind ihm keine Musen. Seine Kreativität saugt Saft aus tieferem<br />
Brunnen. Seine Musen wohnen <strong>im</strong> Leib, nicht <strong>im</strong> Kopf.<br />
Einen dauerhaften Ausgleich zwischen Trieb und Geist kann<br />
es bei ihm nicht geben. Das Triebhafte ist zu stark für einen<br />
Pakt.<br />
Aber der Physiker hat andere Kräfte <strong>im</strong> Maler gefördert. Er<br />
hat das Feuer des Wissenwollens hell auflodern lassen und<br />
die Suche nach neuen geistigen Ufern beflügelt. So ruft der<br />
Zwerg: “Was für Bilder hinter den Kulissen! Was für Blicke in<br />
Ihre Wissenschaftlerseele! Sie machen mir Angst – aber Sie<br />
faszinieren mich auch. Vorwärts! Bitte, machen Sie weiter!!”<br />
Ja, so ist das mit der Angst. Sie ist nicht nur eine Buhle der<br />
Lust, sie ist auch eine Schwester der Neugier. Große Angst<br />
ist die dunkle Seite hohen Intellekts. Aber sie ist auch eine<br />
Quelle kreativer Genialität. So manchen peitscht sie an Grenzen,<br />
auf einsame Höhen oder ins Reich der Halluzinationen.<br />
Angst kann Humanes zu Gipfeln führen, aber sie kann<br />
Humanes auch beiseite drängen. Angst kann die Psyche verformen<br />
und diese Verformung in physiologischen, ja anatomischen<br />
Veränderungen gefrieren lassen.<br />
“Nun denn”, sagt der Physiker, “zu meinem nächsten Punkt:<br />
Richtlinien für neue Religionen. Auf die großen Fragen der<br />
Menschheit hat die verängstigte, Halt und Schutz suchende<br />
Psyche <strong>im</strong>mer wieder unterschiedliche Antworten hervorgebracht.”<br />
“Wie lauten die Fragen?”<br />
“Wer hat den Menschen erschaffen? Wer die Erde? Wer beschützt<br />
uns? Wer best<strong>im</strong>mt über unser Schicksal? Welche Rolle<br />
kommt uns zu <strong>im</strong> Welttheater? Welche Kraft steuert das
476 GÖTTER<br />
Weltgeschehen? Wo<strong>im</strong>mer Wissen nicht ausreichte, um diese<br />
Fragen zu beantworten, da entstand Erklärungsnot, Unsicherheit<br />
und Leid. Linderung verschafften alte Beruhigungsmittel:<br />
Wunschvorstellungen, Märchen, Scheinlösungen.”<br />
“Wer nicht gewinnen kann, der schummelt, was? Der setzt<br />
die Torpfosten des anderen weiter auseinander, wie?”<br />
“Das Beruhigen des Antwort und Halt suchenden Geistes<br />
folgt einem einfachen Schema. Ein kleines Kind, das gewohnt<br />
ist, Musik von einer Dorfkapelle zu hören und den Musikern<br />
dabei zuzusehen, ist ratlos, wenn Musik aus einem Kasten,<br />
einem Radio, kommt. Das Kind ist beunruhigt, in Erklärungsnot.<br />
Es fragt: ‘Wo sind die Musiker?’ Da das Kind noch nicht<br />
in der Lage ist, den wirklichen Sachverhalt zu begreifen, antwortet<br />
die Mutter: ‘Die Musiker sind <strong>im</strong> Kasten.’ Damit ist<br />
das Kind zufrieden. Jedenfalls zunächst einmal. Wie die Musiker<br />
in den Kasten kommen, wie sie darin Platz finden, wie<br />
sie sich ernähren, ob sie <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Kasten bleiben müssen<br />
und andere Fragen kommen erst später. Und dann wird die<br />
Mutter Antworten geben, die, dem jeweiligen Begriffsvermögen<br />
des Kindes entsprechend, sich <strong>im</strong>mer mehr der Realität<br />
nähern.”<br />
“Kinderfragen haben ihr eigenes Gewicht. Kinder sehen oft<br />
direkter. Ungehemmt heben sie den Vorhang. Mit frischem<br />
Blick spähen sie hinter die Kulissen. So sehen sie manches,<br />
das wir nicht sehen.”<br />
“Einverstanden.”<br />
“Was also soll die Geschichte mit den Musikern?”<br />
“Vergleichbar verlief die Behebung von Verunsicherung und<br />
Erklärungsnot in der Entwicklung der Menschheit. Wer<br />
macht den Donner? Wer den Wind? Wer macht den Regen,<br />
wer den Vulkanausbruch? Wer entscheidet über unser Schicksal,<br />
über Leben und Tod? Dem Ich-Welt-Syndrom und dem<br />
Personifizierungsdrang gemäß konnte das nur ein menschenähnliches<br />
Wesen sein – der Größe des Geschehens entsprechend<br />
ein Riese, ein Gott. Wo<strong>im</strong>mer beunruhigende Erkennt-
Neue Religionen 477<br />
nislücken durch den fragenden Geist nicht geschlossen werden<br />
konnten, da wurden die Löcher mit Phantasie gefüllt, da<br />
wurden die Verursacher, deren Wirken und deren Motivation<br />
erfunden. So entstanden Aberglauben, Gottvorstellungen und<br />
Pr<strong>im</strong>itivreligionen. Natürlich sind auch die gegenwärtigen<br />
Religionen Anwärter auf den Titel Pr<strong>im</strong>itivreligion. Das ist<br />
nur eine Frage der Zeit. Der sich fortschreibende Reigen <strong>im</strong>mer<br />
neu sich formender Fragen und <strong>im</strong>mer neu sich einfindender<br />
Antworten und Ursachenbeschreibungen ist etwas<br />
ganz Natürliches, ein Wesenszug ausreifenden Menschseins.”<br />
“Etwas ganz Natürliches? Wer also hat den schwarzen Peter?”<br />
“Ideologisch-religiös motivierte Denker. Sie streben danach,<br />
diesen Reigen zu kanalisieren und zu fixieren. Sie reden ihren<br />
Mitmenschen Ein-für-alle-mal-Antworten ein. Sie versuchen<br />
nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie stehen nicht<br />
auf dem Boden der durch Erkenntnis gewinnbaren Wahrheit.<br />
Sie geben Rat und Anweisung über Dinge, von denen sie<br />
selber nichts verstehen. Sie behaupten einfach: So ist der<br />
Mensch erschaffen worden. So ist die Erde entstanden. Dies<br />
ist die Kraft, die alles formt. Und sie sagen bis in alle Einzelheiten,<br />
wie der Mensch sich dieser Kraft gegenüber zu verhalten<br />
hat.”<br />
“Zu stark vereinfacht, zu wenig Respekt!”<br />
“Diese Denker fesseln sich und andere. Sie sagen, wie der<br />
Mensch sein soll, ohne zu wissen, wie der Mensch ist, wie er<br />
das geworden ist, was er ist, und welche Rolle ihm zukommt<br />
<strong>im</strong> Drehbuch der Schöpfung. Sie behaupten, das Drehbuch zu<br />
kennen, aber sie können nicht einmal darin lesen.”<br />
“Diese Denker denken tief. Ich bewundere sie. Ihr Denken<br />
fußt nicht nur auf Menschlichem, es wurzelt in göttlichen Botschaften.”<br />
“Ihr Denken dreht sich um sich selbst. Ihre Ängste tanzen<br />
mit ihren Wünschen. Ihre Hoffnungen sind Mätressen ihrer<br />
Machtgelüste. Ihre Wahrheiten sind die Kinder ihrer Sehnsüchte.”
478 GÖTTER<br />
“Diese Denker sind Erleuchtete.”<br />
“Diese Denker sind Geprägte. Sie sind Gefangene ihres Glaubens.<br />
Sie sind Sklaven ihres selbsterschaffenen Erlösers. Es ist<br />
schwer, die Ketten ihrer Prägung zu brechen. Es ist schwer, sie<br />
zu befreien von ihrem Glauben. Es ist schwer, sie zu erlösen<br />
von ihrem Erlöser.”<br />
“Sie verfälschen die Rolle, die Religionsführer tatsächlich<br />
gespielt haben, und die sie auch heute noch spielen. Sie verkennen<br />
deren Anliegen. Sie verschweigen deren beispielhafte<br />
Lebensführung. Sie wissen nicht um die Schwierigkeiten ihrer<br />
bedingungslosen Unterwerfung unter ihren Gott, und unter<br />
die strengen Regeln dessen Verehrung. Sie verzerren die großartigen<br />
Verdienste der Religionsführer. Sie würdigen die hohen<br />
moralischen Forderungen nicht, denen sie sich uneigennützig<br />
unterwerfen – zum Wohle der gesamten Menschheit.”<br />
“Wo<strong>im</strong>mer das von den Religionsführern Verkündete und<br />
Gelehrte mit ihren eigenen <strong>Inter</strong>essen kollidierte, da haben<br />
sie es mit Füßen getreten. Dafür gibt es Beweise zuhauf, unwiderlegbare,<br />
historisch dokumentierte Beweise. Rücksichtslos<br />
haben sie ihre eigenen Anliegen vor alles andere gestellt<br />
und konkurrierende Religionen unbarmherzig bekämpft. Dabei<br />
wurden die Gebote ihrer beispielhaften Lebensführung<br />
und ihre moralischen Forderungen ganz einfach außer Kraft<br />
gesetzt. Das geschieht auch heute noch. Hier wird das ganze<br />
Ausmaß der Einseitigkeit, Verblendung und Machtgier deutlich.<br />
Hier sieht man die ‘Heiligen’ ohne Maske.”<br />
“Sie verallgemeinern in unzulässiger Weise und Sie übertreiben.<br />
Ich vermisse den inneren Abstand. Was ärgert Sie so<br />
sehr an den religiösen Männern, daß Sie sich so versteigen?<br />
Sind die Schwächen, die Sie so sehr verachten und geißeln,<br />
nicht <strong>im</strong> Grunde etwas sehr Menschliches?”<br />
“Ja. Aber die Religionsführer erheben sich über das Menschliche.<br />
Sie beanspruchen besondere Rechte, und sie behaupten,<br />
<strong>im</strong> Besitz besonderer Wahrheiten zu sein. Also darf ich sie<br />
auch mit einer besonderen Elle messen. Was mich ärgert? Die
Neue Religionen 479<br />
Intoleranz, die Verbissenheit, die Unbeweglichkeit. Kategorisch<br />
verkünden sie: so war das, so ist das, so wird das <strong>im</strong>mer<br />
sein. Keine Entwicklung, keine Anpassung – es sei denn eine<br />
von außen gegen große Widerstände erzwungene. Natürlich<br />
kann das nicht gutgehen. In einer Welt ständigen Wandels<br />
kann kein Dogma überleben, kein religiöses, kein philosophisches,<br />
kein politisches, kein wissenschaftliches.”<br />
Abwehrend erhebt der Maler die Hand: “Absolute Wahrheit<br />
ist nicht verhandelbar. Wer sie gefunden hat, will sie nicht<br />
wieder verlieren.”<br />
“In der Vorstellung, absolute Wahrheit finden zu können,<br />
liegt ein Fluch: Der <strong>Suchen</strong>de sucht etwas, das er niemals finden<br />
kann.”<br />
“Sie suchen doch selber nach der Wahrheit!”<br />
“Aber <strong>im</strong>mer in der Gewißheit, daß Wahrheit etwas Vorläufiges<br />
ist, etwas, das ständiger Korrekturen bedarf. Die absolute<br />
Wahrheit ist für keinen Menschen erkennbar.”<br />
“Aber …”<br />
“Der Wahn, die absolute Wahrheit gefunden zu haben, ist der<br />
Kern aller Ideologien. Wer glaubt, die absolute Wahrheit gefunden<br />
zu haben, läßt nichts anderes gelten. In allem anderen<br />
sieht er Minderwertiges, Verfall, Unmoral, Blindheit. Daher<br />
beansprucht er das Recht, in das Leben anderer einzugreifen.<br />
So sind letztlich alle großen Auseinandersetzungen entstanden:<br />
Kriege um Lebensauffassungen, Lebensräume, Religionen,<br />
Rassen, Resourcen.”<br />
“Freilich”, sagt der Maler nach einer Weile, “freilich, so gesehen<br />
haben Sie nicht unrecht.”<br />
“Totalitarismus und Diktatur haben keine Zukunft. Doktrinär-autoritäre<br />
Systeme werden untergehen <strong>im</strong> Wettbewerb<br />
mit Systemen, die auf Freiheit und Demokratie fußen. In der<br />
Politik sind die großen doktrinär-autoritären Exper<strong>im</strong>ente –<br />
der Faschismus und der real existierende Sozialismus – bereits<br />
gescheitert. Das wird auch mit doktrinär-autoritären<br />
Religionen geschehen. In der Politik haben erlebbare Alter-
480 GÖTTER<br />
nativen das Scheitern beschleunigt. In der Religion fehlen<br />
noch überzeugende Alternativen. Hier bremst die Scheu vor<br />
dem Verlust einer Stütze, vor einer noch nicht ausfüllbaren<br />
Leere, die Entwicklung.”<br />
“Große Ideensysteme”, gibt der Maler zu bedenken, “graben<br />
tiefe Spuren. Es gibt Menschen, die Vergangenes nicht hinter<br />
sich lassen können. Die Erben der Ideen bauen Denkmäler.”<br />
“Vergangenes ist nicht wertlos. Man kann daraus lernen.<br />
Und irgendwo ist da oft auch Nützliches, das be<strong>im</strong> Bau neuer<br />
Ideensysteme Verwendung finden kann.”<br />
“Wo sollen sie herkommen, die neuen Ideensysteme?”<br />
“Heute leben so viele kreative Menschen wie niemals zuvor,<br />
in der gesamten Geschichte der Menschheit zusammengenommen.<br />
Jeden Tag machen sie neue Entdeckungen, jeden Tag erarbeiten<br />
sie neue Einsichten, neue Vorstellungen, neue Ideen.”<br />
“Aber wir brauchen einen Halt. Wir brauchen den Glauben.<br />
Wir brauchen die geleitende Hand der Bibel. Sie hat den Menschen<br />
viel gegeben. Sie fußt auf alten Werten und Hoffnungen.<br />
Sie ist das Werk weiser Autoren, geschrieben in einer einfachen<br />
aber kraftvollen Sprache. So manches von dem, was da<br />
geschrieben steht, ist von zeitloser Bedeutung.”<br />
Der Physiker nickt. “In ihrer Essenz ist die Bibel ein gutes<br />
Buch. Sie enthält viele eindrucksvolle Gleichnisse, viel <strong>im</strong><br />
wahren Sinne Humanes. Aber da gibt es auch Ungere<strong>im</strong>tes<br />
und Unglaubhaftes. Und da gibt es auch Inhumanes. Die Bibel<br />
war ein wundervolles Buch zu ihrer Zeit. Das ist lange her.<br />
Sehr vieles ist seitdem geschehen. Selbst die klügsten Religionsführer<br />
haben es <strong>im</strong>mer schwerer mit der Ausdeutung der<br />
alten Texte, mit deren Anwendung auf die heutige Zeit. Mit<br />
oft geradezu grotesken Argumenten und Verrenkungen versuchen<br />
sie, die sich weitende Kluft zu überbrücken oder zu<br />
verdecken zwischen dem, was da geschrieben steht, und dem,<br />
was wir heute empfinden, denken und wissen. Mit jedem Tag<br />
aber wird die Kluft größer.”<br />
“Haben Sie schon mal mit einem Theologen über diese Aus-
Neue Religionen 481<br />
deutungsprobleme gesprochen?”<br />
“Ja. Aber er hat mir gesagt, er sehe da keine Kluft. Das<br />
glaube ich ihm nicht.” In Unverständnis hebt der Physiker die<br />
Arme und läßt sie mit einem Seufzer wieder sinken. “Diese<br />
Kluft ist doch mit Händen zu greifen. Wer sie nicht sieht, ist<br />
blind, verblendet oder dumm. Oder er lügt.”<br />
“Sie!” Ärgerlich schüttelt der Maler den Kopf. “Eine Kluft<br />
gibt es nur für Engstirnige und Eisherzige! Die Bibel ist ein<br />
altes, ehrwürdiges Zeugnis menschlichen Ringens um Selbstfindung<br />
und Einordnung!”<br />
Unbeirrt fährt der Physiker fort: “Ich habe nur eine Erklärung<br />
dafür, daß die Bibel auch heute noch als Verhaltensanweisung<br />
und Glaubensquelle Verwendung findet: Sie wird nur<br />
von einem exklusiven Kreis gelesen.”<br />
“Sie irren!”<br />
“Von Gläubigen, die Trost und Erbauung suchen und vielfach<br />
auch finden, denen es aber für eine kritische Würdigung am erforderlichen<br />
Abstand fehlt, und von Schriftgelehrten und Religionsführern,<br />
die aus naheliegenden Gründen bestrebt sind,<br />
dieses Fundament ihres Glaubens am Leben zu erhalten.<br />
Würden viele Menschen die Bibel lesen, wirklich all das, was<br />
da geschrieben steht, kritisch lesen, nicht nur mit dem Herzen,<br />
sondern auch mit dem Hirn, es gäbe einen Aufschrei! Einen<br />
Schrei nach einer neuen Religion, einer Religion, die unserer<br />
Zeit gemäß ist, die den heutigen Erkenntnissen, Problemen,<br />
Sorgen und Pflichten der Menschen Rechnung trägt, und unseren<br />
inzwischen völlig anderen Vorstellungen von der Welt<br />
und von Gott.”<br />
‘Pflichten!’, denkt der Maler. ‘Ist das nicht eher ein Sich-<br />
Einfügen in Unvermeidliches?’<br />
“Und da sind wir auch schon bei meiner Forderung nach<br />
neuen Religionen. Ich wähle bewußt den Plural. Es wäre falsch,<br />
nach der Überwindung von Altem, Absolutärem sogleich wieder<br />
neue Ketten zu schmieden. Der moderne Mensch braucht<br />
Dynamik und Bewegungsfreiheit, sowohl <strong>im</strong> Denken und Han-
482 GÖTTER<br />
deln als auch <strong>im</strong> Glauben.”<br />
“Sie wenden sich einem für Sie fremden Thema zu. Sollte<br />
es nicht Fachgelehrten vorbehalten bleiben?” Der Künstler<br />
kneift die Augenlider zu Schlitzen. Er kuckt in das tiefe Wasser<br />
zu seinen Füßen. Dann schweift sein suchender Blick über<br />
die glitzernde Wasserfläche. Er steht auf. Stöhnend reckt und<br />
streckt er steif gewordene Glieder. Dann n<strong>im</strong>mt er den Spazierstock<br />
von der weißen Bank auf dem alten Bootsanleger und<br />
nickt dem Wissenschaftler zu. So schicken die beiden sich an,<br />
den Rundgang um den See zu vollenden.<br />
Der Maler trägt seinen Stock jetzt zwischen angewinkelten<br />
Armen auf dem Rücken. “Was, glauben Sie”, fragt er, “würden<br />
Fachgelehrte, was tiefgläubige Christen zu all dem sagen?”<br />
Als der Physiker nicht antwortet, sagt der Maler: “Da gibt<br />
es viele kluge Köpfe. Und da gibt es viele gute Herzen. Da gibt<br />
es Menschen, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Arbeit selbstlos<br />
in den Dienst ihres Glaubens stellen. Diese Menschen sind<br />
Diener ihres Gottes <strong>im</strong> besten Sinne des Wortes.”<br />
Die beiden bleiben stehen und wenden sich einander zu.<br />
Auge fixiert Auge. Nach eindringlichem Schweigen sagt der<br />
Maler: “Ich zweifle nicht daran, daß es Ihnen ernst ist mit<br />
Ihrem Ringen um Wahrheit, und ich achte Ihren mutigen<br />
Drang nach Neuem. Aber ich meine, daß auch die andere Seite<br />
zu Wort kommen muß. Haben Sie über Ihre Forderung nach<br />
neuen Religionen schon einmal mit Theologen gesprochen?”<br />
“In ein solches Gespräch muß man möglichst unvoreingenommen<br />
hineingehen können. Dazu bedarf es nicht nur eines<br />
klugen, sondern auch eines freien Kopfes – eines Kopfes,<br />
der nicht mit Dogmen vernagelt ist. Ein solcher Kopf ist mir<br />
unter Theologen bisher noch nicht begegnet.”<br />
Ärgerlich wiegt der Maler den Kopf und geht weiter.<br />
Auch der Physiker ist ärgerlich: “Die Theologen gebärden<br />
sich, als betrieben sie eine Art Wissenschaft. Aber die Theologie<br />
ist keine Wissenschaft. Sie arbeitet mit unbewiesenen,<br />
unbeweisbaren und unüberprüfbaren Annahmen und Speku-
Neue Religionen 483<br />
lationen. Dennoch tut sie so, als fuße sie auf physikalischen<br />
Gesetzen. Die Essenz theologischen Gedankengutes hat mit<br />
Wissenschaft nichts zu tun. Sie ist ein dogma-orientierter<br />
Gruppenmythos. Sie ist naturfremd. Ja, sie ist wider die Natur.”<br />
“Sie schießen mal wieder weit übers Ziel hinaus! Die Theologie<br />
fußt auf Offenbarungen, die Menschen zuteil geworden<br />
sind.”<br />
“Die Theologen haben diese Offenbarungen den Menschen<br />
nicht näher gebracht. Sie haben sie vertheoretisiert, verklausuliert<br />
und verabsolutiert. Keine theologische Doktrin fußt<br />
auf dem, was ein Mensch mit gesunden Sinnen wahrnehmen<br />
kann, keine auf normaler Welterfahrung, keine auf objektivierbarer<br />
Gotterfahrung. Dennoch behaupten diese Religionstheoretiker,<br />
zu wissen, was Gott will. Wie Gott den Menschen sieht.<br />
Was Gott vom Menschen verlangt. Was er dem Menschen<br />
vergibt und was nicht. Und was Gott mit dem Menschen vorhat.<br />
In Wirklichkeit aber wissen sie von all dem gar nichts.<br />
Sie schreiben ganz einfach ihr eigenes Menschenfühlen und<br />
-denken Gott zu. Das aber ist eine ungerechtfertigte Selbstüberhöhung.<br />
Denn: machen sie sich auf diese Weise nicht selber<br />
zum Gott?”<br />
Der Maler hebt protestierend die Hand.<br />
“Und überlegen Sie doch mal: Was eigentlich hat die Gottheit<br />
der Theologen in den Millionen von Jahren getan, die von der<br />
Entstehung der Menschen bis zur Offenbarung der Glaubensinhalte<br />
verflossen sind? Waren die vielen, vielen Menschen, die<br />
vor mehr als zweitausend Jahren gelebt haben, des christlichen<br />
Glaubens, der göttlichen Offenbarung, nicht würdig?<br />
Warum hat sich der Christengott für Millionen von Jahren hinter<br />
seinem Werk versteckt? Warum hat er sich den Fragen,<br />
Ängsten und Leiden des von ihm geschaffenen Menschen so<br />
lange verschlossen? Das ist doch unglaublich! Die Gedankenwelt<br />
der Theologen umfaßt nur einen winzigen Bruchteil der<br />
menschlichen Geschichte: die jüngsten Jahrtausende. Vorher
484 GÖTTER<br />
war nach ihren Vorstellungen nichts, nicht einmal Licht, von<br />
dem wir doch wissen, daß es seit Milliarden von Jahren existiert.<br />
Das ist doch wirklich nicht zu fassen! Wir leben in einer<br />
Welt, in der menschlicher Geist die Entstehung und<br />
Entwicklung der Erde und des Lebens auf ihr, einschließlich<br />
des Menschen, in vielen Einzelheiten erforscht hat. Aber von<br />
Tausenden von Erkenntnissen läßt sich kaum eine einzige<br />
widerspruchslos mit dem in Einklang bringen, was die Theologen<br />
auch heute noch <strong>im</strong>mer behaupten und lehren.” Der<br />
Physiker schüttelt den kahlen Kopf. “Und was eigentlich meinen<br />
die Kirchenführer mit ihrem Begriff ‘Jenseits’? Es gibt<br />
kein Jenseits! Das Universum ist ein Kontinuum. Und in diesem<br />
Kontinuum verläuft alles und jedes nach ehernen Gesetzen.<br />
Nichts, aber auch gar nichts, ist geschaffen worden,<br />
und nichts, aber auch gar nichts, kann beeinflußt oder verändert<br />
werden durch ein menschenähnliches Wesen, durch den<br />
Gott der Christen.”<br />
Hände auf dem Rücken, blicken die beiden hinüber zum<br />
Bootsverleih. Jeden beschäftigt das Gesagte, jeden in anderer<br />
Weise. Der Maler ist empört über die Art, in der hier tiefer<br />
Glaube, großartige Leistungen und wohlgemeinte Bemühungen<br />
ungezählter Generationen von Kirchenführern abqualifiziert<br />
werden. Der Physiker ärgert sich über soviel Verstocktheit<br />
und Unbelehrbarkeit.<br />
‘Dieser Wissenschaftler’, bebt der Bucklige, ‘er entwurzelt<br />
mich. Er schwächt die geringen Kräfte, mit denen ich versuche,<br />
mein Leben zu meistern. Er löscht das bißchen Licht in<br />
meiner Seele.’ Zornig zerrt er die Krempe seines Hutes in die<br />
Stirn. ‘Wo in den Widersinnigkeiten der Welt soll ich die Hand<br />
Gottes suchen?!’ Der Künstler mißbilligt die Art, in der der<br />
Wissenschaftler Geheiligtes in sterile Teile zerlegt. “Meinen<br />
Sie wirklich”, fragt er mürrisch, “Sie hätten über diese Dinge<br />
tief genug nachgedacht? In ausreichendem Maße deren Vielschichtigkeit<br />
erwogen?”<br />
“Genug, um Erneuerung zu fordern, aber nicht genug, um
Neue Religionen 485<br />
mit Einzelheiten aufwarten zu können. Ich kann nur Leitlinien<br />
anbieten. Aber vielleicht ist das auch gut so.”<br />
“Sie suchen also nach Wahrheit auch in der Religion?”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Neue Religionen auf Wahrheit aufbauen zu wollen, erzeugt<br />
neue Probleme. Wir haben es schon gesagt: die Wahrheit, die<br />
der Mensch erfahren kann, ist <strong>im</strong>mer nur ein kleiner, verzerrter<br />
Ausschnitt dessen, was wirklich ist. Eine solche Wahrheit<br />
ist nicht geeignet, als Basis zu dienen für neue Religionen!”<br />
“Einverstanden. Aber ich habe nicht gesagt, daß eine best<strong>im</strong>mte<br />
Wahrheit Richtschnur für neue Religionen sein soll.<br />
Ich fordere Aufrichtigkeit <strong>im</strong> Umgang mit dem, was wir jeweils<br />
als Wahrheit erkennen können. Schluß mit den Betäubungen<br />
unseres fragenden Geistes, mit den Gefälligkeitsverdrehungen,<br />
mit den Märchen und Zauberformeln. Ich fordere<br />
Wahrhaftigkeit <strong>im</strong> Denken und Handeln. Unser Leben kann<br />
nur den Sinn haben, den wir ihm geben. Jede Sinnfindung<br />
aber muß aufbauen auf der schnörkellosen Akzeptanz dessen,<br />
was wir mit offenen Sinnen wahrnehmen können.”<br />
“Sie sind Naturwissenschaftler. Begeben Sie sich da nicht in<br />
einen fremden Garten?”<br />
“Warum sollte ein Naturwissenschaftler nicht Grundsätze<br />
für neue Religionen aufstellen? Was ist dagegen einzuwenden?<br />
Ich bin kein Prophet. Ich bin ein Sucher.” Mit steifem<br />
Zeigefinger schiebt der Physiker die Brille hoch. “Jesus war<br />
Handwerker. Und andere Religionsverkünder? Was waren<br />
sie? Im übrigen habe ich größere Achtung vor der Person Jesu<br />
und vor dem, was er offenbar wirklich gewollt hat, als so<br />
manch ein Religionsführer, für den er nur ein Alibi ist. Wäre<br />
er mehr als ein Alibi, dann müßte vieles anders sein in der<br />
Form, in der seine Lehren institutionalisiert worden sind, in<br />
der Art, in der die Kirchenfürsten leben, und in der Weise, in<br />
der sie ohne jede Rücksichtnahme ihren Einfluß und ihre<br />
Macht zu vermehren suchen.”<br />
Der Physiker bleibt stehen und verschränkt die Arme über
486 GÖTTER<br />
der Brust. Er leidet keinen Mangel an Selbstbewußtsein. “Nun<br />
denn”, sagt er, hebt den Kopf und schließt die Augen. “Ich werde<br />
Ihnen jetzt Leitlinien skizzieren, die meiner Ansicht nach<br />
in neuen Religionen Berücksichtigung finden sollten, um Gott<br />
gerecht zu werden und um den Menschen zu helfen. Und Hilfe<br />
brauchen die Menschen, so wie sie nun einmal beschaffen<br />
sind, Hilfe in ihrem Ringen mit Egoismen, Süchten, Trieben<br />
und zahlreichen Unzulänglichkeiten – Eigenschaften, um die<br />
sie nicht gebeten haben, mit denen sie aber zurechtkommen<br />
müssen. So oder so.”<br />
“Schießen Sie los!” ruft der Maler. Er hat eingesehen, daß<br />
der Physiker nicht zu bremsen ist.<br />
“Nun denn”, sagt der Physiker abermals und kramt einen<br />
Zettel hervor aus seiner Jackentasche. Er überfliegt seine<br />
Stichworte. Und nun beginnt er.<br />
“Erstens: Ein Gott neuer Religionen darf nicht nur ein Gott<br />
der Menschen sein und ein Gott der Erde. Er muß ein Gott<br />
sein aller Geschöpfe, aller Natur und aller H<strong>im</strong>melskörper –<br />
ein Gott des Universums.<br />
Zweitens: Alle Energie und alle Materie des Universums<br />
haben den gleichen Ursprung, dieselbe Geschichte, dieselbe<br />
Zukunft, und sie werden beherrscht von den gleichen Gesetzen.<br />
Energie, Materie und Gesetze sind Geist, Körper und<br />
Wille Gottes.<br />
Drittens: Der Mensch muß aufwachen aus seinen Träumen.<br />
Er muß sich an den Realitäten und Notwendigkeiten orientieren,<br />
die für ihn erlebbar und erkennbar sind.<br />
Viertens: Der Mensch ist nicht Herr, sondern Teil der Natur.<br />
In jeder seiner Milliarden Zellen trägt er Naturgeschichte mit<br />
sich herum. Er muß begreifen, daß diese Hypothek angesichts<br />
der heutigen Überlegenheit über seine Mitgeschöpfe und<br />
angesichts der gewaltigen Möglichkeiten, Natur nach seinen<br />
<strong>Inter</strong>essen umzugestalten, etwas sehr Gefährliches ist –<br />
potentiell tödlich für große Teile irdischen Lebens und für ihn
Neue Religionen 487<br />
selbst. Die Rolle, die dem heutigen Menschen zufällt, erfordert<br />
ein hohes Maß an Bescheidenheit, Selbstbeschränkung<br />
und Selbstkontrolle. Die Voraussetzungen für das Ausgestalten<br />
der neuen Rolle sind nicht Glauben und Vertrauen,<br />
sondern Erkennen und Einsicht.<br />
Fünftens: Der Mensch ist verantwortlich für alles, was er<br />
tut oder unterläßt. Niemand und nichts kann ihm helfen, ihm<br />
vergeben oder ihn beschützen. Während seines ganzen Lebens<br />
soll der Mensch danach streben, seinen Nachkommen und allen<br />
anderen Geschöpfen die Erde so zu hinterlassen, wie er sie<br />
vorzufinden wünscht – eine Erde, die blühendes Leben zu tragen<br />
vermag.<br />
Sechstens: Neue Religionen sollen dem Menschen gestatten,<br />
ja, ihn dazu auffordern, sich zu seinen eigenen Gedanken,<br />
Überzeugungen und Taten zu bekennen, wahrhaftig zu sein<br />
und sich in seiner Suche nach der erkennbaren Wahrheit von<br />
nichts und Niemandem abbringen zu lassen.<br />
Siebtens: Neue Religionen sollen tolerant sein, Andersartiges<br />
nicht nur dulden, sondern achten, wo<strong>im</strong>mer es sich <strong>im</strong><br />
Rahmen der Ethik und Moral bewegt.<br />
Achtens: Neue Religionen dürfen keine Dogmen sein. Sie<br />
sollen mitwachsen mit den Menschen, und der Vielfalt menschlicher<br />
Existenz Rechnung tragen.<br />
Neuntens: Neue Religionen sollen die Menschenwürde achten.<br />
Und sie sollen alle Formen, in denen sich die Schöpfung<br />
offenbart, zu schützen und zu erhalten suchen.<br />
Zehntens: Neue Religionen sollen ihre Inhalte über die<br />
Form stellen. Sie dürfen ihren Verkündern und Führern nicht<br />
gestatten, aus ihrer Funktion Macht zu gewinnen, die nicht<br />
unmittelbar für die Ausübung ihrer religiösen Obliegenheiten<br />
erforderlich ist.<br />
Diese zehn Thesen”, sagt der Physiker und steckt seinen<br />
Zettel wieder ein, “sind meiner Ansicht nach unverzichtbare<br />
Grundelemente für jede neue Religion. Sie sind gar nicht, nur
488 GÖTTER<br />
teilweise oder nur unzureichend in den mir bekannten Religionen<br />
enthalten.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf. “Freilich”, sagt er, “da ist Bedeutsames<br />
drin. Aber auch Zündstoff.”<br />
Sie gehen bis zur nächsten Bank. Dort setzen sie sich.<br />
“Und Sie glauben”, fragt der Maler, “daß Religionen, die Ihren<br />
Thesen gerecht werden, mithelfen könnten, die Menschen<br />
wachzurütteln, sie <strong>im</strong> Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verändern?”<br />
“Ich weiß es nicht. Es muß ganz einfach versucht werden.<br />
Wir haben keine andere Wahl. Unsere bisherigen Religionen<br />
haben versagt. Sie haben nichts wirklich bewegt, nichts wirklich<br />
verändert. Sie haben die Menschen nicht veranlassen<br />
können, die Augen zu öffnen und Verantwortung zu übernehmen.<br />
Jetzt läuft uns die Zeit davon. Jetzt brauchen wir<br />
dringend ein wirksames Gegengewicht gegen die von uns ausgehende<br />
Zerstörung der irdischen Ordnung.”<br />
“Aber wie wollen Sie einfachen Menschen das Feuer Ihrer<br />
Gedanken ins Gemüt pflanzen, wenn schon nicht ins Gehirn?<br />
So wie die meisten Menschen beschaffen sind, brauchen sie<br />
einen Gott, den sie sich vorstellen können, an den sie sich<br />
wenden können in ihrer Not, zu dem sie Vertrauen haben können,<br />
dem sie sich offenbaren können, zu dem sie sprechen<br />
können. – Sehen Sie sich nur die vielen hilflos <strong>Suchen</strong>den an!”<br />
“Ja. So mancher von den <strong>Suchen</strong>den kann weder an seinen<br />
Gott glauben noch von ihm lassen.” Der Physiker nickt vor<br />
sich hin. “Die Umsetzung meiner Leitlinien ist schwer. Neue<br />
Religionen müssen, wie die alten, den Menschen Anleitung<br />
geben für ihre Lebensführung, für die Suche nach dem Sinn<br />
der eigenen Existenz. Für mich sind dabei drei Dinge wichtig:<br />
höchstmöglicher Wahrheitsgehalt, höchstmögliche Hilfestellung<br />
und höchstmögliche Achtung der Freiheit und Würde<br />
des Menschen.”<br />
“Was für eine Freiheit meinen Sie jetzt?”<br />
“Die Freiheit von doktrinären politischen und religiösen
Neue Religionen 489<br />
Zwängen. Sie ist die Grundvoraussetzung für eine bessere Zukunft<br />
und für eine volle Entfaltung der Verantwortlichkeit.”<br />
“Und was ist mit dem Transzendentalen?”<br />
“Ich unterschätze nicht das Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit,<br />
nach religiösen Emotionen, nach Ritualen, nach<br />
Transzendentalem. Viele Menschen wollen Religion nicht über<br />
das Hirn, sondern über das Herz. Manch einer wird nicht in<br />
der Lage sein, die Realität zu ertragen. Nur wenige werden<br />
genügend Einsicht aufbringen, um Konsequenzen daraus zu<br />
ziehen. Viele werden nicht willens sein, so ohne weiteres Einschränkungen<br />
auf sich zu nehmen.”<br />
“Das sehe ich genauso.”<br />
“Für diese Menschen müssen wir Argumente formulieren,<br />
Bilder malen und Rituale gestalten, die sie emotionell berühren.<br />
Meinetwegen auch in Form von Geschichten und Märchen.<br />
Aber, und dies ist der entscheidende Punkt, neue Religionen<br />
müssen <strong>im</strong>mer auf der Basis dessen aufbauen, was wir<br />
jeweils mit offenen Augen als Wahrheit erkennen können.”<br />
“Abermals: Was verstehen Sie unter Wahrheit? Es gibt verschiedene<br />
Wahrheiten.”<br />
“Unter Wahrheit verstehe ich das Erkennbare, das sich<br />
widerspruchslos einordnen läßt in das jeweilige Weltbild, das<br />
wir in unseren Vorstellungen konstruieren. Wo aber schon das<br />
Fundament des Weltbildes schief ist, da kann es keine Wahrheit<br />
geben.”<br />
“Und die von Ihnen skizzierten Leitlinien für neue Religionen,<br />
die halten Sie für unumstößlich?”<br />
“Nein. Sie stehen zur Disposition. Ich meine jedoch, daß sie<br />
eine Richtlinienfunktion haben könnten.”<br />
“Wer sollte sich Ihrer Richtlinien annehmen? Beabsichtigen<br />
Sie, dafür die Reklametrommel zu rühren?”<br />
“Nein. Dafür bin ich nicht der richtige Typ. Ich sage, was ich<br />
denke. Damit ist für mich der Fall erledigt. Was andere daraus<br />
machen – oder auch nicht machen – das ist schon nicht<br />
mehr meine Sache.”
490 GÖTTER<br />
Der Maler schweigt. Dann dreht er sich steifrückig seinem<br />
Gefährten zu: “Ist das nicht sehr wenig, was Sie den Menschen<br />
da anbieten? Ist es nicht zu wenig? Was sagen Sie den<br />
Vielen, die große Angst vor dem Tod haben? Wo bleibt der<br />
Trost für die Leidenden? Wo Vergebung, wo Erlösung? Und wo<br />
die Gewißheit über das eigene Schicksal?”<br />
“Bei allen meinen Überlegungen”, sagt der Physiker mit großem<br />
Ernst, “erwächst mir <strong>im</strong>mer wieder die Gewißheit, unwiderbringlicher<br />
Teil zu sein eines wunderbaren, eines großartigen,<br />
gewaltigen Ganzen – der Erde, des Universums,<br />
Gottes. Nichts in diesem Ganzen geht verloren. Alles bleibt erhalten.<br />
Nichts in diesem Ganzen braucht Vergebung, nichts<br />
Erlösung. Alles geschieht innerhalb der Gesetze. Und <strong>im</strong>mer<br />
ist alles auf dem Wege des Wandels. Warum sollte da Angst<br />
sein vor dem Tod? Vor diesem Wandler, diesem Erneuerer?<br />
Vor diesem Meilenstein am unendlichen Wege?”<br />
“Schmerzt es Sie nicht, daß ihre Einmaligkeit so hinfällig<br />
ist? Daß sie nach kurzem Aufleuchten für <strong>im</strong>mer verschwinden<br />
wird?”<br />
“Mag meine Individualität vergehen, mögen meine Ichs verwehen:<br />
das, was mich als einmaligen Wurf der Schöpfung hervorgebracht<br />
hat, das bleibt bestehen. Ich genieße die Gewißheit,<br />
als ephemere Einzelerscheinung fest eingewoben zu sein<br />
in ein unvorstellbar großes, ewiges Werden, Vergehen und<br />
Wiederwerden. Mag mein Sichtbares auf der Bühne des<br />
Lebens verlöschen, mögen die Spuren von all dem, was ich je<br />
gefühlt und gedacht, was ich je gesagt und getan habe, vergehen<br />
– all das ist geschehen! All das ist, all das war Wirklichkeit.<br />
All das hat Bestand in alle Ewigkeit.”<br />
Neuer Gott<br />
Das Wandern der beiden dauert heute länger als sonst.<br />
Abermals sind sie an der weißen Bank auf dem verwaisten
Neuer Gott 491<br />
Bootsanleger angelangt. Ermüdet vom langen Gehen setzen<br />
sie sich und blicken bewegten Sinnes hinaus auf den See.<br />
“Früher”, stochert der Maler mit dem Spazierstock herum<br />
<strong>im</strong> morschen Holz, “früher haben Sie von Ihrem Gott gesprochen.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Und Sie haben mir in Aussicht gestellt, daß Sie mir Ihre<br />
Vorstellung von Gott offenlegen werden.”<br />
“Meine Vorstellung von Gott ist anders als die der meisten<br />
Menschen.”<br />
“Haben nicht alle Menschen ihre eigene Vorstellung von<br />
Gott?”<br />
“Ja. Für jeden Menschen, der einen Gott verehrt, ist Gott<br />
etwas anderes. Und auch jeder Gottlose hat seine eigene Vorstellung<br />
über die Nichtexistenz Gottes. Keine zwei Menschen<br />
haben genau den gleichen Gott, keine genau die gleiche Gottlosigkeit.”<br />
“Die Vorstellungen, die sich Menschen von Gott machen,<br />
sind also ebenso verschieden voneinander wie die Menschen<br />
selber.”<br />
“So ist es. Nicht notwendigerweise verschieden <strong>im</strong> Prinzip,<br />
<strong>im</strong>mer aber <strong>im</strong> Detail.”<br />
“So gibt es also viele Götter.”<br />
“Ja. Die meisten Gläubigen verehren in ihrem Gott ihr überhöhtes<br />
Spiegelbild.”<br />
“Spiegelbild?” Der Maler ist irritiert.<br />
“Sie verehren ein Wesen, das eine Entsprechung ist ihrer<br />
eigenen Vorstellungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste.”<br />
“Was ist Gott für Sie?”<br />
“Mein Weltverständnis zwingt mich dazu, einen neuen Gott<br />
zu sehen und zu erleben.”<br />
“Einen Gott, der Ihnen ähnlich ist?”<br />
“Nein. Einen Gott allen kosmischen Geschehens.”<br />
“Bitte erklären!”<br />
“Alle seit dem Urknall auseinanderstrebende und dabei
492 GÖTTER<br />
ausreifende Materie und alle diesen Vorgang vorantreibende<br />
und ordnende Energie stammen aus der gleichen Quelle.<br />
Und alles, was aus dieser Quelle kommt, das bleibt auch<br />
über alle Entfernungen und über alle Zeiten miteinander<br />
verbunden, bleibt in ständigem, mannigfaltigem Kontakt<br />
miteinander, durch verbindende Energieströme und durch<br />
Austausch von Materie und Information. All das entwickelt<br />
sich gemeinsam und reift in gegenseitiger Abhängigkeit. In<br />
den Teilen des so Entstehenden vollzieht sich ein ständiges<br />
Kreisen, Schwingen und Pulsieren, ein unablässiges Wachsen<br />
und Schrumpfen, ein <strong>im</strong>merwährendes Aufbauen, Umbauen<br />
und Abbauen. Die sich formenden und wieder vergehenden<br />
Gebilde geben und nehmen einander Energie und<br />
Materie. Und sie kommunizieren miteinander in vielfältigster<br />
Weise. Ein gewaltiger Stoffwechsel unerhörten Ausmaßes.”<br />
“Was für eine stupende Perspektive!”<br />
“In seiner Gesamtheit bildet das sich entfaltende, in Milliarden<br />
von Jahren ausreifende Universum einen unvorstellbar<br />
intelligenten Organismus. Dieser Panorganismus vollendet<br />
sich in gigantischen Zeitspannen, bildet Kommunikationskanäle<br />
aus, in denen Informationen besonders schnell wandern<br />
können, vergleichbar mit unserem Nervensystem, bildet<br />
Transportbahnen aus, auf denen Materie schnell befördert<br />
wird, vergleichbar mit unserer Blutbahnen, bildet Organe aus<br />
für die Wahrnehmung spezieller Funktionen, formt Denk-,<br />
<strong>Inter</strong>pretations- und Steuerungszentren. Und schließlich<br />
schmilzt dieser Panorganismus alle diese Ausbildungen wieder<br />
ein, stürzt das ganze Universum wieder in sich zusammen,<br />
um sich dann erneut auszubilden. Ein Milliarden von<br />
Jahren in Anspruch nehmendes Werden, Vergehen und Wiederwerden.<br />
Dieser Panorganismus, das ist für mich Gott.”<br />
“Ungeheuerlich!!” Der Maler schluckt, greift mit zitternden<br />
Fingern an die eng gewordene Kehle, ringt um Fassung. Augen<br />
irren umher <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel. Es dauert eine Weile, bis er zu zi-
Neuer Gott 493<br />
scheln vermag: “Nichts von all dem kann ich sehen. Selbst<br />
nachts sehe ich nur Mond und Sterne. Kugeln und unendlichen<br />
leeren Raum. Kein Nervensystem, keine Organe, kein …”<br />
“Versuchen Sie mal, sich vorzustellen, wie unser Körper<br />
einem Wesen erscheinen müßte, das in ihm lebt, und das so<br />
klein ist wie ein Atom. Nur kreisende Materie könnte es sehen<br />
– Atomkerne und Elektronen. Kreisende Kugeln in scheinbar<br />
grenzenlosem Nichts.”<br />
“Was für ein Schauspiel!”<br />
“Zellen, Gewebe, Organe werden erst auf anderen Ebenen<br />
der Wahrnehmung sichtbar. Deren koordiniertes Funktionieren<br />
und das Gesamtwesen lassen sich aus der Perspektive eines<br />
Atomwesens nicht erkennen. Der Tanz der Materie macht<br />
nur für den Sinn, der die Zusammenhänge erkennen oder doch<br />
erahnen kann.”<br />
Für einen Augenblick versinkt der Maler in fassungslosem<br />
Staunen: “Wie Sie das alles sehen! Unglaublich”, stammelt er.<br />
“Wirklich ganz unglaublich!” Nur zögernd beginnt er, zu bewerten:<br />
‘Was ist ein solcher Gott mir?’, denkt er. ‘Was sind ihm<br />
meine Hoffnungen? Was meine Bitten? Was meine Schuld?<br />
Wie könnte der mir vergeben? Wie mich erlösen? Wie mich bestrafen?’<br />
Lauernden Auges wendet er den Kopf dem Physiker zu und<br />
krächzt: “Gott. – Ja, Gott. Ihr Gott! Er ist mir nichts. Er ist<br />
mir fremd. Er ist taub und blind. Taub für meine Bitten, blind<br />
für meine Bilder.” Als der Physiker nicht reagiert, sagt er: “Je<br />
tiefer wir einzudringen versuchen in den Begriff Gott, desto<br />
leerer wird er. Je angestrengter wir versuchen, über den Zaun<br />
zu spähen, desto bedeutungsloser wird das, was wir da sehen.<br />
Desto weniger finden wir Hilfe für unsere Probleme, für unsere<br />
Ängste. Desto mehr wird Hoffnung zu Enttäuschung.<br />
Desto tiefer versinkt Sehnsucht in Sinnlosigkeit. Hoffnung<br />
und Sehnsucht aber müssen phantasieren können, wachsen,<br />
sich steigern. Sonst verkommen sie zu Dumpfheit, Gleichgültigkeit<br />
oder Verbitterung.”
494 GÖTTER<br />
“Sonst wird aus Sehnsucht Sucht”, sagt der Physiker.<br />
“Sucht”, stammelt der Zwerg, “Sucht … Sie verknüpfen alles<br />
mit allem. Sie leinen alles an. Ich mag Ihre Leinen nicht! Ich<br />
will raus aus Ihren Verknotungen. Ich will raus aus Ihren<br />
dunklen Tunneln!!”<br />
“Die Tür aus den Tunneln öffnet nur das Ende des Selbstbetrugs.”<br />
“Sie … ! Sie … !!”<br />
Zurückfindend zu seinem Gedankengang sagt der Physiker:<br />
“Im Körper meines Gottes liegt die Erde weit entfernt von allen<br />
wesentlichen Funktionen und Strukturen. Vielleicht hat das<br />
dazu beigetragen, daß uns das Erkennen dieses Gottes so<br />
schwerfällt. Und daß auf unserem Planeten so viel Merkwürdiges<br />
geschieht, so manches von der Norm Abweichende. Daß<br />
sich hier ein so sonderbares organisches Leben entfalten konnte.<br />
Und daß eine Abnormität in diesem organischen Lebensvorgang,<br />
der moderne Mensch, sogar in der Lage ist, essentielle<br />
Strukturen und Funktionen in diesem entlegenen Teil Gottes,<br />
den wir Erde nennen, zu beschädigen.”<br />
Heftig schüttelt der Zwerg den Kopf. Immer wieder. Das ist<br />
zu weit weg von seiner Art, die Welt zu sehen. Sein Blick<br />
schweift über den See. Ein Gedanke formt sich. Doch er schwebt<br />
ihm davon, bevor er ihn noch in Worte zu fassen vermag.<br />
Nach langem Schweigen sagt er: “Das Werden und Vergehen<br />
Ihres Gottes und das Werden und Vergehen des Universums,<br />
das sehen Sie offenbar als ein und denselben Vorgang.”<br />
“Ja.”<br />
“Aber warum muß Ihr Gott <strong>im</strong>mer wieder vergehen? Warum<br />
kann ein so unvorstellbar intelligentes und mächtiges Wesen<br />
seinen Zerfall – und sei er auch nur vorübergehend – nicht<br />
vermeiden?”<br />
“Mein Gott bildet sich aus über Milliarden von Jahren. Seine<br />
Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfend, vervollkommnet er<br />
sich dabei und strebt einem Zielzustand zu. Je näher er diesem<br />
Zustand kommt, desto eingeschränkter werden seine Gestal-
Neuer Gott 495<br />
tungsmöglichkeiten, desto starrer, langsamer und eingleisiger<br />
wird die Entwicklung. Die Naturgesetze, mit denen Gott<br />
meiner Ansicht nach ja identisch ist, lassen keine andere Wahl.<br />
Max<strong>im</strong>ale Gestaltungsmöglichkeiten gibt es <strong>im</strong>mer nur nach<br />
einer neuen, alles Materielle zerschmetternden Schöpfungsexplosion.<br />
Neuschöpfung ist gebunden an vorausgehenden<br />
Zerfall. Oder anders herum: Zerfall ist die Voraussetzung für<br />
Neuschöpfung. Nach jeder Schöpfungsexplosion verläuft die<br />
Entwicklung vermutlich anders, nicht grundsätzlich, aber<br />
doch in vielen Einzelheiten. So schöpft Gott die ganze Fülle seiner<br />
Gestaltungsmöglichkeiten dadurch aus, daß er mit jeder<br />
Schöpfungsexplosion <strong>im</strong>mer wieder neu die Würfel wirft.”<br />
“Vor jedem Würfeln muß geschüttelt werden, wie?”<br />
“Jedes Würfeln setzt voraus, daß alles Bestehende, langsam<br />
erst, dann schneller, <strong>im</strong>mer schneller und schließlich in einem<br />
gewaltigen, unvorstellbaren Inferno, wieder in sich zusammenstürzt.<br />
Dabei wird alle Materie wieder in ihre Urbestandteile<br />
zerschlagen und schließlich in Strahlung umgewandelt.<br />
Die Schöpfungsexplosion erfordert eine gigantische Menge an<br />
Energie. Diese kann nur durch das In-sich-Zusammenstürzen<br />
des Universums gebündelt werden. Für eine unvorstellbar<br />
kurze Zeit verschwindet alles Materielle, bleibt nur Organisationsenergie,<br />
nur die Essenz Gottes übrig. Die Schöpfungsexplosion,<br />
also das, was die Wissenschaft den Urknall nennt,<br />
das ist für mich der zentrale Akt für die Regeneration Gottes,<br />
für die Zurückgewinnung seiner vollen Gestaltungsmöglichkeiten.”<br />
Der Maler stützt beide Hände auf den silbernen Handgriff<br />
seines zwischen zusammengepreßten Schenkeln auf das Holz<br />
gedrückten Spazierstocks. Ganz fest beißt er die Lippen aufeinander.<br />
Aus starren Augen bohrt sein Blick in das tiefe<br />
Wasser zu seinen Füßen. “Ihr Gott”, sagt er nach einer Weile,<br />
“ist also Teil – oder Kern – des Universums.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Mein Gott ist größer. Mein Gott existiert außerhalb des
496 GÖTTER<br />
Universums. Mein Gott schaut und regiert von außen in die<br />
Dinge hinein.”<br />
“Warum kommen Sie zu dieser Ansicht?”<br />
“Weil ein Teil eines Ganzen, der das Ganze verändert, auch<br />
<strong>im</strong>mer sich selber und seine Existenzbedingungen verändert.”<br />
“Gerade das ist die Grundvoraussetzung für einen lebenden<br />
Gott. Gerade darin sehe ich eine wichtige Möglichkeit für Entwicklungen.<br />
Wie könnte ein Gott außerhalb des Universums<br />
dynamisch sein? Er wäre starr. Er wäre tot!”<br />
Der Künstler senkt den Kopf. Er nickt. Und schweigt.<br />
Visionen<br />
Schließlich fragt der Maler: “Ihr Gott – ist er das Wesen,<br />
von dem Sie früher gesprochen haben?”<br />
“Nein. Er ist das allumfassende Urwesen. Aus ihm können<br />
viele verschiedene Wesen entstehen.”<br />
“Früher”, der Zwerg zupft an seinem Schal, “früher haben<br />
Sie die Art beklagt, in der irdisches Leben organisiert ist.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Gibt es eine andere Art, Leben entstehen zu lassen und zu<br />
erhalten?”<br />
“Ich weiß es nicht. Aber ich habe mir da so meine Gedanken<br />
gemacht. Gedanken, mit denen ich schon seit geraumer Zeit<br />
umgehe.”<br />
“Darf man da mal hinter den Vorhang kucken?”<br />
“Sie dürfen.” Der Physiker spitzt die Lippen, dann schiebt er<br />
die Brille hoch. “Die meisten Menschen sind von der Vorstellung<br />
erfüllt, daß Leben <strong>im</strong>mer so – oder doch so ähnlich –<br />
aussieht und organisiert ist wie hier auf Erden. Da hat es<br />
mich gereizt, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, einmal<br />
Visionen auf die Bühne meines Bewußtseins einzuladen.<br />
Visionen darüber, wie ein ganz anderes Leben aussehen und
Visionen 497<br />
organisiert sein könnte.”<br />
“Wie sollte Leben außerhalb von Ökosystemen möglich sein,<br />
wie sollte es existieren, wie evolvieren können?”<br />
“In Form von nicht-organischen Wesen.”<br />
“Huuhhh!!”, schreit der Künstler. “W … wie in aller Welt<br />
kann es nicht-organisches Leben geben? Das ist doch ein Widerspruch<br />
in sich! Nicht-organische Wesen!”, ruft er ganz laut<br />
und schüttelt sich.<br />
“Ich spreche von Visionen. Bitte vergessen Sie das nicht.”<br />
Wißbegierig nickt der Zwerg.<br />
“Nach meinen Vorstellungen könnte es eine völlig andere<br />
Art geben, Leben sich entwickeln, sich erhalten, sich vervollkommnen<br />
zu lassen.”<br />
“Wie, in Gottes Namen, soll das möglich sein!?”<br />
“Leben, konzipiert nach dem Vorbild meines Gottes. Nicht<br />
der an organische Verbindungen gefesselte Teufelstanz der<br />
Materie, wie er sich auf der Erde ausgebildet hat, sondern Leben,<br />
organisiert als winzige Kopien der Strukturen und Funktionen<br />
des Universums. Diese, nach dem Vorbild des Panorganismus<br />
gestalteten Geschöpfe, das sind die wahren Kinder<br />
Gottes, geschaffen nach seinem Ebenbild, und wie Gott selbst<br />
nicht fähig, Böses zu tun, nicht fähig, gegen die Naturgesetze<br />
zu verstoßen – ohne Triebe, ohne Egoismen, ohne Sucht, ohne<br />
Verbrechen, ohne Sünde.”<br />
“Gottes Kinder!!”, ruft der Maler empört. Dann senkt er den<br />
Kopf. ‘Ohne Triebe’, echot es durch seinen Leib, ‘ohne Verbrechen,<br />
ohne Sünde!’<br />
“Diese Lebenseinheiten des Universums sind für mich ein<br />
Ausdruck des ethischen Prinzips der Schöpfung. Ich nenne sie<br />
daher E-Wesen.”<br />
“Warum postulieren Sie Ethik für das Universum?”<br />
“Weil es für mich undenkbar ist, daß der gewaltige Schöpfungsvorgang<br />
sich in sinn- und ziellosem Wirbeln und Kreisen<br />
von Materie erschöpft. Weil das großartige kosmische<br />
Schauspiel meiner Ansicht nach nicht ohne Darsteller, nicht
498 GÖTTER<br />
ohne Herz und nicht ohne Seele auskommt. Weil ich mir nicht<br />
vorstellen kann, daß die unvollkommene Ethik, welche<br />
sich <strong>im</strong> Menschen manifestiert, alles ist, was das Ausreifen<br />
der Materie an moralischen Kräften hervorzubringen vermag.”<br />
“Ähnliche Gedanken”, sagt der Maler leise, “sind mir auch<br />
schon mal gekommen.” Und er denkt: ‘Vielleicht entsprechen<br />
E-Wesen Erscheinungen, die andere als Engel interpretieren?’<br />
Sogleich erschrickt er über diesen Gedanken und über den<br />
Begriff ‘Engel’.<br />
“Für E-Wesen ist das Universum weder fremd, noch taub,<br />
noch blind. Sie fühlen seine Schwingungen. Sie hören seine<br />
Musik. Sie verstehen seine Sprache. Sie sehen seine Schönheit.<br />
Für sie ist das Universum Mutter, He<strong>im</strong>at.”<br />
Ein kalter Schauer rieselt durch den Künstler. Er erzittert<br />
vor Ehrfurcht. Und vor Neugier.<br />
“Wir Menschen dagegen müssen erst mühsam einen Weg<br />
suchen zum Verständnis des Universums. Für uns bedarf es<br />
größter Anstrengungen, über den Tellerrand zu kucken. Aber<br />
vielleicht wird das Universum eines Tages auch für uns nicht<br />
mehr fremd sein. Vielleicht werden dann auch wir seine Musik<br />
hören, seine Sprache verstehen und seine Schönheit mit<br />
Freude erleben können.”<br />
“W … wie … wie sieht denn so ein E-Wesen aus?”, krächzt<br />
der Maler.<br />
“E-Wesen können ihre Erscheinungsform verändern. Sowohl<br />
bei starker Verringerung als auch bei starker Erhöhung<br />
ihrer Materiedichte werden sie für uns unsichtbar. Bei sehr<br />
starker Materiekonzentration schrumpfen sie zu winzigsten<br />
Teilchen. Dabei werden enorme Energiepotentiale frei. Auf<br />
diese Weise können sie Expeditionen ins All durchführen, und<br />
zwar unglaublich schnell – auf Gottes Nervenbahnen. Am Ziel<br />
angelangt, werden dann rasch die erforderlichen Gestalten<br />
angenommen und die notwendigen Gerätschaften und Instrumente<br />
aus örtlicher Materie aufgebaut.”
Visionen 499<br />
“Wie sind E-Wesen konstruiert? Woher gewinnen sie ihre<br />
Energie? Wie? Wo? Was? Tausend Fragen!!”<br />
“Gemach.” Der Physiker legt die Handflächen zusammen<br />
und führt sie vor den Mund. Die Daumen stützen das Kinn,<br />
die Spitzen der Zeigefinger berühren die Nase. So verharrt er<br />
eine Zeitlang. “Ein E-Wesen”, sagt er endlich, “besteht aus<br />
Materieteilchen, die in besonderer Weise miteinander verknüpft<br />
sind. Die Art der Verknüpfung ist variabel und<br />
steuerbar. Auch die Stärke der Verknüpfungen kann kontrolliert<br />
verändert werden. Die Verknüpfungsmöglichkeiten<br />
sind vielfältig. E-Wesen entscheiden zum großen Teil selbst<br />
über ihre Eigenschaften. Sie sind nicht nur Gottes Kinder, sie<br />
sind auch – <strong>im</strong> Rahmen vorgegebener Gesetze – selber<br />
Schöpfer.”<br />
Der Physiker denkt nach. Dann sagt er: “E-Wesen benötigen<br />
für ihre Existenz kein sie tragendes Ökosystem. Sie<br />
gewinnen ihre Energie und Materie nicht aus dem Behindern,<br />
Beschädigen oder Töten anderer Geschöpfe. Ihre Überlegungen,<br />
Planungen und Taten werden nicht durch Triebe<br />
beeinträchtigt. Ethik und Moral müssen ihnen nicht gepredigt<br />
werden. Sie sind einfach da – system<strong>im</strong>manente,<br />
unumstößliche Bestandteile ihres Seins. So wenig ein Stein<br />
gegen Gottes Gesetze zu verstoßen vermag, sowenig vermögen<br />
das die E-Wesen.”<br />
Die Visionen des Wissenschaftlers erregen den Künstler<br />
maßlos. “W … wie”, ruft er laut und stößt die Spitze seines<br />
Spazierstocks mit Macht in die Holzbohle, “wie sollen sich<br />
Ihre E-Wesen denn ernähren? Wie für sie nutzbare Energie<br />
gewinnen? Wie sich vermehren? Wie sich verständigen?” Er<br />
zerrt den Hut in die Stirn. “Wie tauschen sie genetisches<br />
Material aus? Haben die überhaupt so was wie Sex?”<br />
“Sie beherrschen die Kunst, Gravitationskräfte zu manipulieren,<br />
nach Belieben Schwerefelder zu erzeugen und zu<br />
verändern. So saugen sie aus ihrer Umgebung gezielt und differenziert<br />
für sie nutzbare Materie an. Die Energie für ihre
500 GÖTTER<br />
Aktivitäten gewinnen sie auf die gleiche Weise wie der Panorganismus.<br />
Überall da, wo Materie bewegt oder umgewandelt<br />
wird, da fließt auch Energie.”<br />
“Und wie vermehren sich die E-Wesen?”<br />
“Durch Abtrennung von Teilen, die sich regenerieren. Aber<br />
E-Wesen können sich nicht nur vermehren, sie können auch<br />
das Gegenteil: mehrere Wesen können sich zu einem einzigen<br />
Wesen vereinigen. Auf diese Weise wird die Intelligenzleistung<br />
oder das Speicherpotential für Informationen vervielfacht. Ich<br />
gehe davon aus, daß bereits ein einzelnes E-Wesen enorme geistige<br />
Fähigkeiten besitzt, und Speicher- und Rechnerkapazitäten,<br />
welche unsere größten Computeranlagen um ein Vielfaches<br />
übertreffen.<br />
Die Verständigung zwischen E-Wesen erfolgt nicht, wie bei<br />
uns, durch vereinbarte Signale – akustische, also Sprache,<br />
und optische, also Schrift oder Zeichen. E-Wesen kommunizieren<br />
direkt, Gedanke mit Gedanken. Be<strong>im</strong> Menschen muß<br />
ein Gedanke <strong>im</strong>mer erst in Signale übersetzt werden, den<br />
Kommunikationspartner erreichen und von ihm zurückverwandelt<br />
werden in Gedanken. Das ist ein fehlerbeladener<br />
Prozeß. Nehmen Sie hinzu, daß die Signale oft unscharf sind,<br />
daß ein Wort oft für verschiedene Leute etwas Verschiedenes<br />
bedeutet, so darf man sich nicht wundern über das Ausmaß<br />
an resultierenden Mißverständnissen. Im …”<br />
“Aber”, ruft der Maler dazwischen, “was nicht alles hat der<br />
Mensch trotz dieser Beschränkungen hervorgebracht! Denken<br />
Sie an die Höhepunkte menschlicher Kulturen, die<br />
Glanzleistungen der Kunst und der Wissenschaft, das großartige,<br />
von Menschenhirnen geschaffene geistige Universum!”<br />
“Jede Faser unseres Körpers, jede Windung unseres Hirns,<br />
jedes Zittern unserer Seele ist Teil des Textes, der <strong>im</strong> Drehbuch<br />
der Schöpfung steht. Bemerken Sie den Kreis? Das Unentrinnbare?<br />
Das rotierende kosmische Theaterspiel?”<br />
Mit leeren Augen blickt der Künstler vor sich hin.
Visionen 501<br />
“Haben E-Wesen Sex?” n<strong>im</strong>mt der Physiker den Gesprächsfaden<br />
wieder auf. “Nein, natürlich nicht!”<br />
“Schade”, sagt der Maler, aber nur ganz leise.<br />
“Wozu auch? Ihre Fortpflanzung ist gesichert, ungetrübt durch<br />
Triebe. Nicht zuletzt das macht das Göttliche an ihnen aus.<br />
Auch Geschlechter gibt es selbstverständlich nicht. Die Vermischung<br />
genetischen Materials geschieht nach sorgfältig erforschten<br />
Regeln. Das Ergebnis wird getestet durch Exper<strong>im</strong>ente.<br />
Neue Energie-Materie-Konstellationen werden geplant,<br />
ihre Auswirkungen überprüft und schließlich gebilligt<br />
oder verworfen.”<br />
Einen Augenblick lang ist der Künstler sprachlos, fasziniert.<br />
Aber dann verdrängen Nachdenken und Kritik die Faszination.<br />
Das harte Furchengesicht verdunkelt sich: “Was Sie<br />
sich da so alles zusammendenken! Wie kommen Sie nur auf so<br />
etwas?”<br />
“Wie ich bereits angedeutet habe, hat mich eine Eingebung<br />
geleitet. Sie hat die Vorstellung in mir reifen lassen, daß die<br />
Schöpfung auch uns völlig fremde Formen von Leben hervorzubringen<br />
vermag. Da hat es mich gereizt, einmal ganz auf<br />
Empfang zu schalten, mich mit all meinen Sinnen auf von<br />
außen Kommendes einzustellen. Und dann habe ich das, was<br />
da an Gedanken und Visionen auf mich zuschwebte, tief in<br />
mich hineingesogen.”<br />
“Und so sind die E-Wesen in Ihre Welt gekommen?”<br />
“Ja.”<br />
“Und mit Ihren Vorstellungen über diese Wesen leben Sie<br />
seither.”<br />
“Ja.”<br />
Der Maler begreift plötzlich, daß die merkwürdigen Andeutungen<br />
des Wissenschaftlers über nächtliche Erscheinungen<br />
und Begegnungen <strong>im</strong> <strong>Park</strong> auf diese Weise ihre Erklärung finden.<br />
“Diese Wesen beginnen offenbar, Ihr Denken zu beeinflussen,<br />
Ihre Welt zu verändern.”<br />
“Ja.”
502 GÖTTER<br />
“Ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet?”<br />
“Was?”<br />
“Etwas, das Sie Religionsführern vorwerfen.”<br />
Achselzucken.<br />
“Sie haben gesagt, viele Religionsführer seien ganz und gar<br />
in der von ihnen erdachten Phantasiewelt zu Hause. Und Sie<br />
haben gesagt, daß es für so manchen Religionsführer eine<br />
schl<strong>im</strong>me Überraschung geben würde, wenn seine Phantasiewelt<br />
zusammenbräche.”<br />
Nicken.<br />
“Schauen Sie mal, da gibt es doch Parallelen zwischen Ihnen<br />
und den religiösen Männern.”<br />
Ein fragendes Gesicht.<br />
“Ist das nichts Paralleles, wenn Sie sich Eingebungen öffnen,<br />
die Ihnen angeblich aus dem Universum zuschweben,<br />
und wenn Sie diesen Eingebungen gestatten, von Ihnen oder<br />
von ihrem Hirn Besitz zu ergreifen? Leben nicht auch Sie da<br />
in einer Phantasiewelt? Und wird es dann nicht eines Tages<br />
auch für Sie eine schl<strong>im</strong>me Überraschung geben?”<br />
Der Wissenschaftler ist betroffen.<br />
Der Künstler genießt es, den anderen in Verlegenheit<br />
gebracht zu haben. Diesen Alleswisser, diesen Physiker-Biologen-Philosophen.<br />
Er grinst. Aus aufblitzenden Augenwinkeln<br />
sieht er, wie der Kiefer mahlt unter dem kahlen<br />
Schädeldach.<br />
Mit zusammengezogenen Brauen sinniert der Physiker vor<br />
sich hin. Gedankenverloren nickt er mehrmals. Sein Gefährte<br />
hat da einen kritischen Punkt angesprochen. Darüber<br />
muß er nachdenken. Aber er ist weit davon entfernt, seine<br />
Vorstellungen ungeprüft fallen zu lassen. Die haben für ihn<br />
<strong>im</strong> Laufe der Zeit einen sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad<br />
gewonnen. ‘Ich werde eine Bestätigung meiner Vorstellungen<br />
herbeiführen’, denkt er. ‘Oder deren Widerlegung. Ich werde<br />
eine unmittelbare Begegnung mit den Wesen erzwingen.<br />
Koste es, was es wolle!’
Gestaltungsgeschehen<br />
Gestaltungsgeschehen 503<br />
Künstler und Wissenschaftler erheben sich und beginnen<br />
einen neuen Rundgang um den See.<br />
“Sie haben”, sagt der Maler nach einer ganzen Weile, “<strong>im</strong>mer<br />
wieder von Ausreifungsplan und Ausreifungszwang<br />
gesprochen. Was meinen Sie damit?”<br />
Als der Physiker nicht antwortet fragt der Maler: “Sind das<br />
Manifestationen der Macht Ihres Gottes?”<br />
Der Physiker schweigt.<br />
“Was ist der Kern der Macht Gottes?”<br />
Der Physiker sieht sich um als suche er etwas. Sein Gesichtsausdruck<br />
läßt darauf schließen, daß er aus tiefen Gedanken<br />
zurückkehrt. Er räuspert sich. “Zweierlei”, sagt er nun<br />
mit fester St<strong>im</strong>me: “Die Gesetze, nach denen das Entfalten<br />
und Zusammenstürzen des Universums erfolgt – vorbest<strong>im</strong>mt<br />
<strong>im</strong> Ganzen aber <strong>im</strong>mer wieder neu gestaltet <strong>im</strong> Detail. Und<br />
die Zeit, die unendliche, unwiderbringlich still dahinziehende<br />
Zeit, in der die Schöpfung ausreift, sich vollendet und vergeht<br />
– in ewigem Wechsel.”<br />
“Was genau bedeutet ausreifen?”<br />
“Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Aber ich habe da so<br />
meine Vorstellungen.”<br />
“Ich bin gespannt! Wie ein Flitzbogen!!”<br />
“Das ist ein kompliziertes Thema. Haben Sie Zeit und Geduld?”<br />
“Nur los! Für so was hab ich <strong>im</strong>mer Zeit. Mit der Geduld ist<br />
das schon eher ein Problem.” Ein gewitztes, wißbegieriges<br />
Grinsen zieht die Wulstlippen in die Breite. “Aber ich werde<br />
mir Mühe geben.”<br />
Die beiden setzen sich auf eine Bank am Ostufer des Sees.<br />
Auf dieser Bank waren dem Physiker <strong>im</strong>mer wieder besondere<br />
Vorstellungen zugeschwebt. Und hier haben manche davon,<br />
so meint er jedenfalls, erst in der letzten Nacht eine faszinierende<br />
Bestätigung erfahren – in Form von außergewöhn-
504 GÖTTER<br />
lichen Erscheinungen. Die Bank ist ein Stück vom Wegrand<br />
zurückgesetzt worden, weiter als die anderen. Zur Rechten,<br />
zur Linken und in ihrem Rücken ist sie von dicht stehenden<br />
Büschen umgeben. Man sitzt hier wie in einem Erker. Hier<br />
kann man völlig in sich versinken, tief in sich hineinsehen.<br />
Ein tiefer Blick verlangt nach tiefer Entrücktheit. Nur in einer<br />
sich ganz dem innersten Wesen des Universums öffnenden<br />
Einsamkeit kann dem Menschen die Gnade besonderer<br />
Einsichten zuteil werden.<br />
Der Physiker n<strong>im</strong>mt die Brille ab, putzt sie, hält sie gegen<br />
den H<strong>im</strong>mel, prüft, ob alles ganz sauber ist. Putzt sie erneut<br />
und setzt sie nun zurück auf die Nase. Abwesend schiebt er<br />
sie hoch, exakt auf ihren Platz. “Schaffen Sie Raum in Ihrem<br />
Kopf”, sagt er, “bereiten Sie sich vor auf etwas Neues.”<br />
Ungeduldig nickt der Maler.<br />
“Auf Ihre Bitte hin habe ich ein Bild entworfen darüber, wie<br />
die Wissenschaft das Universum sieht. Darauf baue ich jetzt<br />
auf. Aber das, was ich Ihnen heute darlege, ist nicht das<br />
Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, sondern der Versuch<br />
einer Synthese von wissenschaftlichem Erkennen und intuitivem<br />
Erahnen.”<br />
“Paßt denn das zusammen?”<br />
“Das ist die einzige Möglichkeit, über den Zaun zu spähen,<br />
den die Schöpfung um uns zieht – jedenfalls ein winziges<br />
Stückchen.”<br />
Den Maler überrascht diese Akzentverschiebung in der Diskussion.<br />
“Sie verwirren mich”, flüstert er. Ohne daß ihm das<br />
bewußt wird, rückt die Hand den Hut zurecht. ‘Dieser Naturwissenschaftler!’,<br />
denkt er, ‘<strong>im</strong>mer mehr Rätsel gibt der mir<br />
auf. Immer mehr entwurzelt der mich.’ Verloren fährt der<br />
Handrücken über den Mund. Wie die erste Gebärde, so gehört<br />
auch die zweite nicht zum Repertoire seiner unbewußten Bewegungen.<br />
Dunkle Erinnerungen huschen umher <strong>im</strong> Maler.<br />
Das Echo nächtlicher Freundschaften hallt durch den Leib.<br />
“Schon meine erste Behauptung wird Sie überraschen: Alle
Gestaltungsgeschehen 505<br />
Materie, nichts als gefrorene Energie, ist potentiell lebendig<br />
und potentiell intelligent. Energie und Materie, zwei Erscheinungsformen<br />
ein und derselben Sache, besitzen unvorstellbar<br />
große Möglichkeiten der Organisation und Ausreifung. Die<br />
Phänomene, die eine Ausreifung dieser Möglichkeiten über<br />
Milliarden von Jahren steuern, die fasse ich zusammen in<br />
dem Begriff ‘Gestaltungsgeschehen’.”<br />
“Diesen Begriff hatten Sie bereits erwähnt. Was ist das?”<br />
“Ein ewiges Urprinzip.”<br />
“Woher haben Sie dieses Wissen?”<br />
“Das ist kein Wissen. Das ist eine Hypothese. Das von mir<br />
postulierte Gestaltungsgeschehen ist universumweit wirksam.”<br />
“Was bewirkt dieses Geschehen für mich?”<br />
“Am Anfang gibt das Gestaltungsgeschehen dem Universum<br />
– ebenso wie einem Menschen – nur die Erstausstattung mit,<br />
nur den Grundbauplan, die Grundfunktionen. Die Ausstattung<br />
mit Speziellem erfolgt erst <strong>im</strong> Laufe der Ausreifung.”<br />
“Wodurch?”<br />
“Durch Schlüsselereignisse. Deren Wirksamkeit erreicht ihr<br />
Max<strong>im</strong>um während best<strong>im</strong>mter Entwicklungszustände. Da<br />
gibt es Fenster, wie be<strong>im</strong> Start einer Weltraumrakete.”<br />
“Ich bin ohne derartige Fenster aufgewachsen.”<br />
“Wie bei anderen Menschen, so wurden auch in Ihrem Körper<br />
und in Ihrem Hirn best<strong>im</strong>mte Eigenschaften und Fähigkeiten<br />
vor allem in Zeitfenstern festgelegt.”<br />
“Bitte erläutern Sie mir das.”<br />
“In der frühen Individualentwicklung prägen Reize – Bilder,<br />
Sprache, Musik, Lernen, Zwischenmenschliches – Verhalten,<br />
Wissen und Können eines Menschen.”<br />
“Wie?”<br />
“Die Reize st<strong>im</strong>ulieren Nervenzellen. Die produzieren daraufhin<br />
Transmittersubstanzen. Und diese wiederum induzieren<br />
Verbindungen und Schaltstellen zwischen Nervenzellen.<br />
Mit anderen Worten: Sie bauen die Feinvernetzung des<br />
Nervensystems auf. So reifen, auf der Basis der Grundaus-
506 GÖTTER<br />
stattung und des Ererbten, die Besonderheiten einer Individualität.<br />
Reize aktivieren und dirigieren, chemische Substanzen<br />
locken und verlegen, Nervenwachstum verbindet und verschaltet.<br />
In seiner Essenz kann das Ergebnis derartiger<br />
Prägungsvorgänge über ein Menschenleben erhalten bleiben.”<br />
Der Physiker denkt nach. Dann sagt er: “Das Gestaltungsgeschehen<br />
ist unzerstörbar. Aus ihm heraus programmiert<br />
sich nach jeder Schöpfungsexplosion ein neues Universum.<br />
Das Gestaltungsgeschehen gebiert, evolviert, kontrolliert und<br />
liquidiert alles.”<br />
“Langsam”, ruft der Maler, “langsam! Ich komme nicht mit!<br />
Wie paßt denn das in unsere Welt?”<br />
“Wir sehen nur einen kleinen Teil Welt! Alles, was wir sehen,<br />
was wir erleben, alles Tote und Lebendige, das sind nur die<br />
für uns wahrnehmbaren materialisierten Nadelspitzen der<br />
Schöpfung. Und selbst davon sehen wir nur den Widerschein.”<br />
“Was soll denn das nun wieder heißen?”<br />
“Das ist ein bißchen so wie mit dem Licht. Auch das Licht<br />
können wir nicht sehen. Nur dessen Widerschein von Gegenständen,<br />
auf die es trifft. Was die Welt wirklich ausmacht,<br />
ihre Essenz, ihr Wesen – das ist mit unseren Sinnesorganen<br />
nicht erfaßbar und mit unseren Apparaten nicht meßbar.”<br />
“Was ist die Essenz?”<br />
“Das Gestaltungsgeschehen. Es läßt alles Materielle aus<br />
dem Nichts, aus Energie, hervorgehen und wieder darin<br />
verschwinden. In einem unvorstellbar gewaltigen kosmischen<br />
Theaterspiel zwingt es alles dazu, in Milliarden von Jahren<br />
auszureifen. Unaufhaltsam drängt es vorwärts, <strong>im</strong>mer nur vorwärts.<br />
Und schließlich läßt es alles so Entstandene wieder<br />
vergehen, wieder zu Energie werden – in ewigem Wechsel ein<br />
ewiger Kreis.”<br />
“Immer da, aber nie geworden?<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Was, zum Teufel, bedeutet das?”<br />
“Das ist die Geschichte vom Sein und vom Nichtsein.”
Gestaltungsgeschehen 507<br />
“Was ist Nichtsein, was Sein? Und wie paßt die Schöpfung<br />
da rein?”<br />
“Nichtsein ist der Kern des Gestaltungsgeschehens. Dessen<br />
Wirkung ist das Werden. So formt das Gestaltungsgeschehen<br />
das ausreifende Sein. Das Formen ist der Schöpfungsakt, sein<br />
Ergebnis, die Schöpfung.”<br />
“Dann ist das Gestaltungsgeschehen Gott?”<br />
“Es ist sein Wille.”<br />
Der Maler schluckt. “Die Schöpfung”, fragt er erregt, “ist sie<br />
ewig?”<br />
“Nein. Das Gestaltungsgeschehen ist ewig. Die Schöpfung<br />
ist etwas sich <strong>im</strong>mer wieder Erneuerndes.”<br />
“Erklären!”, schreit der Maler außer sich. “Erklären!! Wo ist<br />
der Motor? Welche Kraft treibt die Ausreifung?”<br />
“Eine besondere Form von Energie. Die Physik kennt nur<br />
‘Arbeitsenergien’: Potentielle Energie, Bewegungsenergie,<br />
Wärmeenergie, Gravitationsenergie. Meiner Ansicht nach ist<br />
der Motor eine Urenergie, eine Kraft, die das geordnete Werden,<br />
Ausreifen, Vergehen und Wiederwerden des Universums<br />
überhaupt erst möglich macht. Eine kosmische Energie. Die<br />
Energie des unermeßlichen Reiches der <strong>im</strong>materiellen Erscheinungen.”<br />
“Teufel auch, was ist das für eine Energie?”<br />
“Ich nenne sie Organisationsenergie.”<br />
“Sie erschlagen mich mit Ihren Begriffen! Und Sie verwirren<br />
mich mit Ihren Vorstellungen! Was ist das, Organisationsenergie?”<br />
“Organisationsenergie enthält die Uridee, das Urprogramm<br />
des Universums. Sie ist vor der Materie da. Sie ist die Mutter<br />
aller Strukturen und aller Funktionen. Sie erfüllt und durchströmt<br />
den gesamten Kosmos, in örtlich unterschiedlicher<br />
Stärke und Wirksamkeit.”<br />
“Was bedeutet das für mich?”<br />
“Organisationsenergie ist überall. Sie liefert Antrieb und<br />
Plan für alles. Das reicht von den Galaxien, bis hin zu den
508 GÖTTER<br />
einzelnen H<strong>im</strong>melskörpern, von den Lebenssystemen, bis hin<br />
zu den einzelnen Lebensformen – also auch zu Ihnen, zu Ihrer<br />
geistigen und körperlichen Einmaligkeit.”<br />
“Zu viel ‘überall’! Zu viel ‘alles’!”<br />
“Überall herrschen die gleichen Kräfte, alles unterliegt den<br />
gleichen Gesetzen.” Der Physiker schweigt einen Augenblick.<br />
Dann sagt er: “Ohne Organisationsenergie kann keine Ordnung<br />
entstehen, sich erhalten und fortentwickeln. Um die in<br />
ihr schlummernden Möglichkeiten zu realisieren, benötigt sie<br />
unvorstellbar viel Zeit und über lange Zeitspannen berechenbare<br />
physikalische und chemische Bedingungen.”<br />
Chaos<br />
“Sie tun so, als habe alles seine gute Ordnung. Andere Physiker<br />
aber sehen Unordnung, Chaos.”<br />
“Was meinen die damit?”<br />
“Unberechenbarkeit, Zufall, Unvorhersagbarkeit – <strong>im</strong><br />
Grunde also gesetzloses Verhalten.”<br />
“Gesetzloses kann nur erkennen, wer um die Gesetze weiß.”<br />
“Und?”<br />
“Die Menschen wissen zu wenig über die Gesetze.”<br />
Der Maler wiegt den Kopf. Er überlegt. Dann sagt er: “Gibt<br />
es Übergänge zwischen Ordnung und Unordnung?”<br />
“Im Universum wird ständig Ordnung aus Unordnung und<br />
Unordnung aus Ordnung.”<br />
“Ihre Kollegen erwecken den Eindruck, als hätten sie das<br />
Phänomen des Chaos gerade eben entdeckt.”<br />
“Physiker haben bisher vor allem in Zuständen der Ordnung<br />
gedacht und gerechnet. Für sie ist die Begegnung mit dem<br />
Chaos daher eine aufregende Sache. Biologen haben schon<br />
lange mit dem Chaos gelebt. Für sie gehören Ordnung und<br />
Unordnung zusammen wie Leben und Tod.”<br />
“Was ist Chaos für Sie?”
Chaos 509<br />
“Ein Teil der Ordnung. Sozusagen programmierte Unordnung.<br />
Für mich ist Chaos ein Motor für die Ausreifung der<br />
Materie, der toten wie der lebendigen.”<br />
“Wo ist Unordnung ein Teil der Ordnung?”<br />
“Zum Beispiel bei der Entstehung des Lebendigen.”<br />
“Dann ist Leben Ordnung und Tod Unordnung?”<br />
“Das wäre zu unscharf und auch nur zum Teil richtig. Es gibt<br />
Unordnung <strong>im</strong> Lebenden, zum Beispiel in der Evolution. Und<br />
es gibt Ordnung <strong>im</strong> Toten, zum Beispiel in Gesetzmäßigkeiten<br />
der Materiestruktur.”<br />
“Ist eine Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung<br />
<strong>im</strong> Bereich des Geistigen möglich?”<br />
“Auch da gibt es Übergänge.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Jeder Satz, den ich soeben gesprochen habe, war das Ergebnis<br />
eines Übergangs von Unordnung zu Ordnung. Ideen-<br />
Nebel und Gedankensplitter wurden geordnet zu Wörtern<br />
und Aussagen.”<br />
“Freilich! Nicht von ungefähr sagen wir: ‘ich muß erstmal<br />
meine Gedanken ordnen.’”<br />
“So ist es.”<br />
“Und was folgern Sie daraus?”<br />
“Nicht, was ist Ordnung, ist die Frage, nicht, was ist Unordnung.”<br />
“Sondern?”<br />
“Welche Kraft ist hier am Werk? Wie schafft sie Ordnung,<br />
wie Unordnung?”<br />
“Und welche Kraft ist da am Werk?”<br />
“Die Kraft, die ich als Organisationsenergie bezeichne.”<br />
“Und da wären wir wieder am Ausgangspunkt.”<br />
“Ja. Ich vermute, daß es eine materielose Grundkraft gibt.<br />
Ein Urgeschehen, das alles und jedes hervorbringt, also auch<br />
alles für uns Erlebbare. Ein Urgeschehen, das alles entwickelt,<br />
steuert und wieder vergehen läßt.”<br />
“Und welche Bedeutung könnte dabei dem Chaos zukommen?”
510 GÖTTER<br />
“In der Welt <strong>im</strong> Kleinen wie in der Welt <strong>im</strong> Großen vermögen<br />
winzige Ursachen riesige Wirkungen zu erzeugen, unvorhersagbar<br />
<strong>im</strong> einzelnen, aber vorbest<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> ganzen. Hier könnte<br />
‘geplante’ Unordnung eine innovative Wirkungsdynamik entfalten.<br />
Aber ich gehe davon aus, daß es Chaos außerhalb der<br />
Naturgesetze nicht gibt, nicht geben kann. Im Chaos würfelt<br />
die Ordnung um neue Möglichkeiten, sich zu manifestieren.”<br />
“Welche Rolle spielt dabei die Zeit?”<br />
“In unendlich kleinen und in unendlichen großen Zeitspannen<br />
verschw<strong>im</strong>men die Begriffe. Auch so kann Ordnung zu<br />
Unordnung und Unordnung zu Ordnung werden.”<br />
“Wo bleibt in Ihrem Weltverständnis der Ausgleich, wo Ruhe,<br />
wo Entspannung?”<br />
“Es gibt nichts Ausgeglichenes, nichts Ruhendes, nichts<br />
Spannungsfreies. Das erste Grundgesetz des Universums<br />
heißt ewige Bewegung, ewiger Auf- und Abbau von Ungleichgewichten,<br />
ewige Spannung. Hier steht die Wiege von allem.”<br />
“Beispiele!”<br />
“Aufbau negativer Gravitationsenergie als Folge des Urknalls,<br />
deren Abbau be<strong>im</strong> Zusammenstürzen des Universums<br />
und deren abermaliger Aufbau be<strong>im</strong> nachfolgenden Knall.<br />
Entstehung von Materie aus Energie und deren Rückverwandlung<br />
in Energie. Universumweite Abstoßung und Anziehung.<br />
Schwingungsberg und Schwingungstal. Schaffung<br />
und Vernichtung von Komplexem. Billiardenfaches Borgen<br />
und Rückzahlen von Energie. Eines bedingt das andere. In<br />
stetem Wandel. Daher gibt es auch keinen Anfang und kein<br />
Ende. Alles ist in ständigem Fluß. In ewigem Reigen ein<br />
ewiger Ring.”<br />
Gedankentheater<br />
“Ihr Gestaltungsgeschehen, Ihre Organisationsenergie”, quillt<br />
es aus dem Maler hervor, “beinhalten sie auch menschliche
Gedankentheater 511<br />
Schöpfungen? Wenn ich male, fließen mir da Ihrer Ansicht<br />
nach auch Kräfte zu, die auf die Organisationsenergie zurückgehen?”<br />
“Meiner Ansicht nach, ja.”<br />
“Wie soll das funktionieren?”<br />
“Wie ich schon sagte, sind wir letztlich nichts anderes als<br />
winzige Funken des gewaltigen Feuers, das sich vor Milliarden<br />
von Jahren entzündet hat. Nichts anderes als zeitlich und<br />
räumlich begrenzte Wirbel von in best<strong>im</strong>mter Weise angeordneten<br />
Teilchen.”<br />
“Wie kann daraus Ganzheit, wie eine neue Qualität entstehen?”<br />
“Die einzelnen Teilchen beeinflussen sich gegenseitig. Und<br />
sie entwickeln kollektive Verhaltensweisen, welche ihrerseits<br />
Eigenschaften der Einzelteilchen verändern. So kann das Zusammengesetzte<br />
innere Identität und Zusammenhalt gewinnen.<br />
Und so vermag es, <strong>im</strong>mer wieder neue Eigenschaften,<br />
neue Qualitäten zu entwickeln.”<br />
“Was hat das mit mir zu tun?”<br />
“Wie bei anderen Menschen, so wird auch bei Ihnen ein Teil<br />
des Kreisens und Wirbelns in Gedanken umgewandelt, in Gefühle,<br />
Ideen, Verlangen, Triebe, Ängste.”<br />
Der Maler ist äußerst erregt. Sein ganzes Wesen rebelliert:<br />
‘Das geht zu weit!’, schreit eine St<strong>im</strong>me in ihm. Und dann<br />
denkt er: ‘Mein Empfinden ist zu eng für die Welt dieses<br />
Wissenschaftlers. Dessen visionäres Eindringen in universale<br />
Zusammenhänge kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin<br />
zu gefühlsorientiert, um Tod und Leben zusammenzudenken,<br />
um in Stein und Fleisch das Gleiche zu sehen.’<br />
Erst gestern nacht hatte er verloren vor leerer Leinwand<br />
gehockt. Wieder wollte er die Essenz dessen, was für ihn der<br />
Engel ist, in Ölfarben bannen. Vergeblich! Da hatte er den<br />
Kopf gesenkt und schließlich wie <strong>im</strong> Traum auf die Leinwand<br />
gepinselt:
512 GÖTTER<br />
Ich gehe und gehe<br />
Ich weiß nicht wohin<br />
Ich suche und suche<br />
Ich weiß nicht warum<br />
Licht am Weg, Höhe, Erfüllung<br />
Dunkel <strong>im</strong> <strong>Suchen</strong>, Tiefe, Verzweiflung<br />
Wo bin ich?<br />
Ich weiß nicht wo<br />
Wer bin ich?<br />
Ich weiß nicht wer<br />
Und dennoch: Ich bin<br />
Und weiter: Ich muß<br />
Jetzt zerren dünne Finger am weißen Hut. Unwirsch wendet<br />
sich der Künstler dem Wissenschaftler zu: “Sie verlassen<br />
die Pfade der Realität. Ich sehe diese Dinge anders! Ganz anders!!”<br />
Doch der Physiker reitet ihm davon: “Das Schwingen, Wirbeln<br />
und Kreisen, aus dem unsere Gedanken und Empfindungen<br />
sich formen, hat sozusagen ein Innen und ein Außen.<br />
Innen wohnen die speziellen Kräfte, die unsere Einmaligkeit<br />
als Teil des Ganzen ausmachen, außen die allgemeinen.<br />
Genau genommen gibt es natürlich kein separates Innen und<br />
Außen, aber diese Vorstellung erleichtert das Verständnis<br />
dessen, was ich ausdrücken möchte. Innen sind unsere individuellen<br />
Eigenarten, Fähigkeiten und Erfahrungen, unser<br />
Gedächtnis und unser Vermögen, Gespeichertes und Erfahrenes<br />
selektiv vorübergehend zu aktivieren und auf die Bühne<br />
des Bewußtseins zu rufen, es also stückchenweise zu erleben<br />
und darüber nachzudenken. Außen ist das uns tragende Lebenssytem,<br />
die Natur, das Universum. Das Theater unserer<br />
Gedanken und Gefühle empfängt Anregungen vom Innen und<br />
vom Außen.”
Gedankentheater 513<br />
In hilfloser Verwirrtheit ruft der Maler: “Und aus diesem<br />
Anregungssalat soll Vernünftiges entstehen können?”<br />
“Ich sehe das nicht als Salat.”<br />
“Wie kann eins zum andern finden?”<br />
“Durch Abst<strong>im</strong>mung der Wellenlängen.”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Ein best<strong>im</strong>mter Mensch kann <strong>im</strong>mer nur das empfangen<br />
und erleben, was seiner Empfangsausstattung gemäß ist.”<br />
“Das ist mir aber ein sonderbares Theaterspiel! – Was ist da<br />
meine Rolle?”<br />
“Die eines Zukuckers.”<br />
“A … aber”, stottert der Maler, “a … aber …”<br />
“Sind wir nicht alle Zukucker?”<br />
“W … wie … ?”<br />
“Und Darsteller. Und manchmal auch Regisseur.”<br />
“Regisseur? Ich denke wir sind Teil.”<br />
“Teil <strong>im</strong> Weltgeschehen. Regisseur <strong>im</strong> Theater unserer Gedanken.<br />
Wie kein anderes Wesen auf der Erde kann der<br />
Mensch versuchen, in das Theaterspiel seiner Gedanken und<br />
Vorstellungen einzugreifen und so Akzente zu setzen. Wie kein<br />
anderes Wesen kann er auf der Bühne seines Bewußtseins<br />
verschiedene Gegebenheiten und Möglichkeiten gedanklich<br />
durchspielen. Und er kann danach streben, die sich daraus ergebenden<br />
Konsequenzen abzuschätzen und zu berücksichtigen.”<br />
“Ein Gedankentheater!”<br />
“Ja. Und mitten auf der Bühne dieses Gedankentheaters<br />
steht die Wiege der Menschlichkeit. Hier wurde die Menschenwelt<br />
geboren.”<br />
Wieder ist der Künstler aufs höchste erregt. Wieder ist er<br />
ganz und gar <strong>im</strong> Bann der Ideen des Wissenschaftlers: “Sie<br />
haben von Außenbotschaften gesprochen, die unser Gedankentheater<br />
beeinflussen.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Wie sollen uns Botschaften von außen erreichen?”
514 GÖTTER<br />
“Wenn ich einen Gedanken, eine Idee, auf die Bühne meines<br />
Bewußtseins stelle, wenn ich mich darauf konzentriere, wenn<br />
die Kulisse die richtige ist und wenn die St<strong>im</strong>mung paßt,<br />
dann kommt Verwandtes dazu. Nicht selten etwas, das nicht<br />
zu meinem Erlebnisschatz, zu meinem Gedächtnis, gehört:<br />
Darsteller und Botschaften also, die von außen kommen. Sie<br />
agieren, verändern und gestalten. Ich hocke dann in einer<br />
dunklen Ecke meines Bewußtseins und sehe und höre dem<br />
Geschehen zu, stumm, gebannt, fasziniert.”<br />
“Was verstehen Sie unter Bewußtsein?”<br />
“Zunächst einmal das, was wir in einem best<strong>im</strong>mten Augenblick<br />
gewahr werden. Sodann aber auch das, was wir davon<br />
gedanklich bewältigen, also begreifen können. Und schließlich<br />
das, was wir von dem Begriffenen in Worte zu fassen vermögen.<br />
Es gibt also verschiedene Ebenen von Bewußtsein, sozusagen<br />
verschiedene Scharfeinstellungen. In seiner höchsten<br />
Form ist Bewußtsein die letzte Kontrollinstanz des Hirns.<br />
Hier gewahrt und bewertet es einen Teil seiner eigenen Arbeit.”<br />
“Ja”, sagt der Maler nach einigem Nachdenken, “ja, das ist<br />
eine faszinierende Sache.”<br />
“Welche Sache meinen Sie jetzt?”<br />
“Ich meine diesen Übergang von zunächst ganz gehe<strong>im</strong>en<br />
Gedanken zum gesprochenen oder geschriebenen Wort.<br />
Dieses Hinaustreten von Privatem aus der Welt des Eigenen,<br />
<strong>Inter</strong>nen in die Welt des Fremden, Öffentlichen – in die Welt<br />
der Allgemeinheit.”<br />
“Das empfinde ich ganz ähnlich. Auf einmal steht man nackt<br />
da. Ist von jederman zu besichtigen. Ist Gegenstand geworden<br />
von Diskussionen, Beurteilungen, Verurteilungen. Das ursprünglich<br />
eigene lebt da irgendwo weiter, aber losgelöst von<br />
mir, Mißverständnissen preisgegeben, nicht länger veränderbar,<br />
nicht länger rücknehmbar, nicht mehr reprivatisierbar.”<br />
Der Maler nickt. “Das Gedankentheater hat auf einmal Zuschauer.”
Gedankentheater 515<br />
“Genauso ist es.”<br />
“Gibt es Bewußtwerden auch bei Tieren?”<br />
“Meiner Ansicht nach ja.”<br />
“Welche Funktion hat es dort?”<br />
“Es dient der Einordnung des Individuums in äußere Systembezogenheiten.<br />
Bewußtwerden ermöglicht eine schnelle<br />
Veränderung und Anpassung von Verhaltensstrategien. Das<br />
ist besonders wichtig bei Lebensformen, die <strong>im</strong>mer wieder<br />
rasch neue Probleme und neue Situationen meistern müssen.<br />
Wollte die Natur für all das erblich fixierte, also angeborene<br />
Reaktionsbahnen bereithalten, so müßte das zu Überbelastungen<br />
und zu evolutiven Erstarrungen führen.”<br />
“Bewußtwerden ist nicht <strong>im</strong>mer das Resultat einer eigenen<br />
geistigen Leistung?”<br />
“Nein. Ein Schmerz, ein aus den Tiefen des Leibes aufsteigendes<br />
Bedürfnis, ein Trieb, können so stark werden, daß sie<br />
von sich aus die Grenze zur Bewußtwerdung überschreiten,<br />
ja, daß sie das ganze Bewußtsein ausfüllen. Der Geist muß dabei<br />
nicht beteiligt sein.”<br />
“Glauben Sie, daß das Bewußtsein eine materielle Grundlage<br />
hat? Die Dualisten behaupten ja, Geist und Materie seien<br />
etwas voneinander Verschiedenes, Unabhängiges. Aber moderne<br />
Neurologen hoffen, dem Nachweis nahe zu sein, daß<br />
Geist und Bewußtsein eine materielle Basis haben.”<br />
“Eine materielle Basis, ja, aber das bringt uns nicht weiter.<br />
Am Anfang von allem, auch des Bewußtseins und des Geistes,<br />
steht das Nichtmaterielle. Die Materie ist nicht der Ausgangspunkt,<br />
sondern die Konsequenz der hier wirksamen Kräfte.”<br />
Der Physiker schweigt eine Weile. Dann sagt er: “Kräfte, die<br />
von außen kommen, wirken von überall her auf die Erde ein.<br />
Ohne sie könnte die Erde nicht ihre Position <strong>im</strong> Universum<br />
einnehmen und nicht geregelt ihre Bewegungen ausführen.<br />
Alles Leben auf der Erde ist in Wirkungsfeldern von Kräften<br />
entstanden, die von außen kommen. Unter dem Einfluß von<br />
Außenkräften ist es so geworden, wie wir es heute vorfinden.
516 GÖTTER<br />
Und auch jetzt noch, jeden Tag, wird das Leben auf der Erde<br />
von Außenkräften beeinflußt und geformt.”<br />
“Was sind das für Kräfte?”<br />
“Es sind universumweit wirkende Kräfte: Elektromagnetische<br />
Phänomene. Strahlung, Energie- und Materieströme,<br />
materielle und <strong>im</strong>materielle Wellen, Gravitation, Magnetfelder.<br />
Das Leben auf der Erde bedarf dieser Kräfte. Sie liefern<br />
Energie, Botschaften, Direktiven. Sie beeinflussen Lebensvorgänge,<br />
Verhaltensweisen, Wanderungen und Fortpflanzungsrhythmen.”<br />
“Wie können diese Kräfte auf uns einwirken?”<br />
“Unsere Übergangszone von außen nach innen, die Haut,<br />
kann wie eine Antenne wirken.”<br />
“Uups! Ich habe meine Haut noch niemals als Antenne empfunden!”<br />
“Die Haut ist unser größtes Organ. Während der Individualentwicklung<br />
entsteht sie aus dem gleichen Ke<strong>im</strong>blatt, aus<br />
dem auch Nerven und Sinnesorgane entstehen. Haut, Hirn<br />
und Sinnesorgane sind verwandte Strukturen. Viele einfach<br />
konstruierte Organismen sehen und hören mit ihrer Haut.<br />
Diese Fähigkeiten sind be<strong>im</strong> Menschen verkümmert. Aber<br />
sie sind da.”<br />
“Ich sehe mit den Augen! Ich höre mit den Ohren!”<br />
“Beides Hautverwandte.”<br />
“Weiter!”<br />
“Von außen, also auch aus dem Universum kommende Informationen<br />
können über die Haut Kontakt mit dem Hirn aufnehmen.”<br />
“Zur Hölle auch! Wie soll das funktionieren?”<br />
“Sie haben eben gesagt, daß Sie die Welt mit ihren Augen<br />
erleben.”<br />
“Ja.”<br />
“Was passiert da?”<br />
“Ich sehe.”<br />
“Und wie funktioniert das?”
Als der Maler nicht sogleich antwortet, sagt der Physiker:<br />
“Strahlung von außen – Licht von Sonne, Mond, Sternen,<br />
Lampen – trifft auf einen Gegenstand, sagen wir mal auf ein<br />
hübsches blondes Mädchen.”<br />
‘Engel!’, durchzuckt es den Maler. ‘Engel!!’<br />
“Das Mädchen reflektiert die Strahlung. Ein Teil der reflektierten<br />
Strahlung trifft auf die Licht perzipierenden Teile Ihres<br />
Auges. Von da dringt die empfangene Information ins<br />
Hirn. Dort entsteht ein Bild von dem Mädchen – ein Bild, dessen<br />
Eigenart letztlich auch von Ihrer Eigenart abhängt, von<br />
Ihrer Erfahrungswelt, ja von Ihrer St<strong>im</strong>mungslage.”<br />
‘Mein Gott!’, denkt der Maler. ‘Mein Gott!!’ Er zittert. ‘Gott<br />
sei mir Sünder gnädig!!’<br />
“Ich vermute nun, daß bei sensiblen Menschen vielerlei<br />
Außenbotschaften über die Haut ins Unterbewußtsein gelangen,<br />
dort reifen und ins Bewußtsein dringen. Daß sie nicht<br />
selten überraschend anmutende Einsichten, Erkenntnisse<br />
und Ängste konstellieren, die den Eindruck erwecken, sie<br />
seien in uns geboren.”<br />
Der Maler ist völlig in sich zuammengesunken.<br />
Ballons<br />
Ballons 517<br />
“So wie ich das sehe”, fährt der Physiker fort, “existieren alle<br />
großen Ideen, Gedanken und Empfindungen in ihrer Essenz<br />
bereits vor uns, außerhalb von uns – als Teil des universumweiten<br />
Gestaltungsgeschehens. Wie zarte Ballons schweben<br />
ihre Rohformen aus dunklen Nebelwolken in die Tageshelle<br />
unseres Bewußtseins. Wie Schmerzen kommen sie zu uns –<br />
wie Schmerzen, die lange vorher da waren, die uns aber erst<br />
wahrnehmbar, erst bewußt werden, wenn sie eine unsichtbare<br />
Intensitätsgrenze überschreiten.” Der Physiker schiebt die<br />
Brille hoch und blickt kopfdrehend weit über den See, als<br />
suchte er dort etwas. Kaum vernehmbar sagt er: “Und unsere
518 GÖTTER<br />
intensivsten Gedanken und Gefühle, sie können auch in sonderbarer<br />
Weise aus uns hinauswirken.”<br />
Scheinbar abwesend, tatsächlich aber ganz konzentriert in<br />
sich hineinsehend, sagt der Physiker: “In mir ist die Vorstellung<br />
gereift, daß die Urformen emotionaler Energien, geistiger<br />
Kräfte und Ideen ewig da waren und ewig da sein werden.<br />
Alles, was die Menschen je an großen Gedanken, Kompositionen,<br />
Bildern, Schriftwerken oder Erfindungen hervorgebracht<br />
haben, alles Bedeutende, das sie je empfunden und<br />
je gedacht haben, ja, alles, was sie überhaupt empfinden und<br />
denken können – all das ist in seiner Essenz bereits <strong>im</strong><br />
Gestaltungsgeschehen enthalten und vorweggenommen.”<br />
Der Maler macht einen Versuch, zu protestieren. Aber sein<br />
Gefährte n<strong>im</strong>mt das gar nicht wahr.<br />
“Selbst unsere größten Philosophen, Künstler und Wissenschaftler,<br />
sie haben niemals etwas wirklich noch nie Dagewesenes<br />
empfunden oder gedacht. Sie haben niemals etwas erfunden.<br />
Sie haben <strong>im</strong>mer nur etwas gefunden oder nachempfunden,<br />
etwas <strong>im</strong> Gestaltungsgeschehen bereits Vorhandenes,<br />
etwas, das <strong>im</strong> Weltprogramm seit ewigen Zeiten existiert<br />
und ewig existieren wird.”<br />
“Schaun Sie mal, das ist doch …” Der Maler schüttelt verzweifelt<br />
den Kopf. “Wo bleiben denn da die Einzelleistungen<br />
großer Künstler, Erfinder und Wissenschaftler? Sie haben die<br />
größten Kulturleistungen der Menschheit hervorgebracht!<br />
Keinem Menschen ist jemals eine Ganzheitsahnung vom Wirken<br />
und Wollen der Natur zugeschwebt. Sonst hätte sich die<br />
Menschheit sicherlich anders entwickelt und anders verhalten.”<br />
“Ich habe nicht von großen, neuerkannten Zusammenhängen<br />
gesprochen, sondern von Denkanstößen, von Intuitionen, von<br />
der Essenz großer Gefühle, Erfindungen und Einsichten.”<br />
“Weiter!”<br />
“Wer dazu fähig ist, sich als ein Teil des Universums zu begreifen,<br />
wer sich dem Außen ganz zu öffnen vermag, der kann
Ballons 519<br />
Botschaften empfangen und Anregungen, die sein Weltverständnis<br />
verändern. Der Wesensgehalt des Empfangenen muß<br />
durch den Verstand erfaßt und formuliert werden. So kann<br />
das Empfangene durch Nachdenken und Erörterungen zu<br />
neuen Erfahrungen und Einsichten reifen.”<br />
“Wenn es st<strong>im</strong>men würde, daß dem Menschen wichtige Botschaften<br />
aus dem Gestaltungsgeschehen zuschweben, wo liegt<br />
der Übertragungsfehler?”<br />
“Wie meinen Sie das?”<br />
“Warum sehen wir dann nur einen kleinen Teil der Welt?<br />
Warum nicht die ganze Welt?”<br />
“Der Mensch kann nur einen sehr kleinen Teil der Außenbotschaften<br />
wahrnehmen und selbst dieser Teil wird abgewandelt<br />
durch die spezifische Art, in der wir das Empfangene<br />
auswerten.”<br />
“Auch hier stoßen wir also wieder auf Ihr Restriktionsgesetz.”<br />
“So ist es.”<br />
“Und was ist mit einem kreativen Genie?”<br />
“Ein Genie ist ein besonders sensibler, phantasievoller und<br />
intelligenter Empfänger, Verabeiter, Ausdeuter und Wiedergeber<br />
von in der Natur Vorgegebenem. Diese meine Vorstellung<br />
erniedrigt einen genialen Menschen zu einer Art Reflektor,<br />
aber sie erhöht ihn auch zu einem besonderen Teil eines unerhört<br />
großen, eines unglaublich wunderbaren Ganzen. Wer<br />
sensibel ist und wer Geist hat, den vermögen viele Ballons zu<br />
erreichen. Und wer die Ballonbotschaften zu deuten, in Bilder,<br />
Worte oder Töne umzusetzen vermag, die in der Welt der Menschen<br />
laut und mächtig widerhallen, der ist ein großer Maler,<br />
Dichter, Denker oder Komponist. Die Auswahl, Deutung und<br />
Einordnung dessen, was da empfangen wird, das ist die eigentliche,<br />
die originäre Leistung der inneren Kräfte des Individuums.<br />
Diese meine Vorstellungen schließen auch Propheten<br />
ein und religiöse Botschaften. Hier vollendet sich also ein<br />
Kreis, der auch göttliche Offenbarungen umfaßt.”<br />
In seiner wachsenden Empörung hat der Künstler die letz-
520 GÖTTER<br />
ten beiden Sätze nicht zur Kenntnis genommen. Wütend<br />
springt er auf. Geduckt droht er mit dem Stock. Dann brüllt<br />
er den Wissenschaftler an: “Das ist alles, was meine Kreativität<br />
ausmacht? Mein Genie??”<br />
“Nicht alles”, lächelt der Physiker, “zu einem ordentlichen<br />
Genie gehört auch ein Löffel Eitelkeit, ein Körnchen Bosheit<br />
und eine Prise Ängstlichkeit.”<br />
“Sie!!!”<br />
Ungerührt vollendet der Physiker seinen Gedankengang:<br />
“Die Ballons schweben unmerklich herbei, scheinbar aus dem<br />
Nichts. Für mich kommen sie aus dem Gestaltungsgeschehen.<br />
Für mich sagen sie das – das Wenige – das wir von diesem<br />
Geschehen und seinen Botschaften begreifen können.”<br />
Diese Vorstellungen des Wissenschaftlers sinken tief ins<br />
aufgewühlte Hirn des Künstlers. Bis an sein Lebensende wird<br />
er sie nicht vergessen. “D … dann wären ja alle meine Bilder<br />
<strong>im</strong> Grunde Plagiate!”, brüllt er. Taumelnd sucht er nach Halt.<br />
Dann plötzlich fängt er sich wieder. Aufs höchste erregt trippelt<br />
er auf und ab vor der Bank.<br />
‘Verdammt nochmal!’, dröhnt es ihm <strong>im</strong> Schädel, ‘dieser<br />
Mann schadet meiner Schaffenskraft! Was, zum Teufel, nützt<br />
mir alles Wissen dieses Wissenschaftlers, wenn es mir den<br />
Glauben n<strong>im</strong>mt, den Glauben an meinen Gott, den Glauben an<br />
mich, den Glauben an meine Originalität, an meine Genialität?!’<br />
“N… nicht mein Werk!!”, kreischt der Bucklige wie von Sinnen.<br />
“Nicht mein Verdienst. Nicht meine eigene Leistung!!”<br />
“So ist es”, sagt der Physiker. “Jedenfalls fast so.”<br />
“A … alles schon dagewesen! A … alles nur Wiederholung.<br />
Das ist doch Wahnsinn!!”<br />
“Es ist nicht alles schon dagewesen. Wir müssen differenzieren.<br />
Immer schon dagewesen sind die großen Kräfte, die großen<br />
Gedanken, die großen Ideen. Immer schon dagewesen sind<br />
die Organisationsenergie, die Schöpfungsexplosion, der<br />
Milliarden von Jahren in Anspruch nehmende Ausreifungsprozeß<br />
und der alles Materielle wieder zerschmetternde Ver-
Ballons 521<br />
nichtungsprozeß. Und dies alles wird auch ewig da sein. Noch<br />
nicht dagewesen sind die Einzelheiten, ist das Individualisierte<br />
der Natur, das ständig neue Wege <strong>Suchen</strong>de, sich niemals<br />
Wiederholende, das <strong>im</strong>mer wieder neue Möglichkeiten hervorbringende<br />
Spiel, in dem sich die Grundkräfte der Schöpfung<br />
verwirklichen und erneuern.”<br />
“E … erklären!”, gurgelt der bebende Maler. “Erklären!!”<br />
“Jeder große Gedanke, jede große schöpferische Leistung,<br />
jede große religiöse Botschaft, sie alle bestehen aus <strong>im</strong>mer<br />
schon Dagewesenem und aus Neuem – aus von außen auf uns<br />
zuschwebenden Anregungen und aus dem, was unser individueller<br />
Geist daraus entstehen läßt.”<br />
Der Maler hebt abwehrend die Hand.<br />
“Alles, was wir sind”, fährt der Physiker fort, “alles, was wir<br />
erfahren und erlernt haben, unsere ganze unwiederbringliche<br />
Einmaligkeit als Individuum – das ist der Ort, an dem die<br />
Ballons Gedanken und Botschaften absetzen, das ist die Bühne,<br />
auf der die herbeischwebenden Darsteller ihre geisterhaften<br />
Tänze aufführen, auf der sie ihre Rollen spielen.”<br />
Lange schweigen die beiden.<br />
Schließlich fragt der Maler: “Und wo bleibt da Ihre Wissenschaft?”<br />
“Sie funktioniert nur innerhalb der Grenzen menschlicher<br />
Möglichkeiten. Nur hier vermag sie Gedankengebäude zu errichten,<br />
die in sich schlüssig wirken und dementsprechend als<br />
logisch oder als wahr empfunden werden. Wissenschaft ist in<br />
der Menschenwelt zu Hause.”<br />
“Da sind wir also schon wieder be<strong>im</strong> Restriktionsgesetz.”<br />
“Ja. Die Wissenschaft ist eine Konstruktion des Menschengeistes.<br />
Daher vermag sie dessen Grenzen nicht zu überschreiten.<br />
Aber unser Menschsein als Ganzes kann Botschaften von<br />
außerhalb der Grenzen empfangen und sie dem Hirn zuführen.<br />
So können wir darüber nachdenken. Und so können wir das<br />
Ergebnis des Nachdenkens überprüfen, indem wir es in Beziehung<br />
setzen zu wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisssen.
522 GÖTTER<br />
Nur wem es gelingt, Erforschbares zu bereichern mit Erfühlbarem,<br />
nur dem gewährt die Schöpfung einen flüchtigen Blick<br />
durchs Schlüsselloch. Aber selbst so ein flüchtiger Blick kann<br />
das Leben eines Menschen für <strong>im</strong>mer verändern.”<br />
Perlen<br />
Der Maler reißt den Hut vom Kopf. Schwankend geht er<br />
zurück zur Bank. Dort hockt er sich auf die Kante der Sitzfläche.<br />
“Natürlich”, sagt der Physiker, “erfordert alles Große Sensibilität<br />
und Geist. Ein Stumpfer kann keine großen Gefühle<br />
empfinden, ein Dummer keine großen Ideen gebären. Stumpfe<br />
und Dumme verharren in der Ebene. Ihnen sind Berge so fremd<br />
wie Täler.”<br />
Von Verkrampfung erlöst, rutscht der Maler in eine normale<br />
Sitzposition. Und dann, ganz plötzlich, gewinnt er inneres<br />
Gleichgewicht zurück. Er beginnt zu überlegen. Nach einiger<br />
Zeit sagt er: “Freilich, das sind große Gedanken.” Er legt Hut<br />
und Stock neben sich. “Da erkenne ich zwei Seiten menschlicher<br />
Existenz: die große universumweite und die kleine individuum-gebundene.<br />
Den endlosen Aspekt überpersönlichen<br />
Weltgeschehens und den endlichen Aspekt unserer vergänglichen<br />
Individualität. Das unsichtbare Zeitlose und das<br />
sichtbare Zeitliche. Hier verbindet ein großer Wurf sich<br />
scheinbar gegenseitig Ausschließendes.”<br />
Der Physiker nickt.<br />
“Im Rahmen des Endlosen”, überlegt der Maler weiter,<br />
“finden wir unsere Hoffnung auf Ewigkeit erfüllt, schwebt uns<br />
eine Ahnung zu von der Vollkommenheit des Universums, von<br />
der Gemeinsamkeit mit allem Lebenden, ja mit allen Kräften<br />
und Erscheinungsformen der Schöpfung überhaupt. Innerhalb<br />
der Grenzen des Endlichen wachsen, tanzen und vergehen unsere<br />
Ichs.” Er faßt an die Hutkrempe. “Hier reiht ein Gedanken-
Perlen 523<br />
faden Unterschiedliches zu Perlen einer Kette.”<br />
“Ja”, sagt der Physiker. “Und diese Kette führt zum Kern<br />
unseres Seins. Sie hilft uns, die Begrenztheit und Vergänglichkeit<br />
unserer Individualität zu erkennen und zu ertragen,<br />
und sie gibt uns die Möglichkeit, uns als einmaligen Wurf der<br />
Schöpfung <strong>im</strong> großen, ewigen Weltgeschehen wiederzufinden.”<br />
Der Physiker denkt nach. Langsam und best<strong>im</strong>mt sagt er<br />
dann: “Alles <strong>im</strong> Universum ist ein Prozeß. Nichts ist einfach<br />
da, alles geschieht. Die Zeit hat zwei Seiten: eine einmalige,<br />
irreversible, vorwärtsgerichtete und eine wiederkehrende, reversible,<br />
zyklische. Die irreversible Seite verleiht dem Ganzen<br />
ewigen Bestand, die reversible verleiht ihm erneuerbare Kreativität.”<br />
In sich versinkend n<strong>im</strong>mt der Maler seinen Spazierstock in<br />
die Hand und betrachtet dessen silbernen Handgriff. Stumm<br />
nickt er vor sich hin.<br />
Da faßt der Wissenschaftler seine Gedanken noch einmal<br />
zusammen. “Wenn also die Anregungen für unsere tiefsten<br />
Einsichten und größten schöpferischen Leistungen aus dem<br />
Gestaltungsgeschehen kommen, aus der großen Welt des<br />
Universums zu uns schweben – wer sind dann wir? Was sind<br />
wir?” Er blickt in die umherirrenden Augen des Künstlers,<br />
deren Schwarz ganz klein geworden ist, und deren Weiß bei<br />
jeder Augenbewegung hell aufblitzt. “Wer oder was sind wir<br />
wirklich, wenn nicht zuerst und vor allem ein Teil des Universums?<br />
Ein Teil der Organisationsenergie, der Schöpfung,<br />
ein Teil der Zeit?”<br />
Ganz tief sieht und horcht der Wissenschaftler in sich<br />
hinein. Mit fest geschlossenen Augen. Langsam hebt er den<br />
Arm. Wie <strong>im</strong> Traum malt seine ausholende Hand einen Halbkreis<br />
in die laue Abendluft. Dabei sagt er leise, kaum hörbar:<br />
“Es hängt alles zusammen. Es ist alles miteinander und ineinander<br />
verwoben.” Bewegt nickt er vor sich hin. “Alles ist<br />
auf dem Wege. Alles fließt. Alles reift und vollendet sich in<br />
innerer Ausgewogenheit.”
524 GÖTTER<br />
“Ich glaube”, flüstert der Maler, “an ein ewiges Wirken letzter<br />
Kräfte, Zwecke und Ziele.”<br />
“Daran glaube auch ich”, sagt der Physiker. “Aber ich glaube<br />
auch, daß wir diese niemals erkennen können.”<br />
Nach kurzem Schweigen fährt der Physiker fort: “Dennoch:<br />
ich bin mir gewiß – und diese Gewißheit gibt meinem Leben<br />
Inhalt und Bedeutung – daß ich ein Teil bin des universumweiten<br />
Gestaltungsgeschehens, des kosmischen Ozeans elektromagnetischer<br />
Phänomene. Und diese Gewißheit läßt mich<br />
auch daran glauben, daß die in meiner Einsamkeit und in<br />
meinem nach außen weit geöffneten Bewußtsein empfangenen<br />
Botschaften und meine darauf fußenden Einsichten und<br />
Erkenntnisse einen gewissen objektiven Wahrheitsgehalt besitzen.”<br />
Teufelswerk<br />
Der Künstler will das Thema wechseln, sich wieder den<br />
Realitäten seiner Welt zuwenden. “Sehen Sie sich um!”, ruft er.<br />
Mit steifem Rücken dreht er sich erst nach links und dann<br />
nach rechts. “Überall herrliche, friedliche Natur! Der See,<br />
die Büsche, die Bäume, die zwitschernden Vögel – überall<br />
herrscht Gottes segnende Hand. Überall herrscht tiefster<br />
Friede hier <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.”<br />
Diese Bemerkung holt den Naturwissenschaftler zurück in<br />
die Gegenwart. “Das Bild trügt”, sagt er. “Im <strong>Park</strong> herrscht<br />
Krieg. Die Vögel zwitschern nicht zu ihrem Pläsier und schon<br />
gar nicht zum Pläsier des Menschen. Mit ihrem Zwitschern<br />
signalisieren sie: ‘dies ist mein Revier, verschwinde hier oder<br />
es gibt Prügel!’”<br />
Das kommt dem Maler bekannt vor. Das berührt ihn sehr<br />
unangenehm.<br />
“Büsche und Bäume wachsen nicht friedlich nebeneinander.<br />
Sie kämpfen unablässig gegeneinander um Vorteile be<strong>im</strong>
Teufelswerk 525<br />
Zugang zu ihrer Energiequelle, dem Licht. Mit unerbittlich<br />
angewandten, ausgefeilten Tricks wachsen ihre Äste und<br />
Blätter so, daß sie opt<strong>im</strong>al das Licht ausnützen, und daß sie<br />
dem Konkurrenten die Energiezufuhr beschneiden. Selbst<br />
abfallende Blätter werden noch als Waffen benutzt. Sie<br />
decken kleinere Gewächse zu, setzen sie dem Lichtmangeltod<br />
aus. Bei manchen Bäumen sind die Blätter für Konkurrenten<br />
so giftig, daß dort, wo sie niedersinken, nicht einmal<br />
mehr Gras wachsen kann. Im Wurzelbereich machen die<br />
Pflanzen sich gegenseitig Wasser und Nährstoffe streitig,<br />
führen unerbittliche Umschlingungskämpfe und wenden die<br />
raffiniertesten und gemeinsten biologisch-chemischen Waffen<br />
an, mit deren Hilfe sie sich gegenseitig hemmen, schaden<br />
oder töten. Pflanzen haben die unglaublichsten Methoden<br />
der Ausbreitung, Kommunikation, Verteidigung und Kriegsführung<br />
entwickelt.”<br />
Der Physiker sieht auf seinen kleinen Gefährten herab.<br />
“Und erst der Krieg der Tiere! Ein riesiges, furchtbares Fressen<br />
und Gefressenwerden! Rücksichtslose Ausnutzung eigener<br />
Vorteile, gemeinste Methoden der Täuschung, hinterhältigste<br />
Fallenstellerei. Denken Sie nur einmal an die Spinnen,<br />
wie sie ihre Netze spannen, wie sie ihre noch lebenden<br />
Gefangenen mit klebrigen Fäden fesseln, wie sie ihre wehrlose<br />
Beute hängen lassen wie Räucherschinken, bis sie hungrig<br />
werden, und diese dann – <strong>im</strong>mer noch lebend – langsam,<br />
stückchenweise aussaugen. Ach, ich könnte stundenlang fortfahren,<br />
die Scheußlichkeiten zu beschreiben, welche das organische<br />
Leben auf dieser Erde hervorgebracht hat, aufgrund<br />
derer unsere belebte Erdenwelt funktioniert. Wenn das<br />
Geschehen dieser Erde eines besonderen Schöpfers bedurft<br />
hätte – so etwas hätte sich nur der Satan ausdenken können.<br />
Und was ist das Teuflischste am Teuflischen? Das ist die unglaubliche<br />
Bosheit, einem der beteiligten Geschöpfe, dem<br />
Menschen, auch noch genügend Verstand zu geben, um dieses<br />
Teufelswerk bewußt zu erleben!”
526 GÖTTER<br />
Das Gesicht des Zwerges verzerrt sich, als wolle es auseinanderfallen.<br />
“Au … aufhören!”, brüllt er. “Aufhören!! Ich lebe<br />
nicht in Ihrer Hölle!! Sie sind ein Pess<strong>im</strong>ist! Sie malen<br />
schwarz in schwarz. Das ist ja grauenvoll, wie Sie die Dinge<br />
sehen!”<br />
“Ich versuche, die Dinge zu sehen wie sie sind.”<br />
“Wer die Welt so sieht wie Sie, den wird man verdammen!”<br />
“Ich müßte mich selbst verdammen, würde ich mir die Welt<br />
anders vorstellen, als sie sich mir darstellt.”<br />
“Wie können Sie nur mit solchen Vorstellungen, mit solchen<br />
Gedanken und Bildern <strong>im</strong> Kopf leben? Wie können Sie damit<br />
ein normales Alltagsleben führen, fröhlich sein, Glück empfinden?”<br />
“Ich kann. Dies ist die Wirklichkeit, dies ist die Wahrheit –<br />
so wie sie sich mir darstellen. Und mit der Wirklichkeit und<br />
mit der Wahrheit kann ich besser umgehen als mit Verdrehungen<br />
und Märchen. Wenn ich’s nicht könnte, ich hätte mich<br />
längst von dieser Welt verabschiedet.”<br />
Etagen<br />
Nach einer Weile sagt der Physiker: “Sehen Sie, das ist eine<br />
der Merkwürdigkeiten bei uns Menschen …”<br />
“Was?”<br />
“Die Fähigkeit, in verschiedenen Etagen unserer Individualität<br />
zu wohnen.”<br />
“Etagen?”<br />
“Mich treibt es halt <strong>im</strong>mer wieder einmal in meine oberste<br />
Etage. Von dort kann ich Dinge sehen, die manch anderer nicht<br />
sieht. Aber auf die Dauer kann es sehr kalt werden da ganz<br />
oben. Dann gehe ich eine oder mehrere Etagen tiefer. Und da<br />
kann es dann plötzlich ganz gemütlich sein. Ich vergesse oder<br />
schiebe beiseite, was ich da ganz oben an Neuigkeiten oder<br />
Fürchterlichkeiten gesehen habe, freue mich des Lebens, lade
Etagen 527<br />
den Akku wieder auf. Bis mich dann wieder die Neugier packt,<br />
der Drang nach Herausforderung, die Lust, mich erneut umzusehen.<br />
Dann steige ich wieder die Treppe hoch, gehe wieder<br />
in meine oberste Etage.” Der Physiker lächelt. “Und von Zeit zu<br />
Zeit geh ich auch mal in die Kellerbar mit ihren bunten Lichtern,<br />
ihrer Musik, ihrer bacchantischen Heiterkeit. Da kann<br />
man viel Spaß haben und durch und durch glücklich sein bei<br />
einem herrlichen Tropfen, bei einem fürstlichen Mal, bei einem<br />
schönen Mädchen. Oder”, jetzt lacht er wieder wie ein Spitzbube,<br />
“bei allen dreien auf einmal!”<br />
“Freilich! Bei Gott, das kann man!” Der Maler zieht die<br />
Schultern hoch und schuckelt vergnügt: “<strong>Suchen</strong> nach Wissen<br />
treibt auf den Boden, <strong>Suchen</strong> nach Genuß in den Keller.” Er<br />
lacht. “Sie haben wirklich alles durchdacht.”<br />
“Nicht alles, aber so manches.”<br />
“Ich hab Hunger!”, ruft der Maler, “lassen Sie uns was essen<br />
geh’n.”<br />
“Eine ausgezeichnete Idee. Aber diesmal sind Sie mein Gast.”<br />
“Darüber möchte ich keinen Streit anfangen. Hauptsache,<br />
was zu essen!”<br />
“Wohin geh’n wir?”<br />
“Wie wär’s mit dem Waldschloß?”<br />
“Einverstanden.”<br />
Die beiden erheben sich. Der Maler preßt die Schultern zurück,<br />
legt den Kopf in den Nacken und rollt ihn von einer<br />
Seite zur anderen. Dabei verzerrt sich das hartgeschnittene<br />
Gesicht, und die langen schwarzen Haare wedeln wie Wäsche<br />
<strong>im</strong> Wind. Schließlich n<strong>im</strong>mt er Hut und Spazierstock von der<br />
Bank. Er sieht den Gefährten an: “Na, dann woll’n wir mal.”<br />
Auf dem Weg zum Waldschloß sagt der Maler, und man<br />
merkt ihm an, daß die Worte eine Fortsetzung intensiven<br />
Nachdenkens sind: “Dieses Bild mit den Etagen, das trifft den<br />
Nagel auf den Kopf. Auch ich steige <strong>im</strong>mer gern einmal die<br />
Treppe hoch. In meiner obersten Etage dominiert aber eher<br />
Fühlen als Denken. Wenn ich male, dann potenzieren sich
528 GÖTTER<br />
meine Empfindungen. Meine Sinnenwelt beginnt zu vibrieren.<br />
Meine Sensibilität steigert sich in einem solch unerhörten<br />
Ausmaß, daß ich beginne, Töne zu hören, die es gar nicht gibt,<br />
Farben und Bilder zu sehen, die einer fremden Welt anzugehören<br />
scheinen. Dann weiß ich plötzlich gar nicht mehr, wer ich<br />
bin, wo ich bin. Und dann habe ich manchmal das Gefühl, als<br />
sähe ich mir zu, als stünde ich neben dem, der da malt.”<br />
Mit einem Ruck bleibt der Maler stehen und stößt seinen<br />
Spazierstock in den Boden. “Und dann, ganz plötzlich, schreit<br />
alles in mir: ‘Entspannung!’ Dann brauche ich sofort Ablenkung,<br />
andere Erlebnisformen, Erlösung. Dann greife ich zu<br />
meiner Violine. Oder ich eile in den <strong>Park</strong>. Sie haben völlig<br />
recht, die oberste Etage ist nur eine gewisse Zeit lang zu ertragen.<br />
Aber was kann sie einem in dieser Zeit geben! Was für<br />
ein Höhenflug! Was für eine Erhabenheit! Welch Ausmaß an<br />
Erfüllung!! Wenn die Gefühlsintensität unerträglich wird,<br />
dann muß ich sofort abbrechen. Sehr schnell wird dann<br />
Schönes zu Schmerz, Genuß zu Grauen, Höhenflug zu Höllenfeuer.<br />
Sehr schnell ist dann eine Grenze erreicht, die zu überschreiten<br />
ich mich fürchte, vor der ich zittere!” ‘Eine Grenze’,<br />
denkt er, ‘hinter der Entsetzliches lauert: der Engel, der Teufel,<br />
die Schuld!’ Er schluckt. “Dann renne ich, so schnell ich<br />
nur kann, in tiefere Etagen, auch gern mal bis in die Kellerbar.”<br />
Er blickt zur Seite und grinst verstohlen: ‘Und manchmal<br />
noch ein bißchen tiefer.’<br />
Schweigend legen Künstler und Wissenschaftler den größten<br />
Teil des restlichen Weges zum Waldschloß zurück.<br />
“Der <strong>Park</strong> ist schön”, sagt der Physiker auf einmal und sieht<br />
sich um. “Wunderschön.” Mehrmals nickt er. “Jahrelang bin ich<br />
hier nun schon spazieren gegangen.” Langsam schiebt er die<br />
Brille hoch. “Aber ich war <strong>im</strong>mer nur tagsüber <strong>im</strong> <strong>Park</strong>.”<br />
“Und? Hat sich das geändert?”<br />
“Neuerdings gehe ich auch nachts in den <strong>Park</strong>.”<br />
“Nachts??”<br />
“Ja. Nachts.”
Etagen 529<br />
“Ist das nicht sehr gefährlich? Ich meine … so ganz allein in<br />
der Dunkelheit. Davon würde ich Ihnen aber dringend abraten!”<br />
Ohne auf die Frage und auf die Bedenken seines Gefährten<br />
einzugehen, sagt der Physiker: “Die Ursache dafür sind meine<br />
Kontakte.”<br />
“Was für Kontakte?”<br />
Auch diese Frage scheint der Physiker nicht gehört zu haben.<br />
Er ist auf einmal wie angefaßt.<br />
Da hakt der Maler nach: “Haben Sie denn da überhaupt keine<br />
Angst? In finsterer Nacht, <strong>im</strong> <strong>Park</strong>?”<br />
“Nein. Ich habe keine Angst, vor den Wesen nicht und schon<br />
gar nicht vor den Menschen. Meine Sichtungen konzentrieren<br />
sich mehr und mehr auf die Zeit vor und nach Mitternacht.<br />
Wie auf eine gehe<strong>im</strong>e Verabredung hin haben sich beide Seiten<br />
darauf geeinigt. Für Kontakte bevorzugen die Außerirdischen<br />
das Ufergebiet des Sees.”<br />
“Dann gehen Sie nachts an den See?”<br />
“Ja. Nur dorthin.”<br />
Der Maler atmet auf. Das hätte ihm gerade noch gefehlt,<br />
dem Physiker des Nachts in seiner Jägerkluft zu begegnen!<br />
Erst jetzt reaktiviert er aus seinem akustischen Gedächtnis<br />
den Nachhall des Unglaublichen. Was hat der Physiker<br />
da eben gesagt? Außerirdische? Das ist denn doch … “Das<br />
meinen Sie doch nicht <strong>im</strong> Ernst, das mit den Außerirdischen?”<br />
Als der Physiker wiederum nicht antwortet, sagt der Maler:<br />
“Sie sind ein sehr intelligenter Mann. Wie können Sie ernsthaft<br />
annehmen, daß Wesen von einem anderen Planeten, vielleicht<br />
gar von einer anderen Galaxie hierher kommen, hierher<br />
in den <strong>Park</strong>, hierher zu Ihnen an den See?” Der Maler dreht<br />
sich in der Hüfte und wendet sich mit steifem Kreuz dem Physiker<br />
zu. “Das ist denn doch …” Jetzt blickt er in flackernde<br />
Augen. Und was er da sieht in den Augen dieses Mannes, den<br />
er trotz so mancher Enttäuschung und Verärgerung zu schät-
530 GÖTTER<br />
zen gelernt hat, das läßt ihn verstummen. “Sagen Sie nur”,<br />
beginnt er nach wiederholtem Kopfschütteln erneut, “sagen<br />
Sie nur, Sie glauben wirklich daran.”<br />
“Ja”, sagt der Physiker ernst, “ich glaube wirklich daran.”<br />
Wieder schüttelt der Maler den Kopf. Er ist jetzt völlig ratlos.<br />
Aber er fühlt auch, daß weiteres Fragen, zumindest in diesem<br />
Augenblick, zwecklos wäre. So schweigt er.<br />
Der Physiker öffnet eine Hintertür zum Waldschloß und läßt<br />
den Maler vor sich eintreten. In diesem Augenblick beginnt<br />
die Tanzmusik von neuem. Durch ein Seitenfenster in der<br />
Wand werden für einen Augenblick die Tanzfläche sichtbar<br />
und ein schlanker Geiger in hellem Sommeranzug. Im Rhythmus<br />
der einschmeichelnden Musik, ein slow dance, schreitet<br />
er langsam auf und ab vor einem schwarzen Flügel. Hingebungsvoll<br />
neigt und wendet er dabei den Kopf, so daß ihm eine<br />
große schwarze Locke vor den Augen taumelt.<br />
Ungestüm drängt der Maler vorwärts. N<strong>im</strong>mt den großen<br />
weißen Hut vom Kopf und hält ihn scheinbar unbeabsichtigt<br />
so, daß sein Gesicht verdeckt ist. Er möchte hier nicht gern<br />
gesehen werden.<br />
Und dann haben sie auch schon den abseits gelegenen kleinen<br />
Klubraum erreicht. Hier lassen sie sich an einem der drei<br />
Tische nieder, in fröhlich-bunt gepolsterten Korbsesseln. Als<br />
die Kellnerin kommt, steckt ihr der Maler verstohlen einen<br />
größeren Geldschein zu. Die kennt das offenbar schon und<br />
macht kein Aufhebens davon. Aber die beiden Männer <strong>im</strong><br />
Klubraum werden heute abend nicht durch fremde Gäste gestört<br />
werden.<br />
Gedankenverloren legt der Künstler Hut und Spazierstock<br />
neben sich auf den dritten Korbsessel. Er entn<strong>im</strong>mt seinem<br />
Jackett einen Zettelblock, macht sich ein paar Notizen und<br />
rollt abermals den zurückgelehnten Kopf. Dann streicht er<br />
mit dünnen Fingern die Haare glatt.<br />
Die Kellnerin kommt zurück. Als Vorspeise bestellt der Maler<br />
Salatblätter an Magerquark mit Apfelsinenscheibchen, der
Etagen 531<br />
Physiker eine halbe Pampelmuse. Für die Hauptspeise einigen<br />
sie sich auf eine Stroganoffplatte für zwei Personen. Dann<br />
lassen sie sich die Weinkarte geben und wählen gemeinsam<br />
eine Flasche französischen Weins aus.<br />
Den Maler beschäftigt erneut das, was der Physiker über<br />
Außerirdische gesagt hat. Aber er schiebt das mit Nachdruck<br />
beiseite. So wird in seinem Bewußtsein wieder ein ihn faszinierendes<br />
Thema freigelegt: Das Bild von den Etagen. Hier<br />
erkennt er einen Schlüssel zum Verständnis seines eigenen<br />
komplizierten Wesens.<br />
“Dieses Auf- und Absteigen in den Etagen unserer Persönlichkeit”,<br />
sinniert er, “es erlaubt uns … nein, es ist die Voraussetzung<br />
für das volle Ausschöpfen unserer Möglichkeiten, die<br />
Welt zu verstehen und zu erfühlen.” Er nickt vor sich hin. “Nur<br />
so können wir ihre Schönheiten genießen und ihre Fürchterlichkeiten<br />
ertragen, ohne dabei den Verstand zu verlieren.”<br />
“Ja”, sagt der Physiker, “und wir können unsere Erlebnisfähigkeit<br />
nur dann voll austesten, wenn wir den Mut aufbringen,<br />
alle Räume in allen Etagen zu betreten, und sei es nur<br />
für kurze Zeit. Nur wenn wir uns all dem Neuen, all dem<br />
Wunderbaren und all dem Schrecklichen aussetzen, das uns<br />
da entgegentritt, nur wenn wir all das auf uns wirken lassen,<br />
auf all das reagieren – nur dann können wir Läuterung und<br />
Erleuchtung erfahren. Die Fürchterlichkeiten, von denen ich<br />
sprach, sie sind nicht mehr so fürchterlich, wenn wir sie als<br />
das akzeptieren, was sie sind: Realitäten. Daß diese Realitäten,<br />
mit denen die Menschen ja schon <strong>im</strong>mer gelebt haben,<br />
uns auf einmal so schockieren, das liegt vor allem daran, daß<br />
unser bisheriges Weltverständnis uns vor dem kalten Wind<br />
der Wirklichkeit geschützt hat.”<br />
“Was ist das, die Wirklichkeit?”<br />
“Das, was wir mit all unseren Sinnen erfahren und erleben<br />
können. Nun”, setzt der Physiker seinen Gedankengang fort,<br />
“ist das Erwachen um so schockierender. Nun müssen wir<br />
durch Tiefen gehen, bis wir zu neuen Höhen gelangen können,
532 WESEN<br />
bis wir leben können ohne große Lügen. Nur durch Leid führt<br />
der Weg zu neuen Ufern.”<br />
“Was bringt es uns”, fragt der Maler, “wenn wir die Scheuklappen<br />
abnehmen? Die Scheuklappen, die uns bisher so gut<br />
geschützt haben? Was gewinnen wir, wenn wir Dinge sehen,<br />
die uns schmerzen? Wenn wir Erkenntnisse erarbeiten, die<br />
wir nur schwer ertragen können? Was kann uns unser <strong>Suchen</strong><br />
wirklich geben?”<br />
“Das Größte und Erhabenste, das Menschen erfahren können:<br />
Erhobenen Hauptes die Welt erforschend, das Erkannte<br />
in seiner Schönheit zu bewundern und in seiner Unabänderlichkeit<br />
zu ertragen. Nur so können wir reifen, nur so begreifen,<br />
was den Kern eines sinnerfüllten Menschenlebens ausmacht.”<br />
“Was?”<br />
“Sich unserer Möglichkeiten erfreuen und unserer Unzulänglichkeiten<br />
bewußt werden. Leben und Umwelt achten<br />
und schützen. Bescheidenheit üben <strong>im</strong> Anspruch und Verantwortlichkeit<br />
<strong>im</strong> Handeln. Hier liegt der Schlüssel für die volle<br />
Entfaltung der Menschenwürde.”<br />
3 WESEN<br />
Grandioses Schauspiel<br />
“Komm näher, du! Ich<br />
will diese Begegnung!”<br />
Die Sonne ist hinter dem Horizont versunken. Ihr letzter<br />
rotgoldener Widerschein hat sich aufgezehrt. Der Herbstwind<br />
hält den Atem an. Der See ruht. Er träumt vor sich hin. Die<br />
weite sch<strong>im</strong>mernde Wasserfläche gleicht einem riesigen gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />
Spiegel. In ihm reflektieren sich große Bäume,<br />
zwinkern sich die langsam an Leuchtkraft gewinnenden Ster-
Grandioses Schauspiel 533<br />
ne zu. Aus ihm leuchtet der Mond. Ruhendes Wasser ist der<br />
Urahne aller Spiegel. Ein Spiegel bildet ab, jede Einzelheit,<br />
ganz exakt. So sagt er die Wahrheit. Aber er macht auch<br />
rechts aus links. So verdreht er. Und er läßt Dinge hinter sich<br />
erscheinen, die vor ihm sind. So täuscht er.<br />
Langsam, ganz langsam kriecht kühle Dämmerung herbei.<br />
Zögernd zuerst, dann <strong>im</strong>mer entschlossener steigen aufwärts<br />
strebende, schwebende, schwankende Nebelschleier aus dem<br />
Wasser. Verdichten sich, lösen sich auf, formen sich erneut,<br />
kräftiger jetzt und deutlicher sichtbar. Sie beginnen langsam<br />
zu kreisen, zu rotieren, zu wirbeln. Sie drehen und wiegen<br />
sich, wandeln, wallen und wogen. Und nun sinken sie wieder<br />
in sich zusammen, nähern sich der Seeoberfläche, ihrer Wiege.<br />
Mit neuen Kräften versehen streben sie abermals in die<br />
Höhe. Ein gespenstischer, ein zauberhafter Zeitlupen-Traumtanz<br />
luftgewordenen Wassers.<br />
Einsam steht der Physiker am Ufer. Weit weg von allem<br />
menschlichen Leben und Treiben. Irgendetwas hat eine vagabundierende<br />
Unrast über ihn ausgegossen. Sein flackernder<br />
Blick begleitet das heller werdende Licht des Mondes, schweift<br />
über grau-silbrig sch<strong>im</strong>merndes Gras, über buckelige Binsenwiesen<br />
und über steifstengeliges Schilf. Seine sensiblen Sinne<br />
streben weit aus ihm hinaus, weit über die Felder der Lampenputzer,<br />
weit über den die Nacht ersehnenden See. Alles in<br />
ihm bündelt sich zu ungeduldiger Erwartung. Alles eskaliert<br />
zum Ausnahmezustand.<br />
Einsam ist er, aber nicht allein. Da sind flatternde, surrende<br />
und summende Insekten. Da sind quäkende und schnatternde<br />
Enten, grunzende, knurrende und quakende Frösche, melancholisch<br />
uhende Unken. Da sind zwitschernd ihren Schlafplatz<br />
aufsuchende Vögel. Dort ruft ein Käutzchen. Hier flattert<br />
eine erste Fledermaus. Und da sind – nur der Physiker<br />
fühlt es, weiß es – die Wesen. Die Wesen, die ihm in der letzten<br />
Zeit <strong>im</strong>mer häufiger, <strong>im</strong>mer offensichtlicher und <strong>im</strong>mer<br />
entschlossener erschienen sind. Die Wesen, die er kennenler-
534 WESEN<br />
nen, mit denen er Kontakt aufnehmen will.<br />
Die Dämmerung breitet sich aus, erfüllt den Raum, hüllt<br />
alles ein, saugt Farben in sich auf und Einzelheiten. Schwarz<br />
und dunkelnachtblau winken drohend die Silhouetten riesiger<br />
Kiefern und Erlen zu ihm herüber.<br />
Hoch aufgerichtet steht er da, mit forschenden Augen. Immer<br />
wieder wandert sein Blick über Feuchtwiese, Schilf und<br />
Wasserfläche. Die Stirn ist gefurcht, die Kiefermuskeln mahlen,<br />
die Sinne suchen und das Hirn ist bereit, in sich aufzunehmen,<br />
was <strong>im</strong>mer da auf ihn zuschweben mag.<br />
Angespannt verfolgt er jede Einzelheit der sich vor ihm verändernden<br />
Szene. Sachte segelt eine dunkle Wolke weiter und<br />
gibt den Blick frei auf den Halbmond. Fahles Licht strahlt<br />
vorbei an Baumriesen und hohen Büschen, beleuchtet Ausschnitte<br />
von Wiese und Schilf. Läßt Nebel und Dunst gespenstisch<br />
aufleuchten und die Wasserfläche silbrig glitzern.<br />
Erste Herbstblätter schaukeln lautlos zu Boden. Alles scheint<br />
in Bewegung zu sein, ein merkwürdiges, gehe<strong>im</strong>nisvolles<br />
Eigenleben zu führen.<br />
Der Dämmerung folgt ihre Schwester, die Dunkelheit. Sie<br />
hüllt nicht ein, saugt nicht auf – sie verschlingt, eines nach<br />
dem anderen. Als wieder eine dunkle Wolke vor den Mond<br />
schwebt, herrscht Finsternis. Nur ein schwacher Widerschein<br />
der fernen Großstadtlichter zaubert einen Abglanz menschlichen<br />
Wirkens unter tiefhängende, stumm dahinziehende Wolken<br />
und spiegelt sich in einem so noch nie erlebten See.<br />
Eine Brise kommt auf, reibt Laub leis aneinander, macht<br />
Wipfel wispern und Schilf knistern – ein zarter, fächelnder<br />
Atem, der von weither weht. Die Nacht ist da.<br />
Was ist das? Dort drüben. Über dem Wasser? Da! Das da!!<br />
Unmerklich langsam treibt es dahin. Aber diesem Dahintreiben<br />
scheint Zielstrebigkeit innezuwohnen. Das da kommt<br />
auf das Ufer zu. Auf den Physiker zu.<br />
Die wieder etwas heller werdende Szene wird <strong>im</strong>mer bedrückender<br />
und beängstigender. Sie hat jetzt eine Qualität,
Grandioses Schauspiel 535<br />
die jeden normalen Menschen sogleich vertreiben würde. Nicht<br />
so den Physiker. Sein starker Wille versucht, den Verstand zu<br />
disziplinieren, sauber zu unterscheiden zwischen dem, was<br />
seine Sinne ihm vorgaukeln, und dem, was da tatsächlich<br />
passiert. Angesichts seiner Erregung ist das nicht einfach.<br />
Ungestüm drängelt Phantasie durch Grenzen menschlicher<br />
Begreifbarkeit, schlüpft Ahnung durch Barrieren von Logik<br />
und Verstand. Mit äußerster Konzentration bemüht er sich,<br />
das Geschehen mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu registrieren<br />
und mit kritischem Geist die verursachenden Faktoren<br />
des Szenenwechsels zu analysieren.<br />
‘Genauso’, redet er sich ein, ‘habe ich mir das vorgestellt.<br />
Genauso habe ich den Beginn der Begegnung erwartet. Schluß<br />
jetzt mit dem Versteckspiel! Heute werde ich die Wesen ermutigen,<br />
den letzten Schritt zu tun. Heute werde ich den Kontakt<br />
erzwingen.’<br />
Ein grandioses Schauspiel beginnt. Mit einem grandiosen<br />
Darsteller und mit grandiosen Akteuren, die nicht in den<br />
<strong>Park</strong> gehören. Und nicht in unsere Welt.<br />
Dort, vor dem dunklen Hintergrund der riesigen Kiefern<br />
und Erlen, formt sich, zunehmend deutlicher werdend, eine<br />
wogende, wankende Nebelgestalt über dem Wasser. Und da<br />
hinten, links, da sind noch zwei Gestalten. Ganz deutlich sieht<br />
er die drei. Sich drehend und wendend schweben sie langsam<br />
auf ihn zu. Jetzt werden zwei Gestalten durchsichtiger, lösen<br />
sich langsam auf, verschwinden nun ganz – wie ein Gedanke.<br />
In Panik schrecken Tiere aus dem Schlaf. Enten fliegen auf.<br />
Flattern in irrer Angst umher. Sausen quakend und flügelpeitschend<br />
davon. Andere Vögel schreien schrill. Taumeln<br />
durch die Nacht, als seien sie geblendet. Die Natur ist in<br />
hellem Aufruhr. Die Wesen scheinen besondere Kräfte zu entfalten,<br />
Kräfte, die nur für sensible Sinnesorgane wahrnehmbar<br />
sind.<br />
Die Nebelgestalt kommt näher. Eine zweite Gestalt wird<br />
sichtbar. Sie folgt der ersten in kurzem Abstand. Nun zögert
536 WESEN<br />
sie, bleibt zurück, verharrt auf der Stelle. Aber jetzt kommt sie<br />
wieder in Bewegung, schließt dicht auf zur ersten.<br />
Was ist das?! Die beiden verschmelzen! Gehen vollkommen<br />
ineinander auf.<br />
Das Resultat ihrer Vereinigung schwebt, sich drehend und<br />
wendend vorwärts. Es rotiert um seine Achse. Jetzt formt es<br />
Kreise. Viele große Kreise. Ein geisterhafter Reigen kosmischer<br />
Erscheinungen! Nun ist da nur noch eine riesige<br />
Scheibe zentrierender Kreise. Immer enger werden die<br />
Kreise. In der Nähe des Zentrums leuchtet etwas. Wie ein<br />
riesiges Komma. Und jetzt formt sich dort erneut das Wesen.<br />
Die Kreise verlöschen.<br />
Immer deutlicher wird das Wesen sichtbar. Es kommt<br />
näher. Wird da nicht so etwas wie ein Auswuchs sichtbar? Ein<br />
Arm? Und winkt der ihm nicht? Oder versucht doch, ihm ein<br />
Zeichen zu geben? Noch dichter schiebt sich die unhe<strong>im</strong>liche<br />
Erscheinung an den wartenden Physiker heran – entgegen<br />
der ihm in den Rücken fächelnden Nachtbrise! Mal wird das<br />
Wesen durchsichtiger, mal kompakter. In der Mitte seines<br />
Körpers beginnen schwach blitzende Lichtpunkte zu rotieren.<br />
Auch weiter außen leuchten Lichtquellen auf. Nun fängt all<br />
das an, zu pulsieren.<br />
Immer näher kommt das Unfaßbare. Wie es scheint, mit<br />
großer Vorsicht.<br />
Das Wesen hat die freie Wasserfläche verlassen. Es schwebt<br />
jetzt über dem Schilfgürtel. Die Lichtpunkte <strong>im</strong> Zentrum der<br />
Gestalt rotieren energischer. Die Leuchtkraft der weiter außen<br />
gelegenen Lichtquellen n<strong>im</strong>mt zu. Das Rotieren wird schneller,<br />
hastiger. Immer mehr wird es erfaßt von einem allmählich die<br />
ganze Gestalt beherrschenden rhythmischen Pumpen.<br />
Mit einem fürchterlichen Schrei flüchtet taumelnd ein großer<br />
Vogel.<br />
Wie hypnotisiert macht der Physiker einen Schritt vorwärts.<br />
Sein Herz rast. Seine Sinne wirbeln. Seine Gedanken<br />
überstürzen sich.
Grandioses Schauspiel 537<br />
In diesem Augenblick erkennt er erstmals feine Lichtstrahlen.<br />
Sie verlaufen vom Zentrum des Wesens in auseinanderweisenden<br />
Richtungen, sind aber vor allem auf ihn gerichtet.<br />
Nun erscheinen auch breitere Strahlenbündel, jeweils zwei<br />
auf jeder Seite. Plötzlich verschwinden alle Strahlen wieder,<br />
gerade so, als wäre ein Lichtschalter ausgeknipst worden.<br />
Und jetzt! Ist da nicht ein Geräusch, ein heller Pfeifton, dünn<br />
wie ein Faden? Der Physiker horcht in die Nacht. Ja! Da ist es<br />
wieder, das Geräusch. Und nun vern<strong>im</strong>mt er ein nie zuvor<br />
gehörtes leises, pfeifendes Rascheln. Das Rascheln schwillt an,<br />
dann wieder ab, in regelmäßiger werdendem Rhythmus.<br />
“Ich bin mir ganz sicher”, flüstert der Physiker, “heute wird<br />
es geschehen.” Mit flackernden Augen fixiert er sein Gegenüber,<br />
das sich jetzt ein weiteres Stück auf ihn zubewegt. ‘Heute<br />
kommt es zur unmittelbaren Kontaktaufnahme!’ Er richtet<br />
sich auf, so hoch er nur kann. Durch seine Haltung will er signalisieren:<br />
Hier stehe ich; ich will euch kennenlernen; ich will<br />
mit euch kommunizieren. Wie ein Schlafwandler macht er<br />
drei Schritte auf das Wesen zu. Seine Füße werden naß. Er<br />
steht <strong>im</strong> flachen Wasser. Aber das merkt er nicht. Noch einen<br />
Schritt macht er. Er will mehr sehen, mehr hören, mehr fühlen.<br />
Jetzt beugt er sich vor. Noch weiter, so wie jemand, der<br />
das Objekt seines <strong>Inter</strong>esses noch <strong>im</strong>mer nicht genau genug<br />
wahrnehmen kann, wie einer, der mit all seinen Sinnen etwas<br />
Neuem entgegenstrebt.<br />
Die Kehle wird ihm eng, die Zunge trocken. Er räuspert<br />
sich. Schluckt. Und nun hört er sich sprechen, oder ist es ein<br />
Rufen? “Komm näher, du! Ich will diese Begegnung! Ich will,<br />
daß du näher kommst, … noch näher!! Ich will wissen, wer du<br />
bist. Hier steht ein furchtloser Mensch, ein Wissenschaftler,<br />
einer, der dir Partner sein will bei deiner Erforschung dieses<br />
Planeten. Komm näher!!”<br />
Aber das Wesen reagiert nicht. Es verharrt auf der Stelle<br />
mit blitzenden, pulsierenden Lichtsignalen in seinem Körper.<br />
Da erinnert sich der Physiker seiner Vorstellungen über E-
538 WESEN<br />
Wesen. “Nicht sprechen”, flüstert er, “ganz konzentriert denken!”<br />
Und nun konzentriert er sich mit all seiner Kraft auf den<br />
Gedanken: ‘Komm näher!’ Und er versucht mit großer Anstrengung,<br />
diesen Gedanken aus seinem Hirn hinauszupressen,<br />
ihn hinauszustrahlen in die Richtung des Wesens. Wieder<br />
versucht er das. Wieder bemüht er sich, mit Hilfe seiner Gedankenbotschaft<br />
das Wesen zu erreichen, mit ihm Kontakt<br />
aufzunehmen: ‘Ich fürchte dich nicht. Ich bin bereit, Verletzungen<br />
hinzunehmen, wenn es sein muß auch meinen Tod.<br />
Ich will mit dir kooperieren, ganz nah, ganz intensiv. Koste es,<br />
was es wolle!’<br />
Leere Hülle<br />
Jetzt reagiert das Wesen! Langsam gleitet es vorwärts. Nur<br />
noch wenige Meter liegen zwischen ihm und dem Physiker.<br />
Unaufhaltsam schwebt das Unfaßbare weiter auf den<br />
Menschen zu. Und nun beginnt der, diese Nähe auch zu<br />
spüren. Ein feines Kribbeln überzieht die Haut. Das Kribbeln<br />
wird stärker, dann wieder schwächer, verlöscht jetzt ganz.<br />
Doch nun ist es wieder da. Stärker als zuvor. Immer intensiver<br />
wird es, erfaßt den ganzen Körper. Und da ist es auch<br />
wieder, dieses pfeifende Rascheln! In dem Maße, in dem das<br />
Wesen noch näher kommt, mischt sich in dieses Rascheln<br />
ein Röhren, das überall <strong>im</strong> Körper widerzuhallen scheint. Aus<br />
dem Röhren wird ein Dröhnen und Poltern, schließlich ein<br />
Donnern. Die Zunge schmeckt vorher nie Geschmecktes – eine<br />
merkwürdige Mischung aus Säure- und Metallgeschmack.<br />
Und die Augen sehen vorher nie Gesehenes – ein blitzendes<br />
Form- und Farbgewitter. Eine Symphonie aus bizarren<br />
Gestalten, gleißenden Rot-Gelb-Mustern und aus golden<br />
leuchtenden Strahlenkernen.<br />
Das Kribbeln auf der Haut wird unerträglich. Jetzt über-
Leere Hülle 539<br />
kommt den Menschen eine trockene Kühle. Die Haut spannt,<br />
droht zu zerreißen. Dann wird alles warm, jetzt ganz heiß. Die<br />
Nerven erbeben. Die Glieder zucken. Überall zittern Muskeln<br />
und Fleisch. Es ist, als wolle die Schöpfung einem nicht mehr<br />
zu steigernden Höhepunkt, dem Gipfel menschlicher Erlebnisfähigkeit,<br />
noch eine Krone aufsetzen.<br />
Erstmals steigt so etwas wie Furcht <strong>im</strong> Physiker auf. Er<br />
kann sich das alles nicht mehr erklären. Das Hirn versagt<br />
ihm den Dienst.<br />
Doch nun kehrt der Verstand noch einmal zurück. Der<br />
Mensch sieht das Wesen ganz dicht vor sich. Es ist etwa so<br />
groß wie er, aber etwas breiter. Die Körperumrisse sind nicht<br />
scharf. Sie verschw<strong>im</strong>men mit der Umgebung wie bei einem<br />
Ball aus Gas, wie bei einer Wolke. An der Peripherie formen<br />
sich unablässig Auswüchse und bilden sich wieder zurück, ein<br />
bißchen so wie bei einer Amoebe. Offenbar können diese Auswüchse<br />
überall entstehen, an der gesamten Übergangszone<br />
zwischen Wesen und Umwelt. Immer mehr Auswüchse wachsen<br />
hervor, und <strong>im</strong>mer wieder werden sie eingeschmolzen, reintegriert<br />
in die Gestalt.<br />
Im Zentrum des Wesens verstärkt sich das Licht. Seine<br />
Quellen sind jetzt genau auszumachen. Das Licht stammt von<br />
rotierenden runden Körpern. Es ist merkwürdig fahl und von<br />
unterschiedlicher Farbe und Leuchtkraft – wie bei einem<br />
Haufen beisammenstehender Sterne. Auch einige schwach<br />
leuchtende rötlich-blaue Kugeln sind darunter. Drei davon<br />
haben so etwas wie ein Leuchtband um sich herum. Sie stehen<br />
<strong>im</strong> Mittelfeld eines gelblichen Materieschleiers. Unvermittelt<br />
n<strong>im</strong>mt die Lichtstärke zu. Überall. Die Bewegungsintensität<br />
der Lichtquellen steigert sich stark. Das ganze Wesen<br />
erstrahlt in unirdischem Glanz. Und nun beginnt es sich<br />
zu dehnen und zu schrumpfen, so als ob es atmet.<br />
Plötzlich kommt alles – Geräusche, Bilder, Geschmack –<br />
nicht mehr von außen über Ohren, Augen und Zunge, sondern<br />
von innen. Der Physiker hält sich die Ohren zu: die gleichen
540 WESEN<br />
Geräusche. Er verdeckt mit den Händen beide Augen: die gleichen<br />
Bilder. Das Wesen teilt sich ihm nicht mehr über seine<br />
äußeren Sinnesorgane mit. Es hat direkten Kontakt aufgenommen<br />
mit den perzipierenden Teilen seines Hirns. Auch<br />
das erneut zunehmende Kribbeln auf der Haut wird jetzt von<br />
innen her ausgelöst.<br />
Das Wesen schaltet die körpereigenen Kontroll- und Kommunikations-Systeme<br />
des Physikers aus. Es übern<strong>im</strong>mt die<br />
Steuerung seines Körpers.<br />
Eine fürchterliche Hitzewelle durchschwemmt den Leib.<br />
Schweiß bricht aus. Das fahle Licht, das vom Wesen ausstrahlt,<br />
läßt den kahlen Schädel aufglänzen. Wie ein starker<br />
Magnet saugt eine unbekannte Macht am Physiker, zerrt all<br />
sein Denken, Fühlen und Wissen in das kreisende Zentrum<br />
einer rotierenden, wirbelnden Wolke hochaktivierter Materie.<br />
Von allen Seiten her dringen Teile des Wesens in den Menschen<br />
ein. Alles dröhnt. Alles ist unerträglich heiß.<br />
Ein greller Blitz durchzuckt den Körper. Und dann ist alles<br />
ganz still. Der Physiker hört nichts mehr, sieht nichts mehr,<br />
fühlt nichts mehr. Das Wesen ergreift Besitz vom Inhalt seines<br />
Hirns. Alles wandert hinaus aus dem Menschen und hinein<br />
in das Wesen.<br />
Nun zieht sich das Wesen zurück. Der Körper des Physikers<br />
stürzt zu Boden. Das Wesen schrumpft. Ist nur noch apfelgroß,<br />
ganz winzig nun. Und jetzt ist es für das menschliche Auge<br />
nicht mehr zu erkennen. Es ist vollkommen verschwunden.<br />
Das, was einmal der Physiker war, liegt bewegungslos, aber<br />
atmend am Ufer. Eine leere Hülle.<br />
Am nächsten Morgen macht der Gärtner eine Inspektionstour<br />
mit seinem Fahrrad. Als er am Seeufer entlang radelt,<br />
winkt ihm aus taufeuchtem Schilf der MinRat zu. In dunkelgrüner<br />
Anglerhose und mit umgehängtem Fernglas stapft er<br />
durch kniehohes Wasser seinem Aquarianerfreund entgegen.<br />
“Guten Morgen”, sagt er, als er vor ihm steht. “Ein herrli-
Leere Hülle 541<br />
cher Herbsttag. Ich habe Rohrdommeln beobachtet und Teichhühner.<br />
Absolut superb! Was es alles für Vögel gibt <strong>im</strong> und am<br />
See! Unglaublich! Ich habe mir ein Fachbuch gekauft und best<strong>im</strong>me<br />
danach die Artzugehörigkeit der beobachteten Vögel.<br />
Und in meinem Notizbuch mache ich mir Aufzeichnungen<br />
über ihr Verhalten. Jeden Tag sehe ich etwas Neues. Jeden<br />
Tag lerne ich dazu.”<br />
“Schon fast ein Ornithologe”, murmelt der Gärtner.<br />
“Wie meinen?”<br />
“Ich meine, wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch noch<br />
ein Fachmann auf dem Gebiet der Vogelkunde.”<br />
“Ja. Vögel zu beobachten und deren Verhalten zu studieren,<br />
das macht unerhört viel Freude. Da gibt es viel <strong>Inter</strong>essantes<br />
zu erjagen. Da gibt es viel zu bewundern. Das hat mir eine<br />
ganz neue Welt erschlossen.”<br />
Wiederum muß der MinRat an den Physiker denken und an<br />
dessen Worte über Angeln und Jagen. ‘Der Phyiker’, denkt er,<br />
‘wie recht er doch hatte!’ Dem Gärtner zugewandt, sagt er:<br />
“Das Jagen mit den Augen ist eine wundervolle Sache!”<br />
Der Gärtner nickt. “Wer Augen hat – und wer damit wirklich<br />
zu sehen vermag – dem kann die Natur viel geben.”<br />
“Ja.”<br />
“Was haben Sie da für ein Glas? Darf ich mal durchsehen?”<br />
“Bitte.”<br />
Der Gärtner lehnt sein Fahrrad an einen Baum und ergreift<br />
das Fernglas, das der MinRat vom Hals genommen hat und<br />
ihm nun entgegenreicht.<br />
“Mit Zoom”, sagt der Gärtner und hebt das Glas vor die<br />
Augen. Weit blickt er über den See. “Eine ausgezeichnete Optik.”<br />
Er schwenkt zu den großen Kiefern und Erlen, betrachtet<br />
die weiße Bank auf dem alten Anleger, und schließlich richtet<br />
er das Glas auf die Übergangszone zwischen Wiese und Schilfgürtel.<br />
Sein Blick schweift am Uferrand entlang. Plötzlich<br />
hält er inne. Da liegt etwas <strong>im</strong> feuchten Gras. Er zoomt näher.<br />
“Da liegt jemand! Da! Kommen Sie!!”
542 ENGEL UND TEUFEL<br />
Beide laufen auf einen grauen Punkt <strong>im</strong> Grün zu. Als sie<br />
näher kommen, erkennen sie, daß ein Mann mit dem Unterkörper<br />
<strong>im</strong> flachen Wasser liegt. Sein abgewandtes Gesicht<br />
ruht auf einem Binsenbüschel. Keuchend dreht der Gärtner<br />
den Mann herum.<br />
“Mein Freund! Das ist mein Freund!!”<br />
Der MinRat kann nicht sprechen. Der Schock läßt ihn erstarren.<br />
Hastig zieht der Gärtner den Körper des Physikers<br />
ins Trockene, reißt sich die Jacke vom Leib und hüllt den kalten<br />
Körper darin ein. Dann hebt er den Freund hoch und trägt<br />
ihn zur nächsten Bank. Dort legt er ihn nieder und hockt sich<br />
neben ihn.<br />
Immer wieder schüttelt der MinRat den Kopf. Sein Gesicht<br />
ist aschfahl.<br />
“Er atmet noch”, sagt der Gärtner, “aber nur ganz schwach.<br />
Bitte, nehmen Sie mein Fahrrad. Fahren Sie zur Telephonzelle<br />
dort hinten. Fordern Sie einen Rettungswagen an. Unter<br />
der Nummer 1011.”<br />
Der MinRat läuft, so schnell er kann. Anfangs noch etwas<br />
taumelnd vom Schock. Dann schneller, aber behindert durch<br />
die Anglerhose. Nun schwingt er sich aufs Rad. Stehend in die<br />
Pedale tretend, radelt er rasch davon.<br />
Der Gärtner öffnet mit den Fingern die Lider des Freundes.<br />
Er sieht den Tod.<br />
4 ENGEL UND TEUFEL<br />
Wespen<br />
“Der liebe Gott wird<br />
mich beschützen!”<br />
“Peter hat geschrieben!” Mit hochgerecktem Arm wedelt Inge<br />
einen Luftpostbrief in der Luft herum. Sie tanzt vor Freu-
Wespen 543<br />
de. Den Brief hat der Postbote eben abgegeben.<br />
Der Pastor erhebt sich aus seinem Sessel. Auch er freut sich:<br />
“Was schreibt er denn, der Peter?”<br />
Mit fliegenden Fingern reißt Inge den Umschlag auf und entn<strong>im</strong>mt<br />
den Brief. Sie versucht, das Gekritzel ihres Verlobten zu<br />
entziffern. Langsam, stoßweise, faßt sie das Wesentliche für<br />
ihren Vater zusammen: “Er ist gut angekommen in Los Angeles<br />
… Er fühlt sich wohl in dem Institut dort … Alles ist<br />
weniger formell als bei uns … Der Chairman hat eine Cocktailparty<br />
für ihn gegeben. Dabei hat er Peter allen Wissenschaftlern<br />
des Instituts vorgestellt. Auch der Dekan war gekommen<br />
… Mehrere Wissenschaftler kannte Peter bereits vom<br />
Namen her aus der Literatur. Zweien war er vorher auf Symposien<br />
begegnet … Sie nennen ihn Pete. Für den Abend hat ihn<br />
einer der beiden in sein Haus zum Dinner eingeladen. Dort<br />
wird er auch dessen Familie kennenlernen … Nächste Woche<br />
soll mit den Exper<strong>im</strong>enten begonnen werden … Sehr herzliche<br />
Grüße an dich!”<br />
“Danke! Bitte grüße den Peter ebenso herzlich wieder, wenn<br />
du ihm schreibst.”<br />
“Das werde ich sehr gern tun.”<br />
Inge liest noch eine Weile in dem Brief. Peters Handschrift<br />
ist wirklich eine schl<strong>im</strong>me Sache. An einigen Worten rätselt<br />
sie lange herum. “Wie bei einem Kreuzworträtsel”, sagt sie<br />
und stöhnt. “Ein Fach Schönschrift hat es in seiner Schule mit<br />
Sicherheit nicht gegeben.” Aber als sie dann endlich zu entziffern<br />
vermag, was der Peter da am Schluß des Briefes schreibt,<br />
da überfliegt eine Röte ihr Gesicht, und sie strahlt vor Glück.<br />
Aus den Augenwinkeln sieht der Pastor hinüber zu seiner<br />
Tochter. Er lächelt vor sich hin. Dann legt er den Stummel<br />
seiner Zigarre beiseite und sagt: “Die Sonne scheint noch so<br />
schön. Hast du Lust, dich mit mir auf die Bank vor der Haustür<br />
zu setzen? Der Herbst hat den Garten verzaubert.”<br />
“Vater, Vater”, ruft Inge, “hör dir das an! Das hatte ich eben<br />
ganz übersehen. Hier, am untersten Rand, hat der Peter noch
544 ENGEL UND TEUFEL<br />
etwas hingekritzelt: Er will versuchen, mich heute abend anzurufen,<br />
um 23 Uhr unserer Zeit!”<br />
“… Aber wir wollen doch mit dem Abendzug zum Kirchentag<br />
fahren.”<br />
“Mein Gott! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!!” Inges<br />
Blick erlöscht. Mit einem Schlag verlieren die blauen<br />
Augen ihren Glanz. Hilflos irren sie umher. Das Gesicht wird<br />
ganz fahl. Traurig läßt sie den Kopf sinken.<br />
Seufzend streicht der Pastor über weiße Locken. Ihn<br />
schmerzt Inges große Not. Er sieht sie an. Blickt in ihr blutleer<br />
gewordenes Gesicht, sieht, daß sie mit Tränen ringt. Da<br />
umarmt er seine Tochter und streichelt über ihren Scheitel.<br />
“Ja, was machen wir denn da?” Er wiegt das Haupt. Dann sagt<br />
er leise: “Ich könnte ja auch ohne dich fahren. Aber ich möchte<br />
dich nicht allein zurücklassen … ich mache mir Sorgen.”<br />
“Oh, bitte, Vater!”, ruft Inge und schöpft Hoffnung, doch noch<br />
den Anruf entgegennehmen zu können, “mach dir um mich nur<br />
keine Sorgen! Ich komme schon zurecht. Es wäre ja auch nicht<br />
das erste Mal, daß ich allein <strong>im</strong> Haus bin.”<br />
“Trotzdem … trotzdem. Eine St<strong>im</strong>me in mir sagt, laß die<br />
Inge nicht allein … Ich mache mir wirklich Sorgen!”<br />
“Sei unbesorgt, Vater. Was soll mir schon passieren? Der liebe<br />
Gott wird mich beschützen! Er hat mir noch niemals seinen<br />
Schutz versagt. Er wird mich behüten, daran hege ich nicht die<br />
Spur eines Zweifels.”<br />
Der Pastor sieht seine Tochter lange an. Diese Seele seines<br />
Lebens. Diesen Engel, den er geformt, den er geprägt hat und<br />
aus dessen Augen jetzt das feste Gottvertrauen leuchtet, das<br />
er tief in das junge, reine Herz gesenkt hat. Bitterer Schmerz<br />
durchzuckt ihn, bohrt sich ins Fleisch wie ein Speer aus kaltem<br />
Stahl. Ein Konflikt erschüttert seine Gläubigkeit. Angst<br />
um seine Tochter ringt mit über viele Jahrzehnte Gewachsenem<br />
und Gepredigtem: Absolutes Vertrauen in Gott den Allmächtigen<br />
und bedingungslose Ergebenheit in dessen unerforschlichen<br />
Willen. Zum erstenmal in seinem Leben als
Wespen 545<br />
Geistlicher verliert er den Boden unter den Füßen, zum erstenmal<br />
wankt seine innere Festigkeit. Nur langsam lockert<br />
sich der Griff der Angst. ‘Herr, Du nahmst mir meine Frau,<br />
nicht auch meine Tochter!!’ Aber noch während er um die<br />
Wiedergewinnung seines inneren Gleichgewichts ringt, löst<br />
sich aus zitterndem Herzen die Botschaft seines Herrn: ‘Wer<br />
Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht<br />
wert.’ Ein Orkan durchtobt die sturmentwöhnte Seele. Und<br />
ganz plötzlich ist da ein feines Klirren wie von zerspringendem<br />
Kristall. Irgendetwas in ihm ist zerbrochen. Irgendetwas.<br />
In der Hoffnung, zu Hause bleiben zu können, gewinnen<br />
Inges blaue Augen ihre Leuchtkraft zurück. Ihre Wangen<br />
überzieht eine feine Röte. Als der Pastor in die aufblitzenden<br />
Augen sieht, als er erkennt, wie sehr sich seine Tochter freut,<br />
wie wichtig dieser Anruf für sie ist, und als jetzt auch Zuversicht<br />
in ihren Zügen aufflammt, da stellt er aus Liebe zu<br />
seiner Tochter seine Bedenken zurück. Da drängt er die Angst<br />
beiseite. Er umarmt und küßt Inge. Mit großer Inbrunst ruft<br />
er: “So möge denn der Herr sein Antlitz auf dich richten und<br />
dich beschützen. So bleibe denn, in Gottes Namen … Und sag<br />
dem Peter, daß ich ihn mag. Daß ich mich sehr auf seine<br />
Rückkehr freue.”<br />
“Danke, Vater! Danke!!” Inge umarmt ihren Vater so stürmisch,<br />
daß der einen Schritt zurücktaumelt. Ordnend fährt er<br />
mit der Hand über die Locken. Und dann umfängt er seine<br />
Tochter mit beiden Armen. Mit Macht drückt er sie an sein<br />
Herz.<br />
Tief bewegt blickt der Pastor vor sich hin. Schließlich wiederholt<br />
er seine Frage: “Also, wie wär’s, wollen wir uns noch<br />
ein bißchen in den Garten setzen?”<br />
“Gern, Vater.”<br />
Arm in Arm gehen Vater und Tochter zur Tür hinaus. Im<br />
Licht der späten Nachmittagssonne erstrahlt die Natur in<br />
leuchtendem Rot, Gelb, Braun und Grün – wie das Meisterwerk<br />
eines genialen Malers. Der nahe Pflaumenbaum ist be-
546 ENGEL UND TEUFEL<br />
reits weitgehend abgeerntet. Die wenigen noch an den Ästen<br />
verbliebenen Früchte sind tief dunkelblau. Und sie schmekken<br />
wunderbar süß.<br />
Vater und Tochter setzen sich auf die alte Bank neben der<br />
Haustür. Der Pastor streicht sich mit der Hand übers Knie<br />
und blinzelt in die tiefstehende Sonne.<br />
“Der Pflaumenbaum”, sagt Inge, “er hat uns schon viel Freude<br />
bereitet.” Mit der Hand wirft sie den Zopf über die Schulter.<br />
Ganz fest hakt sie sich ein bei ihrem Vater und schmiegt sich<br />
an ihn. “Auch die Wespen haben an den leckeren Pflaumen<br />
genascht. Bei denen muß man sich in acht nehmen. Ihr Stich<br />
kann lebensgefährlich sein.” Sie sieht hinüber zum Pflaumenbaum.<br />
“Vor kurzem ist eine Kommilitonin von mir an einem<br />
Wespenstich gestorben.”<br />
Wieder streicht der Pastor übers Knie, als wolle er etwas<br />
wegwischen. “So manches in unserem Leben verläuft anders,<br />
als wir denken, und so manches auch anders, als wir es uns<br />
wünschen … Es ist furchtbar, daß deine Kommilitonin an<br />
einem Wespenstich sterben mußte … Aber wir dürfen der<br />
Wespe dafür nicht die Schuld zuweisen. Sicherlich hat sie aus<br />
Angst zugestochen.”<br />
“Das glaube ich auch.”<br />
Noch eine Weile sprechen Vater und Tochter miteinander<br />
auf der Bank vor dem Haus. Dann streichelt der Pastor seiner<br />
Tochter liebevoll über den Scheitel. Er erhebt sich und geht<br />
ins Haus. Im Wohnz<strong>im</strong>mer entn<strong>im</strong>mt er dem Zigarrenkasten<br />
eine Hand voll cellophanumhüllter Zigarren und steigt damit<br />
die Treppe hinauf. In seinem Z<strong>im</strong>mer ordnet er Unterlagen<br />
für den Kirchentag. Dann packt er seinen kleinen Koffer.<br />
Inge kommt die Treppe hinaufgestürmt: “Kann ich dir helfen?”<br />
“Nein. Vielen Dank. Die paar Sachen sind schnell gepackt.<br />
Ich bleibe nur eine Nacht. Morgen abend bin ich zurück.”<br />
Inge geht die Treppe wieder hinunter und dann in die Kü-
Wespen 547<br />
che. Dort gibt sie Eier in den Kochtopf, schneidet Brot, holt<br />
Butter und Wurst herbei und bereitet ein paar Schnitten zu.<br />
Sie wickelt Salz in ein Stückchen Staniolpapier, läuft in den<br />
Garten und klettert auf den untersten Ast des Pflaumenbaums.<br />
Elf Pflaumen kann sie ohne Leiter erreichen. Damit<br />
geht sie zurück ins Haus, wäscht die tief-dunkelblauen<br />
Früchte unter dem Wasserhahn und trocknet sie ab. Alles<br />
zusammen verpackt sie zu einem Paket.<br />
Dann holt sie ein Blatt Papier und schreibt darauf:<br />
Ich danke Dir, geliebter Vater!! Mit Deinem Entschluß,<br />
allein zu fahren, hast Du mir eine ganz große Freude bereitet.<br />
Ich werde Dir morgen den Empfang dahe<strong>im</strong> besonders<br />
schön gestalten.”<br />
Den Zettel schiebt sie in das Paket und verschnürt es. Über<br />
die Schulter ruft sie: “Möchtest du etwas zu trinken mitnehmen?”<br />
“Nein danke”, ruft der Pastor zurück. Als er gleich darauf<br />
mit seinem Koffer die Treppe herunterkommt, fügt er hinzu:<br />
“Ich werde mir eine Flasche Apfelsaft kaufen.” Der Pastor<br />
n<strong>im</strong>mt das Paket in Empfang, verstaut es <strong>im</strong> Koffer und küßt<br />
Inge auf die Stirn.<br />
Arm in Arm verlassen Vater und Tochter das Haus. Langsam<br />
schreiten sie durch den kleinen Garten und dann durch<br />
das Holztor mit dem eingeschnitzten großen Kreuz.<br />
Vor dem Tor steht ein Auto. Der Pastor der Nachbargemeinde<br />
ist gekommen. Er will die beiden zum Bahnhof fahren.<br />
“Grüß Gott! Da seid ihr ja, ihr beiden!”<br />
“Grüß Gott. Inge kommt nicht mit. Sie erwartet am späten<br />
Abend einen wichtigen Anruf aus Los Angeles. Von ihrem zukünftigen<br />
Mann.”<br />
Der Pastor sieht seine Tochter an. Er umarmt sie, so als wolle<br />
er sie nie wieder loslassen. Nach einer Weile löst sich Inge aus<br />
seinen Armen mit langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewe-
548 ENGEL UND TEUFEL<br />
gungen. Ein letzter, tiefer Blick. Dann steigt der Pastor, seinen<br />
kleinen Koffer vor der Brust, in den wartenden Wagen. Ein<br />
Winken …<br />
Und nun ist Inge allein.<br />
Langsam geht sie zurück ins Haus und verschließt die Tür.<br />
Sie sieht sich um. Überlegt. Irgendwie kommt sie sich verloren<br />
vor. Unschlüssig irrt ihr Blick umher.<br />
Nach einer Weile setzt sie sich in den Sessel, in dem zuletzt<br />
Peter gesessen hatte. Ihre Finger streicheln das weiche Leder –<br />
als wäre es seine Haut. Ihre Gedanken beginnen zu wandern.<br />
Das Wandern geschieht ohne Denken, ganz ohne daß das Ergebnis<br />
des gedanklichen Herumwanderns ins Bewußtsein<br />
dringt. Inge schließt die Augen. Nun träumt sie. Von zwei fröhlichen<br />
Kindern. Vom Glück ihres Vaters, der mit seinen Enkeln<br />
spielt. Von ihrem Leben mit Peter…<br />
Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … Es ist zehn Uhr.<br />
Inge blickt auf. Lächelt. Dann wandern ihre Gedanken zu<br />
ihrem Vater. Sie ist ihm so dankbar für seine Liebe, so dankbar,<br />
daß er ihrer stillen Bitte, zu Hause bleiben zu dürfen, entsprochen<br />
hat. Ganz fest n<strong>im</strong>mt sie sich vor, ihm morgen einen<br />
unvergeßlich schönen Empfang zu bereiten.<br />
Wieder streichelt sie über Peters Sessel. Läßt ihre Augen<br />
verweilen auf dem Aschenbecher, in dem er seine Pfeife<br />
ausgeklopft hat. Steht auf. Macht ein paar ziellose Schritte.<br />
Setzt sich wieder. Schließt die Augen. Sie sieht Peter, als stünde<br />
er da, neben ihr. Wie früher.<br />
Peters Botschaft<br />
Das Bild ihres Geliebten treibt sie an Orte, an denen er<br />
war. In der letzten Nacht vor seinem Abflug nach Amerika<br />
war Peter <strong>im</strong> Gästez<strong>im</strong>mer. Rasch eilt sie die Treppe hinauf.<br />
Als sie die Tür öffnet, umweht sie ein Hauch des aromati-
Peters Botschaft 549<br />
schen Duftes von Peters Pfeifentabak. Sie setzt sich auf einen<br />
Stuhl. Ihr ist, als wäre er nur einmal kurz hinausgegangen,<br />
als müßte er jeden Augenblick zur Tür hereinkommen.<br />
Inge neigt den Kopf, legt die Hände in den Schoß und faltet<br />
sie. Langsam beginnen ihre Augen herumzusuchen, von den<br />
gefalteten Händen zur Z<strong>im</strong>merdecke, zum Fenster, über Wände<br />
und Möbel hinüber zu dem großen Bett. ‘Hier’, denkt sie,<br />
und ihr Herz krampft sich zusammen, ‘hier hat er geschlafen.’<br />
Sie steht auf, geht hinüber zum Bett, setzt sich und streichelt<br />
über das Kopfkissen, dort, wo Peters Kopf geruht hatte. Ihre<br />
Fingerspitzen stoßen gegen Papier. Es ist eingeklemmt zwischen<br />
Bett und Wand. Sie steht auf. Mit den Knien drängt sie<br />
gegen das Bett und schiebt zugleich mit den Händen. Das Bett<br />
gibt nach. Krächzendes Knarren. Drei eingefangene Papierbögen<br />
segeln zu Boden. Sie bückt sich und sammelt die Bögen<br />
ein. Sie sind beschrieben. Es ist Peters Handschrift. Nicht<br />
schön, schwer lesbar. Aber von Peter!<br />
‘Vielleicht ist es etwas Wichtiges, das ich ihm sogleich nachschicken<br />
muß?’ Sie n<strong>im</strong>mt die Papierbögen in die Hand und<br />
ordnet sie. Dann setzt sie sich damit wieder auf das Bett und<br />
liest. Die Überschrift lautet: Schuld und Strafe. ‘Merkwürdig’,<br />
denkt sie, ‘darüber hat er mit mir nie gesprochen. Offenbar<br />
haben ihn diese Gedanken noch in der letzten Nacht vor seiner<br />
Abreise so sehr beschäftigt, daß er sie niederschreiben mußte.’<br />
Sie kommt nur langsam voran. Peters Schrift ist wirklich<br />
eine schl<strong>im</strong>me Sache. Er schreibt:<br />
Die Essenz unseres So-Seins wird von Kräften best<strong>im</strong>mt, auf<br />
die wir selbst keinerlei Einfluß haben. In keiner Phase der Entstehung<br />
unserer Individualität besteht eine Wahlmöglichkeit, so<br />
oder so zu werden, diese oder jene Eigenschaft zu haben. Wie<br />
also können wir daran schuldig werden? Ebensowenig wie es<br />
unsere Schuld sein kann, daß wir blond sind oder einen Buckel<br />
haben, ebensowenig kann es unsere Schuld sein, daß wir dumm<br />
sind oder klug, kleptoman oder eigentumsrespektierend, starke<br />
Triebe haben, einen schwachen Willen – oder gar beides. Ererb-
550 ENGEL UND TEUFEL<br />
tes liegt außerhalb menschlicher Schuldzuweisungskompetenzen.<br />
Wie groß ist der Spielraum? Er ist individuell verschieden<br />
groß. Die Menschen sind ja nicht gleich, wie einige Hohlköpfe<br />
nicht aufhören zu behaupten, sondern alle Individuen sind unaufhebbar<br />
voneinander verschieden. Das ist ein Naturgesetz,<br />
eine Voraussetzung für das Funktionieren irdischen Lebens.<br />
Manchem schlägt das Herz träge hinter den Rippen. Manchem<br />
verharrt der Verstand <strong>im</strong> Dunkel. Vielen gelingt es, ihr Verhalten<br />
zu steuern – durch Lernen, Erziehung, Einsicht und<br />
Beachten von Vorschriften. Wo aber ein starker Trieb mit einem<br />
schwachen Willen kombiniert ist, da bleiben die Korrekturmöglichkeiten<br />
begrenzt, manchmal so sehr, daß es früher oder<br />
später zu einem Verbrechen kommen muß. So mancher<br />
Verbrecher ist Täter und Opfer in einem.<br />
Von diesen unwiderlegbaren Tatsachen muß jede Erörterung<br />
über Schuld und Strafe ausgehen. Da keine Wahlmöglichkeit<br />
besteht, so oder so zu werden, kann das So- oder So-Geworden-<br />
Sein nicht als Schuld gewertet werden. Und wo es keine Schuld<br />
gibt, da kann es keine Strafe geben. Wohlgemerkt: es geht mir<br />
hier um Prinzipielles, um den Kern der Problematik. Natürlich<br />
gibt es Verstöße gegen die Rechtsordnung, die auf korrigierbarer<br />
Disziplinlosigkeit beruhen, und es gibt Verbrechen, bei denen<br />
rücksichtsloses Streben nach eigenem Vorteil <strong>im</strong> Vordergrund<br />
steht, bei denen mit klarem Verstand absichtsvoll gegen die Moral-<br />
und Wertvorstellungen der Gemeinschaft verstoßen wird.<br />
Unsere Rechtsordnung beruht auf dem Prinzip von Schuld<br />
und Strafe, christlicher Verhaltensanspruch auf dem Prinzip<br />
von Sünde und Buße. Aber die Begründungen für das Recht des<br />
Strafens und des Auferlegens von Buße werden nicht in ausreichendem<br />
Maße auf erkennbare Realitäten zurückgeführt, sondern<br />
auf Vorstellungen von Schuld und Strafe, und von Sünde<br />
und Buße, die nach den Ausdeutungen der Rechts- und Glaubenshüter<br />
formalisiert worden sind. Machen sich diese Hüter<br />
da nicht – in ihrem eigenen Sinne – selber schuldig? Durch Unterlassen<br />
ausreichender Suche nach den Ursachen? Durch un-
Peters Botschaft 551<br />
beirrtes Festhalten an Denk- und Glaubenssystemen, die nach<br />
heutigem Wissensstand keine festen Grundlagen mehr haben?<br />
Sollen wir einen Dieb ungeschoren, einen Mörder frei herumlaufen<br />
lassen? Nein, natürlich nicht. Aber bei der Beurteilung<br />
ihres Verhaltens sollte nicht länger die Frage nach der Schuld<br />
<strong>im</strong> Vordergrund stehen. Der Verbrecher und dessen Schuld auf<br />
der einen Seite, der Strafanspruch des Staates auf der anderen<br />
– dieses Konzept ist brüchig geworden. Ein Strafurteil, das<br />
voraussetzt, daß der Verurteilte auch anders hätte handeln können,<br />
muß das Vorhandensein einer solchen Voraussetzung nachweisen,<br />
zumindest als sehr wahrscheinlich einstufen können.<br />
Sonst setzt es sich dem Vorwurf der Ungerechtigkeit aus.<br />
Der Kern der Problematik ist doch dieser: Jede Gesellschaft<br />
muß Regeln für das Miteinander hervorbringen, achten und<br />
schützen. Aus der Wahrnehmung dieser Aufgaben erwächst ihr<br />
die Zuständigkeit, gegen Mitmenschen vorzugehen, die die<br />
Regeln verletzen, auch gegen Individuen, die auf Grund ihres<br />
So-Seins außerstande sind, die Regeln einzuhalten. Die<br />
Gesellschaft hat nicht das Recht, solche Individuen zu bestrafen,<br />
aber sie hat die Pflicht, sie mit geeigneten Mitteln zur<br />
Einhaltung der Regeln zu zwingen. Sie hat die Pflicht, einen<br />
Verbrecher an der Verursachung weiteren Schadens zu hindern,<br />
ihn also zu isolieren. Diese Isolationspflicht schließt Fürsorge-,<br />
Belehrungs- und Erziehungspflichten ein, sowie die Aufgabe,<br />
dem Isolierten <strong>im</strong> Rahmen des Möglichen ein menschenwürdiges<br />
Dasein zu gewähren.<br />
Korrekturmöglichkeiten von Verstößen gegen die Regeln der<br />
Gesellschaft müssen eingehender erforscht und Rehabilitationsmöglichkeiten<br />
überdacht werden. Triebtäter mit unzureichendem<br />
Kontrollvermögen dürfen nie wieder in die Gesellschaft<br />
entlassen werden – es sei denn, sie sind bereit, sich ärztlichen<br />
Eingriffen zu unterziehen, die erwiesenermaßen eine Wiederholung<br />
des Verbrechens ausschließen.<br />
Man mag einwenden, der ‘Strafvollzug’ sei ohnehin schon<br />
sehr teuer. Mag sein. Deshalb darf man aber vor der Realität die
552 ENGEL UND TEUFEL<br />
Augen nicht verschließen. Geregeltes Miteinander, Sicherheit<br />
und Ordnung haben ihren Preis.<br />
Und vergessen wir nicht, daß so manch einer von uns Mitverursacher<br />
eines Verbrechens ist! Wenn ich als Betreiber eines<br />
Supermarktes latent Kleptomanen meine Ware geradezu in die<br />
Hand dränge, in der Absicht, möglichst viel davon zu verkaufen,<br />
dann bin ich Mitverursacher eines möglichen Fehlverhaltens.<br />
Wenn ich potentiellen Triebtätern durch Fernsehen,<br />
Filme oder Bücher <strong>im</strong>mer wieder die Emotionen vermittle, die<br />
diese Menschen unterdrücken möchten, dann bin ich Mitverursacher.<br />
Wer um eigener Vorteile willen – oder aus Gedankenlosigkeit –<br />
bei anderen rechtswidriges Verhalten fördert, muß sich fragen<br />
lassen, ob er nicht am Fehlverhalten eines Mitmenschen mitgewirkt<br />
hat, insbesondere eines Menschen, der trotz großer innerer<br />
Gegenwehr schließlich ein Verbrechen begeht.<br />
Langsam läßt Inge die bekritzelten Papierbögen sinken und<br />
blickt auf. “Oh, Peter”, sagt sie kopfschüttelnd. “Oh, mein geliebter<br />
Peter. Du stellst noch die ganze Welt auf den Kopf!”<br />
Aber sie sagt das ohne Vorwurf. Und jetzt lächelt sie sogar.<br />
Anruf<br />
Seit einer Viertelstunde sitzt Inge auf einem alten Stuhl<br />
neben dem Telephon. Weiß ist es und sorgfältig geputzt. Es<br />
steht auf einem kleinen, viereckigen Eichentisch neben der<br />
Küchentür. Generationen von Pastoren und deren Familien<br />
war der Tisch für vielfältige Dinge zu Diensten. Auf seiner<br />
Oberfläche liefern Kratzer und Abschürfungen, verursacht<br />
durch eben diese Menschen, Beweise dafür, daß sie existiert<br />
haben. Nicht unmittelbar sichtbare Beweise ihrer Existenz<br />
liegen in sorgfältig gepflegten Gräbern auf dem kleinen Friedhof<br />
hinter dem Pastorenhaus. Es ist zur Tradition geworden,
Anruf 553<br />
daß Pastoren, die lange in dieser Gemeinde gedient haben,<br />
ebenso wie deren engste Familienangehörige, dort ihre letzte<br />
Ruhe finden.<br />
Voller Ungeduld blickt Inge auf Tisch und Telephon. Peter<br />
ist sehr stark in ihr. Sie braucht nur kurz die Augen zu schließen,<br />
und schon steht er da. Geradezu unbändig freut sie sich<br />
darauf, seine St<strong>im</strong>me zu hören. Ihre innere Anspannung verlangt<br />
nach Bewegung. So steht sie auf und geht <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer<br />
auf und ab. Es ist jetzt fünfzehn Minuten vor elf. Um elf will<br />
Peter anzurufen.<br />
Die Gedanken wandern zu ihrem Vater. In den letzten Jahren<br />
hatte sie ihn stets zum Kirchentag begleitet. Dort hatte<br />
sie viele interessante Menschen kennengelernt. Mit Gottesdiensten,<br />
Bibelarbeit, Musik, Vorträgen, Diskussionen und<br />
Theateraufführungen waren die Kirchentage ein besonderes<br />
Erlebnis für sie gewesen. Manche Vorträge allerdings waren<br />
recht theoretisch oder programmatisch. Kirchenpolitisches<br />
hat sie nie interessiert. Da wurden oft Themen behandelt, die<br />
wenig zu tun hatten mit dem Glauben. So war sie während<br />
des letztjährigen Kirchentages an einem Nachmittag den<br />
Vorträgen ferngeblieben und hatte sich die Stadt angesehen.<br />
Nach einem Spaziergang war sie in ein Museum gegangen.<br />
Dort lief gerade eine Sonderausstellung über die Frühgeschichte<br />
der Menschheit. Die maßstabgerechten Nachbildungen<br />
der ersten Menschen, die detaillierte, anschauliche Darstellung<br />
der schrittweisen Menschwerdung aus tierischen<br />
Vorfahren und die großen Wandmalereien, auf denen die Entwicklung<br />
der Menschheit schematisch dargestellt war, all das<br />
hatte sie stark beeindruckt. Lange hatte sie vor einem Bild<br />
gestanden, das die allmähliche Entstehung des modernen<br />
Menschen aus affenähnlichen Tieren wiedergab, mit großer<br />
Ausdruckskraft und in lebensnahen Farben.<br />
‘Die Wissenschaftler’, hatte sie damals gedacht, ‘die entwikkeln<br />
da Vorstellungen, die eigentlich wenig übrig lassen von<br />
der biblischen Schöpfungsgeschichte.’
554 ENGEL UND TEUFEL<br />
Darüber hatte sie am Abend mit ihrem Vater gesprochen.<br />
Der hatte genickt und über ihren Scheitel gestreichelt. Dann<br />
waren sie spazierengegangen. Dabei hatte es ihr Vater vermocht,<br />
die unterschiedlichen Blickwinkel von Religion und<br />
Wissenschaft miteinander auszusöhnen. Er hatte gesagt: ‘Die<br />
biblische Schöpfungsgeschichte ist ein Gleichnis. Sie ist so<br />
verfaßt, daß jede Zeit ihre neugewonnenen Erkenntnisse und<br />
Einsichten darin wiederfinden kann – sofern die Menschen das<br />
nur wollen. Die Gleichnisse in der Bibel deuten nur an. Sie vergleichen<br />
mit den Erfahrungen des Alltags. Sie dienen der Veranschaulichung,<br />
Verdeutlichung und Vertiefung der Verkündigungen.<br />
Man soll von Gleichnissen nichts erwarten, das sie<br />
nicht leisten können. Die Bibel ist kein wissenschaftliches<br />
Lehrbuch. Sie will nicht wörtlich genommen werden. Nichts<br />
Menschliches ist der Bibel fremd. Ihre Botschaften sind zeitlos.<br />
Daher muß sie sich auch zeitloser Gleichnisse bedienen. Im<br />
Übrigen schließt die Bibel eine Entwicklung des Menschen<br />
sowohl körperlich als auch geistig keineswegs aus.’<br />
Das Telephon klingelt! Inge reißt den Hörer an sich und<br />
ruft: “Peter!! Peter, wie geht es Dir??”<br />
Aber es antwortet eine Frauenst<strong>im</strong>me. Ihre Freundin bedankt<br />
sich nochmals für alles, was Inge für sie getan hat. Ob<br />
sie sich heute in einer Woche treffen können?<br />
“Ja”, sagt Inge, “gern. Wenn es dir recht ist, komme ich am<br />
nächsten Mittwoch abends zu dir, so um neun.”<br />
“Pr<strong>im</strong>a. Danke!”<br />
Dann sagt Inge, daß sie auflegen muß, weil sie einen Anruf<br />
von Peter aus Amerika erwartet.<br />
“Also, tschüß dann, bis heute in einer Woche.”<br />
“Ja. Bis Mittwoch.”<br />
Rasch legt Inge den Hörer zurück auf die Gabel.<br />
Das Telephon bleibt stumm. Sie wartet. Voller Ungeduld.<br />
Aber das Telephon bleibt stumm.<br />
Elfmal dröhnt die Kirchturmglocke. Zehn Minuten vergehen,<br />
fünfzehn Minuten.
Inge rennt die Treppe hoch und holt Peters Brief unter ihrem<br />
Kopfkissen hervor. Zurückgekehrt, liest noch einmal, was Peter<br />
da geschrieben hat. Er schreibt: Ich werde versuchen, dich<br />
am Mittwoch um 23 Uhr dortiger Zeit anzurufen. Aber dann<br />
steht da auch noch, ganz klein: sonst einen Tag später. Das hatte<br />
sie bisher völlig übersehen!!<br />
Zwanzig Minuten nach elf. Inge hat die Hoffnung noch <strong>im</strong>mer<br />
nicht aufgegeben. Halb zwölf.<br />
Jetzt seufzt sie und zuckt mit den Schultern: “Heute wird<br />
das nichts mehr”, sagt sie traurig. Aber noch <strong>im</strong>mer hat sie<br />
Bedenken, sich weit vom Telephon zu entfernen.<br />
Fünfzehn Minuten vor zwölf.<br />
“Dann eben morgen.” Zögernd steht sie auf und sieht sich<br />
um. Sie überlegt. Sie weiß nicht, was sie tun soll.<br />
Mitternacht<br />
Mitternacht 555<br />
Wieder setzt sich Inge in Peters Sessel. Und wieder<br />
erscheint ihr sein Bild. So klar, so deutlich, daß sie versucht<br />
ist, mit ihm zu sprechen. Und ganz plötzlich drängt es sie,<br />
einen Ort aufzusuchen, an dem sie oft gemeinsam waren: Die<br />
Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche. Den Ort,<br />
an dem sie und Peter die Brücke gebaut und vollendet haben<br />
– die Brücke, die sie nun miteinander verbinden soll, ein<br />
ganzes Leben lang, bis in den Tod. Diese Bank, auf der ihre<br />
Liebe entstanden und gewachsen ist, hat für sie eine schicksalhafte<br />
Bedeutung.<br />
Mit einem Schwung wirft sie ihren Staubmantel über die<br />
Schultern. Rasch verschließt sie das Haus. Mit fliegenden<br />
Mantelschößen läuft sie zur Bank auf dem Hügel, ihrer und<br />
Peters Bank.<br />
An der Bank angekommen, atmet sie tief. Setzt sich. Streichelt<br />
mit der flachen Hand über das harte Holz. Dann steht<br />
sie auf. Erhitzt vom Rennen, legt sie den Staubmantel ab,
556 ENGEL UND TEUFEL<br />
breitet ihn aus über die Sitzfläche und setzt sich darauf. Ihre<br />
Gedanken wandern zu ihrem Geliebten. Auf dem Flugplatz<br />
hatte er ihr noch rasch ins Ohr geflüstert: ‘Ich liebe dich so<br />
sehr! Und ich kann es gar nicht erwarten, bis wir auch vor deinem<br />
Gott ein Paar sind.’<br />
Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hält Inge ihren Kopf<br />
in beiden Händen. Sie denkt an die vielen Stunden, die sie mit<br />
Peter auf dieser Bank verbracht hat. Auf den Boden blickend,<br />
gibt sie sich ganz ihren Erinnerungen hin.<br />
Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Es wird dunkler <strong>im</strong><br />
<strong>Park</strong>. Inge schließt die Augen. Sie träumt. Von der bevorstehenden<br />
Hochzeit. Von ihrem zukünftigen Leben mit Peter.<br />
Bbuommm, bbuommm, bbuommm, … Zwölfmal dröhnt die<br />
Kirchturmglocke. Es ist Mitternacht.<br />
Als das Dröhnen des letzten Glockenschlags <strong>im</strong> <strong>Park</strong> verhallt<br />
ist, öffnet Inge ihre Augen. Sie blickt auf zwei schwarze<br />
Schuhe. Ein Mann steht direkt vor ihr. Die Kirchturmglocke<br />
hatte das Knirschen seiner Tritte <strong>im</strong> Kies des Weges verschluckt.<br />
Genau <strong>im</strong> Rhythmus der Glockenschläge hatte der<br />
Mann, jedesmal wenn der Klöppel den Rand der Glocke traf,<br />
einen Schritt vorwärts gemacht. Mit dem zwölften Glockenschlag<br />
steht er nun vor ihr. Er starrt auf ihren Scheitel.<br />
Langsam wandert Inges Blick empor an der kleinen, dunkelgekleideten<br />
Gestalt. Sie sieht in das Gesicht. Es ist mit dunkler<br />
Erde eingerieben. Darüber erkennt sie eine Schiffermütze.<br />
In dem schwarzen Gesicht funkeln weit aufgerissene Augen.<br />
Die Augen eines Irren. Ihr rundes Schwarz droht und durchbohrt,<br />
ihr ovales Weiß glitzert und glüht. Aus den Augen starrt<br />
der Teufel.<br />
Die Augen machen ihr Angst. Hilflos fragt sie: “Kann ich Ihnen<br />
helfen?”<br />
Der Mann antwortet nicht. Bebende Finger packen ihre<br />
Schultern, dann die Kehle. Der Mann drängt sich nach vorn.<br />
Mit der Kraft des Irrsinns und mit seinem ganzen Gewicht<br />
drückt er sie nieder auf die Sitzfläche.
Mitternacht 557<br />
Der Schmied ist heute erst spät gekommen. Er mußte Überstunden<br />
machen auf der Werft. Zwei große neue Aufträge<br />
nehmen alle Hände in Anspruch. Er ist todmüde. Aber er wollte<br />
unbedingt in den <strong>Park</strong>. Hier umfängt ihn ein Stück He<strong>im</strong>at.<br />
Hier bettet sich seine Einsamkeit in ein seelenwärmendes<br />
Sich-Wohlfühlen <strong>im</strong> Gewohnten. Hier taucht er ein in eine<br />
vertraute Umgebung, in oft erlebte Abläufe des Geschehens<br />
und in bewährte Männerfreundschaft. Zunächst jedoch verlangt<br />
die Müdigkeit ihr Recht. Er legt sich auf seine Matte tief<br />
<strong>im</strong> Gebüsch hinter der Bank auf dem Hügel. Und schon fallen<br />
ihm die Augen zu.<br />
Eine knappe Stunde später weckt den Schmied die Kirchturmglocke.<br />
Er gähnt, reibt sich die Augen, hebt die Arme<br />
und fährt damit in der Luft herum. Von der Bank her hört er<br />
Geräusche. “Wahnsinn!” flüstert er, “die drehn da ‘ne Nummer<br />
und ich penn hier.” Rasch windet er sich durch Büsche.<br />
Keuchen. Dann Stöhnen. ‘Da näuft was’, denkt er und pirscht<br />
weiter. Ein heller Schrei! Unvermittelt bricht der ab, so als<br />
wäre der Schreienden eine Hand über den Mund gepreßt<br />
worden. Der Schmied macht noch einen Schritt. Dann<br />
besteigt er die Plattform aus Feldsteinen. Er biegt einen<br />
Fliederzweig beiseite. Da sind zwei heftig zugange. Aber da<br />
st<strong>im</strong>mt was nicht. Die Frau wehrt sich. Sie wehrt sich verzweifelt!<br />
Der Mann liegt auf der Frau. Eine Hand über ihren Mund<br />
gepreßt, zerfetzt er mit der anderen, wie vom Teufel besessen,<br />
ihre dünne Bluse.<br />
Der Schmied will helfen. Aber er kann nicht. Er ist gelähmt!<br />
‘Wie damans!’, schreit es in ihm. ‘Genau wie damans!! Nich<br />
noch man!’, hämmert es in seinem Hirn. ‘Nich noch man!!!’<br />
Wie ein Tier verklammert und verbeißt sich der Mann am<br />
Fleisch der Frau. Keuchend reißt er ihr den Büstenhalter vom<br />
Leib. Aus seinen Mundwinkeln tropft Speichel. Dünne Finger<br />
ziehen und zerren Kleidung aus dem Weg. Das bucklige Un-
558 ENGEL UND TEUFEL<br />
geheuer will den Engel nackt, so, wie er ihm viele Male erschienen<br />
ist!<br />
Die Frau wehrt sich mit all ihrer Kraft. Laut ruft sie etwas in<br />
die Nacht, das hört sich an wie “Pet der!” oder so ähnlich. Da<br />
würgt der Mann die Frau. Immer weiter. Bis sie bewegungslos<br />
daliegt. Hastig zerrt er eine Leine aus der Tasche, umschlingt<br />
damit die Füße der Frau und verknotet das Ende der Leine an<br />
der Bank. So groß ist seine Angst, daß ihm der Engel <strong>im</strong> letzten<br />
Augenblick noch entkommen könnte.<br />
Unerwartet erwacht die Frau aus ihrer Ohnmacht. Mit letzter<br />
Kraft stößt sie den Mann von sich und setzt an zur Flucht.<br />
Links neben der Bank stürzen beide zu Boden.<br />
Dem Schmied wird schlecht.<br />
Fast nackt, richtet sich die gefesselte Frau auf. Sie kniet,<br />
faltet die Hände und hebt sie vor die Brust. Sie betet.<br />
Da zuckt der Mann zusammen. Er sieht einen großen Stein.<br />
Der liegt da vor ihm. Mit beiden Händen umklammert er den<br />
Stein in seiner verengten Mitte. Ächzend stemmt er ihn in die<br />
Höhe. Und dann schmettert er ihn mit aller Wucht auf den<br />
Scheitel der Betenden. Wie vom Blitz getroffen stürzt die zu<br />
Boden. Für einen Augenblick herrscht Stille. Mit irren Augen<br />
sieht der Mann sich um. Und dann, geritten vom Teufel, hebt<br />
er den Stein erneut und schlägt mit großer Wucht zu. Und<br />
noch ein drittes Mal.<br />
Der Schmied taumelt. Rutscht von der Plattform. Stürzt.<br />
Liegt am Boden. Finger krallen in den Trampelpfad. Ziehen<br />
und zerren den Körper vorwärts. Weg von der Bank! Beine<br />
schleifen nach. Weg von der Bank!! Knie beginnen zu drükken.<br />
Taumelndes Kriechen. Weg von der Bank!!! Der Schmied<br />
versucht, sich aufzurichten. Stürzt vornüber. Mit Macht knallt<br />
der Kopf auf einen Baumstumpf. Der harte Aufprall löst die<br />
hypnotische Verkrampfung. Wankend beginnt er zu laufen.<br />
Auf dem Hauptweg kommt ihm der Festmacher entgegen.<br />
“Hallo!”, ruft er und stellt sich dem Freund in den Weg. “Was’s<br />
los?”
Mitternacht 559<br />
Keine Antwort.<br />
Stumm bricht der Schmied zusammen. Der Festmacher<br />
springt hinzu und umfängt den Stürzenden mit beiden Armen.<br />
Keuchend schleift er den schlaffen Körper zur nächsten Bank.<br />
Dort läßt er ihn auf die Sitzfläche niedergleiten und stemmt<br />
den Rücken des Freundes gegen die Lehne. Da sackt der in sich<br />
zusammen.<br />
“Mann, Mann, Mann!! Was’ s los, Schmied? Hast du den<br />
Teufel gesehn??”<br />
Der Schmied antwortet nicht.<br />
Er zittert. Immer stärker wird das Zittern, wird zum Rütteln<br />
und Schütteln.<br />
Der Festmacher versucht, ihn aufzurichten. “Reiß dich zusamm’n,<br />
Mann! Sag mir endlich, was los is! Was is passiert??”<br />
Der Schmied antwortet nicht.<br />
Der Festmacher fühlt, daß jedes weitere Fragen <strong>im</strong> Augenblick<br />
zwecklos ist. So schweigt er, legt den Arm um den Freund,<br />
drückt ihn an sich. Eine Zeitlang sitzen die beiden so.<br />
Mit einem Ruck befreit sich der Schmied und richtet sich<br />
auf. Ganz steil aufgerichtet sitzt er nun da. Er hebt den Kopf,<br />
lehnt ihn zurück. Direkt in den H<strong>im</strong>mel blickt er jetzt. Er reißt<br />
den Mund auf, ganz weit. Und nun heult er. Wie ein Wolf heult<br />
er. Heult und heult und heult. Ganz fürchterlich hört sich das<br />
an.<br />
Der Festmacher erschrickt. Er will etwas sagen, versucht,<br />
den Freund in den Arm zu nehmen. Der aber reißt sich los mit<br />
ungeheurer Kraft. Springt hoch. Taumelt ein paar Schritte.<br />
Und dann rennt er, rennt den Hauptweg entlang. Rennt raus<br />
aus dem <strong>Park</strong>. Rennt und rennt und rennt.<br />
Er wird den <strong>Park</strong> nie wieder betreten. Die beiden Freunde<br />
werden einander niemals wiedersehen.<br />
“Mann, Mann, Mann!!”, ruft der Festmacher ganz laut. “Was<br />
is bloß mit dem Schmied los!” Und er denkt: ‘Da muß was<br />
Furchtbares passiert sein!’ Er steht auf. Spuckt. Sieht sich
560 ENGEL UND TEUFEL<br />
um. Überlegt. Es ist zu spät, dem Schmied noch nachzulaufen,<br />
unmöglich, den noch einzuholen. ‘Ich muß jetz ersmal wissn,<br />
was da passiert is.’ Energisch zerrt er die Schiffermütze in die<br />
Stirn. Dann macht er sich auf den Weg.<br />
Der Festmacher inspiziert sein Revier.<br />
Jede Bank überprüft er, auch alles Gebüsch daneben und<br />
dahinter.<br />
Schon elf Bänke hat er nun untersucht. Auf der Bank an der<br />
Hecke liegt ein Paar. Die sind da zugange. Aber das interessiert<br />
ihn jetzt überhaupt nicht. Er biegt ein in den Spielplatz.<br />
Nichts Ungewöhnliches. So geht er weiter. Immer weiter.<br />
Jetzt ist schon über eine Stunde vergangen, seit der<br />
Schmied aus dem <strong>Park</strong> gerannt ist.<br />
Gegen den schwach erleuchteten Nachth<strong>im</strong>mel erkennt der<br />
Festmacher die gewaltige Krone der großen uralten Eiche. Er<br />
entschließt sich, auch die Bank auf dem Hügel zu inspizieren.<br />
Auf dem Weg dorthin hört er, von ganz ferne, Martinshörner.<br />
Sie kommen näher. Von allen Seiten kommen sie. Der Festmacher<br />
beschleunigt seine Schritte, geht weiter auf die Bank<br />
zu. Jetzt sch<strong>im</strong>mern auch rotierende Blaulichter von weitem<br />
durch Blätterwerk und Baumstämme. Als die Lichter näher<br />
kommen, reflektiert der Schein ihres bläulichen Geblinkes<br />
von tiefhängenden Wolken.<br />
‘Da is die Hölle los’, denkt der Festmacher. Und dann denkt<br />
er auch noch: ‘Bloß weg hier. Nix wie weg!’<br />
Aber er muß einfach wissen, was seinem Freund zugestoßen<br />
ist, was da passiert ist in seinem Revier. So rennt er auf<br />
Schleichwegen zu der Bank auf dem Hügel. Als er den Trampelpfad<br />
entlang läuft, blitzen von ganz nah Blaulichter durch<br />
Blätter. Es sind die Lichter der auf dem Hauptweg versammelten<br />
Polizeifahrzeuge. Scheinwerfer leuchten auf. Taschenlampen<br />
strahlen durch die Nacht. Schwer atmend rennt der<br />
Festmacher weiter. Nun steht er seitlich von der Bank hinter<br />
dem Fliederbusch. Er betritt seine Plattform. Vorsichtig biegt<br />
er einen Zweig beiseite.
“Mein Gott”, flüstert er, “mein Gott!!” Vor der Bank liegt das<br />
blonde Mädchen mit eingeschlagenem Schädel in einer großen<br />
Blutlache.<br />
In diesem Augenblick erfaßt den Festmacher der Strahl<br />
eines suchenden Scheinwerfers. “Da ist er”, brüllt eine kräftige<br />
Männerst<strong>im</strong>me. Da links neben der Bank! Faßt ihn! Faßt<br />
den Mörder!!!”<br />
Eine Trillerpfeife schrillt durch die Nacht. Und dann noch<br />
eine.<br />
“Steh’n bleiben!”, brüllt die Männerst<strong>im</strong>me. Und dann bellt<br />
ein Warnschuß auf. “Bleiben Sie sofort stehen!”, dröhnt es<br />
jetzt furchtbar laut aus einem Megaphon, “hier spricht die<br />
Polizei.” Und dann noch einmal: “Bleiben Sie stehen, wo Sie<br />
sind. Hier spricht die Polizei! Heben Sie die Hände in die<br />
Höhe. Kommen Sie raus aus dem Gebüsch! Wir machen sonst<br />
von der Schußwaffe Gebrauch!!”<br />
Karierte Jacke<br />
Karierte Jacke 561<br />
Der Festmacher rennt um sein Leben. Er hastet den Trampelpfad<br />
entlang, biegt ab nach links, rennt geradeaus, schlägt<br />
einen Haken nach rechts, läuft jetzt genau auf eine Gruppe von<br />
Polizisten zu. “Da ist er”, schreit einer der Männer: “Zwei Meter,<br />
dunkle Kleidung, schwarze Schirmmütze! Fangt den Kerl!!”<br />
Der Festmacher wendet sich noch weiter nach rechts, vorbei<br />
an mehreren dicht stehenden Bäumen. Springt in ein großes<br />
Dornengebüsch. Nur er weiß, wie man da durchkommt.<br />
Schlängelt, kriecht und robbt. Macht <strong>im</strong>mer wieder eine Pause.<br />
Keucht. Schluckt. Hält den Atem an. Lauscht mit zugekniffenen<br />
Augen. Dann rennt er weiter. Wechselt <strong>im</strong>mer wieder die<br />
Richtung. Hat jetzt die Verfolger abgeschüttelt. Bleibt stehen.<br />
Dreht den Kopf. Horcht mit gewölbten Handflächen an den<br />
Ohren. Läuft in Richtung Fluß. Hastet am Fluß entlang. Immer<br />
weiter. Die St<strong>im</strong>men kommen jetzt von weiter her.
562 ENGEL UND TEUFEL<br />
Aber nun hört er Hundegebell, von ein, zwei, drei Hunden.<br />
Die haben seine Spur aufgenommen. Sie jagen hinter ihm her.<br />
Seine Verfolger erreichen den Fluß und stürmen am Ufer entlang.<br />
Auch von der entgegengesetzten Seite des Flußufers nähern<br />
sich Taschenlampen. Der Festmacher sitzt in der Falle!<br />
Da donnert es und blitzt.<br />
‘Das muß nich schlecht sein’, denkt der Festmacher und<br />
steigt in das kalte Wasser. Holt Luft. N<strong>im</strong>mt seine Schiffermütze<br />
in die Hand. Taucht weg. Unter Wasser bewegt er sich<br />
auf eine schräg gegenüberliegende Uferstelle zu. Dorthin, wo<br />
er eben noch ganz tiefhängende, dicht beblätterte Zweige gesehen<br />
hat, die vom Ufer her weit über den Fluß ragen. Ganz<br />
vorsichtig taucht er auf. Genau unter den tiefhängenden Zweigen.<br />
Leise atmet er mehrmals durch, blickt sich um. Dann ragen<br />
nur noch Schnittlauchhaare, Augen und Nase aus dem<br />
Wasser.<br />
Am gegenüberliegenden Ufer, nur wenige Meter von ihm<br />
entfernt, stehen drei Polizeibeamte und suchen mit Taschenlampen<br />
den Uferbereich ab. Jetzt kommen auch die Hunde<br />
herangelaufen, die Nasen am Boden. Schnuppernd verharren<br />
sie an der Stelle, an der er in den Fluß geglitten ist. Sie bellen,<br />
was das Zeug hält. Die Situation scheint aussichslos. Da saugt<br />
der Festmacher abermals Luft in sich hinein und taucht<br />
unter, Mill<strong>im</strong>eter um Mill<strong>im</strong>eter. Unter Wasser hört er das<br />
mächtige Donnern des Gewitters. Und jetzt prasselt es mit<br />
Macht auf die Wasseroberfläche. Das kann nur Regen sein,<br />
eher ein Wolkenbruch. ‘Das muß nich schlecht sein’.<br />
Als er ganz vorsichtig wieder auftaucht, sind die Polizisten<br />
und die Hunde <strong>im</strong>mer noch da. Durch Regenböen stürmt ein<br />
vierter Polizeibeamter herbei: “Was steht Ihr hier rum?”,<br />
brüllt er, “der ist am Ufer längs gerannt! Los! Ihr zwei nach<br />
rechts und wir beiden nach links!” Alle vier rennen davon. In<br />
strömendem Regen. Und die Hunde hinterher.<br />
‘Nich schlecht’, denkt der Festmacher. ‘Gar nich schlecht.’<br />
Es ist verdammt kalt in dem Fluß. So kriecht er aus dem
Karierte Jacke 563<br />
Wasser. Schleicht gebückt die Uferböschung hoch, schlüpft<br />
in einen Busch und peilt die Lage. Dann kommt er wieder<br />
hervor. In einem großen Bogen wandert er durch den <strong>Park</strong>.<br />
Schließlich schlägt er die Richtung zur Stadt ein.<br />
Die Polizei hat einige sehr kluge Leute. Aber um den Festmacher<br />
zu fangen, müßten sie doppelt so klug sein.<br />
Als in weiter Ferne die Kirchturmglocke dre<strong>im</strong>al dröhnt,<br />
teilen sich am Rande einer leeren, regengepeitschten Straße<br />
Zweige dichtstehender Büsche. Heraus tritt ein großer Mann.<br />
Ruhig geht er den Fußsteig entlang. Seine rot-weiß karierte<br />
Jacke ist klitschnaß. Glitzernd reflektiert sie das Licht einer<br />
nahen Laterne. Mittelblonde kräftige Haare trotzen dem Unwetter<br />
wie widerspenstige Borsten. Angesichts des prasselnden<br />
Regens schlendert der Mann erstaunlich gelassen dahin.<br />
In einem entlegenen Teil des <strong>Park</strong>s hatte der Festmacher<br />
seine Jacke ausgezogen, ausgewrungen, gewendet, und dann<br />
hatte er sie – die rot-weiß karierte Innenseite jetzt außen – wieder<br />
angezogen. Später hatte er seine Schiffermütze sorgfältig<br />
versteckt.<br />
Der Festmacher taucht unter in der Großstadt. Immer weiter<br />
geht er, ruhigen Schrittes, aber tobenden Sinnes. Jetzt hat<br />
er ein mit alten Bäumen bestandenes Villenviertel erreicht.<br />
Im Fernlicht eines Autos wirft seine hohe, he<strong>im</strong>wärts strebende<br />
Gestalt lange, wandernde Schatten über die Wand einer<br />
großen weißen Villa.<br />
Der Mann, der den Festmacher fangen kann, ist noch nicht<br />
geboren worden. Der Festmacher ist nicht festzumachen.
Kosmische Erscheinung
IM WINTER<br />
Der Festmacher meldet sich bei seinem Chef: “Ich kann heut<br />
nich”, sagt er. “Ich muß mal was in Ordnung bringn. Bin morgn<br />
wieder da.”<br />
Nach dem Frühstück geht er in den <strong>Park</strong>. Es ist das erste<br />
Mal, daß er den <strong>Park</strong> bei Tag betritt. Er trägt einen hellen<br />
Wollmantel. Die Schnittlauchhaare spreizen vom Kopf wie die<br />
Stacheln vom Körper eines gereizten Igels. Als er den Hauptweg<br />
entlangwandert und die Brücke über den Bach am Fuß<br />
des Hügels in Sicht kommt, hat die Polizei ihre Arbeit gerade<br />
beendet. Die Reste der Absperrung werden in einem Kombiwagen<br />
verstaut. Drei Uniformierte steigen ein und fahren davon.<br />
Zwei Kr<strong>im</strong>inalbeamte folgen in einem schwarzen Volkswagen.<br />
Jetzt beginnt der Festmacher mit der Spurensuche. Scheinbar<br />
spazierengehend, schlendert er den Kiesweg hinauf. Dann<br />
steht er unter der großen uralten Eiche. Ihre gewaltige Krone<br />
hat die Bank weitgehend vor den Wassermassen des Wolkenbruchs<br />
geschützt. So vermag er <strong>im</strong> blutgetränkten Boden Spuren<br />
auszumachen – Spuren von Schuhsohlen, die er kennt.<br />
Ganz genau inspiziert er die Bank. Am Holz findet er winzige<br />
Faserreste von einer Leine, die er kennt. Und links neben der<br />
Bank liegt ein kleiner Teil von einem zertretenen Jackenknopf,<br />
den er kennt.<br />
Als er sich dem Kiesweg zuwendet, kommen drei Männer<br />
auf ihn zu. Der erste schiebt eine Karre mit Sand vor sich her.<br />
Der zweite trägt eine Schaufel in der Hand, der dritte eine<br />
Harke über der Schulter. Als der Festmacher auf der Brücke<br />
dem dritten begegnet, leuchtet dessen rotblondes Haar auf in<br />
einem Sonnenstrahl. Nur flüchtig treffen sich zwei Augenpaare,<br />
aber mit sonderbarer Intensität.<br />
Wieder auf dem Hauptweg, fährt die harte Hand wutbebend<br />
über dünne Lippen: ‘Dieses bucklige Ungeheuer! Dieser
566 IM WINTER<br />
Lügner, dieser Verbrecher, dieser Mörder!!!’ Mit geballten<br />
Fäusten in den Manteltaschen starrt der Festmacher in den<br />
H<strong>im</strong>mel. Sein Freund wurde tief verletzt, sein sauberes Revier<br />
geschändet, seine Männerehre, für die Freundschaft viel<br />
bedeutet, in den Dreck getreten. Ein unschuldiges Mädchen<br />
wurde ermordet!!<br />
Der Festmacher beißt die Lippen aufeinander, so fest, daß sie<br />
völlig verschwinden. “Zu spät!”, stöhnt er. “Ich hab nich<br />
geschaltet!” Und er denkt: ‘Hätt ich diesn Satan bloß nich in<br />
mein Revier gelassn. Hätt ich den bloß nich vor dem Boxer<br />
gerettet. Hätt ich den bloß Mittwochnacht zusamm’ngeschlagn!<br />
Denn hätt der rechtzeitig <strong>im</strong> Rollstuhl gesess’n.’<br />
Verbisssen forscht er anhand einer Autonummer nach einer<br />
Adresse und einer Telefonnummer.<br />
Dann arrangiert er einen Treff. In der Nacht. Am See. Bei der<br />
weißen Bank am alten Anleger.<br />
Die Aussprache ist kurz, das Geständnis zitternde Hilflosigkeit.<br />
Krächzen erstirbt <strong>im</strong> Dröhnen der Kirchturmglocke. Es<br />
ist Mitternacht.<br />
Als der zwölfte Glockenschlag verhallt ist, umfängt die große<br />
und die kleine Gestalt vor der weißen Bank eine unendlich<br />
leere, schaurig gespenstische Stille.<br />
Gefrorene Würde in den herben Zügen, hält der Festmacher<br />
eine seiner kurzen, markanten Reden. Er scheint merkwürdig<br />
unbeteiligt zu sein. Seine Augen sind eher nach innen gerichtet.<br />
Doch das kraftvolle Spannen und Zucken der eisernen<br />
Muskeln <strong>im</strong> fest entschlossenen Gesicht, es hat seine eigene<br />
Beredtsamkeit, es hat seine eigene Weise, Verachtung auszudrücken<br />
und Verdammung.<br />
Und dann ist da wieder die Faust. So gewaltig schlägt sie<br />
zu, daß es knackt in den Gesichtsknochen des Zwerges.<br />
Steif und starr, wie eine Statue, verharrt der Festmacher am<br />
Ort des Schreckens. Seine Sinne sind düster, seine Augen voll<br />
bedrückender Bedeutsamkeit. Dann aber spiegelt das hohl-
IM WINTER 567<br />
wangige Asketengesicht mit der großen, weit vorspringenden<br />
Nase die selbstbewußte Verschlossenheit eines gerechten Richters.<br />
Nickend steht der große Mann vor der weißen Bank.<br />
Stumm blickt er hinunter in das Wasser des Sees – auf die Wellen,<br />
die nun sanfter werden.<br />
Silbern-gelb glitzert und funkelt der Mond aus dem Wasser<br />
zu ihm herauf. Ganz merkwürdig.<br />
Der Festmacher spuckt. Dann formt der fast lippenlose Mund<br />
ein O. Bedächtig wischen Daumen und Zeigefinger über die<br />
Mundwinkel. Schließlich zerrt die Faust die Mütze in die Stirn.<br />
‘Der hat sich überhaupt nich gewehrt’, wundert er sich.<br />
Ein Orkan peitscht und prügelt den <strong>Park</strong>. Wie Geschosse<br />
schleudert er Hagelkörner in die Nacht, geißelt Wege und Wiese,<br />
Büsche, Bäume und Bänke. Schüttelt und rüttelt aufstöhnende<br />
Natur, zerrt die letzten Blätter von den Ästen.<br />
Ebenso plötzlich wie er geboren wurde stirbt der Orkan. Ihm<br />
folgt eine hohle, eine unwirkliche Ruhe. Eine Totenruhe.<br />
Grau und trist fließt der Fluß. Tagelang. Es ist, als ströme<br />
mit seinem Wasser alles Leben aus dem <strong>Park</strong>. Tiefe Trauer<br />
überall. Der <strong>Park</strong> ist ärmer geworden. Um sechs seiner neun<br />
Darsteller.<br />
Ein kalter Wintermorgen naht. Mühsam sucht fahl-graues<br />
Licht einen Weg in das Meer kahler Äste. Langsam entwindet<br />
es widerwillig weichendem Dunkel ein neues Bühnenbild. Der<br />
<strong>Park</strong> legt sein Winterkleid an. Stummes Wirbeln, taumelndes<br />
Sinken. Weiche weiße Flocken hüllen alles ein, decken alles<br />
zu. Wiese und Wege, Büsche, Bäume und Bänke. Verwandeln<br />
und verbergen, verzaubern und verklären.<br />
Der Winter dämpft den Schmerz. Behutsam zieht er über<br />
alles ein großes weißes Tuch aus Schnee und Eis. Auch über<br />
die Bank auf dem Hügel unter der großen uralten Eiche. Auch<br />
über die drei neuen Gräber auf dem kleinen Friedhof hinter
568 IM WINTER<br />
dem Pastorenhaus. Auch über das Wasser des Sees vor der<br />
weißen Bank auf dem alten Bootsanleger.<br />
Allmählich stellt sich Stille ein. Überall. Der <strong>Park</strong> versinkt<br />
in tiefem Schlaf. Er träumt seinem Wiedererwachen <strong>im</strong> Frühling<br />
entgegen.<br />
Dann regt sich, zögernd zuerst, frisches Leben. Pflanzen<br />
saugen und pumpen. Mit Macht entwachsen sich erwärmender<br />
Erde ans Licht drängende Ke<strong>im</strong>e. Stengel und Stämme<br />
stehen <strong>im</strong> Saft. Schwellendes, wachsendes Gewebe dehnt sich<br />
kraftvoll in strahlender Jugend. Blätter und Knospen bauen<br />
und formen. Mit bunten Farben eröffnen Frühlingsblumen einen<br />
neuen Reigen pulsierender Aktivität. Vögel zwitschern,<br />
Eichhörnchen jagen einander, und <strong>im</strong> seichten Wasser<br />
schlüpfen junge Hechte.<br />
Abermals hebt sich der Vorhang. Ein neuer Akt beginnt <strong>im</strong><br />
Schauspiel, für das der <strong>Park</strong> Bühne ist und Bahn.<br />
Seht nur! Dort!!<br />
Aus Nebelschleiern schweben, zögernd noch eben, entschlossener<br />
und best<strong>im</strong>mter jetzt, neue Darsteller heran.<br />
Kreisend und wirbelnd, sich drehend und wendend beginnen<br />
sie tanzend ihren geisterhaften Reigen. Selbstsicherer werdend<br />
finden sie in ihre Rollen. Und schon bald werden sie ein<br />
Geschehen gestalten.<br />
Wunderbare, unvergängliche, sich entfaltende, vergehende<br />
und abermals sich entfaltende Schöpfung.<br />
In ewigem Reigen ein ewiger Ring.
Weiße Bank
570 EIN TRAUM<br />
EIN TRAUM<br />
Auch ich habe geträumt. Ich, der Regisseur. Ich hatte einen<br />
wundersamen Traum. Mir träumte von den Wesen.<br />
Unbemerkt von Erdbewohnern hatten sie <strong>im</strong> <strong>Park</strong> das Leben<br />
studiert. Dieses Leben, das anders ist als alles, was sie vorher<br />
kannten: organisiert in Gemeinschaften verschiedener Formen,<br />
die einander als Quelle nutzen für Lebensenergie und Material,<br />
und auf diese Weise spezifische Antriebe gewinnen für ihre Ausreifung.<br />
Die kurze Lebensdauer der Individuen beschränkt –<br />
gemeinsam mit den restriktiv gewährten Möglichkeiten, Informationen<br />
zu erschließen und zu verarbeiten – ein tiefes Eindringen<br />
in das, was die Welt wirklich ist. So bleiben die<br />
Erdwesen in ihren Erkenntnismöglichkeiten begrenzte und in<br />
ihrem Verhalten beeinflußte Kreationen des Ausreifungsprozesses.<br />
Welch seltsamer Planet!<br />
Die Wesen haben große Achtung vor der Schöpfung, auch vor<br />
deren absonderlichsten Auswüchsen. So bestand das Ziel ihrer<br />
Expedition darin, Informationen zu gewinnen, ohne Schaden<br />
anzurichten. Immer wieder einmal hatten sie sich Menschen<br />
genähert, aber <strong>im</strong>mer unter strikter Vermeidung von Beschädigungen.<br />
Sie waren sich nicht sicher, ob es mit ihren derzeitigen<br />
Methoden möglich sein würde, unmittelbaren Kontakt herzustellen<br />
mit einem Menschenhirn, ohne dabei das Gesamtindividuum<br />
zu gefährden. Als ihnen dann der Kahlkopf<br />
signalisierte, daß er um jeden Preis mit ihnen kooperieren<br />
wolle, daß er bereit sei, dabei auch Beschädigungen in Kauf zu<br />
nehmen, ja selbst den Verlust seines Lebens, da war der<br />
schwierigste Teil ihrer Expedition durchführbar geworden.<br />
Der Inhalt des Kahlkopfhirns wird ihnen Einblicke eröffnen in<br />
die Denkweise und den Kenntnisstand der Menschen. In den<br />
Laboratorien ihrer He<strong>im</strong>at kann eine eingehende Analyse des<br />
Hirninhalts erfolgen, ohne weiteren Schaden anzurichten. Trotz<br />
ihrer Erfolge trauern die Wesen, weil es ihnen nicht möglich<br />
war, diesen Menschen als Ganzes zu erhalten.
EIN TRAUM 571<br />
Schon bald werden sie neue Methoden entwickeln können, mit<br />
deren Hilfe sie alle Formen des Lebens auf der Erde, einschließlich<br />
des Menschen, ohne Beschädigung kopieren können. Dann<br />
wollen sie in ihrer He<strong>im</strong>at ganze Populationen von Mikroorganismen,<br />
Pflanzen, Tieren und Menschen nachbilden und die für<br />
die Existenz des Erdlebens erforderlichen Gemeinschaftssysteme<br />
aufbauen. Dem unter ihrer Obhut stehenden irdischen<br />
Leben soll dann eine langfristige Existenz ermöglicht werden.<br />
Und dann soll auch der Hirninhalt des Kahlkopfs wieder einen<br />
Körper erhalten.<br />
Die Ergebnisse ihrer Expedition werden den Wesen einen<br />
Schlüssel liefern für die Durchführung ihres Plans: zu verhindern,<br />
daß die ausgereiften Lebensgemeinschaften dieses<br />
Planeten vom Menschen unwiderbringlich beschädigt oder zerstört<br />
werden. Können sie rechtzeitig die Schöpfung in diesem<br />
entlegenen Teil des Universums vor den Menschen schützen?<br />
Die Problematik menschlicher Existenz erhöht das <strong>Inter</strong>esse an<br />
diesem absonderlichen Schadensstifter: Diesen Zwitter mit<br />
übertierischem Hirn, aber starken tierischen Trieben. Diesen<br />
Zwiespalt, der in Kunst und Wissenschaft beachtliche Leistungen<br />
hervorbringt, aber auch die fürchterlichsten Verbrechen begeht;<br />
der sich Frieden wünscht, aber <strong>im</strong>mer wieder Kriege führt;<br />
der sich ethische Gebote auferlegt und Religionen ausdenkt,<br />
aber all das <strong>im</strong>mer wieder verrät. Diese schillernde Sch<strong>im</strong>äre,<br />
die von Glück und Erfüllung träumt, die Befriedigung ihrer<br />
Wünsche, Süchte und Triebe ersehnt, aber nicht zuletzt dadurch<br />
<strong>im</strong>mer wieder Tod bringt und Verderben. Diese einzige Lebensform<br />
auf Erden, die sich selbst der schl<strong>im</strong>mste Feind ist.<br />
Die Menschheit steht vor ihrer Vernichtung, in die sie große<br />
Teile der Schöpfung mitreißen wird. Der baldige Sturz des<br />
Menschen in den Abgrund ist unabwendbar.<br />
Hier bin ich aufgewacht aus meinem Traum. Erschrocken<br />
habe ich notiert:<br />
Es sei denn, der Mensch öffnet die Augen. Es sei denn, er sucht
572<br />
und akzeptiert die für ihn erkennbare Wahrheit: Über seinen<br />
verfälschten Rollenplan <strong>im</strong> Drehbuch der Schöpfung. Über sein<br />
veraltetes Weltverständnis. Über seine ihm die Sicht verstellenden<br />
religiösen Vorstellungen. Wir sind nicht die Krone der<br />
Schöpfung. Wir sind nicht Auserwählte. Wir sind Teil – Teil<br />
eines großartigen Ganzen.<br />
Die Augen zu öffnen, das wird Angst gebären und Leid. Wir bedürfen<br />
ihrer! Nur sie können ausreichende Energien freisetzen,<br />
um den erforderlichen Bewußtseinswandel zu bewirken. Glauben<br />
und Wissen reichen nicht aus. Angst und Leid hatten die<br />
aus der dumpfen Welt tierischer Existenz ausbrechende Menschheit<br />
dazu gedrängt, die verlorene Urharmonie zu ersetzen durch<br />
eine Ideenharmonie. Der Kern dieser Ideenharmonie kommt<br />
wohl von weither, wohl aus den Tiefen des Univerums. So ist er<br />
heilig. Aber zu viele der daraus entwickelten Verhaltenspraktiken<br />
und Religionsvorstellungen tragen uns heute nicht mehr.<br />
So entstehen aufs neue Angst und Leid. Und wieder brauchen<br />
wir sie: als Antriebskräfte für das <strong>Suchen</strong> nach einer neuen Ideenharmonie,<br />
für das Ringen um ein neues Weltverständnis. Durch<br />
Angst zum Handeln, durch Leid zur Einsicht! Es gilt, die Balance<br />
wiederherzustellen zwischen Mensch und Natur. Es gilt,<br />
eine neue Beziehung aufzubauen zwischen Mensch und Gott.<br />
Öffnet Sinne und Herzen! Nicht Pess<strong>im</strong>ismus ist die Botschaft,<br />
sondern Realismus. Nicht Resignation, sondern Adaptation.<br />
Nicht Verheißung, sondern Forderung.<br />
Die Essenz der Forderung lautet: Erkennen und Einordnen. Die<br />
Natur erhält nur einen Menschen, der die Natur erhält. Nur<br />
wenn wir mit äußerstem Bemühen lernen, die Schöpfung und<br />
ihre Gesetze besser zu verstehen und besser zu achten, nur wenn<br />
wir uns mit jeder Faser unseres Wesens der Urmusik des Universums<br />
öffnen – nur dann können wir Teil bleiben des großartigen<br />
kosmischen Reigens, nur dann unsere neue Rolle finden <strong>im</strong> grandiosen<br />
Schauspiel fließender Energie und tanzender Materie.<br />
Und nur so können wir den baldigen Sturz des Menschen von<br />
der Bühne des Lebens verhindern.
QUALEN<br />
VERSE<br />
Weh' dem, der die Wunden wägt,<br />
Die der Mensch der Schöpfung schlägt!<br />
Weh' dem, der den Menschen rügt,<br />
Der sich und seinen Gott belügt!<br />
Wer so viel wagt, der muß viel zahlen<br />
Auf den warten zweifach Qualen:<br />
Innen nagen Not, Verzweiflung<br />
Außen drohen Tod, Verteuflung<br />
ALLES<br />
Alles Zufall?<br />
Alles Gottes Wille?<br />
Alles Schicksal?<br />
Alles eigner Wille?<br />
Ach was!<br />
Alles das!<br />
BOTSCHAFT<br />
Was sch<strong>im</strong>mert da <strong>im</strong> Dunkel?<br />
Was schwebt denn da herbei?<br />
Auf leichtem, leisem Flügel?<br />
Auf Bahnen sanft und scheu?<br />
Eine Botschaft<br />
Empfangen vom Herzen<br />
Wurzelnd <strong>im</strong> Fühlen<br />
Wachsend <strong>im</strong> Glauben<br />
Wird sie Gewißheit<br />
Empfangen vom Kopf<br />
Gemessen, gewogen<br />
Gewandelt, gebogen<br />
Gebiert sie Zweifel<br />
573
574 VERSE<br />
KREIS<br />
Wie hoch noch der Berg?<br />
Wie weit noch der Weg?<br />
Du wanderst <strong>im</strong> Kreis<br />
Warum nicht gradaus?<br />
Ich wandere nicht<br />
Mich wandert der Kreis.<br />
Wie weit schon die Zeit?<br />
Wie nah schon das Ziel?<br />
Nacht beschläft den Tag<br />
Wann löschst Du das Licht?<br />
Ich lösche nicht<br />
Mich löscht der Kreis.
Weißes und Schwarzes
DANKSAGUNGEN UND SCHULDZUWEISUNGEN<br />
Den größten Teil meines Lebens habe ich der Wissenschaft gewidmet.<br />
So war der Entschluß, einen Roman zu schreiben, eine Herausforderung<br />
und ein Wagnis. Vor größeren Fehleinschätzungen haben<br />
mich (hoffentlich!) drei Freunde bewahrt: Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c.<br />
Hans-Joach<strong>im</strong> Elster (Konstanz), Prof. Dr. rer. nat. Kurt Lillelund<br />
(Hamburg) und Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Werner Rotthauwe<br />
(Alfter). Die <strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong> Lektorin, Frau Britta Radenhausen, hat<br />
die letzten Fassungen der ersten Auflage mit Sorgfalt überarbeitet.<br />
Auch ihr verdanke ich Anregungen und Kritik.<br />
Meiner Frau Helga bin ich dankbar für Geduld und Nachsicht mit<br />
einem plötzlich schriftstellernden Gefährten.<br />
Der Hauptschuldige bin ich selbst, der Nebenschuldige mein Sohn<br />
Stephan: ohne sein interessiertes Insistieren hätte ich dieses Buch<br />
nicht geschrieben.
ÜBER DEN AUTOR<br />
Professor Dr. rer. nat. Otto Kinne,<br />
geboren in Bremerhaven, ist Meeresbiologe<br />
und Ökologe. Promotion 1952,<br />
Wissenschaftlicher Assistent 1952–<br />
1957, Habilitation 1958, Universität<br />
Kiel. Assistant <strong>Research</strong> Zoologist,<br />
University of California, Los Angeles,<br />
USA, 1957–1958. Assistant Professor<br />
1958–1960, Associate Professor<br />
1960–1962, University of Toronto,<br />
Kanada. Leitender Direktor und Professor<br />
Biologische Anstalt Helgoland,<br />
Hamburg, 1962–1984. Professor<br />
Universität Kiel, 1967 –.<br />
Otto Kinne<br />
(Einzelheiten siehe www.int-res.com)<br />
Gründer und Direktor <strong>Inter</strong>national Ecology Institute, Oldendorf/Luhe,<br />
1984– .Mitglied wissenschaftlicher Akademien in<br />
USA, Indien, Ukraine. Ehrenmitglied der Hydrobiologischen<br />
Gesellschaft der früheren Sowjetunion (heute GUS). Ehrenmitglied<br />
wissenschaftlicher Institute in England, Rußland.<br />
Präsident wissenschaftlicher Einrichtungen. Träger wissenschaftlicher<br />
und staatlicher Auszeichnungen.<br />
Autor zahlreicher Originalia auf den Gebieten der Physiologie,<br />
Biologie und Ökologie wasserlebender Tiere. Gründer,<br />
Herausgeber und Mitautor von Handbüchern ('Marine<br />
Ecology', 13 Bücher, Wiley & Sons; 'Diseases of Marine<br />
An<strong>im</strong>als', 5 Bücher, Biologische Anstalt Helgoland). Gründer<br />
und Herausgeber der Buchserie 'Excellence in Ecology', bisher<br />
11 Bücher, Ecology Institute. Gründer und Herausgeber<br />
wissenschaftlicher Zeitschriften: 'Marine Ecology Progress<br />
Series', bisher 220 Bände, 'Marine Biology', bisher 140 Bände,<br />
'Diseases of Aquatic Organisms', bisher 46 Bände. Gründer<br />
und Verleger der wissenschaftlichen Zeitschriften 'Aquatic<br />
Microbial Ecology', bisher 25 Bände; 'Cl<strong>im</strong>ate <strong>Research</strong>', bisher<br />
17 Bände; ‘Ethics in Science and Environmental Politics’<br />
(electronisch). Mitherausgeber weiterer naturwissenschaftlicher<br />
Publikationen.
ÜBER DEN VERLAG<br />
<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong> (IR) ist ein internationales Wissenschaftszentrum<br />
(Einzelheiten unter www.int-res.com).<br />
IR sponsort das internationale Ecology Institute (ECI) mit<br />
derzeit 58 wissenschaftlichen Mitgliedern aus 21 Ländern. Das ECI<br />
hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, wichtige Ergebnisse und<br />
Probleme ökologischer Forschung einer breiten Öffentlichkeit<br />
zugänglich zu machen. Alljährlich verleiht das Institut Preise an<br />
hervorragende Wissenschaftler und unterstützt – durch eine Stiftung<br />
– junge Forscher in osteuropäischen Staaten. ECI-Preisträger<br />
machen ihre Forschungsergebnisse, Einsichten und Ansichten durch<br />
ein Buch bekannt, das in der Serie Excellence in Ecology (EE) publiziert,<br />
zum Selbstkostenpreis vertrieben und Ländern in der dritten<br />
Welt kostenlos zur Verfügung gestellt wird.<br />
ECI-Preisträger und ihre EE-Bücher:<br />
Tom Fenchel (Kopenhagen, Dänemark): ‘Ecology — potentials and<br />
l<strong>im</strong>itations’, 1987, DM 67<br />
Edward O. Wilson (Cambridge, USA): ‘Success and dominance in<br />
ecosystems, the case of the social insects’, 1990, DM 49<br />
Gene E. Likens (Millbrook, USA)’: The ecosystem approach: its use<br />
and abuse’, 1992, DM 59<br />
Robert T. Paine (Seattle, USA): ‘Marine rocky shores and community<br />
ecology: an exper<strong>im</strong>entalist’s perspective’, 1994, DM 59<br />
Harold A. Mooney (Stanford, USA): ‘The globalization of ecological<br />
thought’ (in Vorbereitung)<br />
F. H. Rigler und Robert H. Peters (Montreal, Canada): ‘Science and<br />
l<strong>im</strong>nology’, 1995, DM 74<br />
David H. Cushing (Lowestoft, United Kingdom): ‘Towards a science<br />
of recruitment in fish populations’, 1996, DM 58<br />
Paul Ehrlich (Stanford, USA): ‘A world of wounds: ecology and<br />
human predicament’ (in Vorbereitung)<br />
Colin S. Reynolds (Ambleside, United Kingdom): ‘Planktonic vegetation:<br />
a model of ecosystem processes’ (<strong>im</strong> Druck)<br />
Ramón Margalef (Barcelona, Spanien): ‘Our biosphere’ (<strong>im</strong> Druck)<br />
John Lawton (Ascot, United Kingdom): ‘Community ecology in a<br />
changing world’, 2000, DM 68
Z. Maciej Gliwicz (Warsaw, Poland): ‘Between hazards of starvation<br />
and risks of predation: the ecology of an offshore an<strong>im</strong>al’ (in<br />
Vorbereitung)<br />
Richard T Barber (Beaufort, NC, USA): ‘The response of oceanic<br />
ecosystems to the cl<strong>im</strong>ate of the 21st century’ (in Vorbereitung)<br />
Ilkka Hanski (Helsinki, Finland): ‘Habitat loss and its biological consequences’<br />
(in Vorbereitung)<br />
Stephen R. Carpenter (Madison, Wisconsin): ‘Integrating ecosystem<br />
science: comparison, long-term study, exper<strong>im</strong>ent, and theory’ (in<br />
Vorbereitung)<br />
Top Books (TB) ist eine neue Abteilung von IR. TB publiziert<br />
Bücher, die sich (in englischer oder deutscher Sprache) an ein großes<br />
Publikum wenden. Die Bücher erörtern wichtige Probleme der heutigen<br />
Gesellschaft — allgemeinverständlich und eingebunden in spannende<br />
Handlungsabläufe. Das vorliegende Buch ist Beispiel und<br />
Orientierungsmöglichkeit. Autoren wenden sich bitte an Dr. Thomas<br />
Thornton; e-mail: thomas@int-res.com (<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>).<br />
Otto Kinne (Oldendorf/L., Deutschland): ‘<strong>Suchen</strong> <strong>im</strong> <strong>Park</strong>. Ringen<br />
um ein neues Weltverständnis’, 1996, gedruckte Version: DM 48<br />
Jörg Friedrich (Mainz, Deutschland): ‘Anna’, 1998, gedruckte<br />
Version: DM 25<br />
Bestellungen:<br />
Druckversionen von Fachzeitschriften, EE-Büchern und Top Books<br />
sind erhältlich<br />
(a) von unserer Verlagsbuchhandlung (Vorkasse). Kreditkarten werden<br />
akzeptiert (American Express, Visa, Euro-/Mastercard).<br />
Bitte Karten-Nummer und Verfallsdatum angeben.<br />
(b) über den Buchhandel<br />
<strong>Inter</strong>-<strong>Research</strong>, Nordbünte 23(+21,26,28,30),<br />
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