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Vorsitzende Anordnung Beigeladene Grundsicherungsleistungen notwendigen

SG-Kassel-zu-Unionsb-rgern-2-2017

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Sozialgericht Kassel<br />

Az.: S 4 AS 20/17 ER<br />

B e s c h l u s s<br />

In dem Rechtsstreit<br />

1.<br />

2.<br />

vertreten durch F<br />

,<br />

,<br />

,<br />

Antragstellerinnen,<br />

Prozessbevollm.:zu 1-2: Rechtsanwältin Kathrin Fuchs,<br />

Friedrichsstraße 18, 34117 Kassel,<br />

g e g e n<br />

Jobcenter Stadt Kassel, vertreten durch den Geschäftsführer Stefan Schäfer,<br />

Grüner Weg 46, 34117 Kassel,<br />

Antragsgegner,<br />

b e i g e l a d e n :<br />

Stadt Kassel, vertreten durch den Magistrat Rechtsamt,<br />

Rathaus, 34117 Kassel,<br />

hat die 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 14. Februar 2017 durch die <strong>Vorsitzende</strong>,<br />

Richterin am Sozialgericht Köpp, beschlossen:<br />

Die <strong>Beigeladene</strong> wird im Wege der einstweiligen <strong>Anordnung</strong><br />

verpflichtet, den Antragstellerinnen ab 24.1.2017 bis<br />

zur Erteilung des Widerspruchsbescheides durch die <strong>Beigeladene</strong>,<br />

längstens bis 30.6.2017 vorläufig <strong>Grundsicherungsleistungen</strong><br />

nach dem SGB XII zu gewähren.<br />

Die <strong>Beigeladene</strong> hat den Antragstellerinnen die <strong>notwendigen</strong><br />

außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


- 2 -<br />

G r ü n d e<br />

Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung<br />

von <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch<br />

- SGB II - von dem Antragsgegner.<br />

Die Antragstellerin zu 1. ist die Mutter der am in geborenen Antragstellerin<br />

zu 2. Beide sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1. arbeitete zunächst<br />

als<br />

und beendete diese Tätigkeit aufgrund der Schwangerschaft. Die<br />

Antragstellerin zu 1. gibt hinsichtlich ihres Aufenthaltes in Deutschland an, dass sie sich<br />

seit Juni 2011 in Deutschland aufhalte. Sie habe sich von Juni bis August 2011 in<br />

aufgehalten und sei dann über Augsburg als Zwischenstation nach l gezogen.<br />

Im September 2012 sei sie zwei Wochen z gewesen und von<br />

dort aus für ca. einen Monat nach<br />

gegangen und dann wiederum zurück nach<br />

Kassel. 2013 sei sie 8 Monate in Wetzlar gewesen und habe dort für<br />

gearbeitet.<br />

Dort sei sie nicht polizeilich gemeldet gewesen. Von da aus sei sie nach<br />

gezogen.<br />

Die Antragstellerin zu 1. bezog - zusammen mit der Antragstellerin zu 2. nach deren Geburt<br />

– seit 1.4.2014 mit Unterbrechungen und jedenfalls ab 1.4.2015 bis 31.12.2016<br />

durchgehend <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> nach dem SGB II.<br />

Ausweislich der Akten war die Antragstellerin zu 1. in der Zeit vom 25.2. bis 24.8.2015 in<br />

unterschiedlichem Umfang beschäftigt, jedoch immer geringfügig. Ein weiterer Arbeitsvertrag<br />

mit Beginn zum 17.12.2015 wurde zum 11.2.2016 gekündigt. Ein mit Wirkung ab<br />

17.3.2016 geschlossener Arbeitsvertrag (Vereinbarung von 47 Monatsstunden) wurde<br />

zum 30.6.2016 arbeitgeberseitig gekündigt.<br />

Am 17.11.2016 beantragten die Antragstellerinnen bei dem Antragsgegner die Weitergewährung<br />

von SGB II-Leistungen über den 31.12.2016 hinaus. Mit Bescheid vom<br />

21.11.2016 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des<br />

Lebensunterhalts ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Antragstellerin zu 1. lediglich<br />

ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zum Zwecke der Arbeitssuche innehabe und aus<br />

diesem Grund keine <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> nach dem SGB II beanspruchen könne<br />

(§ 7 Abs.1 S. 2 SGB II).<br />

- 3 -


- 3 -<br />

Dagegen legten die Antragstellerinnen Widerspruch ein und führten aus, dass möglicherweise<br />

ein Daueraufenthaltsrecht für sie gegeben und daneben noch zu prüfen sei, ob<br />

eine mehr als ein Jahr bestehende ununterbrochene Erwerbstätigkeit der Antragstellerin<br />

zu 1. vorliege. Außerdem bleibe der Arbeitnehmerstatus bei einem unfreiwilligen Verlust<br />

der Arbeitsstelle solange aufrechterhalten, bis die Agentur für Arbeit eine Entscheidung<br />

über die Unfreiwilligkeit des Arbeitsplatzverlustes getroffen habe. Ferner wurde zum<br />

Nachweis des Aufenthalts in Deutschland ein Mietvertrag eingereicht, der mit Datum vom<br />

27.9.2013 von der Antragstellerin zu 1. unterzeichnet ist. Ein Widerspruchsbescheid ist<br />

aktuell noch nicht ergangen.<br />

Die Antragstellerinnen beantragten ferner bei der <strong>Beigeladene</strong>n die Gewährung von Hilfe<br />

zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII).<br />

Mit Bescheid vom 29.12.2016 lehnte die <strong>Beigeladene</strong> die Leistungsgewährung ab. Sie<br />

führte aus, dass gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII bei Ausländern, die ihr Aufenthaltsrecht allein<br />

aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiteten bzw. bei Fehlen anderweitiger Freizügigkeitsrechte<br />

ein Leistungsausschluss gegeben sei. Die Antragstellerin zu 1. habe mit<br />

Ablauf des 31.12.2016 ihren Arbeitnehmerstatus verloren. Sie sei daher nicht mehr freizügigkeitsberechtigt<br />

im Sinne von § 2 Abs. 3 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit<br />

von Unionsbürgern - FreizügG/EU -.<br />

Hiergegen legten die Antragstellerinnen ebenfalls Widerspruch ein, der noch nicht beschieden<br />

ist.<br />

Die Antragstellerinnen haben am 24.1.2017 beim Sozialgericht Kassel einen Antrag auf<br />

Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt und begehren in diesem Rahmen vom<br />

Antragsgegner die Gewährung von <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> nach dem SGB II.<br />

Mit Beschluss vom 3.2.2017 hat das Gericht die Stadt Kassel notwendig beigeladen (§ 75<br />

Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).<br />

Die Antragstellerin zu 1. vertritt weiterhin die Auffassung, dass der Arbeitnehmerstatus<br />

trotz Verlust des Arbeitsplatzes fortwirke und insoweit eine Freizügigkeitsberechtigung<br />

vorliege, die den weiteren Bezug von SGB II-Leistungen rechtfertige. Zumindest sei jedenfalls<br />

die <strong>Beigeladene</strong> leistungspflichtig. Die Neufassung des § 23 Abs. 3 SGB XII stehe<br />

der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegen. Der Sozialleistungsbezug<br />

von EU-Bürgern könne nur dann beendet werden, wenn eine rechtskräftige Fest-<br />

- 4 -


- 4 -<br />

stellung des Verlustes des Aufenthaltsrechts durch die Ausländerbehörde mit anschließender<br />

Abschiebung vorliege.<br />

Die Antragstellerinnen beantragen,<br />

den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, ihnen vorläufig für die Zeit ab<br />

24.1.2017 <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> zu gewähren.<br />

Der Antragsgegner beantragt,<br />

den Antrag abzuweisen.<br />

Er führt aus, dass ein <strong>Anordnung</strong>sanspruch nicht glaubhaft gemacht sei. Der Antragstellerin<br />

zu 1. komme kein fortwirkender Arbeitnehmerstatus zugute. Ein solcher könne maximal<br />

für 6 Monate gewährt werden, wenn die vorausgegangene Beschäftigungszeit unter<br />

einem Jahr liege.<br />

Die <strong>Beigeladene</strong> stimmt der Rechtsauffassung des Antragsgegners zu. Eine Leistungspflicht<br />

des <strong>Beigeladene</strong>n könne nach der Neufassung des § 23 Abs. 3 S. 3 und Abs. 3a<br />

SGB XII nur in der Gewährung von Überbrückungsleistungen und gegebenenfalls in der<br />

Übernahme von Kosten der Rückreise bestehen. Diese Leistungen könnten die Antragstellerinnen<br />

beantragen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses<br />

nach § 23 Abs. 3 SGB XII bestünden nicht.<br />

Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Antragsgegners (Band II) haben dem<br />

Gericht bei seiner Entscheidung vorgelegen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum<br />

Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt dieser Akten Bezug genommen.<br />

II.<br />

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen<br />

Umfang (nur) gegen den <strong>Beigeladene</strong>n begründet. Ein Anspruch der Antragstellerinnen<br />

gegen den Antragsgegner besteht nicht.<br />

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist § 86b Abs. 2 SGG.<br />

Danach kann das Gericht eine einstweilige <strong>Anordnung</strong> in Bezug auf den Streitgegenstand<br />

treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden<br />

Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers erschwert oder wesentlich<br />

- 5 -


- 5 -<br />

vereitelt wird. Die einstweilige <strong>Anordnung</strong> ist auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands<br />

in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung<br />

zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG ist<br />

hierfür zum einen ein <strong>Anordnung</strong>sanspruch, also ein materieller Anspruch, den der Antragsteller<br />

als Kläger im Hauptsacheverfahren geltend zu machen hätte, erforderlich. Zum<br />

anderen muss ein <strong>Anordnung</strong>sgrund vorliegen, d.h. es muss eine besondere Eilbedürftigkeit<br />

für den Erlass einer einstweiligen <strong>Anordnung</strong> gegeben sein. Sowohl <strong>Anordnung</strong>sgrund,<br />

als auch <strong>Anordnung</strong>sanspruch sind nach § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO<br />

- glaubhaft zu machen, d.h. die tatbestandlichen Voraussetzungen müssen überwiegend<br />

wahrscheinlich sein.<br />

Zwischen <strong>Anordnung</strong>sgrund und <strong>Anordnung</strong>sanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung.<br />

Je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, umso geringer sind die<br />

Anforderungen an den <strong>Anordnung</strong>sgrund und umgekehrt. Sind die Erfolgsaussichten in<br />

der Hauptsache offen, kommt dem <strong>Anordnung</strong>sgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit<br />

existenzsichernde Leistungen infrage stehen, sind die Anforderungen an den <strong>Anordnung</strong>sgrund<br />

und den <strong>Anordnung</strong>sanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall<br />

ist gegebenenfalls auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der<br />

grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (s. dazu: BVerfG, Beschluss<br />

vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05 – Rn 22 ff, juris).<br />

Unter Anwendung dieser Maßstäbe war dem Antrag in dem aus dem Tenor ersichtlichen<br />

Umfang stattzugeben. Nach summarischer Prüfung steht den Antragstellerinnen ein <strong>Anordnung</strong>sanspruch<br />

und <strong>Anordnung</strong>sgrund zur Seite. Beides ist glaubhaft gemacht im<br />

Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO.<br />

Da die Antragstellerin zu 1. hinsichtlich ihrer Tochter (Antragstellerin zu 2.) allein sorgeberechtigt<br />

ist - nachgewiesen durch eine Bescheinigung der Stadt Kassel gemäß § 58<br />

Abs. 2 Sozialgesetzbuch/Achtes Buch (SGB VIII) - war sie auch befugt, als ihre alleinige<br />

gesetzliche Vertreterin (§ 1626 a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) auch für ihre<br />

Tochter einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu stellen.<br />

Nach summarischer Prüfung spricht Vieles dafür, dass ein <strong>Anordnung</strong>sanspruch der Antragstellerinnen<br />

vorliegt. Dieser ist auch glaubhaft gemacht. Allerdings besteht dieser<br />

nicht gegen den Antragsgegner (1.), sondern gegen die <strong>Beigeladene</strong> (2.)<br />

1. Rechtsgrundlage für einen Anspruch der Antragstellerinnen als Bedarfsgemeinschaft<br />

- 6 -


- 6 -<br />

gegen den Antragsgegner wäre gemäß § 19 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 SGB II. Dass<br />

die in § 7 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 4 normierten tatbestandlichen Voraussetzungen - Erwerbsfähigkeit<br />

der Antragstellerin zu 1., Hilfebedürftigkeit und Aufenthalt in der Bundesrepublik<br />

Deutschland – vorliegen, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.<br />

Allerdings geht der Antragsgegner zu Recht davon aus, dass die Antragstellerinnen aufgrund<br />

§ 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 a) und b) SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sind.<br />

Die Antragstellerinnen können sich nämlich auf kein anderes materiell-rechtliches Aufenthaltsrecht<br />

berufen, als - höchstens - dasjenige zur Arbeitssuche, sodass sie gemäß<br />

§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II wirksam ausgeschlossen<br />

sind.<br />

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II erhalten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein<br />

aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen keine SGB II-<br />

Leistungen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteile vom<br />

3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R, Rn 17 und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R -, juris ) ist der<br />

Begriff der Arbeitssuche freizügigkeitsrechtlich geprägt. Diese Regelung erfordert demnach<br />

eine materiell-rechtliche Prüfung des aufenthaltsrechtlichen Status durch das erkennende<br />

Gericht.<br />

a) Diese Prüfung hat vorliegend zum Ergebnis, dass sich die Antragstellerinnen auf kein<br />

anderes Aufenthaltsrecht als das zur Arbeitssuche berufen können.<br />

aa) Insbesondere besitzt die Antragstellerin zu 1. kein Aufenthaltsrecht wegen einer Arbeitnehmereigenschaft<br />

gemäß § 2 Abs.1 FreizügG/EU, aus dem die Antragstellerin zu 2.<br />

ein Aufenthaltsrecht ableiten könnte. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass das<br />

letzte Arbeitsverhältnis der Antragstellerin zu 1. durch arbeitgeberseitige Kündigung zum<br />

30.6.2016 beendet wurde. Ein weiteres Arbeitsverhältnis der Antragstellerin zu 1. wird<br />

nicht behauptet.<br />

bb) Die Antragstellerin zu 1. besitzt für die Zeit ab 1.1.2017 auch keinen fortwirkenden<br />

Arbeitnehmerstatus gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU nach dem Ende ihres letzten<br />

Arbeitsverhältnisses mit der Fa.<br />

zum 30.6.2016 und damit kein darauf<br />

gegründetes materiell-rechtliches Aufenthaltsrecht.<br />

Gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre<br />

Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Ge-<br />

- 7 -


- 7 -<br />

setzes. Nach Abs. 3 Nr. 2 dieser Vorschrift bleibt das Recht nach Abs. 1 dieser Vorschrift<br />

für Arbeitnehmer bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit<br />

nach mehr als einem Jahr Tätigkeit erhalten. Nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU<br />

bleibt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit<br />

nach weniger als einem Jahr Beschäftigung das Recht aus Abs. 1 während<br />

der Dauer von 6 Monaten unberührt. Dies bedeutet, dass nach einer zeitlich unter einem<br />

Jahr liegenden Beschäftigung der Arbeitnehmerstatus fortwirkt und dem Betroffenen daraus<br />

das Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU begrenzt auf 6 Monate erhalten<br />

bleibt.<br />

Vorliegend sind für die Antragstellerin zu 1. keine Beschäftigungszeiten nachgewiesen,<br />

die mindestens ein Jahr andauerten. Auch sind kürzere Beschäftigungsverhältnisse, die<br />

sich nahtlos aneinander anschließen und zusammen den Jahreszeitraum erreichen würden,<br />

nicht ersichtlich. Ein längerer fortwirkender Arbeitnehmerstatus wie es § 2 Abs. 3 Nr.<br />

2 FreizügG/EU bei mindestens einjähriger Beschäftigung vorsieht, ist vorliegend nicht<br />

einschlägig. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass nicht jede Beschäftigung<br />

geeignet ist, einen Arbeitnehmerstatus zu vermitteln. Jedenfalls zwei der von<br />

der Antragstellerin zu 1. ausgeübten Beschäftigungsverhältnisse sind aufgrund ihrer arbeitsvertraglich<br />

vereinbarten sehr geringen Arbeitszeit dazu nicht geeignet. Für die Beschäftigungszeit<br />

vom 1.5 bis 24.8.2015 bei der Fa.<br />

war im Arbeitsvertrag<br />

vom 30.4.2015 nur eine gänzlich untypische Arbeitszeit von 3,04 h monatlich<br />

vereinbart. Der Arbeitsvertrag vom 17.12.2015 mit der Fa.<br />

, der<br />

bereits zum 11.2.2016 endete, war mit einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von<br />

0,25 Stunden ebenso untypisch strukturiert. Bei beiden bestehen insoweit erhebliche<br />

Zweifel an der Ernsthaftigkeit des arbeitsvertraglichen Verhältnisses. Eine Arbeitnehmereigenschaft<br />

kann ein derart konstruiertes Arbeitsverhältnis – wenn es denn auch so umgesetzt<br />

wird – nicht vermitteln. Der Rechtsprechung des EuGH ist zu entnehmen, dass<br />

Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet<br />

und unwesentlich darstellen, nicht geeignet sind, eine Arbeitnehmereigenschaft zu begründen<br />

(Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 2 FreizügG/EU<br />

Rn 47)<br />

Ausgehend von dem Ende des letzten Beschäftigungsverhältnisses am 30.6.2016 hat der<br />

Antragsgegner bereits in Anwendung von § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU für die Antragstellerin<br />

zu 1. die fortwirkende Arbeitnehmereigenschaft für die Dauer von 6 Monaten berücksichtigt.<br />

Er hat demnach bis 31.12.2016 SGB II-Leistungen gewährt. Diesem Beschäftigungsverhältnis<br />

lag ein Arbeitsvertrag vom 17.3.2016 zugrunde, indem als Ar-<br />

- 8 -


- 8 -<br />

beitszeit 47 Monatsstunden vereinbart waren, was vom Arbeitsumfang her einer üblichen<br />

geringfügigen Beschäftigung entspricht und insoweit geeignet ist, eine Arbeitnehmereigenschaft<br />

der Antragstellerin zu 1. zu vermitteln.<br />

cc) Ferner führt auch die weitere Argumentation der Antragstellerinnen nicht dazu, dass<br />

ein über den 31.12.2016 hinaus fortwirkender Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu<br />

1. anzunehmen ist.<br />

Der Ansicht der Antragstellerinnen, dass die Sechsmonatsfrist erst dann zu laufen beginne,<br />

wenn die Bescheinigung über die Unfreiwilligkeit des Arbeitsplatzverlustes von der<br />

Agentur für Arbeit ausgestellt worden ist und darüber hinaus auch von einem Fortwirken<br />

des Arbeitnehmerstatus zwischen Arbeitsplatzverlust und der Erteilung dieser Bestätigung<br />

der Agentur für Arbeit auszugehen sei, kann nicht gefolgt werden. Die Bescheinigung<br />

der Agentur für Arbeit ist vielmehr Voraussetzung dafür, dass von einem Fortwirken<br />

des Arbeitnehmerstatus überhaupt ausgegangen werden kann. Folgte man hingegen der<br />

Auffassung der Antragstellerinnen, hätten es letztlich die Betroffenen in der Hand, durch<br />

das verspätete Einholen der Bescheinigung der Agentur für Arbeit den Sechsmonatszeitraum<br />

beliebig zu verlängern. Dies ist vom Gesetz nicht gewollt. Im hiesigen Fall liegt eine<br />

solche Bescheinigung nicht vor und es ist auch nicht ersichtlich, dass eine solche beantragt<br />

worden ist. Hier hat der Antragsgegner zudem bereits zugunsten der Antragstellerin<br />

zu 1. auch ohne Vorlage der Bescheinigung der Agentur für Arbeit eine Fortwirkung des<br />

Arbeitnehmerstatus angenommen.<br />

b) Auch können die Antragstellerinnen aus der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4<br />

SGB II keinen Anspruch auf Gewährung von SGB II-Leistungen ableiten. Danach erhalten<br />

Ausländerinnen und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 S. 2 Nr. 2 Leistungen<br />

nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt<br />

im Bundesgebiet haben und nicht der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU<br />

festgestellt wurde. Nach § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II beginnt die Frist hierfür mit der<br />

Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde.<br />

Vorliegend ist die erste nachgewiesene Anmeldung bei einer Meldebehörde die von der<br />

Antragstellerin zu 1. zum 20.1.2014 in erfolgte Anmeldung. Damit aber ist dann<br />

lediglich ein dreijähriger Aufenthalt im Bundesgebiet nachgewiesen. Weitere Ermittlungen,<br />

ob sich die Antragstellerin zu 1. tatsächlich bereits seit 2011 in Deutschland aufhält,<br />

erübrigen sich angesichts der Neufassung des § 7 SGB II, worin zur Bestimmung des<br />

Aufenthalts nunmehr allein die Anmeldung bei der Meldebehörde maßgeblich ist.<br />

- 9 -


- 9 -<br />

c) Für die Antragstellerin zu 1. kommt mithin höchstens ein Aufenthaltsrecht aus dem<br />

Zweck der Arbeitssuche in Betracht. Dieses materielle Aufenthaltsrecht ist nicht als „Auffangtatbestand“<br />

anzusehen, sondern enthält seinerseits auch einige Voraussetzungen.<br />

So ist es erforderlich, dass die Arbeitssuche aktiv betrieben wird und auch eine gewisse<br />

Erfolgsaussicht hat. Aufgrund der von der Antragstellerin zu 1. in der Vergangenheit ausgeübten<br />

Beschäftigungen (insbesondere angesichts des beschriebenen Umfangs der<br />

Beschäftigungen) bestehen schon Zweifel, ob eine Erfolgsaussicht hier tatsächlich gegeben<br />

ist. Im Weiteren sind der Aktenlage zufolge unter Berücksichtigung des letzten halben<br />

Jahres keine Bemühungen der Antragstellerin zu 1. zu entnehmen, ein Beschäftigungsverhältnis<br />

aufzunehmen. Letztendlich ist es für das hier vorliegende einstweilige<br />

Rechtsschutzverfahren aber auch gar nicht entscheidend, inwieweit der Antragstellerin zu<br />

1. ein Aufenthaltsrecht zu Zwecken der Arbeitssuche tatsächlich zusteht oder nicht.<br />

Andere Gründe, die den Antragstellerinnen ein materiell-rechtliches Aufenthaltsrecht<br />

vermitteln können, sind nicht ersichtlich. Dies führt dazu, dass jedenfalls der Antragsgegner<br />

nicht nach dem SGB II leistungspflichtig sein kann.<br />

2. Allerdings steht den Antragstellerinnen ein Recht gegen die <strong>Beigeladene</strong> auf existenzsichernde<br />

Leistungen durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII zu.<br />

Nach dieser Ermessenvorschrift kann im Übrigen Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies<br />

im Einzelfall gerechtfertigt ist.<br />

a) Die Voraussetzung des § 19 Abs. 1 SGB XII, wonach Personen Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

zu leisten ist, die ihren <strong>notwendigen</strong> Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend<br />

aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können, liegt vor; das ist zwischen den Beteiligten<br />

unstreitig.<br />

b) Die Antragstellerinnen sind auch nicht von Gesetzes wegen von der Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

ausgeschlossen. Nach § 21 S. 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem<br />

SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt<br />

sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Nach der vorzitierten Rechtsprechung<br />

des BSG, der das Gericht folgt, gilt dieser Ausschluss jedoch nicht absolut für jede erwerbsfähige<br />

Person. Vielmehr ist in den Fällen, in denen eine Leistungsberechtigung<br />

nach dem SGB II nicht besteht, weil die Betroffenen dem Leistungsausschluss nach § 7<br />

Abs. 1 S. 2 SGB II unterfallen, eine Zuweisung in das System des SGB XII vorzunehmen.<br />

Grundsätzlich gilt für die Systemzuweisung aufgrund der Erwerbszentriertheit des SGB II,<br />

- 10 -


- 10 -<br />

dass derjenige, der von dem auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausgerichteten<br />

Leistungssystem des SGB II ausgeschlossen werden soll, dem System des SGB XII zugewiesen<br />

wird (BSG, Urteil vom 3.12.2015, aaO Rn 40, 41 und vom 20.1.2016 aaO Rn<br />

35, juris).<br />

c) Die Antragstellerinnen sind nach summarischer Prüfung allerdings (einfachgesetzlich)<br />

aufgrund der Regelung des § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII von einem Anspruch auf Hilfe zum<br />

Lebensunterhalt (§ 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII) ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift haben<br />

Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht<br />

sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt sowie ihre Familienangehörigen,<br />

keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Wie zuvor unter 1. zur entsprechenden Vorschrift des<br />

SGB II ausgeführt, kann den Antragstellerinnen nach summarischer Prüfung nur ein Aufenthaltsrecht<br />

aufgrund Arbeitssuche zugebilligt werden.<br />

d) Letztendlich verbleibt nur ein Anspruch der Antragstellerinnen auf SGB XII-Leistungen<br />

aus § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII und dem Recht auf Gewährung von existenzsichernden<br />

Leistungen, wie es das Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs.1 und 20 Abs. 1<br />

Grundgesetz abgeleitet hat und den das BSG in vergleichbaren Fällen bejaht hat (BSG,<br />

Urteile vom 3.12.2015 und vom 20.1.2016 aaO). Ein solcher Anspruch ist auch hier gegeben.<br />

aa) Das BVerfG hat in seiner einschlägigen Rechtsprechung (BVerfG, Urteil vom<br />

18.7.2012 - 1 BvL 10/10 - Rn 63, juris) hierzu ausgeführt: „Wenn Menschen die zur Gewährleistung<br />

eines menschenwürdigen Daseins <strong>notwendigen</strong> materiellen Mittel fehlen,<br />

weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen<br />

Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum<br />

Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages<br />

verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür<br />

Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen<br />

und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland<br />

aufhalten, gleichermaßen zu“. Unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht<br />

aufgestellten Grundsätze und der Rechtsprechung des BSG ist jedenfalls in den Fällen,<br />

in denen sich das Aufenthaltsrecht des Ausländers verfestigt hat – regelmäßig ab einem<br />

sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland – typisierend eine Ermessensreduzierung auf<br />

Null anzunehmen. Zur Begründung der Ermessensreduktion nach sechsmonatigem Aufenthalt<br />

wird unter Bezugnahme auf § 2 Abs. 2 Buchst. a FreizügG/EU ausgeführt, dass<br />

die Freizügigkeitsberechtigung zum Zwecke der Arbeitssuche nach dem Ablauf von<br />

- 11 -


- 11 -<br />

sechs Monaten endet, wenn nicht weiterhin eine begründete Aussicht auf die Aufnahme<br />

einer Erwerbstätigkeit besteht. Diese Regelung, die auf der EU-rechtlichen Regelung in<br />

Art. 14 Abs. 4 Buchst b RL 2004/38/ EG fußt, typisiert die Dauer der Arbeitssuche und<br />

damit ein Zeitspanne, in der noch nicht von einer Aufenthaltsverfestigung ausgegangen<br />

werden kann. Erst nach Ablauf von sechs Monaten tritt im Regelfall eine Aufenthaltsverfestigung<br />

ein, der dann ausländerbehördlich entgegengetreten werden kann. Die Ausländerbehörde<br />

kann dann den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung durch Verwaltungsakt<br />

feststellen (§ 5 Abs. 4 S. 1 FreizügG). Werden die entsprechenden ausländerrechtlichen<br />

Maßnahmen indessen nicht getroffen, liegt nach sechs Monaten ein verfestigter Aufenthalt<br />

vor. Das durch das Vollzugsdefizit des Ausländerrechts bewirkte Faktum eines verfestigten<br />

tatsächlichen Aufenthalts des Unionsbürgers im Inland ist unter Berücksichtigung<br />

auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben kein zulässiges Kriterium, die Entscheidung<br />

über die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe<br />

nach in das Ermessen des Sozialhilfeträgers zu stellen. Die Ermessensreduktion ergibt<br />

sich dann aus dem Vergleich mit einem anderen sich im Inland tatsächlich aufhaltenden<br />

Ausländer, dem nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII ein Leistungsanspruch zusteht. Entscheidend<br />

bei der Leistungsgewährung nach dem SGB XII ist die Tatsache der gegenwärtigen<br />

Hilfebedürftigkeit (vgl BSG, Urteil vom 3.12.2015, aaO Rn 56).<br />

bb) Diese Rechtsprechung des BSG ist auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden.<br />

(1) Dem steht zur Überzeugung des Gerichts die Neuregelung des § 23 SGB XII nicht<br />

entgegen. Mit Wirkung zum 29.12.2016 wurde in § 23 Abs. 3 SGB XII neu S. 3 eingeführt.<br />

Danach werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 S. 1 unterfallen, bis<br />

zur Ausreise, längstens jedoch für ein Zeitraum von einem Monat einmalig innerhalb von<br />

zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu<br />

überbrücken (Überbrückungsleistungen).<br />

Zwar ist nun gesetzlich geregelt, dass den von einem Leistungsanspruch nach § 23 Abs.<br />

3 SGB XII ausgeschlossenen Ausländern ein Anspruch auf Überbrückungsgeld zusteht,<br />

dass sie also überhaupt Anspruch auf Leistungen haben. Diese Leistungen sind allerdings<br />

nur auf einen engen zeitlichen Rahmen begrenzt, nämlich nur für einen Monat und<br />

sind auch zweckbestimmt, nämlich „um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken“.<br />

Es sind also andere Leistungen, als diejenigen, die die Antragstellerinnen vorliegend begehren.<br />

Die Antragstellerinnen begehren nämlich Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes<br />

in Deutschland. Die Antragstellerinnen beabsichtigen dagegen nicht,<br />

Deutschland zu verlassen und nach Rumänien zurückzukehren. Auf die Verwirklichung<br />

- 12 -


- 12 -<br />

einer Rückreise in ihr Heimatland gerichtete Leistungen sind von ihrer Zielrichtung her<br />

offensichtlich vom Begehren der Antragstellerinnen im vorliegenden einstweiligen<br />

Rechtsschutzverfahren nicht umfasst.<br />

(2) Die Antragstellerinnen können auch nicht auf die vorgenannten Überbrückungsleistungen<br />

verwiesen werden, so dass ihnen nicht deshalb <strong>Grundsicherungsleistungen</strong> im<br />

Ermessenswege nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII versagt werden können.<br />

Das BSG hat in seinen vorgenannten Entscheidungen vom 3.12.2015 betont, dass es für<br />

das Bestehen von Leistungsansprüchen nach dem SGB XII auf die bloße Möglichkeit<br />

einer Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland nicht ankommt. Es hat dazu ausgeführt:<br />

„Diese Möglichkeit ist im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts<br />

als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich,<br />

wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch<br />

geduldet wird“. Zwar wird dann im Hinblick auf sozialrechtliche Regelungen weiter ausgeführt:<br />

„Ungeachtet dessen findet der Verweis auf eine so verstandene Selbsthilfe in dieser<br />

Lage nach dem derzeit geltenden Recht auch sozialhilferechtlich keine Grundlage.<br />

Zwar erhält Sozialhilfe nach dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII nicht, wer<br />

sich – vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens<br />

– selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere<br />

von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Diese Vorschrift<br />

ist jedoch nach der Rechtsprechung des Sozialhilfesenats des BSG keine eigenständige<br />

Ausschlussnorm, sondern ihr kommt regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden<br />

bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung zu; ein Leistungsausschluss<br />

ohne Rückgriff auf andere Norm des SGB XII ist mithin allenfalls in extremen<br />

Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der bedürftige generell eigenen Bemühungen<br />

verschließt und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar sind. Für die Annahme<br />

einer solchen Ausnahmelage fehlt indes – nachdem eine ausdrückliche Rechtsgrundlage<br />

für ein Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland nach geltendem Recht im SGB XII<br />

nicht besteht – ohne Begründung eine Ausreisepflicht des Ausländers als Ergebnis eines<br />

ausländerbehördlichen Verfahrens schon im Ansatz jeder Anhaltspunkt“ (BSG, aaO, Rn<br />

42).<br />

Diesen Ausführungen entnimmt das erkennende Gericht zwei Aussagen, die in einer<br />

Fallkonstellation wie der vorliegenden die Gewährung von <strong>Grundsicherungsleistungen</strong><br />

gebieten. Die eine Aussage ist der Hinweis darauf, dass es im SGB XII an einer Rechtsgrundlage<br />

für eine Sozialhilfeleistungen ausschließende Verweisungsmöglichkeit auf die<br />

- 13 -


- 13 -<br />

Rückkehr in das Heimatland fehlt. Diese Aussage gilt aufgrund der Neuregelung des § 23<br />

SGB XII allerdings aktuell nicht mehr uneingeschränkt. Der in diese Regelung neu eingefügte<br />

S. 3 beinhaltet eine neue „Art“ der (Hilfe)Leistung, mit der die Rückkehr der Ausländer<br />

in ihr Herkunftsland umgesetzt werden kann.<br />

Die zweite Aussage des BSG, dass sich eine Ausreisepflicht des Ausländers erst aus<br />

dem Ergebnis eines ausländerbehördlichen Verfahrens ergeben kann, ist auch nach der<br />

Gesetzesänderung weiter relevant. Ebenso wie in den vom BSG entschiedenen Fällen<br />

verhält es sich so, dass auch in dem vorliegenden Fall die Ausländerbehörde nicht im<br />

Sinne des Erlasses einer Ausweisungsverfügung tätig geworden ist. Es ist nicht aktenkundig<br />

und auch von keinem der Beteiligten vorgetragen worden, dass seitens der Ausländerbehörde<br />

eine Ausreisepflicht der Antragstellerinnen verfügt worden ist. Solange<br />

dies nicht geschehen ist, besteht dann aber weiterhin die Vermutung des rechtmäßigen<br />

Aufenthalts der Antragstellerinnen in Deutschland. Zur Feststellung, ob der Aufenthalt der<br />

Antragstellerinnen in Deutschland rechtmäßig ist oder nicht, ist allein die zuständige Ausländerbehörde<br />

befugt. Eine solche den Sozialleistungsbehörden unmittelbar oder mittelbar<br />

zukommende Kompetenz kann in die Vorschriften des SGB XII nicht hineininterpretiert<br />

werden. Das SGB XII kann allein die Leistungen benennen, die zu gewähren sind,<br />

wenn es darum geht, den Zeitraum bis zu einer Ausreise zu überbrücken. Das SGB XII<br />

enthält jedoch keine Ermächtigungsgrundlage dafür, eine faktische Ausreisepflicht Betroffener<br />

zu statuieren, indem es – unter Außerachtlassung des vom BSG hervorgehobenen<br />

verfassungsrechtlich verankerten Existenzminimums - statt allgemeiner <strong>Grundsicherungsleistungen</strong><br />

nur zeitlich limitierte Überbrückungsleistungen an die nach § 23 Abs. 3<br />

Nr. 1- 4 genannten Personengruppen gewährt.<br />

cc) Die dargestellte Änderung der Rechtslage ändert nach alledem nichts an dem sich<br />

aus der BSG-Rechtsprechung ergebenden Erfordernis, dass eine Ausreisepflicht einzelfallbezogen<br />

rechtsförmig von der zuständigen Ausländerbehörde festzustellen ist. Solange<br />

es hieran fehlt, besteht keine durchsetzbare Ausreisepflicht und es verbleibt bei weiterem<br />

Aufenthalt der Antragstellerinnen in Deutschland bei der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers.<br />

e) Unter Heranziehung der vorgenannten vom BSG entwickelten Grundsätze ist vorliegend<br />

nach summarischer Prüfung von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen<br />

und den Antragstellern steht ein Anspruch auf Gewährung von SGB XII-Leistungen zu.<br />

Die Antragstellerin zu 1. hält sich bereits seit Januar 2014 und damit deutlich länger als<br />

sechs Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf; ein verfestigter Aufenthalt liegt vor.<br />

- 14 -


- 14 -<br />

Eine anderweitige Rechtsgrundlage zum Erhalt existenzsichernder Leistungen - insbesondere<br />

aufgrund des SGB II - ist nicht gegeben.<br />

3. Ein <strong>Anordnung</strong>sgrund - Eilbedürftigkeit - liegt vor, da es sich um die keinen Aufschub<br />

duldende, nicht auf andere Weise sicherzustellende Gewährung von Leistungen zur Sicherung<br />

des Existenzminimums handelt.<br />

4. Die Kostenentscheidung folgt aus der analogen Anwendung von § 193 SGG.<br />

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g<br />

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Hessische Landessozialgericht<br />

statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Bekanntgabe dieser Entscheidung beim Sozialgericht<br />

Kassel, Ständeplatz 23, 34117 Kassel, (FAX-Nr. 0561-70936-10) schriftlich, in<br />

elektronischer Form oder zur Niederschrift der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der<br />

Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde<br />

innerhalb der Frist beim Hessischen Landessozialgericht, Steubenplatz 14, 64293 Darmstadt<br />

(FAX-Nr. (0 61 51) 80 43 50) schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift<br />

der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.<br />

Die elektronische Form wird nur durch eine qualifiziert signierte Datei gewahrt, die nach<br />

den Maßgaben der „Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen<br />

Gerichten und Staatsanwaltschaften“ in das elektronische Gerichtspostfach des jeweiligen<br />

Gerichts zu übermitteln ist. Weitere Informationen hierzu können über das Internetportal<br />

des Hessischen Landessozialgerichts (www.lsg-darmstadt.justiz.hessen.de) abgerufen<br />

werden.<br />

gez. Köpp<br />

Richterin am Sozialgericht<br />

Ausgefertigt:<br />

Kassel, 14.02.2017<br />

gez. Kirchner, Verwaltungsangestellte<br />

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle


Sozialgericht Kassel<br />

Az.: S 11 SO 9/17 ER<br />

Ausfertigung<br />

B e s c h l u s s<br />

In dem Rechtsstreit<br />

1. l,<br />

2.<br />

Antragsteller,<br />

Prozessbevollm.:zu 1-2: Rechtsanwältin Kathrin Fuchs,<br />

Friedrichsstraße 18, 34117 Kassel,<br />

g e g e n<br />

Stadt Kassel, vertreten durch den Magistrat Rechtsamt,<br />

Rathaus, 34117 Kassel,<br />

Antragsgegnerin,<br />

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 15. Februar 2017 durch die Richterin<br />

am Sozialgericht Lindner als <strong>Vorsitzende</strong> beschlossen:<br />

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen <strong>Anordnung</strong><br />

verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die<br />

Zeit vom 07.02.2017 bis 30.06.2017, längstens jedoch bis<br />

zur Entscheidung in einem Klageverfahren hinsichtlich<br />

des Widerspruchs der Antragsteller vom 01.02.2017 gegen<br />

den Bescheid der Antragsgegnerin vom 26.01.2017, Leistungen<br />

nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch<br />

(SGB XII) im Umfang der jeweiligen Regelleistungen<br />

sowie der angemessenen Kosten der Unterkunft<br />

und Heizung in gesetzlichem Umfang zu gewähren.<br />

Die Antragsgegnerin hat die <strong>notwendigen</strong> außergerichtlichen<br />

Kosten der Antragsteller zu tragen.


- 2 -<br />

G r ü n d e<br />

I.<br />

Streitig ist ein Anspruch der Antragsteller auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des<br />

Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) gegenüber der Antragsgegnerin.<br />

Der am<br />

geborene Antragsteller und die mit ihm verheiratete und am<br />

geborene Antragstellerin sind ungarische Staatsbürger. Sie sind nach eigenen<br />

Angaben zum 01.02.2013 nach Deutschland eingereist. Seit Juni 2013 hält sich auch<br />

der am geborene Sohn in Deutschland auf. Dieser<br />

bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Jobcenter<br />

und wohnt gemeinsam mit seinen Eltern, den Antragstellern, in einer Wohnung<br />

in der<br />

. Die Antragsteller haben in der Vergangenheit<br />

in Deutschland kurzzeitig geringfügig gearbeitet. Sie haben zeitweise Leistungen<br />

des Jobcenters<br />

erhalten. Aus der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin<br />

ergibt sich, dass den Antragstellern mit Bescheid vom 15.03.2016 ab Januar 2016<br />

fortlaufend Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt)<br />

in Höhe des jeweiligen Regelbedarfs nach Regelbedarfsstufe 2, der anteiligen Unterkunftskosten<br />

und teilweise unter Berücksichtigung des von der Antragstellerin erzielten<br />

Einkommens als Reinigungskraft (in Höhe von brutto 100,00 € monatlich) gewährt werden.<br />

Ein Änderungsbescheid vom 28.10.2016 bewilligt sodann Leistungen nach dem Dritten<br />

Kapitel SGB XII für die Zeit von Mai 2016 bis November 2016. Auch im Dezember<br />

2016 hat die Antragsgegnerin Leistungen an die Antragsteller ausgezahlt.<br />

Mit Schreiben vom 20.12.2016 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, sie würden<br />

aufgrund der seit dem 03.12.2015 ergangenen Rechtsprechung des Bundesozialgerichts<br />

(BSG) als erwerbsfähige EU-Bürger zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts Hilfe<br />

zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII erhalten. Aufgrund einer zum<br />

01.01.2017 eingetretenen Gesetzesänderung zu § 23 SGB XII entfalle dieser Anspruch<br />

mit Ablauf des 31.12.2016. Sofern die Antragsteller keine Arbeitnehmereigenschaft aufweisen<br />

würden, kein Aufenthaltsrecht besitzen würden oder sich ihr Aufenthaltszweck<br />

allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe, hätten sie keinen weiteren Anspruch auf<br />

Sozialhilfe. Ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland hätten die Antragsteller<br />

nur bei Erfüllung der Voraussetzungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU, § 2. Wenn die<br />

Antragsteller ihren Lebensunterhalt und ihren Krankenversicherungsschutz nicht selbst<br />

sicherstellen könnten, hätten sie kein Aufenthaltsrecht (§ 4 Freizügigkeitsgesetz/EU). Bis<br />

- 3 -


- 3 -<br />

zu ihrer Ausreise könnten sie für längstens einen Monat nochmals eingeschränkte Leistungen<br />

zur Sicherung des Lebensunterhalts, der Unterkunfts- und Heizkosten sowie zur<br />

Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erhalten. Außerdem könne<br />

ihnen für ihre Rückreise ein Darlehen für angemessene Fahrtkosten bewilligt werden.<br />

Das Schreiben stelle eine Anhörung nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)<br />

dar. Die Antragsteller äußerten sich hierzu nicht. Mit Bescheid vom 29.12.2016 bewilligte<br />

die Antragsgegnerin den Antragstellern für die Zeit ab 01.01.2017 Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

unter Berücksichtigung des geänderten Regelbedarfs (jetzt jeweils 368,00 €) des<br />

Erwerbseinkommens der Antragstellerin und der Unterkunftskosten wie bisher. Der Bescheid<br />

enthielt den Berechnungsbogen für den Monat Januar 2017 und in der dem Bescheid<br />

beigefügten Bescheinigung zur Inanspruchnahme von Vergünstigungen die Formulierung:<br />

„Die Leistung wird bis auf Weiteres gewährt. Anhaltspunkte für eine Beendigung<br />

der Leistung liegen gegenwärtig nicht vor.“<br />

Mit Bescheid vom 26.01.2017 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, die bisher<br />

nach dem Dritten Kapitel des SGB XII gewährten Leistungen stelle sie ein zum<br />

01.02.2017. Zur Begründung führte sie aus, als Bürger der Europäischen Union seien die<br />

Antragsteller zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt, sofern sie die<br />

Voraussetzungen nach § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern<br />

erfüllen würden (Freizügigkeitsgesetz/EU). Nach eigenen Angaben seien die<br />

Antragsteller in der Vergangenheit zur Arbeitssuche bzw. Aufnahme einer Arbeit eingereist.<br />

Die geringfügige Beschäftigung der Antragstellerin begründe nach geltender Rechtsprechung<br />

des Europäischen Gerichtshofes keinen Arbeitnehmerstatus im Sinne des<br />

Freizügigkeitsgesetzes/EU. Hieraus könne kein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden. Die<br />

Antragsteller könnten ihren Lebensunterhalt sowie ihren Krankenversicherungsschutz<br />

nicht selbst sicherstellen. Sie hätten demnach gemäß § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU kein<br />

Aufenthaltsrecht in Deutschland. Da sie kein Aufenthaltsrecht besitzen würden, seien sie<br />

gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Die Leistungen seien<br />

daher einzustellen.<br />

Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 01.02.2017 legten die Antragsteller<br />

Widerspruch ein. Dazu wurde geltend gemacht, die Antragsteller hätten weiterhin Anspruch<br />

auf Gewährung existenzieller Leistungen. Die Neuregelung des § 23 SGB XII, der<br />

einen Leistungsausschluss für EU-Bürger definiere, die sich in Deutschland allein zum<br />

Zwecke der Arbeitssuche aufhalten würden, sei verfassungswidrig. Die Regelung verstoße<br />

gegen Artikel 1 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 20 Abs. 1 GG, denn hieraus leite sich auch<br />

weiterhin ein Recht auf Gewährung des Existenzminimums ab. Laut einer Entscheidung<br />

- 4 -


- 4 -<br />

des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) weise das BVerfG darauf hin,<br />

dass jedem Menschen, der sich in Deutschland faktisch aufhalte, ein Anspruch auf das<br />

soziokulturelle Existenzminimum als Menschenrecht zustehe. Dieses sei migrationspolitisch<br />

nicht zu relativieren. Das Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum<br />

sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse eingelöst werden. Der Staat<br />

habe die Menschenwürde zu schützen und die materiellen Voraussetzungen dafür zu<br />

schaffen – nicht abzuschaffen. Es obliege der Ausländerbehörde, die Voraussetzungen<br />

zu schaffen, um den Aufenthalt in Deutschland zu beenden. Solange dies nicht geschehen<br />

sei, hätten die Antragsteller Anspruch auf ungekürzte Leistungen.<br />

Mit am 07.02.2017 beim Sozialgericht Kassel eingegangenem Schreiben beantragen die<br />

Antragsteller, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 01.02.2017 gegen den<br />

Bescheid der Antragsgegnerin vom 26.01.2017 festzustellen und hilfsweise, die Antragsgegnerin<br />

im Wege der einstweiligen <strong>Anordnung</strong> zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen<br />

zur Hilfe zum Lebensunterhalt ab Antragstellung längstens bis zum Abschluss<br />

des Hauptsacheverfahrens und längstens für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten<br />

Zeitraum zu gewähren. Dazu wird geltend gemacht, der angefochtene Bescheid<br />

stelle die laufenden Leistungen der Antragsteller zum 01.02.2017 ein. Aus den bisherigen<br />

Bescheiden gehe hervor, dass die Antragsgegnerin dauerhaft SGB-XII-Leistungen bei<br />

unveränderter Bedarfslage habe gewähren wollen, so dass die aufschiebende Wirkung<br />

des Widerspruchs zu einer Fortbewilligung der Hilfe zum Lebensunterhalt führen müsse.<br />

Dazu sei auch auf Seite 5 des Änderungsbescheides vom 29.12.2016 zu verweisen. Dort<br />

heiße es: „Die Leistung wird bis auf Weiteres gewährt. Anhaltspunkte für eine Beendigung<br />

der Leistung liegen gegenwärtig nicht vor.“ Für den Fall, dass das Gericht dies anders<br />

sehen sollte, wäre auf jeden Fall der Antrag auf Erlass einer einstweiligen <strong>Anordnung</strong><br />

begründet. Ein materielles Freizügigkeitsrecht sei nicht ersichtlich, so dass das<br />

Jobcenter<br />

nach Auffassung der Prozessbevollmächtigten nicht als Leistungsträger<br />

in Betracht komme. § 23 Abs. 3 SGB XII stehe einem Leistungsanspruch<br />

gegenüber der Antragsgegnerin nicht entgegen. Die Ausschlussregelung für EU-Bürger<br />

ohne materielles Aufenthaltsrecht bzw. mit dem alleinigen Aufenthalt zum Zwecke der<br />

Arbeitssuche sei im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als verfassungswidrig<br />

anzusehen. Die Vorschrift verstoße gegen die Menschenwürde und das<br />

Sozialstaatsprinzip aus Artikel 1 Abs. 1 GG und Artikel 20 Abs. 1 GG. Aus Artikel 1 Abs.<br />

1 GG i. V. m. Artikel 20 Abs. 1 GG leite sich ein Recht auf Gewährleistung des Existenzminimums<br />

ab. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10<br />

und 1 BVL 2/11) entschieden, dass jedem Menschen, der sich in Deutschland faktisch<br />

aufhalte, ein Anspruch auf das soziokulturelle Existenzminimum als Menschenrecht zu-<br />

- 5 -


- 5 -<br />

stehe. Das BVerfG führe zudem in einem Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09) aus, dass<br />

dieses Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde<br />

nach unverfügbar sei und eingelöst werden müsse. Der Staat habe die Menschenwürde<br />

zu schützen und die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, nicht abzuschaffen.<br />

Aus Sicht der Prozessbevollmächtigten gäbe es nur einen verfassungsgemäßen Weg,<br />

den Sozialleistungsbezug von EU-Bürgern zu beenden: Die rechtskräftige Verlustfeststellung<br />

durch die Ausländerbehörde mit anschließender Abschiebung. Ein bloßer Anspruch<br />

auf ermessensfehlerfreie Entscheidung scheide vorliegend im Hinblick darauf aus, dass<br />

es um die Verwirklichung eines Menschenrechts gehe. Diesbezüglich werde auch auf<br />

einen Beschluss des SG Leipzig vom 02.12.2016 (S 5 AY 13/16 ER) hingewiesen. Darin<br />

gehe es um einen geduldeten Asylsuchenden. Soweit ein Anspruch aus § 23 SGB XII<br />

nicht abgeleitet werden könne, ergebe sich ein entsprechender Anspruch unmittelbar aus<br />

dem Grundgesetz nach Artikel 1 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 20 Abs. 1 GG. Die Antragsteller<br />

hätten bis zum 31.01.2017 im unmittelbaren Leistungsbezug der Antragsgegnerin gestanden,<br />

deswegen sei von glaubhaft gemachter Hilfebedürftigkeit weiterhin auszugehen.<br />

Zwischenzeitig würden auch zwei Beschlüsse in den Verfahren S 11 SO 7/17 ER und S 4<br />

AS 20/17 ER vorliegen, die jeweils zu dem – im Rahmen eines im einstweiligen Rechtsschutzverfahrens<br />

gebotenen vorläufigen – Ergebnis kämen, dass trotz anders lautendem<br />

Wortlaut ein Leistungsanspruch – weiterhin – aus § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII folge. Das im<br />

FreizügG/EU angelegte Verfahren zur Verlustfeststellung könne nicht durch eine andere<br />

Fachbehörde umgangen werden, indem die Rechte eines Unionsbürgers durch Entzug<br />

seiner Existenzgrundlage abgeschnitten würden. Soweit gehe das Prüfungsrecht anderer<br />

Fachbereiche respektive anderer Gerichtsbarkeiten definitiv nicht. Der Sozialhilfeträger<br />

dürfe auch nicht ohne Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Integration Leistungen<br />

an geduldete Ausländer einstellen, weil er meine, es liege kein Aufenthaltsrecht<br />

mehr vor. Die vom Gesetzgeber vorgesehenen Kompetenzzuweisungen und Verfahrensregelungen<br />

seien einzuhalten. Das Unionsrecht unterstelle, worauf die Beschlüsse zu<br />

Recht hinweisen würden, das Freizügigkeitsrecht, solange keine Verlustfeststellung erfolgt<br />

sei. Es liege kein illegaler Aufenthalt vor und insbesondere keine Ausreisepflicht.<br />

Der Verweis auf eine Selbsthilfemöglichkeit durch Ausreise sei nicht zu akzeptieren. Die<br />

von der Antragsgegnerin zitierten Beschlüsse anderer Gerichte würden nicht überzeugen,<br />

schon gar nicht der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 31.01.2017 (S 62<br />

SO 628/16 ER). Die dortige Argumentation zur Relativierungsmöglichkeit eines Menschenrechts<br />

sei problematisch. Die Entscheidung lasse auch nicht den Unterschied zwischen<br />

Aufenthaltsgesetz und dem Freizügigkeitsgesetz erkennen. Nach Auffassung der<br />

Prozessbevollmächtigten sei es so, dass der Rechtsstatus eines EU-Bürgers grundsätzlich<br />

stärker sei als derjenige eines Drittstaatlers. Dann müssten aber die für diesen vom<br />

- 6 -


- 6 -<br />

BVerfG aufgezeigten Grundsätze erst recht für EU-Bürger gelten. Festzuhalten bleibe,<br />

dass sich der Aufenthaltsstatus der Antragsteller nach mehr als sechsmonatigem Aufenthalt<br />

in Deutschland verfestigt habe und nach der Rechtsprechung des BSG daraus ein<br />

Anspruch nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII folge.<br />

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,<br />

die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten,<br />

ihnen vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt ab Antragstellung beim Gericht bis zu<br />

einem ins Ermessen des Gerichts gestellten Zeitpunkt zu gewähren.<br />

Die Antragsgegnerin beantragt,<br />

den Eilantrag vom 07.02.2017 abzulehnen.<br />

Dazu führt die Antragsgegnerin aus, die Antragsteller seien durch zwei kostenrechtlich<br />

noch nicht abgeschlossene Verfahren vor dem angerufenen Gericht (S 6 AS 268/14 und<br />

S 6 AS 156/16) bekannt. Es handele sich um zwei erwerbsfähige ungarische Staatsbürger,<br />

die nach den bei der Stadt geführten Meldedaten am 01.02.2013 aus Ungarn<br />

nach Deutschland eingereist seien. Einreisegrund sei damals wohl eine Arbeitsaufnahme<br />

der Antragstellerin gewesen, die aber schon nach kurzer Zeit beendet worden sei, weil<br />

der Arbeitgeber den vereinbarten Lohn nicht gezahlt habe. Seitdem gehe die Antragstellerin<br />

lediglich einer geringfügigen Beschäftigung als Reinigungskraft mit einem monatlichen<br />

Verdienst von ca. 100,00 € nach. Hieraus ergebe sich kein Arbeitnehmerstatus. Für<br />

den Antragsteller seien außer einer Beschäftigung als Reinigungskraft bei einer Firma<br />

Actio vom 08.10.2014 bis zum 13.11.2014 keine Beschäftigungsverhältnisse bekannt.<br />

Die Antragsteller würden unstreitig nicht über ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügigG/EU<br />

verfügen. Die Antragsgegnerin sei zu den beiden genannten Gerichtsverfahren<br />

beigeladen worden, in denen die Antragsteller zunächst gegen das Jobcenter der Stadt<br />

Kassel vorgegangen seien. Aufgrund der sich aus dem BSG-Urteil vom 03.12.2015 (B 4<br />

AS 44/15 R) ergebenden Rechtslage sei die Antragsgegnerin gehalten gewesen, die dort<br />

geltend gemachten Ansprüche, soweit kein Arbeitnehmerstatus bestanden habe, anzuerkennen.<br />

Die Antragsteller hätten dann seit dem 01.01.2016 nach dem Dritten Kapitel des<br />

SGB XII und zuletzt zeitlich für den Monat Januar 2017 befristet HLU-Leistungen erhalten<br />

(Bescheid vom 29.12.2016 und einstellender Bescheid vom 26.01.2017). Die Antragsteller<br />

seien mit Schreiben vom 20. Dezember 2016 auch dazu angehört worden, dass ihnen<br />

aufgrund der zum 29.12.2016 geänderten Rechtslage zukünftig keine Leistungen mehr<br />

- 7 -


- 7 -<br />

bewilligt werden könnten. In rechtlicher Hinsicht sei der Eilantrag unbegründet, weil die<br />

Antragsteller keinen <strong>Anordnung</strong>sanspruch und –grund glaubhaft gemacht hätten. Insbesondere<br />

würden sie dem verfassungsgemäßen Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 2<br />

SGB XII n. F. unterfallen, wobei insoweit auch auf das Vorbringen der Antragsgegnerin<br />

im Verfahren S 11 SO 7/17 ER verwiesen werde. Der Leistungsausschluss sehe sich<br />

keinen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt (LSG Mainz, Beschluss vom<br />

11.02.2016, L 3 AS 668/15 B ER mit vielen weiteren Nachweisen, Beschlüsse des LSG<br />

Celle vom 22.02.2016, L 9 AS 1335/15 B ER und vom 25.11.2016, L 11 AS 567/16 B<br />

ER).<br />

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt<br />

der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug<br />

genommen.<br />

II.<br />

Der Erlass einer einstweiligen <strong>Anordnung</strong> ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes<br />

in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz<br />

(SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile<br />

nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets,<br />

dass sowohl ein <strong>Anordnung</strong>sgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung<br />

wesentlicher Nachteile), als auch ein <strong>Anordnung</strong>sanspruch (d. h. die hinreichende<br />

Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs)<br />

glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung<br />

– ZPO). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen<br />

<strong>Anordnung</strong> die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen<br />

werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4<br />

Grundgesetz – GG) ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn<br />

ohne die begehrte <strong>Anordnung</strong> schwere oder unzumutbare, später nicht wieder gutzumachende<br />

Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in<br />

der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG 79, 69 74 m. w. N.). Soweit<br />

dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage in einem solchen<br />

Eilverfahren nicht möglich ist, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl.<br />

BVerfG, Beschlüsse v. 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rd.-Nr. 19, 26 und vom 25.02.2009 –<br />

1 BvR 120/09, Rd.-Nr. 11, jeweils zitiert nach juris).<br />

- 8 -


- 8 -<br />

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der gestellte Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz<br />

zulässig und im austenorierten Umfang jedenfalls im Rahmen der sogenannten<br />

Folgenabwägung auch begründet.<br />

Allerdings können die Antragsteller keine Weitergewährung der bisherigen Leistungen<br />

nach dem Dritten Kapitel SGB XII auf Grundlage des § 86 a Abs. 1 SGG erreichen, denn<br />

mit der Antragsgegnerin geht auch die erkennende Kammer davon aus, dass dem Widerspruch<br />

vom 01.02.2017 gegen den Bescheid vom 26.01.2017 keine aufschiebende<br />

Wirkung zukommt, weil mit dem Bescheid vom 26.01.2017 gerade kein Dauerverwaltungsakt<br />

(Bescheid vom 29.12.2016) geändert wird, damit Vertrauensschutz auslösende<br />

und über den 29.01.2017 hinausgehende Entscheidungen getroffen worden sind. Die<br />

dem Bescheid vom 30.12.2016 beigefügte Bescheinigung zur „Inanspruchnahme von<br />

Vergünstigungen“ ändert hieran in Übereinstimmung mit der Auffassung der Antragsgegnerin<br />

nichts, weil diese Bescheinigung nur der Vorlage gegenüber Dritten dient und damit<br />

keinen eigentlichen Leistungs-Verfügungssatz regelt.<br />

Indessen ist, anders wie die Antragsgegnerin meint, ihre (weitere), jedenfalls vorläufige<br />

Leistungsverpflichtung trotz der ab 29.12.2016 gültigen Neufassung des § 23 Abs. 3 Satz<br />

1 SGB XII (Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe<br />

nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BGBl. I, S. 3155) auf Grundlage der<br />

im Verfahren B 4 AS 44/15 R am 03.12.2015 ergangenen Entscheidung des BSG unter<br />

Beachtung der bedeutsamen verfassungsrechtlichen Grundsätze jedenfalls nach Maßgabe<br />

der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen <strong>Anordnung</strong> gegeben.<br />

Trotz der als Reaktion des Gesetzgebers auf die nicht gebilligte Rechtsprechung des<br />

BSG in der o. g. Entscheidung vorgenommenen Neufassung des § 7 Abs. 1 SGB II und<br />

des § 23 Abs. 3 SGB XII (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 2 B) mit einem nunmehrigen Leistungsanspruch<br />

für Ausländer nach § 23 SGB XII nach einem mindestens 5 Jahre dauernden<br />

Aufenthalt im Bundesgebiet ohne wesentliche Unterbrechung (vgl. § 23 Abs. 3 S.<br />

7 SGB XII n. F.), führt das Erwerbsverhalten der Antragsteller seit 2013 und auch aktuell<br />

dazu, dass ein Leistungsanspruch der Antragsteller allein nach dem SGB XII angenommen<br />

werden muss. Eine Beiladung des Jobcenter<br />

scheidet daher aus. Dies<br />

begegnet auch unter europarechtlichen Gesichtspunkten keinen Bedenken (vgl. statt vieler<br />

EuGH Rs Alimanovic vom 15.09.2015 – C – 67/14, Rd.-Nr. 63, zitiert nach juris).<br />

Wegen des auch im Falle der Antragsteller (weiterhin) anzunehmenden Leistungsaus-<br />

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- 9 -<br />

schlusses im Rahmen des SGB II hat das BSG in der o. g. Entscheidung (a. a. O., zitiert<br />

nach juris, Rd.-Nr. 37) gleichwohl eine Leistungsberechtigung im Sinne des Sozialhilferechts<br />

angenommen, wenn ein Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht im Sinne des<br />

§ 19 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 27 Abs. 1 SGB XII aus eigenen Kräften und Mitteln decken<br />

kann. Dies ist indessen im Falle der Antragsteller wegen des bestandskräftigen Vorbezugs<br />

von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII durch die Antragsgegnerin für die<br />

erkennende Kammer zweifellos zu bejahen.<br />

Trotz der Bestimmung des § 23 Abs. 3 SGB XII (a. F. bis 28.12.2016) wonach Ausländer,<br />

die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthalt sich allein aus dem<br />

Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, hat das BSG in der<br />

o. g. Entscheidung (a. a. O., Rd.-Nr. 53 ff.) die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur<br />

Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII (a. F. und n.<br />

F.) bejaht. Es hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass das Ermessen des Sozialhilfeträgers<br />

in einem solchen Fall dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum<br />

Lebensunterhalt auf Null reduziert sei. Dies hat es gerade für den Fall angenommen,<br />

dass sich das Aufenthaltsrecht des von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen<br />

Ausländers verfestigt hat (BSG a. a. O.). Ein solches Aufenthaltsrecht hat das BSG insbesondere<br />

bejaht (vgl. Rd.-Nr. 55, zitiert nach juris), wenn der tatsächliche Aufenthalt des<br />

Betroffenen in Deutschland auch noch nach Ablauf von 6 Monaten besteht. Es hat hier<br />

für den Regelfall eine Aufenthaltsverfestigung angenommen, der nach geltendem Recht<br />

nur ausländerbehördlich entgegen getreten werden könne. Im Falle der Antragsteller gibt<br />

es keinerlei Anhalt für ein irgendwie geartetes Tätigwerden der zuständigen Ausländerbehörde<br />

im Hinblick auf eine Beendigung des inzwischen weit über 6 Monate, ausgehend<br />

vom 01.02.2013 sogar vier Jahre bestehenden Aufenthalts der Antragsteller in Deutschland.<br />

Hierzu hat das BSG ausgeführt: „Dieses nach Ablauf von 6 Monaten durch ein Vollzugsdefizit<br />

des Ausländerrechts bewirkte Faktum eines verfestigten tatsächlichen Aufenthalts<br />

des Unionsbürgers im Inland ist unter Berücksichtigung auch der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben kein zulässiges Kriterium, die Entscheidung über die Gewährung<br />

existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe nach in das Ermessen des<br />

Sozialhilfeträgers zu stellen“ (vgl. BSG a. a. O., Rd.-Nr. 56). Schließlich hat das BSG in<br />

der genannten Entscheidung (Rd.-Nr. 57), der die erkennende Kammer insoweit voll umfänglich<br />

folgt, unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen des BVerfG einen<br />

Anspruch von Betroffenen, wie den Antragstellern, auf Grundlage des Grundrechts auf<br />

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bekräftigt. Trotz der nicht<br />

zuletzt von der Antragsgegnerin unter Hinweis auf zahlreiche Entscheidungen von (anderen)<br />

Sozialgerichten in 2016 vehement geäußerten Kritik an der BSG-Rechtsprechung<br />

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- 10 -<br />

sieht sich das Gericht auch in Ansehung der gesetzlichen Neuregelung auf Basis verfassungsrechtlicher<br />

Grundsätze nicht gehindert, die weiterbestehende vorläufige Leistungsverpflichtung<br />

des Sozialhilfeträgers anzunehmen und damit die Antragsgegnerin zur vorläufigen<br />

Leistungsgewährung an die Antragsteller zu verpflichten.<br />

Denn die Beachtung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze nach Vorgabe<br />

der BSG-Entscheidung, zu denen auch das erstinstanzlich tätig werdende Gericht<br />

verpflichtet ist, lassen es geboten erscheinen, in Abweichung vom bloßen Wortlaut der<br />

Regelung des § 23 Abs. 3 SGB XII (n. F.) im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren<br />

maßgeblichen Folgenabwägung eine (vorläufige) weitere Leistungsverpflichtung<br />

des Sozialhilfeträgers zur Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt zu bejahen.<br />

Dabei kann nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass die Antragsgegnerin in dem<br />

früheren von den Antragstellern geführten Verfahren, zu denen die Antragsgegnerin beigeladen<br />

worden ist (S 6 AS 268/14 und S 6 AS 156/16) ihre Leistungsverpflichtung anerkannt<br />

und schließlich den Antragstellern für das gesamte Jahr 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

auf Grundlage des SGB XII gewährt hat. Dies schafft jedenfalls vorliegend nach<br />

Auffassung der erkennenden Kammer einen so weitgehenden Vertrauensschutz, dass<br />

die zulasten der Antragsteller übergangslos mit Wirkung ab 29.12.2016 geltende Bestimmung<br />

des § 23 Abs. 3 SGB XII unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (vorläufig)<br />

anders zu bewerten ist als etwa im Falle eines Neu-Antragstellers im Jahr 2017.<br />

Die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung vorgesehenen Überbrückungsleistungen,<br />

auch in Härtefällen sowie für den Fall der Rückreise (vgl. § 23 Abs. 3 S. 3, S. 5 und Abs.<br />

3 a SGB XII, n. F.) stellen keinen verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich für den Wegfall<br />

der grundsätzlichen Hilfeleistung von einem Tag auf den anderen dar (vgl. trotz<br />

grundsätzlicher Bestätigung des Leistungsausschlusses nach dem neuen § 23 Abs. 3<br />

SGB XII, Beschluss des SG Dortmund, 31.01.2017, S 62 SO 628/16 ER, zitiert nach juris,<br />

Rd.-Nr. 44 und 45).<br />

Wegen der durchaus zweifelhaften Verfassungsmäßigkeit (auch) der Neuregelung des<br />

§ 23 Abs. 3 SGB XII ab 29.12.2016, die wegen der Dringlichkeit einer Entscheidung im<br />

einstweiligen Rechtsschutz nicht erschöpfend und abschließend von der erkennenden<br />

Kammer geprüft werden kann, ist zur Vermeidung einer existenziellen Notlage der Antragsteller,<br />

die bei ungewissem Ausgang des Hauptsacheverfahrens (nachträglich) nicht<br />

mehr ausgeglichen werden kann, wie austenoriert die vorläufige Leistungsverpflichtung<br />

der Antragsgegnerin auszusprechen. Da die Antragsgegnerin selbst bis einschließlich<br />

31.01.2017 die Hilfebedürftigkeit der Antragsteller nicht in Frage gestellt hat, besteht<br />

auch für die erkennende Kammer ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Eilantrags bei Ge-<br />

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- 11 -<br />

richt ab 07.02.2017 kein Anlass, an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller für den vorläufig<br />

festgelegten Leistungszeitraum zu zweifeln. Vom Vorliegen des <strong>Anordnung</strong>sgrundes<br />

wird daher ausgegangen. Nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit war die Leistungsverpflichtung<br />

der Antragsgegnerin jedoch bis 30.06.2017 zu begrenzen. Dabei geht<br />

die erkennende Kammer davon aus, dass die Antragsgegnerin auf jeden Fall diese Entscheidung<br />

beim Hessischen Landessozialgericht in einem Beschwerdeverfahren überprüfen<br />

lassen wird.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung des § 193 SGG.<br />

- 12 -


- 12 -<br />

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g<br />

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Hessische Landessozialgericht<br />

statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Bekanntgabe dieser Entscheidung beim Sozialgericht<br />

Kassel, Ständeplatz 23, 34117 Kassel, (FAX-Nr. 0561-70936-10) schriftlich, in<br />

elektronischer Form oder zur Niederschrift der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der<br />

Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde<br />

innerhalb der Frist beim Hessischen Landessozialgericht, Steubenplatz 14, 64293 Darmstadt<br />

(FAX-Nr. (0 61 51) 80 43 50) schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift<br />

der Urkundsbeamtin/des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.<br />

Die elektronische Form wird nur durch eine qualifiziert signierte Datei gewahrt, die nach<br />

den Maßgaben der „Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen<br />

Gerichten und Staatsanwaltschaften“ in das elektronische Gerichtspostfach des jeweiligen<br />

Gerichts zu übermitteln ist. Weitere Informationen hierzu können über das Internetportal<br />

des Hessischen Landessozialgerichts (www.lsg-darmstadt.justiz.hessen.de) abgerufen<br />

werden.<br />

gez. Lindner<br />

Richterin am Sozialgericht<br />

Ausgefertigt,<br />

Kassel, 16.02.2017<br />

Gramlich,<br />

Verwaltungsangestellte<br />

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

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