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etcetera 66

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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>66</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />

<strong>etcetera</strong><br />

Venedig<br />

Sehnsucht und Untergang<br />

L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r


2<br />

VENEDIG|Dezember2016<br />

Editorial<br />

03 Vorwort/Impressum<br />

Intro<br />

04 Zum Geleit<br />

Heftkünstler/Portrait<br />

6 Hermann F. Fischl: Schattenspiegel<br />

Interviews<br />

10 Eva Menasse<br />

12 Lilly Lindner<br />

14 Christoph Mayer<br />

Bericht<br />

16 Philosophikum Lech: Reprise<br />

Essays<br />

19 Wolfgang Mayer-König: Venedig<br />

24 Daniel Krcál: Allerseelen: Venezia<br />

Prosa<br />

26 Daniel Weber: Der Gondoliere<br />

34 Erich Sedlak: Hinter den Kulissen<br />

35 Ingrid Reichel: Venezianisches „Kitschee“<br />

39 Michael Burgholzer: Höchste Zeit, San Michele u.a.<br />

44 Andrea Zöhrer: Die zeitlos Lächelnde<br />

50 Sabine Dengscherz: C‘era una volta nel mare<br />

56 Thomas Ballhausen: Hic sunt dracones<br />

58 Peter Paul Wiplinger: Venezianische Notizen<br />

Lyrik<br />

32 Andreas Adam: Elegie asconesi (mit Übersetzung)<br />

42 Hermann F. Fischl: hellovenezia<br />

46 Isabella Breier: Punto in Aria, Campiello del Sole<br />

47 Peter Paul Wiplinger: Im Markusdom, Venedig<br />

48 Norbert Blüm: Der Hungernde ist zu allem bereit<br />

54 Renate Katzer: Venedig überbrückt<br />

Vereinsleben<br />

<strong>66</strong> Präsentation <strong>etcetera</strong> 65 Holz<br />

<strong>66</strong> Tage der offenen Galerien<br />

67 5. Tagebuchtag der Litges<br />

Rezensionen<br />

68 Venedig: Mit Cityplan Venedig<br />

68 B. Neuwirth/Hg.: AuserLesen<br />

68 Judith Gruber-Rizy: Der Mann im Goldrahmen<br />

69 Wann Worte wichtig sind: Georg Bydlinski und<br />

sein Werk für Kinder u. Erwachsene<br />

69 Simone Hirth: Lied über die geeignete Stelle für<br />

eine Notunterkunft<br />

69 Gerald Grassl: Rebekkas Kraft<br />

70 Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut<br />

70 C. Busch, S.Hördler, R. Jan van Pelt/Hg.:<br />

Auschwitz durch die Linse der SS<br />

70 Francesco Del Romano: Der Blumenwolf<br />

71 Lilly Lindner: Die Autobiographie der Zeit<br />

71 Dine Petrik: Funken.Klagen. gedichte<br />

71 Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit<br />

Inhalt


VENEDIG|Dezember2016<br />

3<br />

Liebe Leserinnen, Liebe Leser!<br />

Sie tragen wohl auch Sehnsucht in sich! Für Sie haben wir dieses Heft gemacht!<br />

Venedig sehen und sterben – gilt jedoch nicht mehr, da die Lagunenstadt selbst im Zeichen des Untergangs<br />

steht! Sie finden eine ganz tolle Auswahl an exklusiven Primärtexten vor - dafür bedanke ich mich beim<br />

Heftredakteur Thomas Fröhlich - an Interviews, Essays, Berichten und Buchbesprechungen!<br />

Und weil die LitGes eine lebhafte Plattform ist und nicht als leere Schablone im 30. Jahr ihres Bestehens<br />

untergehen will, ersuchen wir Sie um den Mitgliedsbeitrag (Daten s. u.) für 2017 und wünschen Ihnen ein<br />

glückliches Weihnachtsfest und die Erfüllung Ihrer Sehnsüchte für das Neue Jahr!<br />

Ihre Eva Riebler-Übleis<br />

Impressum<br />

<strong>etcetera</strong> erscheint 4x jährlich<br />

ISSN: 1682-9115<br />

Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />

Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />

Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />

die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />

wieder und müssen mit der Meinung von<br />

Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />

Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />

Heftredaktion: Thomas Fröhlich<br />

Text und Ilustration © bei den Autoren<br />

Cover und Bilder: Hermann F. Fischl<br />

Fotos: siehe © Fotonachweis<br />

Gestaltung: G. H. Axmann<br />

Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />

Medieninhaber:<br />

Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />

HG Eva Riebler-Übleis<br />

Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />

Home: www.litges.at<br />

E–Mail: redaktion@litges.at<br />

LeserInnerservice<br />

Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />

Sie vierteljährlich <strong>etcetera</strong>, die<br />

Zeitschrift für Literatur. Mit Prosa- und<br />

Lyrikbeiträgen, Essays, Interviews, Rezensionen<br />

und Künstlerporträts sowie Einladungen<br />

zu unseren Veranstaltungen.<br />

Abonnementspreis:<br />

24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />

Bestellung = Überweisung an:<br />

Sparkasse NÖ Mitte-West<br />

BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />

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Verwendungszweck: „<strong>etcetera</strong>-Abo“<br />

Bitte Namen und genaue Anschrift leserlich<br />

auf dem Erlagschein vermerken!<br />

LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten<br />

für alle Schreibenden und ZuhörerInnen!<br />

LitGes Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />

Home/Info: www.litges.at<br />

Mitgliederhauptversammlung:<br />

Mittwoch 18. Jänner 2017, 18 Uhr<br />

LitGes Büro Steinergasse 3 STP.<br />

Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />

<strong>etcetera</strong> 67 DRACHE<br />

Vom Weibsteufel zum Papierdrachen, vom<br />

Hl. Georg bis zum Siegfried und ...<br />

Einsendeschluss 15.Dezember. 2016<br />

an Redaktion@litges.at<br />

Redaktion: Joh. Schmid, E. Riebler-Ü<br />

<strong>etcetera</strong> 68 KÖPFE<br />

Ich seh ich seh, was du nicht siehst –<br />

oder vom Dank an würdige Köpfe.<br />

Einsendeschluss 15. März 2017<br />

Redaktion: Doris Kloimstein/ E. Riebler-Ü<br />

<strong>etcetera</strong> 69 LitArena VIII<br />

Literaturwettbewerb für Autorinnen und Autoren<br />

unter 27. siehe www.litges.at<br />

Einsendeschluss 15. Juni 2017<br />

Redaktion: Cornelia Stahl<br />

Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />

LitGes Heftpräsentation „<strong>etcetera</strong>” <strong>66</strong><br />

„VENEDIG - Sehnsucht und Untergang”<br />

6. Dezember 2016, Cinema Paradiso St. Pölten,<br />

20 Uhr. Lesung „The Best Of <strong>etcetera</strong><br />

<strong>66</strong>”: Alexander Kuchar/ Schauspieler. Visuals<br />

Hermann F. Fischl (Heftkünstler). Italienische<br />

Musik von der Renaissance bis zur<br />

Gegenwart: Andreas Adam & Die Tandler.<br />

Moderation: Thomas Fröhlich/Redakteur<br />

Eintritt für LitGes Mitglieder 5 Euro sonst 7 Euro<br />

Fotos© Elias Kaltenberger ©AMT ©Cinema Paradiso<br />

Vorwort/Impressum


4<br />

VENEDIG|Dezember2016<br />

Intro<br />

Zum Geleit<br />

VENEDIG - SEHNSUCHT UND UNTERGANG. Sicher, die „richtigen“<br />

Venezianerinnen und Venezianer werden langsam flächendeckend<br />

durch ein wild gewordenes Investorentum vertrieben;<br />

und der tägliche Kreuzfahrschiff-Heuschreckentourismus<br />

verwandelt den Markusplatz (und davor den Giudecca-Kanal) in<br />

eine Vorhölle Danteschen Ausmaßes.<br />

Doch ein wenig abseits taucht man dann wieder in ein vergessen<br />

geglaubtes Paralleluniversum ein, mit gewundenen Gässchen<br />

und kleinen Kanälen, die - wie bei den Corto Maltese-Comics<br />

des Wahlvenezianers Hugo Pratt etwa - gleichsam traumverloren<br />

zwischen Wirklichkeit und Erzählung dahinmäandern.<br />

Als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Untergangsphantasien<br />

kann wohl keine andere Stadt mit Venedig mithalten:<br />

melancholische, abbröckelnde Eleganz als Antithese zum<br />

Rest einer sich immer hässlicher und „effizienter“ gerierenden<br />

Welt.<br />

Denn - noch - ist die Stadt nicht ausschließlich ein begehbarer<br />

Themenpark. Hat Charakter und weist eine in Europa<br />

mittlerweise selten gewordene Widerständigkeit auf. Ihre<br />

verbleibenden Einwohner gehen etwa im wahrsten Sinne des<br />

Wortes baden, um die nicht nur fürs Stadtbild schädlichen<br />

Schiffskolosse am Befahren des obgenannten Giudecca-<br />

Kanals zu hindern. Üben sich in Sachen EU-weiten Immobilienwuchers<br />

langsam im lokalen Gegenangriff. Und lassen


VENEDIG|Dezember2016<br />

5<br />

sich auch sonst nicht mehr jede (Polit-)Dummheit gefallen.<br />

Venedig hat immer eine Möglichkeit gefunden, sich verschiedensten<br />

Widrigkeiten erhobenen Hauptes zu stellen.<br />

Bis jetzt …<br />

Die Geschichte und Geschichten Venedigs sind jedenfalls<br />

noch lange nicht zu Ende erzählt. Diese ETCETERA-Ausgabe<br />

mit ihren Autorinnen und Autoren sowie dem Fotografen<br />

Hermann F. Fischl erbringt einen schlüssigen Beweis.<br />

Darauf einen Ombra!<br />

Herzlichst, Ihr Thomas Fröhlich, Heftredakteur<br />

Thomas Fröhlich<br />

Geb. 1963 in Wien; lebt in St. Pölten und Wien. Wissenschaftlicher<br />

Bibliothekar, Autor, Redakteur, Kolumnist („Rokko’s Adventures“,<br />

„MFG“, „Etcetera“, „Baker Street Chronicle“, „Podium“<br />

usw.), Veranstalter und Herausgeber („Das Buch der<br />

lebenden Toten, 2010, Evolver Books; „Harte Bandagen – die<br />

Mumienanthologie“, 2015, p.machinery). Hält sich künstlerisch<br />

am liebsten in der popkulturellen „Twilight Zone“ auf. Ausgezeichnet<br />

mit dem „Vincent Preis“ 2014 für die Hörspielfassung<br />

seines Theaterstücks „Sherlock Holmes und das Geheimnis des<br />

Illusionisten“ (2014, WinterZeit)<br />

Träger des Förderpreises für Kunst und Wissenschaft (Literatur)<br />

der Stadt St. Pölten 2008.<br />

Intro


6<br />

VENEDIG|Dezember2016<br />

Hermann F. Fischl<br />

Schattenspiegel<br />

Für ihn ist Venedig ein Kraftort und zugleich ein Ort der Einsamkeit.<br />

Er misstraut der angeblichen Wahrheit des Bildes.<br />

Seine größtenteils schwarzweißen Fotografien zeigen uns<br />

Ausschnitte unserer Wirklichkeit … oder doch etwas ganz<br />

Anderes? Redakteur Thomas Fröhlich bat den Heftkünstler<br />

dieser ETCETERA-Ausgabe, den Fotografen Hermann F.<br />

Fischl, der im Oktober 2016 seinen 65. Geburtstag feierte,<br />

zum klärenden Gespräch.<br />

Da sind diese Spiegelungen im Wasser und auf dem Kopfsteinpflaster<br />

eines nächtlichen Venedig, die ein Eigenleben<br />

zu besitzen scheinen. Oder jene Stromleitungen, die über<br />

unseren Köpfen ganz St. Pölten durchziehen: schwarzweiße<br />

Momentaufnahmen, die Strukturen offenlegen, gleichsam<br />

eine neue, parallele Stadtgeografie entwickeln. Und<br />

diese jungen Schwarzafrikaner, die an einem Zaun sitzen<br />

und trotzdem grinsen … Stopp! Halt! Wieso grinsen die?<br />

Ich meine, an einem Zaun angelangt …? „Da könnte man<br />

jetzt eine Flüchtlingssituation reininterpretieren, was wahrscheinlich<br />

derzeit auch flächendeckend passieren würde,<br />

täte ich das kommentarlos ausstellen.“ Was der bildende<br />

Künstler Hermann F. Fischl aber sowieso nicht tut. „In dem<br />

Fall sind das einfach Arbeiter am Lido von Venedig, die dort<br />

einen Zaun ausbessern. Aber ohne zusätzlichen Text kann<br />

das natürlich keiner wissen.“ Er hält sowieso nicht viel von<br />

dokumentarischer Fotografie: „Ein Bild zeigt immer nur einen<br />

subjektiv gewählten Ausschnitt – das kann gar nie die<br />

‚Wahrheit‘ sein.“ Aber sagt nicht ein Bild bekanntlich mehr<br />

als 1000 Worte? „Nein“, meint Fischl resolut. Und an (Pseudo-)Realitätswidergabe<br />

sei er auch gar nicht interessiert:<br />

„André Heller sagte einmal, ‚Fotografie ist die Beschlagnahme<br />

des Ereignisses und die Übergabe an mein Assoziationsdepot‘.<br />

Schöner kann ich das auch nicht ausdrücken.“<br />

Seine Thementrigger seien auch eher Literatur, Musik, optische<br />

Reize im weitesten Sinne. „Tagesaktualitäten inspirieren<br />

mich künstlerisch so gut wie nie.“<br />

Fischls Annäherung an die Fotografie geschieht auf zweierlei<br />

Weise. „wobei das ‚Ereignis‘ eben entweder von mir<br />

Künstlerportrait<br />

gesucht oder durch vorherige Sensibilisierung einfach gefunden<br />

und persönlich ‚geblickwinkelt‘ wird – keine wie<br />

auch immer geartete Dokumentation, die ja medienimmanent<br />

unmöglich ist.“ Die Ästhetik sei wichtig, aber eben nur<br />

Oberfläche, darunter gebe es immer eine Metaebene.<br />

Fotografiert wird analog, digital - „es ist ein Werkzeug,<br />

sonst nichts.“ Von Purismus in die eine oder andere Richtung<br />

hält er nicht viel. „Ich steh‘ auch sehr auf Polaroid,<br />

weil die Bilder Unikate sind, was ja auch schön ist.“<br />

Wenn man ihn so ansieht, glaubt man ihm eins ja überhaupt<br />

nicht: dass er am 3. Oktober dieses Jahres seinen<br />

65. Geburtstag feierte. Regelmäßig durchmisst er, oft gemeinsam<br />

mit seiner Gattin, die Stadt auf einem der -zig<br />

Fahrräder, die in seinem Atelier in der Wiener Straße untergebracht<br />

sind. Dort befindet sich auch die Auslagengalerie<br />

Fischl-Friebes.


VENEDIG|Dezember2016<br />

7<br />

Fotografieren scheint fit zu halten.<br />

Begonnen hat das alles in den 1950er/60er-Jahren.<br />

„Mein Großvater hat sehr viel fotografiert. Ich habe schon<br />

während meiner ersten Lebensjahre eine Kamera gekriegt<br />

und Dias gemacht. Damals hat sich mein Bildsinn entwickelt.“<br />

‚68/‘69 kam Fischl an „die Grafische“ in Wien.<br />

„Vorher schon stellte ich gerne „Länderschauen“ zusammen.“<br />

Wobei das Reisen an sich nicht das Wichtigste sei.<br />

„Das woanders Sein, eine andere Situation annehmen“<br />

– das fasziniere ihn seit jeher. „Durch diese Dislozierung<br />

entdeckt man immer wieder Kraftorte. Venedig ist ein solcher.“<br />

In der Organisation der „St. Pöltner Restwochen“, einer<br />

ziemlich frechen Alternative zum damals etablierten<br />

Kulturbetrieb in den Mittsiebzigern, machten die beiden<br />

ebenfalls gemeinsame Sache.<br />

Literarisch ist Fischl regelmäßig tätig – mit der (oder<br />

dem) geheimnisvoll-geschlechtslosen „judygal“ hat der<br />

Highsmith-Fan ein fiktives, in seinen sarkastisch-stimmungvollen<br />

Texten immer wiederkehrendes alter ego entwickelt.<br />

„Venedig kann sehr kalt sein“ ist der Titel eines Romans<br />

von Patricia Highsmith. Nicht umsonst nennt sich auch<br />

eine von Fischls Bilderserien so.<br />

An die Grafische sollte er als Lehrender auch wieder zurückkehren.<br />

„Ich habe dort eine eigene AV-Abteilung aufgebaut.“<br />

Als die Digitalisierung an die Tür klopfte, übernahm<br />

die Abteilung Tests für diverse Firmen, was auch<br />

seinen Studenten zugutekam: „Wir kriegten damals nahezu<br />

unerschwingliche Software günstiger.“<br />

Lehre und Kunst – wie geht das zusammen? „Lehre kann<br />

unheimlich bereichernd sein – es gibt seitens der Studierenden<br />

sehr viel Input. Andererseits bist du in viele<br />

Projekte involviert, die dir Zeit für Eigenes nehmen.“ In<br />

Summe habe sich beides aber gegenseitig befruchtet.<br />

„Obgleich ich jetzt auch froh bin, mich in der Pension<br />

ausschließlich auf meine Kunst konzentrieren zu können.“<br />

Zahlreiche Einzelausstellungen sowie die Teilnahme an<br />

Künstlerbund-Werkschauen, etwa in Tokio, belegen das<br />

recht anschaulich. Multimediaproduktionen wie „Sancto<br />

Ypolito – Symphonie einer Stadt“ runden ein abwechslungsreiches<br />

Portfolio ab.<br />

Apropos Künstlerbund: Mitglied wurde er 2011 auf Einladung<br />

durch Obmann Ernest A. Kienzl. Mit Letzterem verbindet<br />

ihn eine schon längere Bekanntschaft, hatte er doch<br />

mit ihm in den späten 1960ern die Band EXP gegründet.<br />

„Der Name rührt von einer Hendrix-Nummer – ich selbst<br />

habe auch Gitarre gespielt.“ Damit enden aber auch schon<br />

die Ähnlichkeiten mit dem Gitarrengott. „Mein Spiel war<br />

nicht fruchtbar, eher furchtbar.“ Fischls Lyrics (etwa „Wir<br />

sind die Gammler!“ – eine stilistisch zwischen hippiesker<br />

Avantgarde und heftigem Rock gelegene Selbsteinschätzungs-Hymne)<br />

stießen zwar im damals wenig urbanen St.<br />

Pölten vielleicht nicht ausschließlich auf Gegenliebe, brachten<br />

aber gegenkulturellen Lifestyle auf den Punkt.<br />

Warum er eigentlich so gerne in Schwarzweiß arbeitet?<br />

Fischl erläutert das anhand seiner Venedig-Bilder: „Verblüffenderweise<br />

ist Venedig für mich ein Ort der Einsamkeit,<br />

ein Ort zum Nachdenken und Schauen, speziell in<br />

der Nacht. Da gibt’s auch wenig Farbe.“ Und ruhig sei es<br />

da auch. Wozu ihm der Schreiber dieser Zeilen nur beipflichten<br />

kann: Untertags gibt’s ein paar Hotspots, die mit<br />

lärmenden (Tages-)Touristen überlaufen sind. Doch zwei,<br />

drei Gässchen vermeint man, sich in einer anderen Stadt,<br />

Portraitfoto© Elias Kaltenberger<br />

Künstlerportrait


8<br />

VENEDIG|Dezember2016<br />

Künstlerportrait<br />

in einem anderen Land, in einem Parallel-Universum zu<br />

befinden, in dem eine mitunter beredte Stille herrscht. In<br />

der Nacht sowieso.<br />

Warum er Kunst macht? „Kunst ist ein Ausdrucks-, ein<br />

Kommunikationsmittel, eine verständliche Sprachmöglichkeit<br />

an eine Welt, die nicht zuhört.<br />

Ein Angebot, nicht das Hinausposaunen der eigenen Befindlichkeit.“<br />

Ein Fotograf – zum Nachlesen. Im wahrsten Sinne des<br />

Wortes wie des Bildes.<br />

Nicht nur, wenn die Gondeln Trauer tragen.<br />

Hermann F. Fischl<br />

Geb.1951 in St. Pölten, verheiratet seit 1977<br />

Schulische Ausbildung/Studium<br />

1974 Absolvent der Höheren Graphischen Bundes-Lehr-&<br />

Versuchsanstalt 1140 Wien, Abteilung Fotografie<br />

1984 Berufspädagogische Akademie/Lehramtsprüfung<br />

Berufliche Qualifikation<br />

1980 Meisterprüfung Fotografie<br />

Beruflicher Werdegang<br />

Angestellter Fotograf / Werbestudio<br />

1976 Assistent an der Graphischen,Wien<br />

1980 Lehrer an der Graphischen Wien, Abteilung Foto<br />

1984 Kolleg-Lehrer an der Graphischen/Multimedia<br />

als Atelierleiter Audiovision<br />

2011 Ende der Lehrtätigkeit<br />

Künstlerischer Werdegang<br />

1970 – 78 Mitglied „künstlergruppe exp“ im Bereich Bild, MusikText<br />

Mitveranstalter der „st.pöltner restwochen“<br />

(Lesungen, Diaschauen, mixedmedia)<br />

Musiker/Texter der Avantgardeband EXP<br />

Teilnahme an Fotoausstellungen in Impuls Maria<br />

Schutz, Salzburg, St.Pölten, Wien<br />

2. LiteraturPreis SPÖ-NÖ Jugendliteraturwettbewerb<br />

„Ich und die Umwelt“,Veröffentlichung des Textes im<br />

ORF Ö3 und in der Literaturzeitschrift DAS PULT<br />

1979 – 2011 visuelle Projektionsgestaltung von Theaterprojekten<br />

(z.B. Hiob, Theater movimento)<br />

& Konzerten (z.b.Iviron / Synagoge St.Pölten)<br />

Multimediaproduktionen für St.Pöltner Stadtfest<br />

(openair Domplatz,Großbildprojektion mit 8 Projektoren),<br />

Auftragswerk „Sancto Ypolito-Symphonie einer Stadt“.<br />

Komponist Helmut Scherner / multimedia mit 17 Pro<br />

jektoren auf alle Saalwände/-decke mit der Sinfonietta<br />

Baden und der Chorkammer Wien / Aufführung 1996<br />

im Stadtsaal St.Pölten<br />

Einladung dieser Produktion zur „mediale“ in Nürnberg<br />

(größtes Multimedia- Festival Deutschlands)<br />

Kurator / Gesamtgestaltung vieler Präsentationen der<br />

Graphischen in Wien, Linz, St.Pölten, Ossiach, Mistel<br />

bach, Köln, Nürnberg, Graz (WIFI, AKH, Künstlerhaus,<br />

WESTLICHT, Haus der Wirtschaft, SiemensForum, di<br />

verse Galerien, Forum Bank Austria, ARS ELECTRONI<br />

CA., Stift Ossiach, Kartause Gaming)<br />

Mitarbeit an der DVD „quo vadis photographia“ (Fotografie<br />

& Programmierung)<br />

Ausstellungsteilnahmen als Gast /Künstlerbund St.Pölten/<br />

DOK und kunst:werk<br />

2010 Anerkennungspreis im Rahmen der Jahresausstel<br />

lung des Künstlerbundes für „Orario“<br />

Ankauf St.Pöltner Stadtmuseum<br />

2011 Lehrtätigkeit beendet / volle Widmung dem Kunstbereich<br />

2012 Teilnahme an allen Ausstellungen des Künstlerbundes<br />

Mitwirkung an der Viertelfestivalveranstaltung VER-<br />

STRICKUNG in St.Pölten-Radlberg als Fotograf<br />

Ankäufe Landesmuseum NÖ<br />

Einzelausstellung VERSTRICKUNG im St.Pöltner Stadtmuseum<br />

November 2012/Jänner 2013<br />

2013 Aufnahme in den St.Pöltner Künstlerbund Teilnahme<br />

an den Künstlerbundausstellungen in<br />

St.Pölten und Steyr<br />

Ab Oktober 2013 permanente Austellung in der Ausla<br />

gengalerie Fischl-Friebes 3100 St.Pölten Wienerstr.43<br />

2014 Künstlerbundausstellungsteilnahme in Kurashiki und<br />

Tokyo<br />

2015 Einzelausstellung AQUA ALTA im LORENZ,St.Pölten<br />

2015 Am:Im Wasser / als Vertreter des St.Pöltner Künstlerbundes<br />

in Mistelbach<br />

Gedicht „hellovenezia” Seite 42


VENEDIG|Dezember2016<br />

9


10 VENEDIG|Dezember2016<br />

Eva Menasse<br />

Anlässlich des Blätterwirbel-Events in St.P. wurde eine<br />

Personale Eva Menasse im Landestheater NÖ präsentiert.<br />

Ein Künstlergespräch zwischen der Autorin und Günter<br />

Kaindlstorfer sowie Lesungen aus ihren Werken VIENNA,<br />

LÄSSLICHE TODSÜNDEN, QUARZKRISTALLE und eine<br />

Vorpremiere ihres neuen Romans TIERE FÜR FORTGE-<br />

SCHRITTENE, das bei Kippenheuer&Witsch im März 2017<br />

erscheinen wird, rundeten das Portrait ab. Eva Riebler-<br />

Übleis war für die LitGes dabei und führte anschließend<br />

ein interview mit der Wiener Schriftstellerin, ehem. FAZ<br />

Reporterin und Korrespondentin und Essayistin.<br />

Wieso betitelten Sie den Roman nicht WIEN?<br />

Das ergibt sich logisch aus der Geschichte. Der Vater muss<br />

als jüdisches Kind aus Wien flüchten, wächst in England<br />

bei Pflegeeltern auf und hat seine Herkunft beinahe vergessen,<br />

als 1947 ein Brief aus der Heimat kommt: Die Eltern<br />

haben überlebt! Nun macht er sich mit gemischten<br />

Gefühlen auf die „Heimreise“, an einen Ort namens Vienna.<br />

Zum Glück kann er dort weiterhin Fußball spielen,<br />

nämlich in einem Club des gleichen Namens: First Vienna<br />

Football Club.<br />

Sie beschreiben z.B. in einem Kapitel aus der Waldheim-Zeit<br />

1986 die eher idyllischen oder vielleicht<br />

Interview<br />

Foto©SRF<br />

Liebe Eva Menasse, Ihr Debütroman „Vienna“ 2005<br />

bei Kiepenh. & Witsch wurde in Deutschland bereits<br />

als Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen hoch<br />

gelobt und in Österreich zeitweise kritisch beäugt.<br />

Da dieser Roman fiktive kritische Anekdoten auch<br />

aus der jüdischen Verwandtschaft enthält, finden<br />

Sie die österreichischen Reaktionen belebend bis<br />

lustig?<br />

Ich muss leider zugeben: Bei manchen österreichischen<br />

Reaktionen auf „Vienna“ habe ich meinen Humor ziemlich<br />

verloren. Leider ist es ganz banal so: Man möchte<br />

am meisten dort geschätzt werden, wo man herkommt.<br />

Deshalb ist es wahrscheinlich so selten der Fall.<br />

doppelmoralischen als sarkastischen Grußformeln am<br />

Tennisplatz in Wien, dem Schneutzelplatz, „Servus du<br />

Arschloch“, kontra „Servus du Hebräer!“. Sehen Sie es<br />

als schade an, wenn diese Wiener-Seelen mit ihrem<br />

Sprachduktus demnächst aussterben werden? Oder<br />

sehen Sie da kein Ablaufdatum?<br />

Absolut kein Ablaufdatum. Im Gegenteil wachsen sie derzeit<br />

besonders stark nach. Leider sind sie inzwischen sehr<br />

weniger lustig als potentiell gewalttätig.<br />

Sie interessierten sich ja bereits in Ihrer ersten Buchveröffentlichung<br />

Der Holocaust vor Gericht, Siedler<br />

Verlag 2000, für die Aufarbeitung der Nazizeit anhand


VENEDIG|Dezember2016<br />

11<br />

der Reportagen aus dem Prozess um den Holocaust-<br />

Leugner David Irving. Sehen Sie da weiterhin ein interessantes<br />

Betätigungsfeld für Ihre Recherchen oder<br />

Romane?<br />

Rein familiengeschichtlich wird mich dieses Thema nie loslassen.<br />

Es scheint in meinen Texten immer auf die eine oder<br />

andere Weise durch.<br />

Ihre momentanen Recherchen führen Sie in die Partnerbörse<br />

und zu Annoncen für weibliche Singles. Wie<br />

kamen Sie zu Ihren köstlichen Schilderungen aus dem<br />

Schlachtfeld der Liebe?<br />

Vieles, was mir im Leben begegnet, fließt in meine Arbeit<br />

ein. Ich bin multipel neugierig, interessiere mich für Medizinisches<br />

ebenso wie für Psychologisches, für neue Erfindungen<br />

und Entdeckungen, insgesamt sehr für Zeitungen,<br />

die einen großen Wissenschaftsteil haben. Wirtschaft interessiert<br />

mich weniger, aber auch da ist schon das eine<br />

oder andere in meinen Büchern aufgetaucht. Und in letzter<br />

Zeit, mit dem Älterwerden, wo die Liebe und ihre Haltbarkeit<br />

abzunehmen scheinen, mache ich im Freundeskreis eben<br />

auch solche Beobachtungen. Und baue sie bei Bedarf ein.<br />

Ist die Welt ungerecht? So viel passiert im Namen des<br />

Genderns Haben es die Männer leichter?<br />

Ich fürchte tatsächlich, dass noch lange oder vielleicht für<br />

immer die Männer die Macht über Geld und Einkommen,<br />

also über das Mess- und Zählbare haben werden. Davon<br />

abgesehen, bleibt die Summe der menschlichen Schmerzen<br />

und Qualen gleich. Aber auch das gilt im koktten Sin<br />

nur für unserer westlichen Welt. In den ärmeren Ländern<br />

sterben die Frauen weiterhin in fürchterlichem Ausmaß an<br />

Krankheiten, Schwangerschaften, Geburten, weil sie von<br />

Männern umgebracht oder sie bereits als weiblicher Embryo<br />

abgetrieben werden. Die Bilanz bleibt, global gesehen,<br />

niederschmetternd.<br />

Das Themenheft der nächsten Literaturzeitung „<strong>etcetera</strong>“<br />

Nr. 67 heißt DRACHE, vom Weibsteufel bis zum Hl.<br />

Georg. Renommierte, kluge aber eher ältere Frauen der<br />

Gesellschaft sind schwer vermittelbar. Wer ist für Sie<br />

der WEIBSTEUFEL?<br />

Es gibt so viele tolle Frauen jeden Alters, die ich bewundere<br />

– darunter ein paatr meiner besten Freundinnen: aber<br />

Weibsteufel ist kein guter Begriff, sondern ein Schimpfwort<br />

der Männer.<br />

Sie meinten in Ihrer Personale im Blätterwirbel St.P. im<br />

Landestheater, dass Frauen nicht die besseren Menschen<br />

seien. Können Frauen besser lügen, täuschen?<br />

Fest steht, dass Frauen unvergleichlich weniger physisch<br />

gewalttätig sind. Deshalb haben sie sich gezwungenermaßen<br />

in anderen Kampfsportarten verfeinern müssen. Aber<br />

besser als die Männer sind darin gewiss noch nicht geworden.<br />

Sonst wäre die Stellung der Frau in der Welt nicht die<br />

oben beschriebene.<br />

Ist es vielleicht besser keine starke Frau zu sein?<br />

Ich glaube, es ist immer gut, ein starker Mensch zu sein,<br />

ob Mann oder Frau. Was ist denn das, ein starker Mensch?<br />

Ich würde sagen: ein großzügiger, unabhängiger und souveräner<br />

Mensch, der nicht nur über die Fähigkeit verfügt,<br />

voranzugehen, sondern auch: nachzugeben. Und der besonders<br />

im Konfliktfall der Vernunft den Vortritt lässt.<br />

Sie meinten, ein Frauenleben besteht aus verschiedenen<br />

Zellen, in denen man je nach Alter einsitzt. In<br />

welcher sitzen Sie gerade und in welcher wollten Sie<br />

nie sitzen?<br />

Die Zelle, in der man sitzt, kann man immer erst beschreiben,<br />

nachdem man sie verlassen hat. Ich habe gerade verlassen:<br />

Die positivistische, auf Auf- und Nestbau konzentrierte<br />

Familienzelle, in der man davon ausgeht, dass alles<br />

immer gut ausgeht. Niemals sitzen wollte ich in einer, die<br />

Abhängigkeit bedeutet, ökonomische, psychische oder physische.<br />

Das wäre mir ein Graus. Aber wenn man alt wird und<br />

bedürftig, kommt so eine Zelle wahrscheinlich unvermeidlich<br />

daher und lässt ihre Tür zuschnappen.<br />

Danke für das Gespräch!<br />

Eva Menasse<br />

Geb. 1970 in Wien, studierte Germanistik in Wien, begann<br />

als Journalistin bei "Profil". Redakteurin der "Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung", begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner<br />

David Irving in London und arbeitete nach<br />

einem Aufenthalt in Prag als Kulturkorrespondentin in Wien.<br />

Lebt seit 2003 als Publizistin und freie Schriftstellerin in<br />

Berlin. Veröffentlichte bisher den Roman Vienna, 2005; Lässliche<br />

Todsünden, 2009; Quarzkristalle 2013, Tiere Für Fortgeschrittene,<br />

Erzählband, für den sie seit 1991 skurrile Tiererzählungen gesammelt<br />

hat und Menschen in diese Situationen oder Strukturen<br />

einpasst. Er erscheint bei Kippenheuer & Witsch im März 2017.<br />

Interview


12 VENEDIG|Dezember2016<br />

Lilly Lindner<br />

Da ich alle Bücher dieser jungen Autorin aus Berlin verschlinge,<br />

Angst habe, dass sie zu Tode kommt, und stets auf<br />

ein neues Werk warte, wie auf ein Lebenszeichen von ihr,<br />

bemühte ich mich um ein Interview. Eva Riebler-Übleis<br />

mich waren es autobiografische Werke, stimmt das?<br />

Sie machten mich so betroffen.<br />

Ich habe zwei Autobiographien geschrieben. „Splitterfasernackt“<br />

und „Winterwassertief“. Sie handeln von meinem<br />

Leben, von dem Raum zwischen mir und allen anderen.<br />

Von der Abgeschiedenheit. Von der Stille. Davon zu sterben<br />

ohne danach tot zu sein. Zu atmen, auch wenn die Luft<br />

nicht schmeckt. Und dann, aus der unendlichen Stille heraus,<br />

Worte zu finden, die das Schweigen brechen, um eine<br />

Geschichte zu erzählen, die beständiger ist als das Ende.<br />

In „Da vorne wartet die Zeit“, Roman Droemer 2013,<br />

sind viele kleine Erzählungen über die Hinfälligkeit<br />

des Daseins versammelt. Das Jenseits ist eine genauso<br />

wichtige Zeit für uns Menschen. Der Tod ist nichts<br />

Schreckliches – sehe ich das richtig?<br />

Ja. In „Da vorne wartet die Zeit“ verbinde ich zwei Orte miteinander,<br />

die unterschiedlicher nicht sein könnten. Seltsamerweise<br />

ist der Ort, an dem alles zu Ende geht, sanftmütiger<br />

und schöner, als der, an dem die Menschen die Zeit<br />

bestehen. Das Buch ist eine Ansammlung des Todes. Aber<br />

es geht nicht ums Sterben, es geht nicht ums Todsein.<br />

Es geht um das Leben.<br />

Das Dasein, das wir begreifen.<br />

Interview<br />

Foto©Silke Weinsheimer<br />

Liebe Lilly, immer hab ich das Gefühl, dass es in Deinen<br />

Werken um den UNTERGANG geht?<br />

In meinen Worten geht es um Zeit. Die Abhandlung von<br />

Glück und Beständigkeit. Die Sanftmütigkeit des Todes,<br />

der mit seiner Sense einen Walzer auf dem Markplatz<br />

tanzt. Und es geht um den Abgrund. Wie einsam er zwischen<br />

uns liegt. Und wie er uns doch alle verbindet. Ich<br />

denke, er weiß mehr über uns, als wir über ihn und alles<br />

andere.<br />

Er ist größer als jeder Verstand.<br />

Vor allem Dein Debütroman „Splitterfasernackt“ und<br />

das nächste Werk, alle Droemer und Knaur Verlag<br />

München, handeln vom persönlichen Untergang, für<br />

Was ist der Tod für Dich?<br />

Einsam. Weil alle ihn ausgrenzen.<br />

Dabei gehört er doch dazu.<br />

In meinem neuesten Werk „Die Autobiographie der Zeit“<br />

erzähle ich die Geschichte der Zeit und ihrer Gefährten.<br />

Am Ende freundet sich die Zeit mit dem Tod an. Da gibt es<br />

diese Stelle: „Ich sah den Tod an. Er hörte auf zu lachen<br />

und nahm seine Kapuze ab. Er stand vor mir. Kleiner als<br />

seine Sense. Er hatte tiefe Augenringe und eine Narbe am<br />

Hals. Da fand ich auf ein mal, dass er genauso einsam aussah<br />

wie ich.“<br />

Ich habe geweint, als ich das geschrieben habe.<br />

Weil ich so sehr daran glaube.<br />

Dass es so ist.<br />

Wofür lohnt es sich zu leben?<br />

Für das Leben.<br />

Ist der Tod ein Sehnsuchtsort – oder hast Du andere?<br />

Ich bin gerne hier. In der Zeit. Auch wenn mir die Welt oft


VENEDIG|Dezember2016<br />

13<br />

viel zu laut ist. Manchmal stehe ich zwischen Menschen<br />

und Menschen und kann nichts sehen. Ich höre nur das<br />

Rauschen. Es ist ein Teil meiner Vergangenheit. Es flüstert<br />

mir zu, dass ich nicht hierher gehöre, dass jeder Fehler auf<br />

dieser Welt meinen Namen trägt. Früher habe ich daran<br />

geglaubt. Früher habe ich an alles geglaubt, woran man<br />

kaputtgehen kann. Heute weiß ich, dass es etwas Besseres<br />

gibt, als abhandenzukommen. Etwas Besseres als Verlorengehen.<br />

Hast Du eine persönliche Beziehung zu Venedig?<br />

Ungefähr so persönlich wie meine Beziehung zu Sex. Ich<br />

war nie dort, aber andere haben mir erzählt, dass es schön<br />

sein soll.<br />

Hast Du einen Lieblingsort? Ist es ein Ort der Sehnsucht?<br />

Zuhause.<br />

Aber das ist kein Ort.<br />

Es ist eher ein Augenblick.<br />

Hast Du einen Lieblingsautor?<br />

Sebastian Fitzek. Ich habe noch nie ein Buch von ihm gelesen,<br />

aber ich mag seine E-Mails. Er ist der einzige Schriftsteller,<br />

mit dem ich befreundet bin, weil ich auf der Buchmesse<br />

immer wie ein Alien im Supermarkt herumstehe<br />

und mich nicht traue, ein richtiger Mensch zu sein. Aber<br />

Sebastian hat sich einfach ganz hinten in die Schlange von<br />

meinen Fans eingereiht und sich ein Autogramm geholt.<br />

Dabei haben wir festgestellt, dass wir in derselben Stadt<br />

wohnen und in dieselbe Schule gegangen sind. Dann haben<br />

wir angefangen, uns jeden Tag zu schreiben, obwohl<br />

wir beide nicht gerne E-Mails verfassen. Aber manchmal<br />

verändert die Zeit Menschen. Und dann verändern Menschen<br />

die Zeit. So entstehen Geschichten. Die es wert<br />

sind, erzählt zu werden.<br />

Einen Lieblingsverleger?<br />

Hans-Peter Übleis vom Droemer Verlag. Am Anfang dachte<br />

ich, er mag mich nicht, weil er mir ständig leere E-Mails<br />

geschickt hat. Ich habe meinen Agenten gefragt, ob das<br />

normal sei, ob Verleger generell nicht mit Autoren kommunizieren.<br />

Mein Agent meinte: „Hm.“ Also habe ich Hans-<br />

Peter noch einmal angeschrieben, dass ich mich schon<br />

sehr über seine leeren E-Mails freuen würde, aber dass es<br />

irgendwie nett wäre, wenn er mir wenigstens einen Satz<br />

schicken könnte, nachdem ich ihm ein ganzes Buch anvertraut<br />

habe. Da hat Hans-Peter mir ganz vielen Worten<br />

zurückgeschrieben und sich entschuldigt: Er würde gerade<br />

versuchen, ein moderner Mensch zu sein, und deshalb hätte<br />

er sich ein iPad gekauft, und er hätte sich schon gewundert,<br />

warum ihm keiner mehr schreibt.<br />

Und was für Züge trägt Dein neues Projekt? Welche<br />

Thematik befindet sich in Deinem nächsten Buch?<br />

Ich weiß noch gar nicht, welches meiner Manuskripte als<br />

nächstes veröffentlich wird. Die Worte stapeln sich bei<br />

meinen Agenten und da ich mir nicht gerne Gedanken über<br />

Marketingstrategien mache, lasse ich ihn und den Verlag<br />

entscheiden, was sie gerne als nächstes machen möchten.<br />

Ich weiß nur so viel: Da werden Worte stehen. Auf einem<br />

festen Grund. Sie entspringen meiner Verfassung.<br />

Ich danke Dir ganz herzlich für das Gespräch und freue<br />

mich auf Dein nächstes Werk!<br />

Lilly Lindner mit ihrem Verleger, Geschäftsführer Hans-Peter Übleis<br />

Lilly Lindner<br />

Geb.1985 in Berlin. Tochter deutsch-koreanischer Eltern und veröffentlichte<br />

im September 2011 ihre Autobiografie, die unmittelbar<br />

nach dem Erscheinen zum Bestseller wurde. Danach verfasste<br />

sie unter anderem die Romane„Bevor ich falle” und „Da vorne<br />

wartet die Zeit”. 2015 erschien ihr zweites autobiografisches Buch<br />

„Winterwassertief”, alle im Droemer Knaur Verlag München. Lilly<br />

Lindners Jugendroman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”,<br />

erschienen im S. Fischer Verlag, wurde auf der Leipziger Buchmesse<br />

2016 von der Leipziger Jugend-Literatur-Jury zum Favoriten<br />

ernannt. Lindner ist seit Sommer 2015 Botschafterin des Deutschen<br />

Kindervereins Essen.<br />

Foto ©Verlagsgruppe Droemer Knaur München<br />

Interview


14 VENEDIG|Dezember2016<br />

Christoph Mayer<br />

Anlässlich der Ausstellung Christoph Mayers in der Artothek<br />

Krems/Stein im Herbst 2016 mit dem Titel „Austrian Pavilion: reply<br />

- extension - upgrade“ sprach Eva Riebler-Übleis mit dem Künstler.<br />

steigernden Prozess des Kontrollverlustes im doppelten Sinn.<br />

Einerseits durch die Sperrigkeit des Materials selbst, und andererseits<br />

durch die Dynamik des Arbeitsprozesses.<br />

Wie fanden Sie die Biennale 2015?<br />

Das kann ich nicht beantworten, denn ich war nicht dort, ich<br />

war noch nie auf einer Biennale in Venedig. Für mich ist Venedig<br />

keine Stadt des steten Untergangs, sondern ein Ort, der<br />

immer wieder mal, so ungefähr alle zwei Jahre, in meinem Kopf<br />

auftaucht. Bis dato also eine reine Fantasiekonstruktion, aber<br />

das kann sich ja noch ändern…<br />

Interview<br />

Foto©Eva Riebler-Übleis<br />

Lieber Christoph, Sie haben eine Nachbildung des Österreichischen<br />

Pavillons 2015 der Biennale in Venedig, der<br />

von Heimo Zobernig gestaltet worden war, aus Heißkleber<br />

angefertigt. Was war Ihre Intention?<br />

AUSTRIAN PAVILION, so der Titel dieser Arbeit bezieht sich auf<br />

den Österreichischen Pavillon der Kunstbiennale in Venedig im<br />

Allgemeinen und im Speziellen auf dessen Gestaltung durch<br />

Heimo Zobernig im selben Jahre. Ich ließ mich zu einer Entgegnung<br />

inspirieren und antwortete auf die räumliche Intervention<br />

Zobernigs, die in ihrer nüchternen Formensprache, dem hochgelobten<br />

Reduktionismus, auf eine nahezu perfekte Harmonie<br />

hinauslief mit einem ironischen Bruch.<br />

Inwiefern ironischer Bruch? Und wieso halten Sie den<br />

Heißkleber für das ideale Material einer solchen Arbeit?<br />

Könnten Sie das näher erläutern?<br />

Ein ironischer Bruch ergibt sich allein schon aufgrund der<br />

künstlerisch-technischen Herangehensweise dieser Arbeit.<br />

Denn es ist so gut wie unmöglich, zumindest in Handarbeit,<br />

mit einer Heißklebepistole die auf geraden Linien beruhende<br />

Architektur der Moderne exakt und gar noch maßstabsgetreu<br />

nachzubilden. Dennoch arrangierte ich die Plastikstränge unterschiedlichster<br />

Stärke zunächst entsprechend einer dreidimensionalen<br />

Visualisierung des Pavillons, um dessen Architektur<br />

nachzuempfinden. Diese Annäherung als vorerst nüchterne<br />

Idee entwickelte sich mit Fortdauer zunehmend zu einem<br />

mehrere Stunden andauernden ekstatischen Arbeitsprozess<br />

mit ungewissem Ausgang. Es ging mir dabei, um einen sich<br />

Wären Sie gerne bei der Biennale in Venedig ein geladener<br />

Künstler?<br />

Selbstverständlich! Ganz im Sinne eines Realitätsgewinnes,<br />

auch wenn er auf Kosten des Traumverlustes ginge.<br />

Oder wo stellten Sie besonders gerne aus?<br />

Ganz spontan würde ich „Kunsthaus Bregenz“ sagen, vor allem<br />

aufgrund der optimalen Architektur und der perfekten Lichtverhältnisse.<br />

Oder das „21er Haus“ in Wien; und dort vor allem<br />

wegen der neu bestellten Direktorin, Stella Rollig, die ich sehr<br />

schätze.<br />

Verbinden Sie Orte mit Sehnsucht? Haben Sie sozusagen<br />

Sehnsuchtsorte?<br />

Vielleicht ist ja Venedig ein solcher Sehnsuchtsort. Ganz sicher<br />

ist es aber Bali, denn ich habe schon zweimal eine Reise dorthin<br />

gebucht und musste sie zweimal stornieren. Ich denke ich<br />

werde es kein drittes Mal probieren, denn ich habe schon so<br />

ein buntes Fantasiegebilde dazu entwickelt, dass die Realität<br />

nur eine Enttäuschung werden könnte.<br />

Können Sie uns die Ausstellung in der Artothek, die Auswahl<br />

Ihrer Objekte, Zeichnungen und Bilder, die noch bis<br />

Feb./März 2017 geöffnet ist, näher erläutern?<br />

Die Auswahl ergab sich aus den räumlichen Gegebenheiten der<br />

Artothek. Einerseits gibt es Platz für sehr viele Arbeiten, andererseits<br />

gibt es eine kojenhafte Aufteilung. Da hat es sich einfach<br />

angeboten, eine Gegenüberstellung von großformatigen Malereien<br />

und kleineren grafischen Arbeiten vorzunehmen. Und im<br />

Zentrum des Raumes steht das vom Niederösterreichischen<br />

Landesmuseum angekaufte Objekt AUSTRIAN PAVILION.<br />

Was sind Ihre nächsten Projekte?<br />

Mein nächstes Projekt ist die Vorbereitung einer Einzelausstel-


VENEDIG|Dezember2016<br />

15<br />

lung in der Wiener Galerie Heike Curtze und Petra Seiser im 1.<br />

Bez./Seilerstätte, voraussichtlich Juni 2017. Abgesehen davon<br />

gibt es einige Kooperationsvorhaben mit Künstlerfreunden.<br />

Das heißt: Alles ist möglich?<br />

Ich bin vielmehr für das „Sowohl Als Auch“ als für das „Entweder-Oder“!<br />

Arbeiten Sie lieber alleine oder im Team?<br />

Ich mache beides gerne, sowohl als auch.<br />

Woran arbeiten Sie zurzeit?<br />

In der Artothek sind nicht nur Heißklebearbeiten ausgestellt,<br />

sondern auch Werke in anderen Techniken.<br />

Ich versuche die Inhalte, mit denen ich mich beschäftige, in<br />

unterschiedlichsten Medien und Techniken umzusetzen. Denn<br />

die diversen Medien haben auch wiederum Einfluss auf die Inhaltlichkeit<br />

und erweitern dadurch die Aussage. Sind sozusagen<br />

immer bereichernd.<br />

Was sind Ihre Methoden in der künstlerischen Auseinandersetzung?<br />

Als typisch würde ich bezeichnen, dass es mit der Fortdauer<br />

des Arbeitsprozesses zu einer zunehmenden Selbstverstrickung<br />

kommt.<br />

Sie selbst schauen aus dem Werk heraus?<br />

Nein. Sondern das heißt, dass ich mich mehr und mehr in der<br />

Arbeit verliere und mich langsam selber wieder neu verorte.<br />

Beschäftigt habe ich mich in den letzten Monaten mit dem Thema<br />

„Haltung und Moral“ am Beispiel kultur-politscher Debatten<br />

in Österreich. Und auch mit österreichischen Auswüchsen<br />

diesbezüglich. Ich meine dieses post-monarchische Verhalten.<br />

Ich versuche, eventuell auch auf unterschiedlichen sozialen<br />

Netzwerken, Personen, vornehmlich aus dem Bereich Kunst<br />

und Kulturpolitik, auf den Zahn zu fühlen.<br />

©christoph Mayer/ AUSTRIAN PAVILION<br />

Ist das dann Ihr Sehnsuchtsort?<br />

Es ist eine Odyssee mit vielen Orten, an deren Ende im optimalen<br />

Fall auch eine persönliche Entwicklung passiert ist.<br />

Das heißt, die Auflösung der Verstrickung?<br />

Ja, genau!<br />

Suchen Sie Bruchlinien?<br />

Ich lote die Inhalte meiner Auseinandersetzung zumeist auf<br />

Spannungsfelder und Polaritäten aus. Dabei tun sich oft unendlich<br />

viele Abstufungen, Ebenen und Nuancen auf. Oft sind<br />

es kleine Nischen, die am spannendsten sind!<br />

Welche inhaltlichen Ausgeburten finden Sie, z. B. in Bezug<br />

auf die Arbeiten Heimo Zobernigs?<br />

Ich lese aus seinen Arbeiten – und unterstelle ihm – ein extremes<br />

Kontrollbedürfnis. Und habe dieses Thema in meinem<br />

Bezug nehmenden Werk verarbeitet und ad absurdum geführt.<br />

Sie lieben keine nüchterne, knappe, klare Gestik oder….?<br />

Ich mag keine zwanghafte, programmatische Ausrichtung.<br />

Geht es Ihnen um Bewusstmachen?<br />

Auf jeden Fall! Ich wollte auch meine eigene Haltung bezüglich<br />

verschiedener Themen ausloten und kennenlernen! Twitter<br />

oder Facebook öffnen für mich ein Loch aus dem Atelierraum<br />

in die Außenwelt, ein Kommunikationskanal sozusagen!<br />

Treffen demnächst wieder Heißkleber, Holz und Metall<br />

aufeinander?<br />

Momentan trifft geschmolzenes Glas, Acrylglas, Kabelbinder<br />

und schwarz getränkte Leinwand aufeinander!<br />

Ist das Ergebnis wieder eine spannende Kombination aus<br />

klaren und diffusen Strukturen?<br />

Ja, wie immer! Ein stetes Wechselspiel aus Chaos und Ordnung!<br />

Ich bedanke mich für das ordentliche Interview!<br />

Christoph Mayer<br />

Geb. 1968 in Wien. 1987-1992 studierte er Publizistik, Russisch und<br />

Philosophie in Wien. 2000 Diplomstudium für Malerei/Grafik an der<br />

Angewandten bei Prof. Christian Ludw. Attersee. Lebt arbeitet in Wien.<br />

Interview


16 VENEDIG|Dezember2016<br />

Philosophikum Lech 21. bis 25.9.2016<br />

„Über Gott und die Welt, Philosophieren in<br />

unruhigen Zeiten“<br />

Kunst. Der hässliche schon! Der Hässliche flüchtet in die<br />

Kunst!<br />

Bericht<br />

Für die LitGes mit dabei war Eva Riebler-Übleis. Anbei einige<br />

kurze Zusammenfassungen, die als Auswahl aus den 12 Referaten<br />

gedacht ist und in der Knappheit natürlich nicht genügend<br />

informiert. Bei Interesse können Sie den Band oder<br />

die CD über das 20. Philosophicum bestellen, unter www.<br />

philosophicum.com und im facebook.com/philosophicumlech<br />

nachlesen. Das Thema des nächsten Jahres wird „Mut<br />

zur Faulheit – Arbeit als Schicksal“ heißen und von 20. bis<br />

24.9.2017 in Lech stattfinden. Fotos ©si!kommunikation<br />

Den Vorabend bestritt wie immer der Autor Michael Köhlmeier,<br />

der aus der Mythologie drei passende Beispiele erzählte<br />

(z.B.1. die Zeugung und grauenhafte Werdung des<br />

Lieblingssohnes Zeus, dem Zagreus, der den Kampf der Titanen<br />

überlebte usw. sowie - 2. Als Luzifer in die Hölle gestoßen<br />

wurde, griff er in den Himmel und nahm sich ein Stück<br />

der Milchstraße als Faustpfand. Auf dieser konnte er von<br />

Zeit zu Zeit Gott den Herrn besuchen und schloss mit diesem<br />

eine Wette ab, ob er Hiob von seiner Gottesgläubigkeit<br />

abbringen könne. Hiob, der Mensch, verliert alles (Schafe,<br />

Rinder, Kamele, alle Söhne und Töchter). Die 3. grausame<br />

Geschichte Köhlmeiers: Marsias spielt mit Apoll und der Gewinner<br />

darf mit dem Verlierer tun, was er will …) und Konrad<br />

Paul Liessmann durchleuchtete und interpretierte gekonnt<br />

philosophisch diese mythologischen Beispiele nach dem<br />

Motto: Der Dichter bringt das Leid zum Ausdruck – für uns<br />

ist es Musik. Das ist das Selbstverständnis des Künstlers im<br />

Zusammenhang zwischen Schönheit und Grausamkeit. Die<br />

Schönheit hat ihren Preis! Liessmanns wilde These auf Siegmund<br />

Freud beruhend: „Der schöne Mensch braucht keine<br />

„Über Gott und die Welt sprechen“<br />

Als Eingangsreferat wies Konrad Paul Liessmann, der 20 Jahre<br />

diese Veranstaltung leitet, darauf hin, dass die Themenstellung<br />

nicht beliebig sei, sondern zu Freiheit des Diskurses<br />

einlade. Wer im Plauderton beginne, werde sich schnell gezwungen<br />

sehen, Begriffe zu definieren. Jedoch das Philosophicum<br />

sei keine universitäre Veranstaltung und von Adorno<br />

stamme ja auch der schöne Satz: „Philosophie ist das Allerernsteste,<br />

aber so ernst wieder auch nicht.“ So hält die<br />

Beliebigkeit Einzug!<br />

Christoph Türcke<br />

In seinem Vortrag, betitelt: „Wir kommen von Gott nicht<br />

los, solange wir noch mit Geld hantieren“ hatte den berühmten<br />

Stoßseufzer Friedrich Nietzsches „Ich fürchte, wir<br />

kommen von Gott nicht los, weil wir noch an Grammatik =(im<br />

Sinne von Verstehen mit Sinnzusammenhang) glauben“ aufs<br />

Geld übertragen. Das Entstehen des Tauschhandels und des<br />

Geldes, des Goldes als Tempelschatz und des Kredites zeigte<br />

er auf, wie die Entstehung des Finanzmarktes nach der Aufhebung<br />

der Goldbindung 1971. Der Finanzmarkt ist das Gegenstück<br />

zu den Zentralbanken und gewann die Oberhand,<br />

jedoch auch die EZB ist im Niedergang. Ihre Finanzspritzen<br />

können die verschuldeten Staaten nicht retten. Ca 14 Milliarden<br />

Strafzinsen werden im nächsten Jahr fällig, die oft von<br />

großen Geldinstituten lieber in Kauf genommen werden, als<br />

Investitionen zu tätigen. Schulden kommen nicht aus der<br />

Welt. Auch jedes Geschenk, jeder von Herzen abgestattete<br />

Dank ist ein Schuldtilgungsbedürfnis, auch wenn es frei von<br />

Profitgier ist. Geld kam in die Welt, um Schulden loszuwerden.<br />

Es konstituierte die Götterwelt, damit die Götter befrie-


VENEDIG|Dezember2016<br />

17<br />

digt wären. Der Urwunsch der vollkommenen Geldlosigkeit<br />

funktioniert nicht, jedoch ihn wach zu halten, ermöglicht maximal<br />

eine Humanisierung der Zahlungsverhältnisse.<br />

Käte Meyer-Drawe<br />

Der Vortrag „Am Anfang war Technik“ beinhaltet den Gedanken,<br />

dass theologische Motive mit der Technik verknüpft<br />

sind. Technik bezeichnet nämlich alle Mittel zur Erreichung<br />

mit den Mekkanern. Khorchide meinte: Gott ist die Freiheit<br />

und lässt anderen Freiheit. Der Gott der Zeit ist aristotelisch<br />

geprägt und ist ein personaler Gott. Er zitiert Emil Brunner:<br />

„Sage mir welchen Gott du hast und ich sage dir, welche<br />

Menschlichkeit du hast!“ Khorchide zeigt den Unterschied in<br />

der Schöpfungsgeschichte zu der christlichen Überlieferung<br />

(z.B. hatte nicht Eva, sondern Adam die verbotene Frucht<br />

vom Baum der Erkenntnis genommen…) und endet im Alltag<br />

der jungen Muslimen der 3. Generation. Diese trügen den<br />

Koran mit sich, könnten jedoch diesen nicht lesen. Ihre Gläubigkeit<br />

ist tief, sie erwarten, dass Gott sie am jüngsten Tag<br />

errette und dieser Glaube gäbe ihnen Zugehörigkeit, Trost<br />

und Kraft in der Fremde. Seit 9/11 polarisiert ihre Zugehörigkeit<br />

zum Islam und ihr Gottesbild wird radikalisiert.<br />

bestimmter Ziele, z. b. die Technik der Rede, Machenschaften<br />

und Manöver, Tricks und die Technik einen Menschen<br />

zu töpfern. Dieser setzte sich Kraft seiner Wissenschaft und<br />

Künste (Technik) über die Kreaturen und schuf Waffen und<br />

Maschinen wie Geräte. Der Diskurs, ob die Technik gut oder<br />

böse ist, erübrigt sich, denn die Alternativlosigkeit beendet<br />

die Kritik.<br />

Es stellt sich vielmehr die Frage, was für Menschen es sind,<br />

die meinen, Maschinen ersetzen zu Unrecht die Menschen.<br />

Denn die Maschine reserviert den Platz eines Mangels, der<br />

darin besteht, dass sie niemals letztlich erkundet, was und<br />

wie sie sind, und keine sozialen Unterschiede kennt.<br />

Markus Gabriel<br />

„Wenn es die Welt nicht gibt, kann es dann Gott geben?“<br />

Mit dieser provokanten Frage spricht er der Welt die Existenz<br />

ab. Was ist Existenz? - Die systematische Antwort gibt darauf<br />

die Ontologie, die Seinslehre. Bei Platon und Aristoteles war<br />

diese gleich der Theologie. Als Unterschied dazu ist die Ontotheologie<br />

zugleich Metaphysik. Dass das maximale Ganze<br />

existiert, ist eine These. Die Existenz bedeutet: In der Welt<br />

vorkommend. Was ist das Ganze? – Wenn ich es denke, gibt<br />

Mouhanad Khorchide /islamischer Theologe<br />

„So fern und doch so nah. Wie verschiedene Gottesvorstellungen<br />

unsere Welt prägen.“ Beziehungsweise ist es<br />

eine Wechselwirkung der Beeinflussung. Er brachte dem Publikum<br />

den Koran nahe. Im Koran ist nicht die Rede Gottes,<br />

sondern die Kommunikation der ersten 23 Jahre Mohameds<br />

es es, denn Denken und Sein ist das Selbe und die Metaphysik<br />

ist das Denken des Seienden – soweit das archaische<br />

Prinzip des Denkbaren des Ganzen.<br />

Die Metaphysik (Wissenschaft, die sich mit der absoluten<br />

Totalität des Existierenden befasst) unterscheidet zwischen<br />

Schein und Sein. Gabriel meint, man möchte, dass die Metaphysik<br />

Recht hat und „Existieren heiße, in einem Sinnfeld<br />

erscheinen.“ Ein Sinnfeld ist mehr als die Welt (z.B. Zahlen,<br />

Placement ..) Er lehnt ab, dass die Welt ein Dinghaufen sei.<br />

Für ihn ist die Welt das Sinnfeld aller Sinnfelder. Dass es<br />

eine Beschreibung gibt, die auf alles zutrifft, ist für Gabriel<br />

eine Unterstellung – daher gibt es die Welt auch nicht! Also<br />

Bericht


18 VENEDIG|Dezember2016<br />

Bericht<br />

gibt es auch Gott nicht! Anhand der Theodizé erkennt man,<br />

dass Gott nicht allmächtig, allwissend und gut sei, denn es<br />

gibt Leid (Holocaust …) Wie wäre es, wenn es Gott gäbe?<br />

– Alles wäre wie es ist! Einerseits gibt es die Position der<br />

Gottsuche (=Unvernunft) und andrerseits den Naturalismus<br />

(=Vernunft). Er schließt mit den Worten Heideggers: „Nur ein<br />

Gott kann uns retten“<br />

Rüdiger Safranski<br />

„Der Wille zum Glauben“. Früher herrschte der heiße Glaube,<br />

der sei erkaltet und wäre nun wie ein Tennisspiel ohne<br />

Ball zu erleben oder zu beobachten.<br />

Lambert Wiesing<br />

„Luxus – eine Weltbeziehung“ Wiesing meint, man nähere<br />

sich der Frage „Was ist der Mensch“ auf drei mögliche Arten.<br />

1. auf dem religiösen, 2. auf dem philosophischen Weg und<br />

3. ästhetischen. Hegel habe diese 3 klassischen Gedanken<br />

ausführlich in Jena ausgearbeitet und in der Wichtigkeit gereiht<br />

wie folgt: Anfangs versuchten sich die Menschen durch<br />

die Kunst selbst zu verstehen (Hegel dachte an die alten<br />

Griechen), später kam eine Epoche der Religion, die im dritten<br />

Schritt durch die Philosophie überwunden wurde. Schiller<br />

hingegen schreibt in seinem Brief über die ästhetische<br />

Erziehung 1795, dass nicht die religiöse Erziehung oder der<br />

philosophische Weg sinnvoll sind, sondern einzig der ästhetische!<br />

Weiters redete Wiesing dann der Bedeutung des Luxus das<br />

Wort, denn der entstehe, da die Menschen sich unterscheiden<br />

wollen, also aus einem gesellschaftlichen Zwang. Luxus<br />

ist nichts Überflüssiges, wie es vielleicht der Protz ist, sondern<br />

ist ein Mittel der sozialen Selbstbehauptung. Natürlich<br />

kann der Hang zu Luxus als oberflächliche Naivität oder Interesselosigkeit<br />

gesehen werden. Es geht um soziale Statussymbole<br />

oder die eigene ästhetische Erfahrung oder letztendlich<br />

um Zweck oder Zwecklosigkeit! Jedenfalls ist Luxus<br />

ein Phänomen, das zumindest bemerkt werden sollte!<br />

Peter Strasser<br />

„Die Welt als Schöpfung betrachtet“. Strasser versuchte<br />

1. die Schöpfung ohne Schöpfer (die Welt sei als spontaner<br />

Akt, aus einer Art von Nichts heraus erklärbar), 2.<br />

den schöpferischen Zufall (die Welt ist nicht nur als Zufall<br />

denkbar …unseren Handlungen kommt Bedeutung nicht nur<br />

in Form von Ursache und Wirkung zu …Es gibt die Freiheit<br />

des Handelns...) und 3. den ontologischen Überschuss (ist<br />

die Wahrheit absolut oder erzeugen unterschiedliche Weltsichten,<br />

Lebensweisen und Moralen unterschiedliche Wahrheiten,<br />

von denen keine behaupten darf, die einzig gültige zu<br />

sein) darzustellen. 4. erläuterte Strasser das anthropische<br />

Prinzip (1973 durch den Kosmologen Brandon Carter so<br />

formuliert: Das Universum sei angelegt, Bewusstsein hervorzubringen)<br />

und führte u a Goethes poetische Reaktion<br />

auf den naturwissenschaftlichen Hang dem Physischen die<br />

große Bedeutung zuzuschreiben, an. Goethe schrieb in den<br />

Zahmen Xenien 1824: „Wäre nicht das Auge sonnenhaft, die<br />

Sonne könnt es nie erblicken.“ So werde der Mensch trotz<br />

des wissenschaftlichen Anspruchs ein Bewusstseinswesen<br />

mit mythischem Verhältnis zur Welt. Strasser zitiert: Wir haben<br />

einen Platz im Kosmos, der nicht bloß aus Beziehungen<br />

besteht, die schwindelerregend sein mögen – umfassen sie<br />

doch schier unendliche Räume – und die uns dennoch alle<br />

vollkommen äußerlich bleiben.


VENEDIG|Dezember2016<br />

19<br />

Wolfgang Mayer-König<br />

Venedig<br />

Kein Ort, der verblieb. Hier endete die Existenz. Vertrieben<br />

aus angestammtem Leben. Von Wohlstand nicht zu reden, an<br />

künftigen Wohlstand nicht zu denken. Was blieb war nur noch<br />

das offene Meer, die Fischerboote, die Angst und die Friedfertigkeit,<br />

ohne die geringste Hoffnung, an irgend einem jenseitigen<br />

Ufer hinterlegt zu haben. Was blieb war die bedrohliche<br />

Übermacht von außen: Goten, Wandalen, Hunnen. Keine<br />

Hilfe in Sicht außer der eigenen, scheinbar nutzlosen. Da<br />

befanden sich vor dem Meer lediglich Sümpfe mit Schlammklumpen,<br />

die bei Ebbe über die Wasseroberfläche lugten.<br />

Insektenschwärme, die unaufhörlich auf die Flüchtlinge einstachen.<br />

Wo im stinkenden Brackwasser der Ausläufer ohne<br />

Wasseraustausch die tödlichen Malariamücken wimmelten.<br />

Kleine Binneninseln umgab zwar bewegliches Wasser, aber<br />

auch dieses war brackig und trüb vom anlandenden Sand.<br />

Die dadurch bedingten Untiefen machten das Gebiet geradezu<br />

unschiffbar. Die Winterstürme trieben die Flut vor sich<br />

her, sodass alle Inseln unter Wasser standen. Und hier gab<br />

es kein Trinkwasser außer dem aufgefangenen Regen. Was<br />

die Gebirgsflüsse hier her trugen war Sand, Geröll und Steine<br />

aus den nahen Alpen, und sie schoben die Flussmündungen<br />

immer weiter hinaus ins Meer. Die auftauchenden Inseln und<br />

Sandbänke wurden von der Meeresströmung wieder fortgeschwemmt.<br />

An manchen Stellen trug das Meer alles zu<br />

schlanken Nehrungen zusammen, natürlichen Dämmen, die<br />

der schließlich einsetzende Bewuchs gegen Brandung und<br />

Wind schützte. Diese „Lidi“ bildeten eine Barriere gegen die<br />

See, an manchen Stellen jedoch auch Durchlässe für den<br />

Wasseraustausch, wodurch eine Lagune entstand. So war<br />

es die Natur selbst, die half und weitere Hilfe ermöglichte,<br />

wenn nur irgend ein guter Wille da war. So gingen die von<br />

niedrigen Inseln überragten Wasserflächen in marschige Salzwiesen<br />

und schließlich in „terra ferma“, in Festland über.<br />

Obwohl sie weder Binnenseen noch offenes Meer waren,<br />

herrschten in den Lagunen die Gezeiten. Rund um die „Lidi“<br />

reinigte das Salzwasser die Lagune; wo die Flut nicht hingelangte,<br />

verfaulte alles zur toten Lagune. Das war der „rivus<br />

altus“, der „rialto“, so entstand Venedig, der Fluchtort, der<br />

Schutzort. Hierher konnte kein Feind kommen, kein Kriegsschiff.<br />

Die Hälfte der Zeit reichte hier das Wasser nur bis zum<br />

Nabel eines Menschen. Und der schlickige, sandige Grund<br />

war heimlich durchzogen von tiefen Rinnen, den Ausläufern<br />

der Bäche und Flüsse. Kriegerisches Fußvolk oder Reiterei<br />

hätten hier keine Chance gehabt. So baten sie nicht andere<br />

um Lebensraum, sie zwangen nicht andere, den Lebensraum<br />

mit Ihnen zu teilen, nein, sie schufen sich selbst ihren Lebensraum<br />

im Niemandsland, im Morast, im lebensunmöglichen<br />

Raum. So galt es erstens das Niveau der niedrigen, häufig<br />

von der Flut überspülten Inseln zu erhöhen. Die Flüchtlinge<br />

baggerten, nunmehr schon als Siedler, Sand aus der Lagune<br />

und fertigten Anschüttungen auf die natürliche Unterlage aus<br />

Muschelablagerungen, Seetang und Schlick. Als Nebeneffekt<br />

beseitigten sie dadurch Untiefen und gewannen geheime Kanäle.<br />

Den neuerworbenen Grund und Boden sicherten sie mit<br />

Weidengeflecht. Als zweiten Schritt galt es die Inselufer zu<br />

befestigen, deshalb trieben sie reihenweise Holzpfähle in den<br />

Schlamm. Um das bewerkstelligen zu können, errichteten sie<br />

zunächst mit breiten Brettern und Baumstämmen Sperren<br />

gegen die Lagune und schöpften den entstandenen Innenraum,<br />

die Baugrube, trocken. Von einem einfachen Gerüst<br />

aus schlugen nun jeweils zwei Mann die angespitzten Pfähle<br />

aus Eichen, Pappeln und Erlen in den morastigen Boden. Dazu<br />

benützten sie eine metallene Handramme, einen Zylinder mit<br />

seitlichen Griffen, der über den Stamm gestülpt und dann<br />

hämmernd in den Boden gerammt wurde. So konnten sie<br />

tausende solcher Pfähle dicht nebeneinander setzen und verbleibende<br />

Zwischenräume mit Lehm auskleiden. Schließlich<br />

wurden breite Bretter auf die flachen Pfahlenden genagelt,<br />

denn die Uferbefestigung war gleichzeitig die Voraussetzung<br />

für ein gemauertes Fundament. Dann wurde rasch die Eindämmung<br />

der Baugruben entfernt, denn das Allerwichtigste<br />

war, dass der Unterbau, das Fundament, stets von Wasser<br />

umspült wurde. Drang Luft an die Holzpfähle, verfaulten sie.<br />

Längst war aller Pioniergeist verblasst, die unermesslichen<br />

Mühen der Anfänge achtlos vergessen, aus der künstlichsten<br />

Stadt der Welt, aus unwiederholbarer Pracht, wieder eine<br />

morastige Kloake geworden. Diesmal jedoch nicht eine der<br />

natürlichen Umwelt, sondern vielmehr eine solche der Weltanschauung.<br />

Bis zur Verzückung ins eigene Spiegelbild verliebt zu sein, galt<br />

seit je her als geradezu selbstverständliche Eigenschaft dieser<br />

Stadt. Das Selbstwertgefühl sollte so weit gediehen sein,<br />

bis man von sich selbst entzückt war, sich des angenehmen<br />

Eindrucks nicht mehr erwehren konnte, den man von sich<br />

selbst hatte. Denn sogar die prunkvoll ziselierten Palastfassaden<br />

spiegelten sich doch ohne jeden Zweifel selbstgefällig im<br />

glitzernden Wasser der Kanäle und dieses wiederum in mit<br />

Goldstaub durchzogenen mehrstöckigen Lüstern, der auf sol-<br />

Essay


20 VENEDIG|Dezember2016<br />

Essay<br />

che Weise geschmückten Holzbalken und getäfelten Holzdecken<br />

der Paläste. Für derartige Selbstinszenierung, ja Selbstverzückung<br />

und dem Schein geweihte Selbstvereinigung<br />

musste unendlich viel geblasenes Glas mit Quecksilber und<br />

einer dünnen Zinnfolie beschichtet werden. So kostbar waren<br />

einst die Geheimnisse der venezianischen Glasbläser und<br />

Spiegelmacher, dass es ihnen bei Todesstrafe verboten war,<br />

die Lagune zu verlassen. Die Angst, die Attribute der Einzigartigkeit<br />

zu verlieren, brachte es auch so weit, dass der Schöpfer<br />

der astronomischen Uhr auf dem Markusplatz mit den<br />

zwei zum Glockenschlag ausholenden Mohren, geblendet<br />

werden sollte, um ein solches Werk nicht anderswo wiederholen<br />

zu können. Die Angst reichte von der Sucht, einzigartig<br />

zu sein, über die strikte Bewahrung gewonnener Geheimnisse<br />

des eigenen Vorteils oder einer klammheimlich erworbenen<br />

Verbrechensschuld, bis zur Angst, nicht ausgepfiffen zu werden,<br />

weil man sich eine Welt schuf, die nur noch Theater war.<br />

Aus der man zwar zugegebenermaßen auch herauspurzeln<br />

konnte, ja streckenweise aufwachen musste, wenn das üppig<br />

genossene Wildbret, das Eiweiß hart gekochter Eier, die Austern,<br />

die Trüffel, der Stör und die Sardellen, Makrelen und<br />

Brassen, Champagner, Prosecco und Punsch heftige Koliken<br />

auslösten, innere Steinabgänge und Gichtanfälle; im dichten<br />

Nebel der Herbst- und Wintermonate Husten und Asthmaanfälle<br />

zunahmen. Nein, nicht ausgepfiffen zu werden „blieb das<br />

Wichtigste.“ Sollte das Buch der Geschichte meines Lebens<br />

ausgepfiffen werden, so hoffe ich, dass es mir niemand sagt“,<br />

bekennt Casanova am Ende seines Lebens. Nein, das Leben,<br />

die Schau musste weitergehen, der Dauergesang der auslobenden<br />

Händler und Krämer, der Handwerker und Gondolieri,<br />

der auf und ab wogende Redeschwall der Geschichtenerzähler,<br />

das Vibrato und Tremolo der Priester und Prediger, der<br />

ungekonnt plumpe Trommelwirbel, welcher an den Buden der<br />

Zahnreisser das Schreien der Patienten übertönen sollte.<br />

Man gaukelte sich stets vor, unendlich frei zu sein, und lebte<br />

mit der Angst, die das Risiko solch unbegrenzter Freiheit mit<br />

sich brachte. Rund um das Arsenal, jener Schiffswerft und<br />

maritimen Waffenschmiede der Venzianer, musste die Höhe<br />

der Häuser auf die der Umfassungsmauer begrenzt werden,<br />

aus Angst vor Spionen. Man lebte ja so frei, weil Venedig<br />

noch eine Jungfrau war, unangetastet, niemals eingenommen,<br />

eine schöne Moribunde, ergraut im Bösen der Macht.<br />

Wir stimmen zu, hatten die Venezianer geschrien, nachdem<br />

der fast hundertjährige blinde Doge förmlich das Volk befragte,<br />

sich gegen Konstantinopel einzuschiffen. Den entscheidenden<br />

Schlag führt dann der Blinde selbst mit seiner<br />

Dogengaleere am goldenen Horn. Er lässt sie an den anderen<br />

Schiffen vorbeisteuern und mit hoher Geschwindigkeit auf<br />

Konstantinopel zuhalten. In voller Rüstung steht er selbst am<br />

Bug mitten im Schwirren der Pfeile und Wurfgeschosse, das<br />

Markusbanner Venedigs fest in der Hand. Als die Galeere am<br />

schmalen Landsaum aufläuft, springen einige an Land und<br />

rammen die Standarte in den Boden. Die Venezianer erstürmen<br />

die Mauern Konstantinopels und erobern die Wachtürme.<br />

Was in der Folge geschieht ist nicht zu beschönigen, auch<br />

nicht in Jahrhunderten vor dem blendenden Spiegel der Geschichte<br />

und der Geschichten. Es wurde ein brutaler Raubzug,<br />

der wie im Wahn alles zerstörte. Gold und antike Statuen<br />

wurden aus den Palästen gezerrt, Kleinodien und Schmuck<br />

aus den Häusern geraubt. Porphyrene Säulen und kostbare<br />

Halbreliefs, die schönsten der damaligen Welt, wurden abmontiert,<br />

abgebrochen, abgerissen zur künftigen Ausstattung<br />

der Hauskapelle des Dogen, der Markuskirche. Aber auch die<br />

anderen Kirchen Venedigs, welche zahllosen Heiligen geweiht<br />

sind, zeigen mit sündigem Stolz die Schätze erschlagener<br />

Menschen und Völker. Der Hochaltar der oströmischen<br />

Hauptkirche, der „Hagia Sophia“, zerschlagen, um die Edelsteine<br />

seiner kunstvollen Verzierungen schneller herausbrechen<br />

zu können. Alles, was nicht niet-und nagelfest war, wurde<br />

verschleppt, selbst noch die Silberverkleidung der<br />

Altarstufen. Um die reichliche Beute abzutransportieren, wurden<br />

zahllose Maultiere in das Heiligtum getrieben, bis der<br />

kunstvoll ausgestattete Boden über und über mit Kot bedeckt<br />

war. Währenddessen wurden am Hochaltar Frauen vergewaltigt.<br />

So entledigten sich die christlichen Krieger ihrer Kreuzzugspflicht.<br />

Das Beutegut der Venezianer aber wurde an die<br />

Lagune verschifft. Eines der hervorragendsen Kunstwerke<br />

Konstaninopels, die vielbesungene und gepriesene „Quadriga“,<br />

eine Gruppe von vier Pferden von den Wendepunkten<br />

des Hippodroms, der Pferderennbahn Konstantinopels, stellten<br />

die Venezianer voll Stolz über dem Hauptportal der Markuskirche<br />

auf. Jener prächtig vergrößerten Hauskapelle des<br />

Dogen, in welcher die reliquiaren Gebeine des Heiligen Markus<br />

ruhen, die auf ähnliche Weise aus Alexandrien besorgt<br />

worden waren. Natürlich musste man da Angst haben, das so<br />

Erworbene wieder zu verlieren. Schließlich war Venedig ja<br />

Jungfrau geblieben und noch nie ausgeplündert worden. Irgendwann,<br />

so malt es sich die aufkommende Angst aus,<br />

könnten doch dunkle Elemente durch die Gassen schleichen,<br />

die mächtigsten Anlagen auskundschaften, die bedeutendsten<br />

Schätze. Andere Gestalten sieht die Angst schon<br />

klammheimlich in die Lagune rudern, um die Eintiefungen der


VENEDIG|Dezember2016<br />

21<br />

zum offenen Meer führenden Kanäle auszumessen und herauszufinden,<br />

welche Dalbenstrassen in der Lagune für größere<br />

Schiffe passierbar sind. Ist man zu feige und gierig geworden<br />

und doch zu bewegungslos in Kriegsdingen? Musste<br />

man Angst haben, möglicherweise von der Nachwelt dafür<br />

ausgepfiffen zu werden? Hier durfte der schöne Schein nicht<br />

von der Sicht auf die Dinge ablenken. Jetzt halfen nicht gekaufte<br />

Zurufer und Claqueure, jetzt müsste man tatsächlich<br />

eine bella figura machen. Was half es jetzt ein „libertino“ zu<br />

sein, der sich stets von den herrschenden Ideen mehr als von<br />

einer inzwischen verschütteten eigenen Fantasie inspirieren<br />

lässt. Denn die Fantasie ist nicht nur von Geilheit sondern vor<br />

allem von Angst verschüttet. Denn wann immer ein Toter im<br />

„Canale Orfano“ treibt, der von San Marco aus durch die Lagune<br />

ins offene Meer führt, und es sind deren viele, heißt es,<br />

strangulierende Auftragsmörder seien wieder am Werk gewesen<br />

oder gedungene Giftmörder, die sich nirgendwo so auf ihr<br />

Handwerk verstünden wie in Venedig. Den schrecklichsten<br />

der Schrecken verbanden die Venezianer aber mit dem Gedanken<br />

an die Furcht vor dem „Rat der Zehn“. In einem nahezu<br />

uneinsehbaren Raum im dritten Obergeschoss des Dogenpalastes<br />

tagte turnusmäßig jener „Eccelso Consiglio dei<br />

Dieci“, der „Erhabene Rat der Zehn“, der Venedigs Geheimtribunal<br />

und dem dazugehörigen Geheimdienst vorstand. Seine<br />

Mitglieder waren oberste Richter und Ankläger in einem. Hier<br />

wurden diplomatische und geheimdienstliche Berichte ausgewertet,<br />

Hinterbringungen von Spitzeln und Denunzianten.<br />

Denn wer wollte, verstand es, Machteinrichtungen für sich<br />

geschickt auszunützen, konnte hier, wie nirgendwo sonst, seine<br />

Rache nach Lust und Laune befriedigen. Hier wurden Haftbefehle<br />

ausgestellt, peinliche Verhöre durchgeführt und in<br />

Auftrag gegeben und gedungene Mörder entsandt bis weit<br />

über die Grenzen Venedigs. Man hat sich darauf verstanden,<br />

im Geiste der Machtausübung und der Hinterlist die Ordnung<br />

zu sichern, da die offene Austragung und Sicherung des<br />

Rechts unkalkulierbar, unpraktikabel erschien, weil man die<br />

Hintermänner der Bedrohung für die Serenissima nicht kenne.<br />

Warum Truppen und viele Argumente ins Treffen führen,<br />

langen Prozess machen, wenn der kurze Prozess eines gedungenen<br />

Auftragsmörders den gleichen Effekt erzielt. Jedes<br />

Jahr wurden vom „ Consiglio grande e generale“, dem großen<br />

Rat, zehn „nobili“ in den „Consiglio dei Dieci“ gewählt und<br />

berufen. Es war ausdrücklich ausgeschlossen, dass zwei Mitglieder<br />

ein und derselben Familie dorthin berufen werden,<br />

damit keine Sippe in diesem heiklen Gremium zu mächtig<br />

wird. Drei Vorsitzende wählte der „Rat der Zehn“ aus den eigenen<br />

Reihen, von denen jeder jeweils einen Monat im Amt<br />

blieb. Neben den Zehn gehörten der Doge selbst und seine<br />

sechs Ratgeber dem Rat an, weshalb der Rat der Zehn eigentlich<br />

der Rat der Siebzehn war. Innerhalb dieses geheimen<br />

Zirkels wurde ein noch geheimerer Zirkel gebildet<br />

und mit besonderer umfassender Macht ausgestattet: drei<br />

Staatsinquisitoren als ranghöchste Ermittler. Von den zehn<br />

eigentlichen Ratsmitgliedern werden zwei in dieses Gremium<br />

entsandt, der dritte wird aus dem Kreis der sechs Räte<br />

des Dogen gewählt. Wer Hochverräter ist, bestimmt allein<br />

dieses Gremium. Es wird spioniert, dechiffriert, es werden<br />

abgefangene Briefe ausgewertet und archiviert, Informanten<br />

angeheuert und deren Berichte entschlüsselt. Gnadenfristen<br />

sind meist ein Bestandteil der psychologisch<br />

trickreichen Inszenierung einer raschen Exekutierung. Man<br />

beginnt Verhöre oftmals wie Konversationen und Verhandlungen,<br />

wiegt den Inkriminierten in Sicherheit. Höflich wird<br />

vorerst über allgemeine Fragen parliert, sodass der Vorgeladene<br />

mit Staunen Mut fasst und die Welt nicht mehr verstehen<br />

kann, wieso dem Rat der Zehn eine solch furchterregende<br />

fama vorauseilt. Doch wenn man glaubt, längst<br />

gehen zu können und nicht mehr stehen zu müssen vor dem<br />

Rat der Zehn, in jenem holzvertäfelten Raum, direkt oberhalb<br />

jener Brücke, die von den Neuen Gefängnissen in den Dogenpalast<br />

führt, und in welchem sich in geschnitzten, vergoldeten<br />

Rahmen fünfundzwanzig Deckengemälde befinden, in deren<br />

Mittelpunkt Veroneses Bild des Gottes Jupiter, welcher seine<br />

Blitze gegen das Laster schleudert, während man also glaubt,<br />

einfach gehen zu dürfen, in dieser Annahme geradezu bestärkt<br />

durch die indifferente Höflichkeit der Ratsmitglieder, jener<br />

Richter, die gleichzeitig Ankläger und alles in einem sind, und<br />

da vorne auf einem halbrunden hölzernen Podest thronen,<br />

wird man kommentarlos und unversehens auch schon auf<br />

kürzestem Wege, nämlich über die „Seufzerbrücke“, in den<br />

gegenüberliegenden Kerker, die „Bleikammern“ befördert.<br />

Denn kriminalistische Untersuchungen gehen nahtlos in Anklage<br />

und ebenso nahtlos in einen Urteilsspruch über, ohne<br />

dass die Angeklagten überhaupt davon Kenntnis erlangen.<br />

Wer vor dem „Rat der Zehn“ steht, erfährt meist nicht einmal<br />

das volle Ausmaß der Anklage gegen sich. Er erfährt auch nie,<br />

wer ihn angezeigt hat. Und er hat vor allem keinen Verteidiger.<br />

Die prozessuale Verteidigung ist den Venezianern unbekannt.<br />

Der Rat fasst Beschlüsse, „parti“, die zusammen mit<br />

allfälligen Beweisstücken zu den geheimen Akten gelegt werden.<br />

Und Auftragsmorde sollen immer den Anschein erwecken,<br />

als seien sie keineswegs auf höhere Anordnung erfolgt.<br />

Essay


22 VENEDIG|Dezember2016<br />

Essay<br />

Darüber hinaus lesen die „Tre Capi“ alle Denunziationen, die<br />

beim „Rat der Zehn“ eingehen. Im Dogenpalast befindet sich<br />

nämlich eine allgemein begehbare Loggia um alle vier Seiten<br />

des Innenhofs. Dort und auch anderswo sind sogenannte<br />

steinerne „Löwenmäuler“ mit einem steinernen Einwurfschlitz<br />

als Mundöffnung angebracht, in die nach Lust und<br />

Laune vertrauliche Anzeigen und Denunziationen eingeworfen<br />

werden konnten. Was einmal eingeworfen wurde, konnte<br />

niemals mehr zurückgenommen werden. Und wie leichtfertig<br />

ging man mit der Existenz von Menschen um. „Denontie secrete“<br />

definieren Inschriften die staatlich autorisierte Einladung<br />

zur Denunziation. Jedermann durfte hier noch so unbewiesene<br />

oder haltlose Verdächtigungen und Beschuldigungen<br />

einwerfen. Sie wurden allesamt peinlichst genau gelesen in<br />

jenem kleinen Nebenraum des Verhandlungssaals des „Rats<br />

der Zehn“. An den Wänden hier ein Triptychon von Hieronimus<br />

Bosch und darin Szenen aus der Hölle. Alle Arten der<br />

Folter, welche die Hölle kennt, hier auf ein Tafelbild gemalt,<br />

bildeten aber gleichzeitig einen Spiegel der Wirklichkeit<br />

dieses Raums. Denn hier wurde qualvollste Folter ausgelöst,<br />

ohne jede Urteilsbegründung unbefristete Kerkerstrafen verhängt,<br />

lebenslange Verbannung auf isolierte Inseln im Peloponnes<br />

oder Hinrichtung. Denn oft, wenn die „Marangona“,<br />

die größte Glocke im Campanile auf dem Markusplatz läutete,<br />

und die ersten Menschen noch schlaftrunken die Piazzetta<br />

überquerten, erblickten sie erschrocken, zwischen den beiden<br />

prachtvollen Säulen mit den gestohlenen Schutzheiligen<br />

der Stadt und dem assyrischen Löwen mit den Bergkristallaugen,<br />

zwei Gestelle, auf die wie ein X-förmiges Andreaskreuz<br />

mit dem Kopf nach unten, Würgemale an den Kehlen und<br />

zahllosen Folterspuren, die Leichen mehrer Männer zur Abschreckung,<br />

wie geschlachtetes Vieh, öffentlich aufgehängt<br />

waren. Auf Folter und Qual verstanden sich die Venezianer ja<br />

blendend, ebenso wie auf den aus allem und jedem zu ziehenden<br />

Lustgewinn. Heilige Symbole, wie das „Andreaskreuz“,<br />

dem Patron der Ostfahrt, der Kreuzfahrt gewidmet,<br />

missbraucht in Folter, Hinrichtung und Pornographie. Sodass<br />

es scheint, dass die Pornografie bestenfalls nicht dem Leben<br />

diente, sondern dem Tod. Stellungen im Geschlechtsakt, die<br />

der Renaissance-Pornograph Pietro Aretino empfiehlt, wie<br />

das „Andreaskreuz“, wurden hier gleichermaßen für Folter<br />

und Hinrichtung angewandt. Und alles doppelt so wirksam in<br />

Szene gesetzt vor den illuminierten Spiegeln der venezianischen<br />

Öffentlichkeit. Solche Tugenden erheben offensichtlich<br />

die Nobilität über die Lohnarbeit, die vom Pöbel ausgeübt<br />

wird, zur höheren Ehre der Reichen und Mächtigen. Man hat<br />

alle Regeln des weisen Betrugs gelernt, ohne die alle Liebhaber<br />

und Glücksspieler zu Grunde gingen, und deren Anwendung<br />

keinesfalls als Schande gilt. Das Leben, die sogenannte<br />

Liebe, in Venedig gespiegelt als beliebtes Spiel: „Biribi, Primero,<br />

Bassette, Piquet und Pharao“. Geradezu verrückt vor gekünstelter<br />

Heiterkeit. Die Mechanik geradezu aller Mirakel<br />

durchschaut. In eine Truhe gesperrt, um singend und schreiend<br />

vom ständigen Nasenbluten geheilt zu werden. Ein anderes<br />

Mal zu fürchten, ein Toter liege nebenan, und dabei allmählich<br />

zu bemerken, es sei nur der eigene eingeschlafene<br />

Arm gewesen. Dann überall phantastische Rezepte zur Goldherstellung<br />

zu verkaufen, dafür Dilettanten zu finden, die sich<br />

aus reiner Freude für einen Blödsinn begeistern lassen, eine<br />

Lotterie ins Leben zu rufen, einer einst schönen Moribunden<br />

bei ihrer Wiedergeburt im Körper eines bezaubernden Knaben<br />

behilflich zu sein, ihn mit ihr zu zeugen versprechen, mit<br />

weit gespreizten Beinen, aus deren Schoß dann Signoras<br />

Seele ausfahren kann. Und die mehr als eintausend Huren,<br />

die während des Karnevals Venedig durchschlendern, ein Blumensträußchen<br />

als Kennzeichen hinter dem Ohr. Aber Huren<br />

benehmen sich oft menschlicher als Geliebte und Gatten.<br />

Nach ähnlichem Erleben kauft sich Casanova einen Papagei,<br />

dem er nur einen Satz einlernt: „Signora Chapillon ist eine<br />

noch schlimmere Hure als ihre Mutter“. Auch Friedrich Nietzsche,<br />

von Richard Wagner von Venedig aus brieflich gequält,<br />

er solle ihm in Basel seidenen Unterhosenstoff besorgen,<br />

zieht nach dem Tod des Meisters wieder nach Venedig, diesmal<br />

zu einer Hure nahe der Rialtobrücke. Noch bei seiner Einlieferung<br />

ins Irrenhaus singt er, ständig wiederholend, ein venezianisches<br />

Gondellied, bevor er endgültig verstummt. Nur<br />

scheinbar ist die Liebe ein süßer Betrug, in welchem es keine<br />

Opfer gibt. Werden den Liebenden alle Ränke ob der Augenblicksempfindung<br />

verziehen. Werden gehörnte Ehemänner in<br />

den Krieg geschickt und ihnen nicht einmal mehr die Rolle<br />

des Heimkehrers zugebilligt. Andererseits macht sich einer,<br />

der glaubt, mit seiner eigenen Gattin auf der Piazetta zu promenieren,<br />

zur Witzfigur. Goldoni sagt, Eifersucht sei eine ordinäre<br />

und veraltete Leidenschaft. Eheliche Pflichten überlassen<br />

die Gatten bereitwillig dem Nebenbuhler und die täglichen<br />

Zuwendungen dem „cicisbeo“, einem jungen Mann aus<br />

gutem Haus. Er ist eine weit entwickeltere Art als ein bloßer<br />

Eunuch. Denn er verzichtet freiwillig nach Art eines Troubadours<br />

auf das Ziel seiner Anbetung, die Einlösung und Abgeltung<br />

seiner Dienste in barer fleischlicher Münze. Denn er gefällt<br />

sich darin, seiner Gebieterin Tag und Nacht zu Diensten<br />

zu sein. Er ist wie ihr Spiegelbild, ihre innere Stimme, die sie


VENEDIG|Dezember2016<br />

23<br />

auf Schritt und Tritt begleiten. Er berät sie in Fragen der Konversations-Koketterie,<br />

in Fragen der Perückenhöhe und der<br />

Frisur, er schaut auf ihr Hündchen und umtanzt ihre Sänfte.<br />

„Dreispitz“, „bauta“ und Täschchen unterliegen seiner Beratung,<br />

seiner Mitbestimmung. Der „cicisbeo“ ist der erste morgendliche<br />

Besucher und darf auch der Morgentoilette beiwohnen.<br />

Auch bei Unpässlichkeit ist er zugegen. Warum<br />

sollte es der Gatte sein? Dienst ohne Gegenleistung, ein Symbol<br />

einer heiteren Laune des Geschicks. Denn mitten in den<br />

sonstigen Liebesgefechten werden die Masken vertauscht,<br />

sieht man sich gemeinsam in dem kerzenerhellten Spiegel,<br />

um selbstverliebt den Besitz auf das eigene Spiegelbild anzumelden,<br />

die Lust des Anderen gegenseitig zu belauschen, wie<br />

durch das Gemälde eines Stilllebens, in welchem an Stelle<br />

eines Blumenkelchs ein Loch gebohrt wurde, um dem Liebesakt<br />

lauschend und erspähend beizuwohnen. Alles nach<br />

Selbstauskunft der Serenissima berückend und harmlos.<br />

Aber dann offensichtlich doch nicht. Ein gehörnter Ehemann,<br />

der sich seine Lächerlichkeit vor Augen führt, und in Blut baden<br />

will. Die Geliebte, die nicht nur zum Anschein einer Theaterszene<br />

auf den Balkon steigt, und dann doch nicht springt.<br />

Nein sie denunziert den Geliebten ob der erst erbeuteten und<br />

sodann verschmähten Liebe bei den denontie secrete, erkennt<br />

dann aber die Unwiderruflichkeit ihres Tuns, sie springt<br />

deshalb wirklich und eröffnet im Tod all die bis dahin ignorierten,<br />

aufgeschobenen Fragen, die unversorgten Kinder, die<br />

kranken Eltern, die enorme Schuldenlast, die auf die Familie<br />

überbunden wird. Umso grauenvoller und tiefgreifend irreversibler<br />

aber, wenn ein Kind springt, weil es mit der Spaltung<br />

solcher Werthaltung und solchen Bewusstseins nicht mehr<br />

fertig wird. Wo bleibt da Gott, wenn er gerufen wird, wo er<br />

doch sprichwörtlich und unbewusst ständig angerufen wird.<br />

Venedigs Frivolität vollzieht sich in sonderbaren Ordnungen.<br />

Schon gleiten wieder die Gondeln der Staatsinquisitoren mit<br />

ihren roten Laternen über die Lagune, sie verheißen Folter,<br />

Galeerenfron und Todesstrafe, um das Nichts zu sühnen, die<br />

haltlosen Denunziationen, eingeworfen in den Mund grimmiger<br />

Steingesichter. Die neunzehn unterirdischen Kerker mit<br />

ihren Menschenkäfigen und pfeifenden Wasserratten sind<br />

heillos überfüllt. Hier endet alle Selbstinszenierung und<br />

Selbstverführung. Hier befinden sich die ohne Schuldbegründung<br />

Unglücklichen, die nach Begründung brennen bis ans<br />

Ende ihres Lebens. Aber auch das werte Publikum hat das<br />

Theater längst verlassen. Venedigs Herrschaft ist ebenfalls<br />

ständig geschrumpft. Der Doge, einst Herrscher eines stolzen<br />

Reiches und einer überragenden Seemacht, ist zum Mimen<br />

vergangenen Glanzes degradiert, der nur um des Publikumsbeifalls<br />

wegen auf die Loggia seines Palastes tritt. Jeder seiner<br />

Schritte wird von den Staatsinquisitoren kontrolliert, die<br />

Tag und Nacht unangemeldet in seine Gemächer eindringen,<br />

ihn befragen, ihm aber auch Weisungen erteilen können. Nur<br />

in ihrem Beisein darf er Dokumente fertigen, Staatsgeschäfte<br />

erledigen oder auswärtige Gesandte empfangen. Selbst für<br />

einen Kuraufenthalt auf der „Terra ferma“ benötigt er die ausdrückliche<br />

Zustimmung des „Consiglio grande e generale“,<br />

dessen Beschlüsse alle seine Veranlassungen genau vorherbestimmen.<br />

Doch am Himmelfahrtstag, da fährt er noch einmal<br />

mit der Prunkgaleere, dem „bucintoro“, hinaus, um die<br />

symbolische Hochzeit Venedigs mit dem Meer zu feiern. Sein<br />

Schiff strahlt wie kein anderes vom Gold der Applikationen<br />

und Voluten. Skulpturen schmücken Bug und Heck und vom<br />

Bug flattern die erbeuteten Fahnen der Türken. Tempi passati.<br />

Dann lässt der Doge den goldenen Vermählungsring ins Wasser<br />

gleiten und ruft: „Wir vermählen uns mit dir im Namen<br />

wirklicher und dauernder Herrschaft.“ Und Jubel steigt auf,<br />

ringsumher, von den zahllosen Gondeln und Begleitschiffen,<br />

in welchen die Menge am Ufer, von den Balkonen der Häuser<br />

und Paläste, einstimmt. Auch Casanova schaut von einem<br />

Boot aus zu – und er kommentiert diesen Vorgang, als nehme<br />

er den heraufdämmernden Verfall und Untergang schon vorweg.<br />

Er notiert: „Beim leisesten ungünstigen Wind könnte das<br />

Schiff kentern und der Doge ertrinken, zusammen mit der<br />

ganzen erlauchten Signoria, mit den Botschaftern und auch<br />

mit dem Nuntius des Papstes. Um das Unglück voll zu machen,<br />

brächte ein solcher Zwischenfall ganz Europa zum Lachen,<br />

denn man würde sagen, der Doge von Venedig habe die<br />

Ehe endlich vollzogen.“<br />

Wolfgang Mayer-König<br />

Geb.1946, lebt als Schriftsteller und Universitätsprofessor in Graz<br />

und Emmersdorf an der Donau. Gründer des Universitätsliteraturforums.<br />

Herausgeber der Literaturzeitschrift LOG. Ständiger Delegierter<br />

bei den Vereinten Nationen. Mitglied der italienischen Akademien<br />

„Tiberina“ in Rom und „Cosentina“ in Cosenza. Autor von<br />

45 Büchern. Im Herbst erscheint im Löcker Verlag sein neuer Prosaband<br />

„Das begeisterte Wort“.<br />

Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse,<br />

Kulturmedaille des Landes Oberösterreich, Chevalier des Arts et des<br />

Lettres der Französischen Republik. Ehrenobmann der Literarischen<br />

Gesellschaft St. Pölten.<br />

Essay


24 VENEDIG|Dezember2016<br />

Essay<br />

Daniel Krcál<br />

Allerseelen: Venezia<br />

Julian Cope, Gründer der legendären Band Teardrop Explodes<br />

und Krautrock-Experte, ist bekennender Allerseelen-<br />

Fan und weiß auf seiner musikologischen Homepage Head<br />

Heritage von so mancher Allerseelen-Platte zu schwärmen.<br />

Und dennoch kennt die Band in Österreich kaum wer. Was so<br />

ein bisschen seine Gründe hat.<br />

Das Ein-Mann-Projekt Allerseelen ist die experimentelle<br />

Spielwiese des Österreichers Gerhard Petak, früher unter<br />

dem Künstlername Kadmon und nun als Gerhard Hallstatt<br />

tätig, in jungen Jahren unter anderem Trommler bei Hermann<br />

Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Es ist eingebettet in eine<br />

im Post-Punk, Industrial und Gothic fußende Subkultur, die<br />

in ihrer post-satanischen Suche nach identitätsstiftenden bis<br />

subversiven Inhalten unter anderem auch auf das Thema Okkultismus<br />

im Dritten Reich gestoßen war. Da einige Protagonisten<br />

dieser sich selbst meist Apocalyptic Folk oder Neofolk<br />

nennenden Szene ihre Auseinandersetzung mit verbrannter<br />

Symbolik durchaus obsessiv, exzessiv oder gar provokant unkommentiert<br />

betrieben, kam es bald zu den unvermeidlichen<br />

Missverständnissen und Anschuldigungen durch Außenstehende.<br />

Darauf im Einzelnen tiefer einzugehen, würde hier zu<br />

viel Platz einnehmen, aber zusammengefasst kann gesagt<br />

werden, dass man es mit einer bunten Szene zu tun hat, für<br />

die das dekadente Spiel mit rechten Codierungen nur ein Aspekt<br />

von vielen ist. Dort, wo es aber betrieben wird, pendelt<br />

es sich irgendwo zwischen postideologisch unpolitischer<br />

Aneignung, linker bis antifaschistischer Interpretation, blanker<br />

Provokation und rechter Affirmation ein. Ein spannendes,<br />

riskantes, vieldeutiges Wagnis, das eher zu eigenständigem<br />

Denken einlädt als zu simplen Schlussfolgerungen. In den<br />

Ursprungsländern der nationalsozialistischen Verbrechen<br />

jedoch für viele - verständlicherweise - ein schwer zu tolerierendes<br />

Problemfeld. Was so einige nicht verstehen (können<br />

oder wollen): Es geht um Kunst, nicht Agenda. Reflektieren,<br />

nicht skandieren.<br />

Allerseelen sind eine jener Bands, die aufgrund so mancher<br />

thematischen Exploration immer wieder in besagten Verdacht<br />

kamen. Auf diese Anschuldigungen kann hier keine Antwort<br />

gegeben, dafür aber auf den künstlerischen Ertrag verwiesen<br />

werden, der keine politische, sondern die vielfältige<br />

Sprache eines von mannigfachen, kontrapunktischen Einflüssen<br />

durchdrungenen Gesamtkunstwerks spricht. Und ein<br />

Zitat des Künstlers beigefügt werden: „Gerade unsere Liebe<br />

zu kleinen Ländern und Regionen wie das Baskenland, wie<br />

Katalonien, Korsika, Österreich, Südtirol, Slowenien bewahrt<br />

uns davor, totalitäre oder autoritäre Strukturen und Systeme<br />

zu verherrlichen.“.<br />

Gemäß dieser Vorliebe fürs Regionale ist eine der wichtigsten<br />

Inspirationsquellen für Gerhard Hallstatt das Reisen:<br />

„Für mich ist eine Reise wie ein Mikrokosmos von einem<br />

Leben: Das beginnt mit der Geburt, das ist der Aufbruch, und<br />

es gibt ein Ende, das ist die Heimkehr.“. Eines der wichtigsten<br />

wiederkehrenden Reiseziele ist seit 1982 Venedig: »Ich<br />

mag Venedig sehr, allerdings nur in der kalten Jahreszeit. Ein<br />

magisches Inselreich mit funkelnden Visionen, eine trunkene<br />

Altstadt wie auf Zauberstäben, in der alles fließt und flüstert,<br />

in der jedes Wesen nicht nur einen Schatten, sondern auch<br />

ein Spiegelbild besitzt, schimmernd und schlummernd, aristokratisch<br />

und dekadent wie Charles Baudelaire und Gabriele<br />

d’Annunzio.«. Kein Wunder also, dass die Stadt, von der<br />

Hallstatts Lieblingsdenker Nietzsche meinte, wenn er ein<br />

anderes Wort für Musik suche, fände er immer nur das Wort<br />

Venedig, 2001 Motiv für ein ganzes Album wurde.<br />

Venezia stammt aus einer Zeit des leichten stilistischen<br />

Umbruchs Hallstatts. Das Experimentelle, bislang bestimmendes<br />

Element in der Musik von Allerseelen, findet von<br />

nun an Einschluss in gängigere, popmusikalischere Songstrukturen.<br />

Diese wiederum öffnen sich verschiedensten<br />

Stilen. Was entsteht, ist eine Art endzeitlicher Artpop. Entarteter<br />

Endzeitpop. Neugierig, poetisch. Vielschichtig, Lage um<br />

Lage durchpoliert.


VENEDIG|Dezember2016<br />

25<br />

Gleich der Opener des Albums schiebt mit schneidend<br />

hypnotischem Beat und einer beschwörenden Repetition<br />

des Liedtitels an – „Dolce Vita, salzig und süß“. Der<br />

zweite Track „Tanzt die Orange“ bricht das aufgenommene<br />

Tempo auf einen trippig polternden Dub herunter, umspielt<br />

damit Fragmente aus Rainer Maria Rilkes „Die Sonette an<br />

Orpheus“. In „Horusknaben“ dann werden Rhythmik und<br />

Tanzbarkeit wiederkehrend von Klassikpomp durchrissen,<br />

und Hallstatt, damals noch Kadmon, dichtet unter anderem<br />

apophthegmatisch: „kubingraue Tauben“.<br />

In „Musa“ - ein Höhepunkt des Albums - wird Ezra Pound<br />

in treibende Akustikgitarre, Bass und Klavierschnipsel<br />

gebettet; flüsternd, lyrisch, geheimnisvoll - die Muse, die<br />

einen im Schlaf überkommt. Hallstatt zu Pound und Venedig:<br />

„Venedig war sicher für Ezra Pound eine Insel der Seligen,<br />

eine Dolce Vita nach seiner Zeit in den USA, wo er doch<br />

jahrelang in diesem Irrenhaus war. Es ist auch sehr interessant,<br />

dass Pasolini Ezra Pound in Venedig besucht hat.<br />

Ich schätze manche Texte von Ezra Pound sehr, allerdings<br />

finde ich, dass viele seiner Dichtungen zu überladen sind,<br />

zu schwierig, kaum zu verstehen ohne ein mythologisches<br />

Wörterbuch. Sein Schicksal ist beeindruckend, ist eigentlich<br />

wie geschaffen als Stoff für eine Tragödie des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts. In seinem Leben verbinden sich Dichtung und<br />

Zeitgeschichte sehr unheilvoll: Ein Mann, der für den italienischen<br />

Faschismus Radiosendungen macht, der von den<br />

Amerikanern in einen Käfig eingesperrt wird. Mich faszinieren<br />

immer solche tragischen Persönlichkeiten, mit einem<br />

tragischen Leben oder einem tragischen Tod.“.<br />

„Cuore Avventuroso“ bietet repetitiven, dekadent verschleppten<br />

Electronica-Sample-Jazz. „Bist du die Nacht“<br />

begibt sich mit behäbigem Tempo und Rilke-Fragmenten<br />

auf eine nächtliche Wanderung durch die Gassen des Wundersamen.<br />

„Venedig“ umwebt Friedrich Nietzsches gleichnamiges<br />

Gedicht mit elegischen Slide-Gitarren-Lappen.<br />

„Spiegel sind Türen“ übt sich mit rauem Beat an Jean Cocteau<br />

ab.<br />

In „Rifflessioni“ haucht Kadmon/Hallstatt seine Poesie gegen<br />

einen Wandteppich aus mächtigen Ambient-Streichersamples,<br />

in „Gondelwerkstatt“ wiederum gegen einen aus<br />

Ambient, Industrial und Dub, und in „From Her To Eternity“<br />

(der Titel ist eine Hommage an Nick Cave) dann in die Synkopen<br />

einer temporeichen, trance-basierten Rhythmik.<br />

„Toteninsel“ schließlich - Pound liegt auf der venezianischen<br />

Insel San Michele begraben – ist ein würdiger Ausklang.<br />

Mystisch, blubbernd, ganz so, als würde ein müder Krieger<br />

langsam im venezianischen Meer versinken und nach und<br />

nach nur noch die Reste seiner erschöpften Lunge als Luftblasen<br />

an die Wasseroberfläche tanzen lassen.<br />

Obwohl Hallstatt die musikalische Ausdrucksform von<br />

Venezia selbst als „musica marittima“ bezeichnet, ist das<br />

Album weitab von Sonne und Mittelmeeridyll, gibt nicht<br />

jenen verkitschten Geist Venedigs wieder, den sich der<br />

durchschnittliche auf ausgetretenen Pfaden wandelnde<br />

Tourist erwartet; der eine oder andere Moment des Albums<br />

steht diesem süßen Klischee der Gondelstadt gar antipodisch<br />

gegenüber - ist zu harsch, zu kantig. Vielmehr ist es<br />

als inneres und äußeres Reisetagebuch zu sehen, als ein<br />

gegenständliches Eintauchen mit den Mitteln und unter den<br />

Vorlieben des Eintauchenden. Ein sorgsam geflochtenes<br />

Netz aus ausgewählter Sprachverliebtheit, geographischer<br />

Neugier und musikalischer Abenteuerlust. Eine auditive<br />

Reise, die den Blick auf ein anderes, heimliches, kühnes,<br />

abseitiges Venedig freigibt, und nicht nur deswegen unbedingt<br />

gewagt werden sollte.<br />

Daniel Krcál<br />

1971 mit Prager Wurzeln in Wien geboren. Prosa, Lyrik. Essays<br />

zu dies- und jenseitiger Populärkultur mit den Schwerpunkten<br />

Apocalyptic Folk, Unexplained Aerial Phenomena und Verschwörungstheorien.<br />

Mitglied der Literaturgruppe Wortwerft. Veröffentlichungen<br />

unter anderem in Rokko‘s Adventures, <strong>etcetera</strong> und<br />

Keine Delikatessen. Musikalische Arbeiten und literarische Vertonungen<br />

als hano aaruk, rukaanoha und Ku Raa oNa H.<br />

Essay


26 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Daniel Weber<br />

Der Gondoliere<br />

Ich habe ein langes und erfülltes Leben hinter mir, über achtzig<br />

Jahre; ich habe vieles erlebt und gesehen, doch eine Sache<br />

gibt es, über die ich mit niemandem je gesprochen habe,<br />

bis heute nicht. Jetzt, wo sich der Tod langsam, aber sicher<br />

anbahnt, er mich mit seiner knochigen Hand zu sich winkt,<br />

möchte ich mir diese eine Sache noch von der Seele schreiben,<br />

die ich nicht vergessen, geschweige denn verdrängen<br />

kann.<br />

Ich war einen Großteil meines Lebens Enthüllungsjournalist,<br />

schrieb für viele große Zeitungen und genoss Ruhm und Ansehen<br />

in meinem Metier. Ich war gefragt und verdiente dementsprechend<br />

gut. Es gab nur eine Story, wie man so schön<br />

sagt, die ich nie veröffentlicht habe, einerseits, weil ich nur<br />

an deren Oberfläche gekratzt hatte, bevor ich die Flucht antrat,<br />

andererseits, weil sie zu unglaublich erscheint, als dass<br />

sie irgendeine Zeitung abgedruckt hätte, die sich selbst als<br />

seriös versteht.<br />

Es war irgendwann in den beginnenden Achtzigerjahren – verzeihen<br />

Sie meine Ungenauigkeit dahingehend, das Gedächtnis<br />

eines alten Mannes ist nicht mehr das verlässlichste. Während<br />

eines frühen Sommers spielte mir eine vertrauensvolle<br />

Quelle zu, dass in Venedig etwas nicht mit rechten Dingen<br />

zugehen solle. Touristen verschwanden dort, und die Polizei<br />

und die Regierung, unterstützt von der Bevölkerung, würden<br />

diesen Umstand zu vertuschen suchen; zweifellos hatten sie<br />

Angst, der Tourismus könnte einbrechen, würde diese Sache<br />

an die Öffentlichkeit gelangen.<br />

Nun, das roch nach Skandal, und obwohl ich damals schon<br />

nicht mehr der Jüngste war, war ich doch als Mann mittleren<br />

Alters noch in Abenteuerstimmung und machte mich auf<br />

nach Venedig, einer Stadt, die ich schon immer geliebt habe.<br />

Ich sehe jedoch davon ab, Venedig in ihrer Schönheit und<br />

Pracht zu beschreiben; jenen, die bereits zu Gast in dieser<br />

Stadt waren, müsste eine solche Beschreibung als ganz und<br />

gar unzulänglich erscheinen, und jenen, die sie noch nicht<br />

kennen, würde es ein vollkommen falsches Bild liefern. Diese<br />

Stadt muss man mit eigenen Augen sehen, denn sie lässt sich<br />

nicht beschreiben. Ich hatte immer das Gefühl, ihr hafte eine<br />

Atmosphäre der Erhabenheit und des Glanzes an; aber auch<br />

eine Aura der Melancholie schien von ihr auszugehen, wenn<br />

ich sie besuchte, doch dieser Eindruck ist vielleicht einer zu<br />

leidenschaftlichen Lektüre Thomas Manns zuzuschreiben.<br />

Jedenfalls verlor ich keine Zeit, nachdem mich meine Quelle<br />

kontaktiert hatte, und machte es mir nach ein paar Tagen<br />

bereits in einem bescheidenen Zimmer eines Viersternehotels<br />

in Venedig gemütlich. Das Hotel stand unweit des<br />

Markusplatzes, einer meiner liebsten Plätze in dieser Stadt;<br />

vor allem der Dogenpalast war immer wieder Ziel meiner<br />

ausgedehnten Spaziergänge, aber auch den Canal Grande<br />

ging ich immer wieder gerne entlang; wenn sich die untergehende<br />

Sonne abends auf dem bewegten Wasser spiegelte,<br />

überkam mich immer ein sonderbares Gefühl, als hege diese<br />

Stadt Geheimnisse unter ihrer romantischen Fassade.<br />

Ich kann mich heute nicht mehr an alle Straßen, Gassen, Kanäle<br />

und engere Wasserstraßen erinnern, doch ich durchforstete<br />

sie ohne Ausnahme auf meinen Nachforschungen. Von<br />

der Polizei würde ich nichts herausbekommen, dies war so<br />

gut wie sicher; selbst, wenn ich Kontakte zu ihr gehabt hätte,<br />

wäre es fraglich gewesen, ob diese mir so weit entgegengekommen<br />

wären, um ihre Stadt durch einen Skandal in Verruf<br />

zu bringen. Also versuchte ich, mit kleineren Händlern und<br />

ärmeren Einheimischen zu reden. Ich war schon immer ein<br />

charismatischer Mensch, und ich scheute auch nicht davor<br />

zurück, reichlich Bestechungsgeld einzusetzen, um zu meinen<br />

Informationen zu gelangen – und nach einigen Tagen<br />

stellte sich heraus, dass ich offenbar wirklich einer großen<br />

Sache auf der Spur war!<br />

Aus verschiedenen Mündern, die einen mehr, die anderen<br />

weniger glaubwürdig, setzte sich eine Geschichte zusammen,<br />

welche die einheimischen Behörden schier zur Verzweiflung<br />

brachte und an die Grenzen ihrer Kompetenz: Seit einigen<br />

Wochen verschwanden offenbar regelmäßig Touristen, ein<br />

Umstand, der so weit noch keine Sensation gemacht hätte,<br />

denn Touristen verschwinden einfach immer mal wieder<br />

in einem fremden Land. Das Mysterium dahinter waren die<br />

Umstände ihres Verschwindens! Aus den Zeugenaussagen<br />

zu schließen, die augenscheinlich zahlreich waren, wurde<br />

jeder Tourist vor seinem Verschwinden beim Besteigen einer<br />

Gondel gesehen. Die in Frage kommenden Gondolieri –<br />

wenn es denn überhaupt verschiedene waren, denn darüber<br />

war man sich unschlüssig – konnten jedoch nie identifiziert<br />

werden. Die vagen Beschreibungen von Verdächtigen waren<br />

die von Allerweltgesichtern, die sich vielleicht, vielleicht<br />

auch nicht ähnlich sahen. Die Polizei befragte die Gondolieri<br />

immer wieder, doch wussten diese offenbar nichts zu den<br />

verschwundenen Touristen zu sagen; auf keinen von ihnen<br />

passten zudem die Beschreibungen der Augenzeugen, obgleich<br />

manche vergleichbare Gesichtszüge zu haben schie-


VENEDIG|Dezember2016<br />

27<br />

nen. Wussten sie etwas und verschwiegen es? Oder wussten<br />

sie wirklich nichts? Damals habe ich mich das oft gefragt,<br />

und auch heute noch bin ich mir nicht sicher.<br />

Eine Atmosphäre der Angst unter den Einheimischen war<br />

beinahe greifbar; einerseits fürchteten sie um ihr Einkommen,<br />

sollte der Tourismus wegen einer Veröffentlichung dieser<br />

Geschehnisse zurückgehen, andererseits fürchteten sie<br />

sich vor dem Geheimnis an sich; einfache Menschen neigen<br />

zu Aberglauben, und bei meinen zahlreichen Befragungen<br />

geschah es nicht selten, dass eine meiner Gewährspersonen<br />

plötzlich von übernatürlichen Phänomenen zu stammeln begann,<br />

welchen ich selbstredend keine Bedeutung beimaß;<br />

meiner Vermutung nach handelte es sich um einen oder<br />

mehrere Serientäter, die gerade hier in Venedig ihr Unwesen<br />

trieben und welchen die örtlichen Behörden nicht Herr werden<br />

konnten, weswegen sie die ganze Sache vertuschten.<br />

Aber ich brauchte mehr, ich brauchte Beweise. Die stammelnden,<br />

teils unzusammenhängenden Aussagen der Einheimischen<br />

reichten bei Weitem nicht aus, um daraus eine<br />

richtige Story zu machen, das wäre die Vorgehensweise von<br />

Revolverblättern und Möchtegernjournalisten gewesen.<br />

Ich machte mich also daran, auch die Gondolieri zu befragen,<br />

doch hier musste ich freilich subtiler, unterschwelliger<br />

vorgehen, da sie ja implizit in Verdacht standen, etwas mit<br />

dem Verschwinden der Touristen zu tun zu haben, und vielleicht<br />

gehörten einzelne sogar wirklich zu den Tätern, die ich<br />

vermutete. Ich glaubte, ein großes Risiko einzugehen, mich<br />

mit vielen von ihnen zu unterhalten, vielleicht sogar mich in<br />

Todesgefahr zu begeben. Sollte ein Gondoliere, mit dem ich<br />

sprach, wirklich Dreck am Stecken haben und Verdacht hegen,<br />

was meine wirklichen Absichten anlangte, könnte dies<br />

übel für mich enden. Doch Risiko gehörte zu meinem Beruf;<br />

obwohl ich die Auslandskorrespondenten in Kriegsgebieten<br />

nicht um das ihrige beneidete, so gab es mir doch ein gewisses<br />

Gefühl der Aufregung; es machte mir Spaß!<br />

Ich erwartete auf Grund der Umstände, auf verschlossene,<br />

womöglich sogar etwas missmutige Männer zu treffen, die in<br />

ihren rot-weiß oder blau-weiß gestreiften Leibchen die Gondeln<br />

steuerten, doch dem war, im Großen und Ganzen, nicht<br />

so: es waren freundliche Männer, die mich gerne in ihren<br />

Gondeln auf unzählige Spazierfahrten ohne Ziel mitnahmen.<br />

Diese nutzte ich dazu, ungezwungen und ohne Misstrauen<br />

zu erregen mit ihnen zu plaudern, um nähere Informationen<br />

zu erhalten.<br />

Doch meine Versuche scheiterten kläglich! Wie ich es auch<br />

anstellte, sie stiegen auf keine Gespräche ein, die in Richtung<br />

sonderbare Vorkommnisse, Verbrechen oder sonstiges<br />

in ihrem Metier abzielten. Es war zum Verzweifeln! Meine<br />

raffiniertesten Tricks im Gespräch führten zu nichts, all meine<br />

Befragungstechnik schien mich im Stich zu lassen! Entweder,<br />

sie wussten wirklich nichts, oder sie hatten sich alle<br />

verschworen. Eines erschien mir jedoch so unglaubhaft wie<br />

das andere – also was steckte hier bloß dahinter?<br />

Ich kann heute nicht mehr sagen, wie viele Tage ich mit der<br />

Befragung der Gondolieri zubrachte, mit wie vielen von ihnen<br />

ich Spazierfahrten unternahm, teilweise bis spät in den<br />

Abend hinein, um dann zu Tode erschöpft in mein Hotelbett<br />

zu fallen. Es müssen sicherlich an die zwei Wochen gewesen<br />

sein, in welchen ich so gut wie nichts erfuhr, außer, dass<br />

in der Zeit meines Aufenthalts wieder zwei Touristen, ein<br />

junges Paar diesmal, verschwunden waren, die zuletzt beim<br />

Besteigen einer Gondel gesehen worden waren – und der<br />

fragliche Gondoliere war wieder einer mit Allerweltgesicht<br />

ohne jegliche besondere Kennzeichen…..<br />

Lange Rede, kurzer Sinn: es verließ mich schön langsam der<br />

Mut. Sicherlich, ich war langwierige und schwierige Untersuchungen<br />

gewöhnt, aber nie zuvor oder danach bin ich auf<br />

eine solch undurchdringliche Mauer des Schweigens gestoßen.<br />

Ich wollte schon aufgeben und mich geschlagen geben,<br />

bis ich eines Abends doch noch auf einen Gondoliere stieß,<br />

der mir irgendwie seltsam vorkam; ich kann nicht sagen, wieso.<br />

Ich glaubte, er sei anders als jene, die ich bisher befragt<br />

hatte, also eilte ich auf seine Gondel zu, die gerade am Rande<br />

eines schmaleren Kanals Halt machte.<br />

Der Gondoliere war ein hochgewachsener, hagerer Mann,<br />

dessen Gesicht ich auf Grund des bereits einsetzenden<br />

abendlichen Zwielichts nicht genau erkennen konnte. Es<br />

schien mir alltäglich, fast gewöhnlich zu sein, wenn auch etwas<br />

blass. Eine schwarze Mütze bedeckte sein Haupt und ich<br />

vermutete, dass sich darunter eine Glatze befinden müsse.<br />

Als ich auf ihn zuschritt, trafen sich unsere Augen. Ich blickte<br />

in die seinen, die blassgrün und kühl auf mich gerichtet waren,<br />

als würden sie durch mich hindurchspähen; es war fast,<br />

als wäre dieser Mann nicht ganz anwesend im Hier und Jetzt,<br />

und trotz allem verneigte er sich, als er erkannte, dass ich<br />

zu ihm kam. Sein rot-weiß gestreiftes Leibchen hing beinah<br />

schlabberig an seinem Körper und die Düsternis warf Schatten<br />

auf sein undeutliches Gesicht und seine dünne Gestalt.<br />

Ich sagte ihm, ich wolle eine kleine Abendspazierfahrt unternehmen.<br />

Er neigte darauf seinen Kopf etwas nach vorne,<br />

was ich als Zustimmung deutete, und ich wollte bereits einsteigen,<br />

als er mich mit einer Handbewegung davon abhielt.<br />

Prosa


28 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Er streckte mir seine knochige Hand offen entgegen, sagte<br />

jedoch nichts. Kurz stand ich verdutzt da, bis ich begriff, dass<br />

er die Bezahlung im Vorhinein verlangte; ich zögerte kurz, da<br />

mir das Ganze nun plötzlich nicht mehr geheuer war. Dieser<br />

Kerl sagte kein Wort – vielleicht war er stumm, ich wusste<br />

es nicht – und einfach so die Hand nach Geld auszustrecken<br />

war doch nicht unbedingt die höflichste Art und Weise, den<br />

Obolus zu erbitten.<br />

Doch irgendetwas sagte mir, dass ich bei diesem Gondoliere<br />

vielleicht auf Informationen stoßen könnte, die mir endlich<br />

weiterhelfen würden, also überwand ich meinen Widerwillen<br />

und kramte ein paar Geldscheine heraus. Ich reichte sie ihm<br />

hin, doch er zog seine Hand zurück, ohne das Geld entgegenzunehmen.<br />

Ich blickte ihm verwirrt in die Augen, bis er in<br />

seine Hosentasche griff, ein paar Münzen herauszog und sie<br />

klimpern ließ. Er wollte Kleingeld.<br />

Etwas enerviert ob dieser Unverschämtheit, die mich meine<br />

anfängliche Skepsis diesem Kerl gegenüber kurz vergessen<br />

ließ, kramte ich selbst in meiner Hose nach Kleingeld und ließ<br />

es in die nun wieder ausgestreckte Hand dieses Halunken fallen,<br />

sodass es abermals leise klirrte. Der Gondoliere neigte<br />

daraufhin erneut sein Haupt und bedeutete mir mit einer einladenden<br />

Armbewegung, ich dürfe mich nun in sein Gefährt<br />

setzen, was ich auch tat. Und dann fuhren wir los, langsam<br />

und schaukelnd, während das Wasser um uns herum leise<br />

plätscherte. Der Abend war schon vorangeschritten und das<br />

tägliche Treiben der Stadt beruhigte sich allmählich.<br />

Wir fuhren gemächlich durch kleinere Kanäle, nur vereinzelt<br />

begegneten wir Gegenverkehr und es waren fast keine Menschen<br />

mehr auf den Straßen; eine angenehme Ruhe umgab<br />

mich, es wurde mit der Zeit sogar richtig still. Doch anstatt<br />

mich darüber zu wundern, versank ich zu Beginn der Fahrt<br />

in eine wohlige Zufriedenheit, die mich beinah‘ schläfrig<br />

machte und mich wünschen ließ, in dieser Gondel einfach<br />

dahin zu dösen, während sie mich durch die engen Wassergässchen<br />

schaukelte.<br />

Bald senkte sich die Nacht über Venedig, ich hatte jegliches<br />

Zeitgefühl verloren und wir fuhren gerade in einer der<br />

verwinkelten Wasserstraßen entlang, die von teilweise brüchigen<br />

Hausmauern umsäumt sind. Der Mond war aufgegangen<br />

und schien direkt auf unseren kleinen Wasserweg;<br />

er beleuchtete silbrig glänzend den Gondoliere, der mir mit<br />

einem Mal noch blasser vorkam als zuvor.<br />

Und auch etwas anderes fiel mir auf: eine Stille und eine<br />

Leichtigkeit, die gleichzeitig das Gegenteil ihrer selbst waren.<br />

Ich runzelte die Stirn und versuchte mir Klarheit darüber<br />

zu verschaffen, was diese Diskrepanz in meiner Wahrnehmung<br />

verursacht hatte. Schleichend schälten sich dann<br />

einzelne Eindrücke heraus, die mich aufhorchen und um<br />

mich blicken ließen: Die Stille war eine vollkommene Stille,<br />

doch durchbrochen von einem unhörbaren Ruf, ein Ziehen<br />

gleichsam, der und das direkt aus meinem Inneren zu kommen,<br />

oder in mein Inneres von irgendwoher einzudringen<br />

schienen; ich weiß bis heute nicht, was zutreffend ist. Und<br />

die Leichtigkeit war zwar eine Leichtigkeit meiner Seele,<br />

fast ein Losgelöstsein von meinem Körper, doch ich merkte<br />

nun, dass wir Schwierigkeiten hatten, vorwärtszukommen;<br />

wir fuhren plötzlich sehr langsam und schaukelten auch fast<br />

gar nicht mehr.<br />

Der Gondoliere schien von alledem keine Notiz zu nehmen,<br />

also beugte ich mich etwas hinaus aus der Gondel, um aufs<br />

Wasser zu schauen. Es war schwarz, unheimlich düster, und<br />

spiegelte den Mondschein nicht so glänzend, wie es dies<br />

hätte tun sollen. Und mit diesem Anblick, gleichsam einer<br />

latenten Erkenntnis, erwachte ich nach und nach aus einer<br />

Trance, die mich in dem Moment erfasst hatte, als ich<br />

in diese Gondel eingestiegen war. Ich begann wieder klar<br />

zu sehen und zu denken, bemerkte meine immer düsterer<br />

werdende Umgebung, fühlte die Enge der Wasserstraße<br />

und musste plötzlich fest an mich halten, da irgendetwas<br />

an meinem Innersten zu zerren schien, etwas Ungreifbares,<br />

doch Starkes.<br />

Ich erinnerte mich, dass ich doch vorgehabt hatte, dem<br />

Gondoliere Fragen zu stellen über das unerklärbare Verschwinden<br />

von Touristen in den letzten Wochen, und wunderte<br />

mich, warum ich es vergessen hatte. Ich war verwirrt<br />

und versuchte, meine seltsamen Eindrücke abzuschütteln,<br />

die ich einer zu großen Erschöpfung zu Lasten legte, der ich<br />

ja zweifellos in den Wochen in Venedig ausgesetzt gewesen<br />

war. Doch es gelang mir nicht so ganz, mich von meiner<br />

aufkeimenden Angst und dem Eindruck zu befreien, an mir<br />

würde innerlich gezerrt werden.<br />

Ich fühlte mich nicht mehr wohl und beschloss, dem Gondoliere<br />

Bescheid zu geben, dass ich nun aussteigen wolle. Ich<br />

wandte mich zu ihm, öffnete bereits meinen Mund, um zu<br />

sprechen, doch die Worte blieben mir ungeformt in meinem<br />

Halse stecken. Plötzlich dachte ich nichts mehr, wollte auch<br />

nichts mehr sagen, denn ich sah nur mehr: Vor mir stand<br />

die hagere Gestalt des Gondolieres mit mir zugewandtem<br />

Rücken. Auf seinem rot-weiß gestreiftem Leibchen, das in<br />

diesem seltsamen Licht mehr grau als bunt erschien, zeichneten<br />

sich seine Schulterblätter deutlich ab, standen fast


VENEDIG|Dezember2016<br />

29<br />

wie kurze Flügel aus seinem oberen Rücken heraus. Auch<br />

die langen Ärmel seines Gewandes hingen lose an seinen<br />

dürren Armen, sodass sich die Knochen, vor allem die Ellenbogen,<br />

deutlich abzeichneten; und als ich den einen Arm<br />

mit den Augen bis zu der Stelle verfolgte, wo er in die Hand<br />

überging, die mit der anderen gemeinsam das Ruder hielt,<br />

erblickte ich lediglich zwei Knochengebilde ohne Haut oder<br />

Fleisch oder Muskeln. Es waren zwei Skeletthände, die das<br />

Ruder umklammerten, blendend weiß im Mondlicht, beinahe<br />

silbrig, und mir stockte der Atem!<br />

Und nun ging alles sehr schnell! Ich wusste nicht, was ich<br />

tun sollte, also sprang ich auf und hinaus aus der Gondel<br />

und hinein ins Wasser und schwamm! Ich schwamm weg,<br />

weg von der Gondel und diesem grässlichen Gondoliere,<br />

weg aus dieser Aura der Angst und des Zerrens an meinem<br />

Innersten! Weg! Weg! Ich wollte einfach nur weg und flüchtete,<br />

während ich Wasser schluckte und mir meinen Weg gegen<br />

eine leichte Strömung bahnte. Ich strampelte mit Händen<br />

und Füßen und wusste, ich durfte nicht zurückblicken!<br />

Ich strampelte und keuchte, während ich merkte, dass nach<br />

mir gegriffen wurde; irgendetwas versuchte immer wieder,<br />

einen meiner Knöchel festzuhalten, mich am Rumpf zu packen<br />

oder mir den Arm zurückzuziehen, während ich vorwärts<br />

schwamm. Es fühlte sich an wie Hände, glitschig und<br />

kalt, Hände aus einer unermesslichen Tiefe, dem Abgrund<br />

… Und ich wusste, ich durfte nicht zurückblicken! Ich durfte<br />

nicht zurückblicken!<br />

Irgendwann nach Mitternacht fischte man mich aus dem<br />

Wasser, wirres Zeug stammelnd und am ganzen Leibe zitternd.<br />

Ich will Ihnen die Details meines Nervenzusammenbruchs<br />

ersparen, es sei nur so viel gesagt, dass ich von<br />

Glück reden kann, nicht in eine Anstalt eingewiesen worden<br />

zu sein.<br />

Ich verbrachte zirka eine Woche in einem örtlichen Krankenhaus,<br />

denn nicht nur mein Geist war zerrüttet, ich hatte<br />

mir auch noch eine recht gefährliche Grippe eingefangen,<br />

die mich transportunfähig machte. Doch sowie es die Ärzte<br />

erlaubten, machte ich mich auf den Heimweg und kehrte<br />

meiner Story und Venedig den Rücken, für immer!<br />

Ich bin seither nie wieder dort gewesen, was ich heute sehr<br />

bedaure, denn es ist wirklich eine phantastische Stadt;<br />

doch ich konnte mich nie mehr überwinden, nach Venedig<br />

zu reisen, die Angst war zu groß.<br />

Ich glaube, es sind dann noch ein paar Touristen verschwunden,<br />

gleichsam vor ihrer Zeit abberufen worden. Ich will jedoch<br />

nicht über das Warum spekulieren – die Launen höherer<br />

(oder sehr alter) Mächte sollte man, denke ich, nicht<br />

hinterfragen, denn die Antworten würden dem Menschen<br />

nur seine eigene Nichtigkeit vor Augen führen.<br />

Ich schenkte den weiteren Vorfällen auch keine Aufmerksamkeit<br />

mehr, ich wollte vergessen, doch erfolglos. Die ganze<br />

Sache wurde jedenfalls nie aufgeklärt – Wie auch? –, und<br />

jetzt, nach dreißig Jahren, wird sich schwerlich noch jemand<br />

daran erinnern, außer vielleicht ein alter Mann, der noch seine<br />

Geschichte erzählen wollte, bevor er stirbt.<br />

Und ich sterbe bald, ich bin alt – und krank – und hatte<br />

ein erfülltes, glückliches Leben, doch diese Erinnerung lässt<br />

mich nicht mehr los:<br />

Ich hatte mir, als ich die Flucht aus der Gondel angetreten<br />

bin, fest vorgenommen, nicht zurückzublicken. Als ich in von<br />

Grauen heimgesuchter Eile wegschwamm und mich gegen<br />

die unsichtbaren Klauen aus dem Abgrund wehrte, sagte<br />

ich mir immer, ich dürfe nicht zurückblicken, ich dürfe nicht<br />

zurückblicken! Und ich wollte nicht zurückblicken! Ich wollte<br />

es nicht …<br />

Ich werde es nie vergessen: Dieses Grinsen jener weißen,<br />

blanken Zähne, blinkend und glitzernd im Mondlicht, und<br />

diese zwei schwarzen Höhlen, die mir fast sehnsüchtig, ja<br />

bittend hinterherstarrten, als würden sie mich auffordern<br />

wollen, doch meine Meinung zu ändern und mit ihm zu<br />

kommen … Doch meine Zeit war noch nicht abgelaufen, die<br />

Sanduhr mit meinem Namen darauf hatte noch einige Körnchen<br />

übrig.<br />

Jetzt ist sie es, die Körnchen sind beinahe alle nach unten<br />

gerieselt, und ich frage mich, ob, wenn ich endlich meinen<br />

letzten Atemzug holen werde, er mich abholen wird oder ein<br />

anderer. Ihn hätte ich jedenfalls schon bezahlt, doch es ist<br />

fraglich, ob er sich noch an mich erinnern kann.<br />

Ich jedenfalls habe den Fährmann nicht vergessen und erwarte<br />

ihn nun auf meinem Sterbebett.<br />

Lebt wohl!<br />

Daniel Weber<br />

Geb.1993 in Wien, ist diplomierter Schauspieler und studiert Deutsche<br />

Philologie an der Universität Wien. Dieses Jahr erschien, nach<br />

„Das verwunschene Bildnis“ 2013, sein zweiter Band mit Horrorerzählungen,<br />

„Der Kuss der Dämonin“, im Eigenverlag. Seit April<br />

2016 veröffentlicht er außerdem regelmäßig literarische Texte auf<br />

seiner Website weberdaniel.at. Gegenwärtig lebt er in Wolkersdorf<br />

im Weinviertel, Niederösterreich.<br />

Prosa


30 VENEDIG|Dezember2016


VENEDIG|Dezember2016<br />

31


32 VENEDIG|Dezember2016<br />

Andreas Adam<br />

Elegie asconesi<br />

In omaggio di una cardiologo veneziana (una cosidetta<br />

dotoressa per il cuore) che lunghi anni fà, inaspettato ed<br />

all´improvviso, mi ha addolcito due notti ed una giornata<br />

nell´ambito di una giornata di formazione ad Ascona.<br />

Asconeser Elegien [Übersetzung]<br />

Zugeeignet einer venezianischen Kardiologin - einer Herzensärztin<br />

sozusagen - welche mir vor vielen Jahren unerwartet<br />

und spontan zwei Nächte und einen Tag im Rahmen einer<br />

Fortbildung in Ascona versüßte.<br />

Non basteranno solo seghe<br />

piene di curiosita<br />

corteggando le colleghe.<br />

Evviva la vogliosita.<br />

Es werden wohl keine Luftschlösser<br />

voller Wissbegierde reichen<br />

um den Kolleginnen den Hof zu machen.<br />

Ein herzhaft` Hoch der Lüsternheit.<br />

Svegliandosi alla mattina<br />

in un bel letto, ma altrui.<br />

„Dottoressa, sta vicina<br />

a chi baciasti, a colui!“<br />

Aufwachend eines Morgens<br />

in einem schönen Bett, aber einem fremden.<br />

„Dottoressa, bleib nahe dem<br />

den Du küsstest, demjenigen.“<br />

„Sorbii la tua ostrica,<br />

in grembo sprofondai,<br />

impastai la soda natica<br />

dalle labbra assaggiai.“<br />

„Ich schlürfte Deine Auster,<br />

im Schoß versank ich,<br />

knetete Deinen drallen Hintern<br />

und kostete von Deinen Lippen.“<br />

Così – il bel aggiornamento<br />

corse in velocità –<br />

„e per questo supplemento<br />

erotico... si rivedrà?“<br />

Und so – die schöne Fortbildung<br />

verging in Windeseile –<br />

„und wegen dieser erotischen Draufgabe<br />

wird man sich ... wiedersehen?“<br />

un paio di giorni dopo, rimuginando di notte mentre il ritorno<br />

a casa mia, seque questo breve postludio...<br />

einige Tage später, nachts auf der Heimreise sinnierend,<br />

folgt dies kleine Postludium...<br />

„Dormi ben‘, mia ragazzina,<br />

se ci sarei, ti coprirei<br />

con delle rose senza spina-<br />

- e pian- piano... ti chiaverei.“<br />

„Schlaf` gut, mein kleines Mädchen,<br />

wäre ich hier, dann bedeckte ich Dich<br />

mit Rosen ohne Dornen –<br />

– und ganz langsam würde ich Dich....“<br />

Lyrik<br />

Andreas Adam<br />

Geboren 1959 als Blindgeglaubter, aus diesem Grunde frühe Zuwendung zu sinnlich ausgerichteter Autodidaktik, auch in den nunmehrigen<br />

Betätigungsfeldern als Lehrer, Psychotherapeut, Arzt, Musikant, Gestaltender. Aus derselben Tradition heraus kommt auch die<br />

kindliche Begeisterung an Sprache(n) mit anlassbezogenem Verfassen von Bedarfslyrik und -aphoristik.


VENEDIG|Dezember2016<br />

33


34 VENEDIG|Dezember2016<br />

Erich Sedlak<br />

Hinter den Kulissen<br />

Prosa<br />

Den Tagestouristen wird es kaum auffallen, oder denen,<br />

die alle zehn, fünfzehn Jahre hier her kommen. Aber einem<br />

wie mir, dem es zur lieben Gewohnheit geworden ist, jeden<br />

Herbst nach Venedig zu reisen, um sich dort seine Portion<br />

Melancholie und Morbidität abzuholen, ist es nicht mehr<br />

länger zu verheimlichen: hier beginnt in diesen Tagen ein<br />

riesiges Täuschungsmanöver, hier gaukelt man den Leuten<br />

etwas vor, das längst nicht mehr vorhanden ist, hier verlangt<br />

man Geld für eine Vorstellung, die längst nicht stattfindet!<br />

Darauf gekommen bin ich, als ich die Baustelle des wegen<br />

der unheilvollen Schicksale seiner Bewohner von mir besonders<br />

geschätzten Palazzo Dario am Canal Grande näher<br />

betrachtete. Die rührige Stadtverwaltung hat ihn rundum<br />

mit Holzplanken und undurchsichtigen Planen verhängt,<br />

auf die talentierte Bühnenmaler den Palazzo Dario genau<br />

so aufgepinselt haben, wie er nach erfolgter Restaurierung<br />

wieder aussehen soll. Von größerer Entfernung aus,<br />

oder wenn man mit dem vaporetto daran vorbeifährt, ist<br />

zum Original fast kein Unterschied zu erkennen. Doch ich<br />

schlüpfte in einem unbeobachteten Augenblick hinter die<br />

Planen und was ich dort sah, nahm mir fast den Atem: es<br />

gibt keinen Palazzo Dario mehr! Ein paar jämmerliche Mauerreste<br />

sind alles, was von ihm noch übrig geblieben ist,<br />

einige aus dem schmutzigen Wasser herausragende längst<br />

verfaulte Holzpiloten. Er muss wohl eines Nachts in sich<br />

zusammengefallen sein, und damit der faule Zahn in dem<br />

unbeschreiblich schönen Ensemble der Schönsten Straße<br />

der Welt nicht unangenehm auffällt, hat man dann zum<br />

plumpen Trick mit der Kulissenmalerei gegriffen.<br />

Sie können sich vorstellen, dass ich nach dieser grauenvollen<br />

Entdeckung mit völlig anderen Augen durch mein<br />

geliebtes Venedig ging. Doch wie oft ich auch hinter die<br />

Planen von Baustellen blickte - überall war es das gleiche:<br />

die totale Auflösung, die endgültige Zerstörung, irreparable<br />

Schäden. Sogar ein Stückchen vom Palazzo Ducale, dem<br />

weltberühmten Dogenpalast, hat man auf diese armselige<br />

Weise versucht wieder zu ergänzen.<br />

Eines Tages wird jenes Venedig, wie wir es einmal gekannt<br />

und geliebt haben, nicht mehr existieren. Die Touristen<br />

werden aber dennoch nach Bezahlung eines sündteuren<br />

Sigthseeing-Tickets ihre obligate Rundfahrt absolvieren.<br />

Sie werden den Canal Grande entlangfahren, umdort dessen<br />

herrlichen Palazzi zu fotografieren, die dann nur noch<br />

auf Leinwand aufgemalt sein werden, und sie werden auch<br />

über die Markusplatz spazieren, um dort die Attrappen des<br />

Dogenpalastes, des Campanile und der Basilica San Marco<br />

zu bestaunen.<br />

Und sie werden glauben, die berühmte Lagunenstadt Venedig<br />

zu besichtigen, doch dieses Venedig wird nur noch<br />

aus armseligen Kulissen bestehen, und dies vielleicht gar<br />

nicht mehr an jenem Ort, an dem es sich heute noch befindet.<br />

Eine Riesen-Ansichtskarte, ein Venedig aus Pappmache’<br />

wie seine Masken zum carnevale, ein Venedig, dessen<br />

Bauwerke, wie dann die strenge Anweisung der Reiseführer<br />

lauten wird, wegen akuter Einsturzgefahr nicht mehr betreten<br />

werden dürfen. Arrivederci Venezia!<br />

Erich Sedlak<br />

Geb. in Wien, lebt in Wiener Neustadt, Autor und Herausgeber; 22<br />

Publikationen; Hörspiele, Drehbücher, Bühnenstücke, TV-Theater,<br />

Anthologien, zahlreiche Literaturpreise; Mitgliedschaften: Internationaler<br />

und Österr. P.E.N.-Club, podium, ÖSV, IG AutorInnen,<br />

Präsident des NÖ P.E.N.-Clubs. www.erichsedlak.at


VENEDIG|Dezember2016<br />

35<br />

Ingrid Reichel<br />

Venezianisches „Kitschee“<br />

Eine Doppelconférence über La Serenissima Repubblica di<br />

San Marco - die allerdurchlauchteste Republik des Hl. Markus<br />

- Attention, please! Adrianische Küstenbewohner flüchten<br />

vor den Westgoten auf die Lagunen. Gründen die Stadt 421.<br />

- Ich nehme an, nach Christus.<br />

- Wie, nach Christus? Die ganze Geschichtsschreibung ist auf<br />

christliche Werte aufgebaut!<br />

- Check! Da lob ich mir die Paläontologinnen!<br />

- Sì! Die schreiben das Jahr NULL ab 1950.<br />

- Bravissimo!<br />

- Ab 1950 gilt BP, Before Present, my dear! Avant aujourd‘hui!<br />

Vor heute!<br />

- Und heute ist 1950?<br />

- Sì! Nach dem 2. Weltkrieg, après la seconde guerre mondiale,<br />

la seconda guerra mondiale! Capite?<br />

- Ho capito, non British Petrol!<br />

- Sì !<br />

- Dazwischen ist aber viel Wasser ins Sumpfgebiet geflossen.<br />

- Sì, zwischen Süß- und Salzwasser, zwischen Ebbe und Flut:<br />

Laguna morta e Laguna viva. Wobei wir schon beim Thema<br />

angelangt wären: Leben und Sterben einer Stadt. Von seiner<br />

Gründung bis zur mittelalterlichen Handelsmacht: Das Wasser<br />

war Rettung, das Wasser war Schutz, das Wasser war<br />

Abwehr, das Wasser war Hafen, das Wasser war Handel,<br />

Gewürze, Weizen und viel Salz, das Wasser war Reichtum,<br />

das Wasser war Doge und Expansion, Kolonialismus bis zum<br />

byzantinischen Konstantinopel.<br />

- Dodsche?<br />

- Sì, doge! Von dux, duce.<br />

- Sie meinen Duc, Herzog?<br />

- No! Duce von Führer. Aber gewählt vom Volk, comprendete?<br />

Nach der Flut kommt die Ebbe, und das Wasser brachte den<br />

Rückzug durch das Osmanische Reich und schließlich den<br />

Tod durch die Pest. Später ist es das gestörte ökologische<br />

Gleichgewicht der Lagune, die verantwortlich für ihr Sterben<br />

sein soll, sagt man.<br />

- Aber das gilt ja weltweit.<br />

- Eben, mondiale! Sì! - Aber dazwischen kamen noch der Genuese<br />

Cristoforo Colombo …<br />

- Christoph Kolumbus?<br />

- … sì, und der Florentiner Amerigo Vespucci, und sie entdeckten<br />

Amerika, der eine, und der andere gab den Namen…<br />

- Weil ersterer nicht gecheckt hatte, dass Indianer keine Inder<br />

sind.<br />

- …sì. Die ersten Siedler der Neuen Welt nannten sich dann<br />

Amerikaner, dank Amerigo!<br />

- Ah, AmeriGaner…?<br />

- No, American!<br />

- Ah, yes, we can! Zwei Italiener im Dienste der Spanier?<br />

- No, no, no! Noch nicht. Kastilien, por Reino de Castilla. Und<br />

als Italiener kann man Kolumbus und Vespucci auch nicht<br />

bezeichnen.<br />

- Perché?<br />

- Weil die italienische Identität die jüngste in Europa ist. Sie<br />

ist erst knapp hundert Jahre alt, glaube ich.<br />

- Und Venedig?<br />

Venezia verlor zunehmend an Bedeutung. Die Atlantikroute<br />

war für den Schiffshandel ergiebiger, Sklavenhandel, all inclusive.<br />

Irgendwann reichte es auch dem letzten Dogen und<br />

er dankte ab.<br />

- Wie, es reichte ihm?<br />

- Napoleon Bonaparte marschierte ein, er duldete wohl keinen<br />

Zweiten. Aber egal, Napoleon verlor alles, wie auch Venedig,<br />

an die Habsburger. Ich sage nur Wiener Kongress.<br />

- Upps!<br />

- Aber auch das wehrte nicht lange, dann vereinigte sich Venedig<br />

mit dem Königreich Italien.<br />

- Aah!<br />

- Aber auch nicht für lange, denn Italien ist ja bekanntlich<br />

kein Königreich mehr.<br />

- Upps!<br />

- Ich sage nur Norditalien und Süditalien.<br />

- Und dazwischen der Vatikan!<br />

- Sì, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.<br />

- Capisco! Aber das alles ist doch ziemlich verwirrend.<br />

- Ich sagte doch Brainstorming…<br />

- Aah, sì! Ascoltate e ripetete!<br />

- Flüchtlinge gründen Venedig und werden innerhalb von<br />

1000 Jahren zur Handelsmacht Nr. 1. Dann expandiert das<br />

Osmanische Reich und das Kastilianische Reich. Venedig<br />

verliert zunehmend seine politische und wirtschaftliche<br />

Rolle bis es schließlich von fremden Mächten erobert wird.<br />

Nicht zu vergessen sind die zwei Pestepidemien und auch<br />

die Cholera.<br />

- À propos Cholera: Der letzte Deutsche, der an der Cholera<br />

in Venedig starb, war Gustav von Aschenbach, ein Literat.<br />

- Sie meinen Thomas Mann.<br />

Prosa


36 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

- Nein, der starb nicht an der Cholera.<br />

- Aber er schrieb doch die Novelle „Der Tod in Venedig“?<br />

- Ja, das wohl. Doch Fiktion und Realität sind oft so knapp beieinander,<br />

man kann sie oft nicht unterscheiden. Aschenbach<br />

und der hübsche Jüngling Tadzio, sein persönlicher Todesengel<br />

im Grand Hotel des Bains am Lido von Venedig. Wussten Sie,<br />

dass es erst kürzlich zu einem Boutique-Hotel umfunktioniert<br />

wurde?<br />

- Nevvero!?!<br />

- Sì!<br />

- Der Glanz der alten Zeiten ist schon lange verloren gegangen.<br />

- Es gab einmal eine Plakataktion, um die Ein-Tages-Touristen<br />

von Venedig fernzuhalten. Man propagierte stinkenden Kanäle,<br />

Ratten…<br />

- Um die dritte Pestepidemie zu stoppen, meinen Sie?<br />

- Sì!<br />

- Aber ich habe sie gerochen, diese stinkenden Kanäle, und ich<br />

habe sie gesehen, die Ratten.<br />

- Seien Sie nicht albern, die habe ich auch vor meiner Haustür.<br />

- Dio mio! Vero?<br />

- Eh, sì!<br />

- Woher kommen Sie?<br />

- Ich komme aus dem Land, das vom Habsburger Reich übriggeblieben<br />

ist.<br />

- Das Land, was keiner wollte?<br />

- Sì, wenn Sie so wollen.<br />

- Haben Sie ein Identitätsproblem?<br />

- Sie meinen so eines wie die Italiener?<br />

- No. Wie die Venezianer.<br />

- Aber die Venezianer sind doch ein stolzes Volk.<br />

- Sì!<br />

- Haha! Venedig im Regen, hä? *Augenzwinker*<br />

- Ach hören Sie mir auf mit dem Kitsch, Schmach österreichischer<br />

Songcontestler verklärter Anflug an Romantik über<br />

l‘acqua-alta!<br />

- Sie bleiben lieber bei Ihrer Traviata?<br />

- Nun, die Musikindustrie ist nun wirklich ein anderes Thema,<br />

renommierte Komponisten aller Welt haben sich seit der Barockzeit<br />

hier beflügeln lassen. Ich meine, die Venezianer mögen<br />

sich aus wirtschaftlichen Gründen an den Tourismus verkauft<br />

haben, sind jedoch im Grunde ihres Herzens Venezianer<br />

geblieben. Verstehen Sie?<br />

- Glauben Sie?<br />

- Ich meine, Venedig ist eine Stadt, die wie ein Archetypus<br />

funktioniert.<br />

- Sie meinen, jedes Kind kennt es, ohne zu wissen warum?<br />

- So, in etwa.<br />

- Perché?<br />

- Es ist wie mit dem Stier, il toro, der das Symbol für Sexualität<br />

ist. So ist Venedig der Ort für Leben und Tod im Einklang. Wie<br />

es die Natur vorsieht. Doch geht Venedig unter, bedeutet dies<br />

der Untergang der Menschheit. Sie ist ein Vorbote des Todes<br />

und ist somit die Hoffnung auf ewiges Leben.<br />

- Meinen Sie nicht, dass die Gondeln schon lange Trauer tragen?<br />

- Ich sage nur „Don’t look now“!<br />

- Aber Venedig kann sehr kalt sein…<br />

- But just for „Those who walk away“.<br />

- Sie meinen, die Amerikaner wollen zu ihren alten Wurzeln<br />

zurückkehren?<br />

- Manche sicher.<br />

- Weil sie sich während der Biennale ausstellen lassen? Weil<br />

sie sich während der Filmfestspiele hofieren lassen? Weil sie<br />

sich hier niederlassen und ihre Romane schreiben? Weil sie<br />

ihre Hochzeiten hier feiern?<br />

- Weil sie sich hier mit Europa vermählen.<br />

- Aber in Venedig ist kein Platz für einen Golfklub.<br />

- Sie sind im Irrtum. Wir haben bereits einen und brauchen<br />

keinen zweiten.<br />

- Das kann ich gut verstehen. Der Prunk hängt bei Ihnen sowieso<br />

an den Wänden.<br />

- Sì! Nach venezianischem Modell haben wir es uns einst leisten<br />

können, die Wände unsere Palazzi mit den besten Gemälden<br />

unserer heimischen Künstler zu schmücken - wie Tintoretto,<br />

die Brüder Bellini, Tizian, Veronese, Canaletto, Tiepolo, um<br />

nur ein paar Namen zu nennen.<br />

- Sie meinen, zu tapezieren?<br />

- Nun, über guten Geschmack lässt sich streiten. Die Wände<br />

mögen damals noch nicht so feucht gewesen sein…<br />

- Und Ihre Toten begraben Sie auch senkrecht auf einer eigenen<br />

Lagune?<br />

- Sì! Auf San Michele.<br />

- Mit Gondel oder Vaporetto?<br />

- Scusi, aber nach dem Tod, welche Rolle sollte das noch spielen?<br />

- Ich kann mich an ein Pink Floyd Konzert am Markusplatz<br />

erinnern. Durch die Kraft der Verstärker fielen Marmortrümmer<br />

von einer Fassade, betroffen soll eine Statuen- Gruppe<br />

des aus Bergamo stammenden Bildhauers und Baumeisters<br />

Bartolomeo Bon gewesen sein. Auch wegen des Publikums,<br />

das bei 60.000 erlaubten Besuchern die 200.000 überschritten<br />

hatte. Diese verursachten den Hauptschaden: 300 Tonnen


VENEDIG|Dezember2016<br />

37<br />

Müll und 500 m 3 Dosen und Flaschen, und Exkremente everywhere<br />

sollen sie hinterlassen haben. Der damalige Bürgermeister<br />

musste seinen Hut nehmen.<br />

- Sì, das war anno 1989 nach Christus. Der damalige sindaco<br />

wusste nicht, wer Pink Floyd waren. Nun, dazu kann ich nur<br />

sagen: Es werden noch viele den Hut nehmen, bevor diese<br />

Stadt untergeht. Bei besagter Statuen-Gruppe handelte es<br />

sich übrigens um „Salomons Urteil“. Genießen Sie noch Ihren<br />

espresso, Signore! Arrividerla!<br />

- Arrividerla, Signorina! Cameriere, il conto, per favore!<br />

- Sei Euro, prego!<br />

- Für einen Fingerhut caffè senza Giotto!<br />

Der Tod in Venedig (1911), eine Novelle von Thomas Mann (1875-1955)<br />

Don’t look now/ Wenn die Gondeln Trauer tragen, Film (1973) von Nicolas<br />

Roeg nach der Erzählung Don’t look now aus Not after Midnight.<br />

Collection of five long stories (GB, 1971; Don’t look now and other stories,<br />

USA) von Daphne du Maurier (1907-1989). Those who walk away (1967)<br />

/ Venedig kann sehr kalt sein (1968) von Patricia Highsmith (1921-1995)<br />

http://ultimateclassicrock.com/pink-floyd-venice-1989/<br />

Ingrid Reichel<br />

Geb.1961 in St. Pölten. Malerin und Mixed-Media-Künstlerin.<br />

2006-2013 <strong>etcetera</strong>-Redakteurin. Kunstkritikerin, Buch- und Theaterrezensentin.<br />

Seit 2013 Studentin der Romanistik.<br />

Prosa


38 VENEDIG|Dezember2016


VENEDIG|Dezember2016<br />

39<br />

Michael Burgholzer<br />

Höchste Zeit<br />

Ich habe jetzt die Lösung für Venedig: Die ganze Stadt<br />

wird integriert als Zwi schen deck in ein noch zu bauendes<br />

Kreuz fahrtschiff von nie dagewesenen Ab mes sungen. Sie<br />

wird dann in der Lage sein, sich von der unseligen Lagune<br />

zu lösen und kann selbst auf Reisen gehen, sogar<br />

bis in den fernen Osten. Und ja, die Straße von Gibraltar<br />

ist breit genug für eine ge fahrlose Durchquerung, ich bin<br />

die Strecke mehrmals abge schwommen. Die Nutzung des<br />

Kraters nach dem Abgang der Stadt ist einem Pangasiuszüchter<br />

versprochen, auch eine Wasser nudel farm ist<br />

im Gespräch. Der Doge ist freilich in formiert. Feuer und<br />

Flamme ist er und übt schon Floskeln auf Chine sisch, aus<br />

Höflichkeit, für kommende Land gänge.<br />

San Michele<br />

Ich suche so gründlich nach der letzten Ruhe stätte des<br />

Physikers Doppler, dass ich das letz te Vaporetto versäume,<br />

das sanft tutend in der abendli chen La gu ne ver schwindet.<br />

Seufzend wärme ich mir nach Ein bruch der Dunkelheit<br />

inmitten der Grä ber auf meinem Camping kocher eine<br />

Dose Bohnen suppe. Aus der Deckung der Zypressen tritt<br />

eine hagere Ge stalt auf mich zu und fragt mich, ob ich<br />

ahn te, mit wem ich das Vergnügen hätte. Jetzt dämmere<br />

es mir, sage ich mit fes ter Stimme zu dem uralten Mann,<br />

warum meine Suche unter den Toten ver geblich gewesen<br />

sei. Er sei der be rühmte Physiker, bestätigt der Alte, durch<br />

sei ne Ent deckungen sei er leider unsterblich geworden, er<br />

hungere nach ewiger Ruhe. Wir löffeln gemeinsam meine<br />

Bohnensuppe aus.<br />

Auf der Quit tung steht meine Nummer. Ein Advokat nötigt<br />

mir aus seinem Bauch laden einen Flyer auf, in dem alles<br />

beschrieben ist. Ich blicke nach vorne über den Zaun. Von<br />

dort, wo die Hitze aufsteigt, dringt lautes Stöh nen herüber.<br />

Ich schä me mich nicht länger meiner Armut; als meine<br />

Nummer auf dem Display er scheint, durchquere ich<br />

mit festem Schritt das blaue Tor.<br />

Zahltag<br />

Der Nebel ist tückisch, ich habe mich verfahren, ohne<br />

see männisches Wissen hät te ich mich nicht auf den Brentakanal<br />

wagen sollen. Mein Polentalieferant hat mir sein<br />

Hausboot auf genötigt, unsere Geschäftsbeziehung ist<br />

seit Jahren frik ti ons frei. Ich bringe mein Wasserfahrzeug<br />

hinter einer Grup pe weiterer Boote, die mir den Weg versperren,<br />

zum Still stand. Ob wir denn mitten in Venedig<br />

gelan det seien, frage ich höflich die Besatzungsmitglieder<br />

auf den Booten vor mir, von der Brücke, die schemenhaft<br />

in der Ferne zu sehen sei, drängen nämlich starke Seufzer<br />

herüber. Wir seien am Schleu senhaus, klären mich die<br />

Ange sprochenen auf, die Seufzer entführen denen, die<br />

dort die Benutzungsge bühr für den Kanal ent richteten,<br />

bald sei die Reihe auch an uns.<br />

Murano<br />

Endlich ist meine Zeit gekommen, mein Leben lang habe<br />

ich, wie alle gläubigen Licht jünger, für das Ereignis gespart.<br />

Ich steige aus der Gondel und reihe mich ein in<br />

die Schlange der Wartenden. Für das Heißritual ist mein<br />

Vermö gen zu ge ring, ich werde mich kalt ver glasen lassen<br />

müssen. Das vor geschriebene Säck chen mit dem umgetauschten<br />

Si lizi um wer fe ich in eine durchsichtige Kassa.<br />

Michael Burgholzer<br />

Geb. 1963 in Linz, selbständiger IT-Dienstleister, 4 Kinder, wohnt<br />

und arbeitet in Bürmoos, mehrere Literaturpreise und -förderpreise,<br />

zahlreiche Veröffent li chun gen von Texten und Fotografien<br />

in Anthologien und Literaturzeitschriften („<strong>etcetera</strong>“, „Salz“, „Die<br />

Rampe“, „Krautgarten“, „Sterz“, „Landstrich“, „Am Erker“, „silbende_kunst“,<br />

„Off-the-Coast“)<br />

Prosa


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VENEDIG|Dezember2016<br />

41


42 VENEDIG|Dezember2016<br />

Hermann F. Fischl<br />

hellovenezia<br />

Hello Venezia ist wohl gemeint / cool / zusammengeschrieben.<br />

alle drängen unterm schild,<br />

sich und die anderen, weiter,<br />

weiter, vorwärts<br />

schwitzend schwitzend angepresst, ja ins vaporetto rein.<br />

sardinen haben ja wenigstens noch speiseöl, meistens.<br />

schweiß und Sonnenöl<br />

also doch wohl<br />

hell of venezia<br />

lido leiberbratrost auf sandsandsand<br />

und wenden<br />

es zischt ein wenig<br />

sogar das meer zieht sich zurück<br />

ein wenig nur<br />

aber doch<br />

helles hautfell ins glühende gereckt<br />

geduldig gebraten<br />

„der sonn entgegen“<br />

- hat er wohl anders gemeint,der alte -<br />

aber auch hier<br />

gemeinsames<br />

denn wieder spechtelt einer<br />

rennt im hüfttiefen auf und ab<br />

immer wieder<br />

in die nähe des begiert-begehrten bratobjekts<br />

es hilft nix<br />

und so gibt er den onan<br />

mein blick starrt<br />

mir ist heiß<br />

hinter meiner spiegelbrille<br />

hell of venezia<br />

heisser sand und ein verlornes land..<br />

ein leben in gefahr?<br />

aber nur bei unerwünschter einmischung<br />

lolita - oder wer?<br />

mein hirn ist übertemperiert und (b)rät<br />

aber nicht allzu lang<br />

und still schieben sich weiß wabernde leiber<br />

in meinen sonnenbrillenausschnitt<br />

still?<br />

eher nicht.<br />

der worte gibt es viele<br />

und gedanken<br />

über sprachmelodie.<br />

fehlende.<br />

wenn man die augen schlösse<br />

würde der breit grinsende nabel wohl verschwinden


VENEDIG|Dezember2016<br />

43<br />

aber still<br />

wird‘s nicht so schnell.<br />

denn ewig rauscht das meer..<br />

seemann<br />

lass das träumen<br />

doch lolita.<br />

aus st.pölten bei spratzern<br />

auch freddy<br />

der quinn<br />

wär ein tip / typ sowieso.<br />

hell of venezia<br />

dependance lido di venezia<br />

wo der ruhige (deutsche?) familienvater<br />

seinen i pad kühn auf den sattel<br />

des leihrades legt<br />

um dem nachwuchs schnell geld fürs gelati zu reichen<br />

wo soignierte ält‘re damen ein abstellplatzerl fürs bicicletta<br />

suchen und<br />

keins finden<br />

weil der fahrradständer aber sowas von voll ist<br />

und sie rammt das rad<br />

brutal ins dichte<br />

das meer der abgestellten wankt<br />

und teilt sich<br />

gering<br />

aber tief geht der stoß<br />

und drin ruht das rad<br />

verkeilt-verfangen<br />

und ich glaub meinen augen kaum<br />

sie kriecht ins stahlgewühl<br />

und schlingt die absperrkette<br />

und schafft es<br />

kommt unversehrt wieder zum vorschein<br />

streift glatt das kleid<br />

und ab in den conad (vormals billa)<br />

fallhöhe: ca. 70cm<br />

aufprall: kante<br />

untergrund: leider kein sand<br />

hell of venezia<br />

auf der Stirne heiß<br />

vor allem hinter der spiegelbrille<br />

das verblüffende:<br />

er hat weder geschrien noch geweint<br />

auch Höllen können still sein.<br />

und du weisst<br />

um die unendliche länge des rückwegs<br />

hin zum tronchetto


44 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Andrea Zöhrer<br />

Die zeitlos Lächelnde<br />

Kein Photoshop, kein Filter. Gnadenlos zeigt das weiße Mittagslicht<br />

alle Falten und Risse, alles, was du hinter deiner<br />

Eitelkeit verbergen möchtest, wird bloßgestellt. Tausende<br />

und Abertausende betrachten, fotografieren und kommentieren<br />

deine Zahnlücken, deine zahllosen Augen, die halb<br />

geschlossen den Blick in dein Innerstes verwehren. Deine<br />

hängenden Augen, deine schiefen Münder sind es, die ein<br />

Schmunzeln hervorrufen und ein Feuerwerk an Träumen<br />

explodieren lassen, Gedankenblitze, Erinnerungen an eine<br />

Zeit, als alles frisch, strahlend und so gerade gewesen sein<br />

muss, wie geplant oder zumindest so senkrecht wie möglich.<br />

Dein vorsichtiges Lächeln, das dir an den schrillen Tagen<br />

von Mal zu Mal schwerer fällt und deinen ruinösen Zustand<br />

kaschieren soll, hat nichts von seinem verführerischen<br />

Charme verloren. Du flirtest, dennoch wirkt dein Strahlen<br />

angestrengt. Du bist müde geworden.<br />

Die einsame Träne, einst dekorativ kitschiges Detail deiner<br />

Maske, ist nun ein ständiger Begleiter deiner rückwärts gerichteten<br />

Zuversicht.<br />

Der nagende Zahn der Jahrhunderte attackiert zusehends<br />

aggressiver deine fauligen Holzbeine, deine Basis. Zuversichtliche<br />

Helfer tauschen sie unermüdlich gegen neue aus.<br />

Immer mehr und mehr Gaffer dringen in dich ein, quetschen<br />

sich durch deine Schläuche, über deine Brücken, drängeln,<br />

quengeln und porträtieren deinen Verfall. Sie zwängen sich<br />

in kitschige Fetzen, setzen sich Masken auf – made in Taiwan<br />

– und drehen sich affig imitierend grad so, als wären<br />

die Errichter deiner prachtvollen Vergangenheit Kreisel gewesen.<br />

Picture please? Five Euros...and keep smiling.<br />

Kraftlos und gelangweilt schließt du deine Augen komplett<br />

mit grünen, blauen oder braunen Klappen, unfähig und unwillig<br />

mit architektonischem Botox und hyperästhetischen<br />

Eingriffen der ewigen Jugend nachzujagen, chancenlos, sie<br />

vorzugaukeln, so zu tun, als ob.<br />

Werbewirksam behängen dich finanzkräftige Freunde, legen<br />

Schleier über dich, die deine zerstörte, hässliche Seite<br />

verbergen sollen. Darauf im Fotoprint ein Versprechen,<br />

dass du mit millionenschwerer Zauberei wieder wie neu erscheinen<br />

wirst, nur ein bisschen verändert, eine russische,<br />

amerikanische oder arabische Ergänzung. B2B. Business<br />

as usual.<br />

Das ist dir alles egal. Im grellen Licht lässt du alle zappeln<br />

und trappeln, du lässt an dir arbeiten, hämmern, gestalten,<br />

du lässt die Augen geschlossen, lächelst und wartest.<br />

Im orangeroten Abendschein beginnst du ein bisschen zu<br />

blinzeln, nimmst nach und nach die Klappen weg und gestattest<br />

einen Blick ins Innere. Vier Jahrhunderte haben<br />

sich in deinen Kanälen aufgelöst. Gold, Stuckmarmor, Fresken,<br />

Kristallluster, Gobelins, überschwänglicher Barock<br />

bringt die Massen zum Staunen, zu Fratzen erstarren. Picture<br />

please? You can take me now.<br />

In Booten dürfen sie glotzen, aus Booten dürfen sie dich<br />

anhimmeln, dir huldigen, dein Gepränge fotografieren und<br />

kommentieren - but please – don‘t touch. Nein, wirklich berühren<br />

darf man dich nicht.<br />

Nach und nach begreifen deine Bewunderer, dass du nichts<br />

von deiner jahrhundertealten Energie verloren hast, im Gegenteil,<br />

du speicherst und potenzierst sie in dir, tagsüber,<br />

hinter den undurchdringlichen Fassaden. Generationen<br />

über Generationen haben diese Kraft im Innersten bewahrt,<br />

kultiviert, akkumuliert, du lächelst und wartest.<br />

Abends spuckst du sie nach und nach aus, deine Bewahrer,<br />

deine Lebensgeister. Auf Plätzen oder in Palästen, je nach<br />

sozialer Größe, treffen sie sich, tauschen sich aus, loben,<br />

lieben, rügen dich. Ihr Leben ist dein Leben, ihr klammert<br />

euch aneinander und sinniert vom prachtvoll verglasten<br />

Früher, das auf jeden Fall besser war, als das verplastikte<br />

Heute, ganz gewiss, schließlich haben es die Alten erfolgreich<br />

hinter sich, ihr steckt noch mitten drin und müsst<br />

weitermachen. Mosé soll euch dabei helfen, für die Zukunft<br />

scheinst du gerüstet. Deine nächste Generation steht<br />

schon bereit diese heitere Aufmachung zu erhalten.<br />

Und die Gaffer? Sie besteigen von Vivaldi begleitet das<br />

Boot, das sie zum Bahnhof bringt, bewundern deine reife<br />

Schönheit neidisch, drücken noch einmal ab und planen,<br />

vom serenen Virus infiziert, ihre Rückkehr mit einem Lächeln<br />

auf den Lippen. A presto.


VENEDIG|Dezember2016<br />

45<br />

Andrea Zöhrer<br />

Ist eine Gern-, aber keine Vielschreiberin. Aufgewachsen und wohnhaft im Westen Österreichs kämpft sie im beruflichen Alltag mit den<br />

regionalen und nationalen sprachlichen Phänomenen. Wenn sie nicht arbeitet, klebt die passionierte Papierleserin ihre Nase zwischen<br />

zwei Buchseiten.<br />

Prosa


46 VENEDIG|Dezember2016<br />

Isabella Breier<br />

Punto in Aria<br />

oder: nach Schlingen- und Sonnenstichen in Burano bin<br />

ich im Vaporetto hinterm leicht versetzten Beat schwer<br />

getriggert zurückgeblieben<br />

allein<br />

die Ewigkeit<br />

immer noch<br />

zehr ich von pesce<br />

in Tüten vom November<br />

Kann ich in diesen Möwensound hineinrobben,<br />

als wär’s ein Ballon<br />

mit reliefierter Öffnung?<br />

Ist’s mir ein ornamentales Feld<br />

oder ein simpler Strom<br />

mit zwölftonwogenden Federwolken,<br />

vierviertlig drin, drauf, dran?<br />

Flieg oder fließ ich,<br />

fädelt wer was ein,<br />

schwebt‘ s, trennt man mich auf<br />

oder eh weder noch?<br />

immer noch<br />

liebkreischen Möwen vor Müllsäcken,<br />

locken Sirenen<br />

durch hohe Gemäuer<br />

in dritten Gummistiefeltag<br />

immer noch<br />

saus ich<br />

auf schwimmenden Stühlen<br />

durch Gässchen,<br />

via Brückchen<br />

den dauernd aufs Neue sich wandelnden Spiegelungsbildchen<br />

zu<br />

Lyrik<br />

Geben sich doppelgebrochene Delays<br />

nicht extra zu erkennen,<br />

gab ich sie im Füllmuster längst hin.<br />

Ich schwör,<br />

ich nahm uns beim Stakkato an den Spitzen,<br />

fasste übers Ziernetz nach Frequenz,<br />

die sich nicht fügte,<br />

in ihrem böigen Fluss blieb,<br />

erst Höhe Giardini<br />

übersetzen wollte<br />

ins windgeschützte Wort.<br />

Campiello del Sole, samstags,<br />

kurz nach sieben<br />

in jenem Moment<br />

in dem mein Fuß berührt<br />

das Fleckchen gesprenkelten Morgenlichts<br />

bauscht’s sich auf<br />

wird’s zum Bündel<br />

das platzt<br />

und raus springt<br />

für mich<br />

Nebel sei ein Zauberwort,<br />

in der Sonne schwinden eine Wendung,<br />

die in Regen- und Gedankenbögen<br />

bröckelnde Schatten werfe,<br />

dort übern Canale della Giudecca,<br />

da steckt viel spezielles Gelb, das wie aaa klingen kann, aber<br />

auch wie iii<br />

das Zwielicht beim Traghetto<br />

bleibe erinnert:<br />

die Stille, sag ich, gaaanz,<br />

der Lärm so plötzlich, denn<br />

hinterm arco del portone:<br />

der Fischmarkt und<br />

die Unterschriftenliste<br />

für die wirklichen Dinge<br />

vorm funkelflirrenden Diminutiv __<br />

Isabella Breier<br />

Geb. 1976; Studium Philosophie/Germanistik, Promotion in Phil.;<br />

Dozentin/Trainerin für DaF/DaZ; Lyrik- und Prosa in Anthologien<br />

u.Zeitschriften; Preise und Stipendien, zuletzt: *Prokne & Co.“ (Eine<br />

Groteske) Kitab 2013; „Allerseelenauftrieb“ (Ein Klartraumprotokoll)<br />

Mitter Verlag 2013; „Anfang von etwas“ (Reihe: Neue Lyrik aus Österreich,<br />

Band 8) Verlag Berger 2014. www.literaturport.de/Isabella.Breier/


VENEDIG|Dezember2016<br />

47<br />

Peter Paul Wiplinger<br />

Im Markusdom<br />

(in Venedig)<br />

dunkle goldmosaiken<br />

an wänden und kuppeln<br />

die gestalten von heiligen<br />

und von engeln rundum<br />

immer ist es die stille<br />

die mich hier aufnimmt<br />

ein altar ist beleuchtet<br />

davor das ewige licht<br />

Venedig<br />

brüchige fassaden<br />

unterhöhlter stein<br />

an uferpfählen<br />

schwarze muscheln<br />

aus den fugen<br />

violette blüten<br />

feine risse<br />

durch die bilder<br />

alter meister<br />

das bild des gekreuzigten<br />

in einem kostbaren schrein<br />

gold und silber<br />

in vitrinen<br />

der steinboden ist gewölbt<br />

als versinke mit ihm die zeit<br />

antike münzen<br />

hinter glas<br />

Biografie Seite 61<br />

Lyrik


48 VENEDIG|Dezember2016<br />

Norbert Blüm<br />

Der Hungernde ist zu allem bereit<br />

Lyrik<br />

Die stampfende<br />

Tätigkeit<br />

des Maschinendecks;<br />

das Schiff<br />

nahm<br />

seine so nah dem Ziel<br />

unterbrochene Fahrt<br />

durch den Kanal<br />

von San Marco<br />

wieder auf:<br />

ein triumphaler Einzug,<br />

von mediterraner<br />

Begeisterung<br />

und<br />

mit besten Absicht<br />

metamorphisch<br />

das Leben<br />

zu ehren.<br />

Eine gute Absicht,<br />

die Wirkung<br />

verheerend.<br />

Dann der Kniefall<br />

auf die Bretter:<br />

Die blendende<br />

Komposition<br />

phantastischen Bauwerks,<br />

gleichzeitig<br />

fiel der Blick<br />

auf eine vorbei gleitende<br />

Gondel;<br />

ein ungleiches Pärchen lag<br />

im Inneren,<br />

eng umschlungen,<br />

wie<br />

in einem offenen<br />

Sarg.<br />

Da!<br />

Der Gondoliere,<br />

er winkte.<br />

Was steckte alles<br />

hinter dieser<br />

Geste?<br />

Laut,<br />

rau,<br />

brutal,<br />

vulgär<br />

schien<br />

sie<br />

zu sein,<br />

ein stummer Territorialgesang.<br />

Diese Reise<br />

gab<br />

keine Antworten<br />

und Fragen waren<br />

egal.<br />

Genau!<br />

Und täglich<br />

plant<br />

die weiße Mittelschicht.<br />

Bald<br />

schleicht sich<br />

der Verdacht<br />

ein,<br />

es sind<br />

missionarische<br />

Züge<br />

in den Worten,<br />

dann heißt es<br />

unkontrolliert:<br />

Patrioten essen<br />

keinen Parmesan.<br />

Flucht:<br />

eine Groteske<br />

im Gepäck,<br />

des Maestro.<br />

Geflohen<br />

vor dem Gesetz<br />

der Begierde<br />

und<br />

der Sprache<br />

der Lust.<br />

Das englische Matrosenkostüm<br />

mit<br />

Schnüren,


VENEDIG|Dezember2016<br />

49<br />

Maschen,<br />

Stickereien<br />

und<br />

die goldig dunklen<br />

Locken,<br />

aber<br />

das war es<br />

noch<br />

nicht,<br />

erst<br />

die elfenbeinweiße Haut<br />

des Gesichtes<br />

ließ ihn<br />

sich<br />

fürchten;<br />

auf den Fersen<br />

im<br />

monströsen<br />

Garten –<br />

im Gehrock.<br />

Hysterie<br />

eines<br />

unbefriedigten,<br />

unnatürlichen<br />

Hungers.<br />

Vielleicht<br />

sind es gute Absichten,<br />

drang es erneut<br />

in den Kopf.<br />

Der Gedanke behagte.<br />

Die Sonne und die Seeluft<br />

verbrannten<br />

das Bekenntnis.<br />

Dieses Versprechen,<br />

es ist zu ahnen,<br />

war nicht<br />

einzulösen.<br />

Und die Blicke trafen<br />

sich,<br />

der Gegner,<br />

das Lächeln,<br />

mit Lippen,<br />

die sich<br />

im Lächeln<br />

erst langsam<br />

öffneten.<br />

Die Unbeholfenheit<br />

brach<br />

jeden Widerstand.<br />

Chaotisch<br />

die Neugierde<br />

um Sympathie.<br />

Ein verhängnisvolles Geschenk,<br />

das auf kleinem Feuer<br />

köchelte,<br />

bis es zähflüssig<br />

dahinfloss.<br />

Die Verhältnisse waren damit<br />

ausgerechnet:<br />

Was blieb,<br />

war<br />

ein englischer Matrosenanzug<br />

mit roter Schleife.<br />

Norbert Blüm<br />

Geb.1984 in Schwerin. Gemeinsam mit den Eltern und der älteren<br />

Schwester zog er im Alter von fünf Jahren nach der Wende nach<br />

Deutschland. Zunächst in das Auffanglager in Unna-Massen, dann<br />

weiter nach Düsseldorf. Irgendwann Abitur, Zivi, Studium der<br />

deutschen Sprache und Geschichte, nun freier Mitarbeiter bei der<br />

WAZ. Veröffentlichungen in der Nocthene, S/ash, LUKS-Magazin.<br />

Lyrik


50 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Sabine Dengscherz<br />

C‘era una volta nel mare<br />

Wasser. Überall Wasser. Es riecht modrig nach nassem<br />

Holz und Fisch. Und nach Nebel. Wenn du untertauchst,<br />

siehst du grüne Algen auf grauen Mauern und schwarzen<br />

Pfählen. Die Pflanzen schwingen hin und her, her und hin,<br />

gleichgültig sachte. Deine Haare schwingen wie die Algen,<br />

sind Teil des neuen Elements, schweben und schwimmen<br />

in fließenden Übergängen hin und her, her und hin wie in<br />

Zeitlupe. Der Widerstand des Wassers dämpft alles, die<br />

Geräusche, das Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit.<br />

Jede äußerliche Bewegung verlangsamt … schnell und laut<br />

klopft nur dein Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die<br />

dir die Luft abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du<br />

sie weniger. Unter Wasser ist alles Leben in algiges Grün<br />

getaucht, ein Aquarell aus kühlen Farben, verschwommen,<br />

zerflossen. Und darüber ein graues Aerosol, Meer<br />

als Schwebeteilchen, Nebeldunst. Unter Wasser ist es<br />

schöner. Unter Wasser ist Frieden. Lass dich fallen und die<br />

Stadt gehört dir. Lass einfach los und werde eins mit allen<br />

Elementen … lass dich sinken … … … und alles wird gut …<br />

… …<br />

Game over.<br />

Wieder ein Leben weniger.<br />

Das Spiel ist aus.<br />

Neustart.<br />

Die Katze schreitet über den Schreibtisch und schmiegt<br />

sich an den Bildschirm. Sie hält den Kopf schräg und<br />

schaut geradeaus. Dann hebt sie eine Tatze und berührt<br />

die Tasten. Zögerlich erst, dann bestimmter, schneller, verspielter.<br />

Sie geht auf der Tastatur auf und ab, ab und auf.<br />

Manchmal setzt sie sich auf die Hinterbeine und versucht<br />

die Zeichen zu fangen, die auf dem Bildschirm erscheinen.<br />

Dann versinkt sie wieder völlig in ihrem Schreibfluss. Sie<br />

ist eine Göttin.<br />

Die Schriftstellerin schlendert am Ufer entlang, den Blick<br />

auf ihren Kommissar geheftet, der sich über eine nasse<br />

junge Frau beugt. Ihre langen Haare klatschen auf das<br />

Pflaster. Noch haben sie keinen Raureif angesetzt, sie<br />

kann noch nicht lange hier liegen. Der Kommissar hebt<br />

den Kopf und sieht die Gerichtsmedizinerin an. Es ist ein<br />

fragender Blick. Die Ärztin beginnt zu sprechen.<br />

Wasser. Überall Wasser. Das Boot schwankt über die Wellen.<br />

Du hast keine genaue Vorstellung davon, wo ihr seid.<br />

Irgendwo zwischen zu Hause und Europa. Das Zuhause<br />

gibt es nicht mehr, und Europa ist weit weg, irgendwo jenseits<br />

des Nebels. Alles schwarz um euch. Woher wissen<br />

die, wo sie hinschippern? Wissen sie es überhaupt? Früher<br />

– das ist jetzt unvorstellbar weit weg – hast du geträumt<br />

vom Meer und von Booten. Es waren schöne Träume, voller<br />

Sehnsucht, durchzogen von Erinnerungen an glückliche<br />

Momente. Jetzt stellst du dir vor, wie es sich anfühlen<br />

würde, wenn das Boot untergeht. Schreie zuerst, Chaos,<br />

Durcheinander, dann wird es stiller und stiller. Du denkst<br />

in Filmszenen. Aber euer kleines Boot hätte nicht so einen<br />

Sog wie die Titanic. Es wäre einfach nur weg. Ihr würdet<br />

schwimmen, solange ihr könnt, einander zurufen, bis ihr<br />

keine Kraft mehr habt. Du würdest untergehen. Du spürst<br />

es schon kalt und nass an deinem Körper, strampelst, so<br />

fest du kannst, aber der Widerstand des Wassers dämpft<br />

alles, dein Gerangel mit dir selbst, die Geräusche, das<br />

Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit. Jede äußerliche<br />

Bewegung verlangsamt – schnell und laut klopft nur dein<br />

Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die dir die Luft<br />

abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du sie weniger.<br />

Unter Wasser ist alles … du ziehst deine Schwimmweste<br />

fester um dich und versuchst, die Bilder durch andere zu<br />

ersetzen: Schnitt ||| Ein Strand mit Palmen, es scheint<br />

die Sonne, ihr zieht das Boot ans Ufer. ||| Schnitt |||<br />

Der Strand und die Sonne versinken im Meer und es wird<br />

finster, nass und kalt. Wasser. Überall Wasser. ||| Schnitt<br />

||| … ||| Schnitt ||| … ||| Schniiiitttttt !!!! ||| Andere<br />

Bilder müssen her! … und sie müssen halten … Wie kriegst<br />

du die Bedrohung heraus aus der Konstellation von Wasser,<br />

Nacht und Boot? – – – Lachende Menschen in einem<br />

winzigen Kahn, alle glücklich und in Sicherheit, ganz ohne<br />

Schwimmwesten gleiten sie in einen städtischen Abend.<br />

Das ist aus einem Dokumentarfilm über eine Stadt am<br />

Wasser und im Wasser, sie nannten sie das Venedig des<br />

Nordens oder das Venedig des Ostens oder so ähnlich. Ja,<br />

Amsterdam, das wäre auch ein Ort auf deiner Liste. … Irgendwann<br />

wird alles gut. Irgendwann hast du die Dinge<br />

wieder im Griff. Und jetzt nimmst du wenigstens deine Gedanken<br />

wieder in die Hand, das ist schon mal was. Noch<br />

ein paar Filmbilder, und dann eine Erinnerung an selbst<br />

Erlebtes im „echten“ Venedig. Lang ist es her. Du bist noch<br />

ein Kind und hast dir die Gondelfahrt gewünscht. Deine<br />

Eltern sitzen dir gegenüber, hinter ihrem Rücken siehst du


VENEDIG|Dezember2016<br />

51<br />

den Gondoliere, der euch durch die Kanäle steuert. Zum<br />

Leben erwachter Kitsch. Es dämmert schon, der Himmel<br />

ist dunkelblau (nicht schwarz!) und die Lichter der Stadt<br />

spiegeln sich im Wasser (das ist allerdings schon schwarz).<br />

Ihr gleitet Richtung Canal Grande unter der Seufzerbrücke<br />

durch – – – ||| che sarà della mia vita? ||| – – – wieder<br />

Flimmern, wieder Störgeräusche –– jetzt gehst du selber<br />

über die Seufzerbrücke ––– und jetzt bist du Raif Badawi,<br />

der sich vorstellt, wie es sein wird, wenn er die nächsten<br />

Peitschenhiebe bekommt ||| – – ||| che sarà della mia<br />

vita? ||| – – Nein, es sitzen nicht alle im selben Boot. Eures<br />

schwankt recht einsam über die See. Das Mittelmeer<br />

ist ein Massengrab. Das ist bekannt. Aber non! Non, je ne<br />

regrette rien … es kann nur besser werden …<br />

Unter welchen Umständen hält sich ein Thema in der Öffentlichkeit?<br />

Unter welchen Bedingungen findet es die Kanäle<br />

ins Bewusstsein der Menschen? Und wann geht es<br />

wieder unter? Die Nachrichtenredakteurin nippt an ihrem<br />

Tee und tippt nachdenklich ein paar Zeilen in den Laptop.<br />

Eine Studie hat festgestellt, dass die 62 reichsten Menschen<br />

der Welt ebensoviel besitzen wie die ärmere Hälfte<br />

der Weltbevölkerung: 3,6 Milliarden Menschen. Dazu<br />

braucht es jetzt einen vernünftigen Hintergrundartikel.<br />

Und für den Artikel einen Aufhänger. Sie surft noch ein<br />

Prosa


52 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

wenig durchs APA-Archiv, scrollt über Bilder von Flüchtlingen,<br />

unter anderen über das Bild eines ertrunkenen<br />

Kindes am Strand, das traurige Berühmtheit erlangt hat.<br />

Manche Bilder werden zu Symbolen. Die Zahl der 62 wird<br />

wahrscheinlich auch so ein Symbol. Oder auch nicht, wer<br />

weiß das schon vorher. Kommt darauf an, was sonst noch<br />

alles passiert. Irgendwie hängt alles mit allem auf eine<br />

Weise zusammen, dass einem schwindlig werden könnte.<br />

Die Welt ist auf Sand gebaut und wartet wie Venedig auf<br />

den Untergang. Oder rutscht dir sonstwie unter den Füßen<br />

weg. Schneller als Venedig werden wohl ohnehin die Malediven<br />

untergehen. Die Regierung schmiedet bereits Pläne<br />

für die Evakuierung. Es braucht Land, Grundstücke, Verträge,<br />

verbrieftes Recht, damit nicht eine ganze Nation zum<br />

Almosenempfänger wird. ||| Grundregel des Kapitalismus:<br />

Rechtzeitig drauf schauen, dass mans hat, wenn mans<br />

braucht. ||| Die Katze streicht schon seit einer Weile um<br />

die Beine der Journalistin und bettelt nach Futter. Geschäftig<br />

und zufrieden gurrend läuft sie voraus, als ihr Frauchen<br />

sich auf den Weg in die Küche macht und sitzt schon majestätisch<br />

erwartungsvoll neben ihrem Schüsserl, bevor die<br />

Lade mit dem Trockenfutter aufgeht. Nur eine kleine Handvoll,<br />

nicht immer nur ans Fressen denken! Die Nachrichtenredakteurin<br />

holt ein Stück Tiramisu für sich selbst aus<br />

dem Kühlschrank (ein richtiges mit Mascarpone) und kehrt<br />

an den Schreibtisch zurück. Es fühlt sich fast wie Urlaub<br />

an, einmal einen Tag zu Hause zu arbeiten. Langsam lässt<br />

sie die Gabel in die weichen Schichten dringen. So soll<br />

auch der Artikel werden, so dass sich das Thema Schicht<br />

für Schicht von der Oberfläche in die Tiefe erschließt. Und<br />

auf der Zunge soll der Text zergehen, wie der Bissen, den<br />

sie nun genüsslich von der Gabel schleckt. ||| che sarà<br />

della mia vita? ||| Sie lehnt sich kurz zurück, zieht die<br />

Schulterblätter nach hinten, kippt dann ihren Oberkörper<br />

entschlossen nach vorne und beginnt zu tippen.<br />

Die Schriftstellerin beobachtet ihren Kommissar aus den<br />

Augenwinkeln. Er scheint angestrengt nachzudenken. Im<br />

Hintergrund ist eine perfekte Kulisse zu sehen: In der Ferne<br />

die Stadt, auch einzelne touristische Sehenswürdigkeiten<br />

(wie der Campanile) kommen ins Bild, im Vordergrund hingegen<br />

eine Location, die sich eher industrial ausnimmt und<br />

die Wasserleiche dementsprechend stimmungsvoll rahmt.<br />

Eine Ertrunkene in einem verlassenen Hafengelände fügt<br />

sich perfekt in die Landschaft. Auch alte Fabrikshallen<br />

sind immer gut für einen Mord und einen Leichenfund.<br />

Überhaupt Abbruchhäuser aller Art. Aber ist das nicht<br />

zu vorhersehbar? Wäre nicht genau deshalb ein belebter,<br />

schöner, touristischer Ort viel besser? Zusammen mit der<br />

Gewissheit, dass sich in aller Öffentlichkeit, mehr oder weniger<br />

vor aller Augen, etwas Tragisches abgespielt hat …<br />

und niemand hat es bemerkt, niemand ist eingeschritten,<br />

niemand hat geholfen. Game over, ein Leben ist zu Ende,<br />

aber es gibt keinen Neustart. Es gibt nur noch viele, viele<br />

andere Menschen auf der Welt, die alle ihre eigenen Sorgen<br />

haben.<br />

Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. (Das<br />

wusste schon Erich Kästner.)<br />

Man kann auch in einer Pfütze ertrinken.<br />

Aber im Meer ist es wahrscheinlicher.<br />

Die Statistik wiederum sagt bekanntlich nichts über den<br />

Einzelfall aus.<br />

Einzelfälle sind einzigartig, werden in ihrer Einzigartigkeit<br />

aber gerne zu Gruppen zusammengefasst, weil wir sonst<br />

vor lauter Einzigartigkeiten den Überblick verlieren. So beginnt<br />

der Kommissar den Fall seiner Wasserleiche, die man<br />

aus dem Rio de la Canonica (kurz vor der Mündung in den<br />

Canal Grande) herausgezogen hat, mit anderen Fällen von<br />

anderen Leichen aus anderen Gewässern zu vergleichen.<br />

Und er zieht Schlüsse aus den Vergleichen. Ob ihn diese<br />

Schlüsse zur Lösung des Falles führen, wird sich weisen.<br />

Manche davon werden wohl zunächst einmal auf Abwege<br />

und in Sackgassen führen. Er wird ein paar zu voreilige<br />

Schlüsse sicher revidieren müssen, mehr herausfinden,<br />

neue Schlüsse ziehen, damit das Bild differenzierter wird<br />

und der Wahrheit näher kommt. Er muss komplexer denken,<br />

mehr Faktoren einbeziehen, den Fall aus den Gruppen<br />

herauslösen und wieder einzigartig werden lassen. Nur so<br />

wird er ihn lösen können.<br />

Das Boot schwankt. Du frierst. Die anderen wohl auch,<br />

aber ihr redet schon seit einer Weile nicht mehr. Alle sind<br />

in der Hölle ihrer eigenen Gedanken gefangen. Du bist<br />

wieder einmal am Ertrinken. Allmählich hast du dich an<br />

die Vorstellung gewöhnt. Das Wasser kann nicht mehr viel<br />

kälter sein als der Wind und die kalte Luft, die euch umgibt.<br />

Wenn man erfriert, dann wird einem am Ende wieder<br />

warm, heißt es. Kurz bevor man stirbt, fühlt man sich<br />

wieder gut, heißt es … und dann will man gar nicht mehr<br />

zurück ins Leben. Das ist vielleicht so wie der Moment<br />

vor dem Einschlafen: Vielleicht ist noch ein bisschen Neu-


VENEDIG|Dezember2016<br />

53<br />

gier da, wie der Film weitergeht, aber keine Kraft mehr<br />

für das Schauen, die Augen fallen zu, es gibt nur noch<br />

Stimmen, aber auch die erscheinen immer weiter weg.<br />

Und dann lässt du dich fallen in deine eigene innere Welt.<br />

Ob dir der Moment bewusst werden wird, wenn diese innere<br />

Welt für immer versinkt, für immer verstummt? Fragen<br />

über Fragen, und die Antwort willst du eigentlich gar<br />

nicht wissen. Nicht jetzt. Das Boot schwankt, du frierst.<br />

Du stellst dir vor, dass du durch die Kanäle von Venedig<br />

treibst … du liegst am Rücken im Wasser und lässt dich<br />

unter der Seufzerbrücke durchgleiten, in Sicherheit (aber<br />

es ist trotzdem ein bisschen unheimlich). Es riecht modrig<br />

im falschen Song! – ¿kommt dir das nicht spanisch vor?<br />

– ¿na und? … Whatever will be, will be.<br />

Die Katze springt mit einem Satz auf den Tisch und bringt<br />

die Tasse ins Schwanken. Die Journalistin kann in letzter<br />

Sekunde einen Kaffee-Tsunami über ihren Laptop verhindern<br />

und hat kaum Zeit zu fauchen oder zu schimpfen, da<br />

wird ihr schon liebevoll um die Arme gestrichen, zwängt<br />

sich jemand zwischen Tischkante und Bauch, rollt sich<br />

ein auf ihrem Schoß. An Weiterschreiben ist jetzt nicht zu<br />

denken. Also Pause zum Nachrichten schauen … Frontex-<br />

Leute haben wieder einmal Leute aus dem Meer gefischt<br />

… und ein Grenzzaun versperrt den Landweg zwischen<br />

der Türkei und Griechenland mit NATO-Stacheldraht, ein<br />

Familienvater meint, dass man ihn und alle anderen auf<br />

diese Weise aufs Meer treibt, dass sie ihr Leben riskieren<br />

müssen um weiterzukommen. Wo ein Wille ist, ist auch<br />

ein Weg.<br />

Der Kommissar ist vorübergehend am Ende seiner – eben<br />

auch nicht unbegrenzten – Weisheit angelangt und macht<br />

Feierabend. Nun schlendert er über den Markusplatz,<br />

gleichgültig an der Schriftstellerin vorbei, die mit einem<br />

Buch im Schatten sitzt und ihn ebenfalls nicht beachtet.<br />

Wie es weitergeht? Das wird sich weisen. Che sarà – sarà.<br />

nach nassem Holz und Fisch. So riecht Land. Du hast es<br />

geschafft. Wenn du wieder untertauchst, siehst du grüne<br />

Algen schwingen, hin und her, hin und her, ganz sachte,<br />

uninteressiert an dir und potentiellen anderen. Deine<br />

Haare sind auch wie Algen, sie haben sich angepasst an<br />

das neue Element, schweben und schwimmen, wechseln<br />

die Richtung in fließendem Übergang und wie in Zeitlupe.<br />

Du lässt dich an die Mauer gleiten, befühlst die grünen Algen<br />

auf dem grauen Stein. Je länger du darüberstreichst,<br />

desto kälter und glatter wird das Grau, es sind gar keine<br />

Algen dran, es ist ein Schiff … ||| ein militärgraues Schiff<br />

||| … lass dich fallen … ||| che sarà? ||| es hat keinen<br />

Namen, nur eine Nummer … ||| della mia vita? ||| …<br />

bald bist du auch eine Nummer … auf einem Formular mit<br />

Fingerabdrücken … ||| che sarà della mia vita? ||| lass<br />

dich fallen … Das kann ein Ende sein oder ein Anfang.<br />

Qué será, será. – – – – – ¡hola! verschwinde! – – ¡du bist<br />

Però … che sarà questa sera? Die Welt schwankt. ||| che<br />

sarà della mia vita? ||| Deine Zukunft versinkt in dichtem<br />

Nebel. Alles verschwommen, wie durch Glas oder Wasser.<br />

Alles ist gedämpft, die Geräusche, das Licht, die Gedanken.<br />

Stimmen, viele Stimmen, weit weg. Es ist nass und<br />

kalt. Jede äußere Bewegung dehnt sich wie in Zeitlupe –<br />

rasend schnell und laut klopft nur dein Herz, eine Antwort<br />

auf die Angst, die dir die Luft abschnürt. Aber wenn du<br />

untertauchst, spürst du sie weniger. Du wirst unsichtbar,<br />

eins mit der Welt, die dich umgibt. Und du lässt dich fallen<br />

… … … einfach fallen … … … in alles, was da kommen mag.<br />

Sabine Dengscherz<br />

Geb.1973 in Grieskirchen, OÖ. Studium der Germanistik, Publizistik<br />

und Hungarologie in Wien. Promotion 2005. Universitätslektorin,<br />

Schreib- und Mehrsprachigkeitsforscherin, Präsidentin<br />

des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremdsprache/<br />

Deutsch als Zweitsprache (ÖDaF). Literarische Publikationen seit<br />

2003. Lebt in Wien und Dénesfa (Ungarn). www.dengscherz.at<br />

Prosa


54 VENEDIG|Dezember2016<br />

Renate Katzer<br />

Venedig überbrückt<br />

Venezia<br />

Venezia<br />

Geliebte<br />

nie<br />

sind wir allein<br />

bei Tag nicht<br />

und in der Nacht<br />

nimm<br />

deine pompösen schuhe<br />

in die hand<br />

du sinkst<br />

nie<br />

selbst im sanften<br />

Nebel reißen sie dir<br />

die Kleider vom<br />

Leib<br />

unter gebauschten röcken<br />

moder<br />

schminke und puder<br />

halten<br />

die fassade nicht<br />

ratten nagen<br />

an den knospen<br />

deiner brüste<br />

Lyrik<br />

Venezia<br />

auf dem Gesims<br />

spiegelt alter Glanz im<br />

Facettenschliff<br />

die Signora tafelt<br />

silbern<br />

von der Decke fällt<br />

lüstern<br />

das Licht<br />

sie hebt den Kopf<br />

lächelt<br />

aus barockem Rahmen<br />

streift Ringe und<br />

Ketten ab<br />

verwahrt<br />

unsinkbar<br />

gleitet einer Gondel gleich<br />

ins Wasserbett und<br />

bricht<br />

die Ehe<br />

reiß<br />

die maske vom gesicht<br />

du bist<br />

durchschaut<br />

schwankende<br />

Venezia<br />

Schiffe<br />

fallen dir<br />

in den Rücken<br />

sehen dir über<br />

die Schulter werfen<br />

ihr Leben aus<br />

hunderten Fenstern<br />

Bräute seufzen<br />

nach<br />

versunkenem Zauber und<br />

ihre Füße schmerzen<br />

erst zur Stunde


VENEDIG|Dezember2016<br />

55<br />

der Nacht in der<br />

Schemen schwinden<br />

ohne Ruderschlag<br />

Friedhöfe schlafen<br />

fällt<br />

etwas Milde<br />

auf die Spiegel deiner Seele<br />

Renate Katzer<br />

Geb. 1945 in Vorarlberg, lebt in Salzburg. Lyrik, Kurzprosa.<br />

Ihre Werke erscheinen in diversen Anthologien. Zahlreiche<br />

Lesungen, u.a. beim Tegebuchtag der LitGes 2015.<br />

Lyrikband: „Ins Wort fallen“(2011, Edition Weinviertel)<br />

Lyrik


56 VENEDIG|Dezember2016<br />

Thomas Ballhausen<br />

Hic sunt dracones.<br />

Prosa<br />

This is the room, the start of it all<br />

No portrait so fine, only sheets on the wall<br />

Joy Divison: Days of the Lords<br />

Habe ich Dir geschrieben, habe ich dazu angesetzt, innegehalten.<br />

Habe ich Dir also geschrieben, die Seite umgeblättert,<br />

geschrieben und weitergeschrieben.<br />

Durstig auf neue Räume zuhaltend, auf Schwellen, dabei die<br />

Zeit für eine kurze Spanne unterbrechend. Das ist der umfehdete<br />

Augenblick, jetzt.<br />

Hier sollten nun also Hinweise der Warnung und des Verständnisses<br />

kommen, vermessene Überlegungen über Absichten<br />

und alles, was sich als unvermeidlich herausgestellt<br />

hat. Aber stattdessen trete ich entwaffnet hinzu wie ein Dritter,<br />

ringend um den Ausdruck einer bis zuletzt gemachten Erfahrung.<br />

Ich tue das Offensichtliche, was immer Du darunter<br />

verstehen kannst.<br />

Das ist das Kommende, der Auftakt zum Ungeschriebenen.<br />

Ein Aufblitzen, strahlend wie Papier. Wenn ich loslasse, entfaltet<br />

es sich im Dunkel, abseits aller Geometrie, als neuer<br />

Zugang.<br />

Habe ich Dir also geschrieben, in den Seiten geblättert, habe<br />

ich ausgesetzt.<br />

Diese Zeilen sind nicht mehr als bloß mein Einsatz, gerichtet<br />

auf den Raum hin, sind, was vor dem eigentlichen Text<br />

kommt. Sind, wie könnte es auch anders sein, immer schon<br />

Deine gewesen.<br />

Ich bin nur das Vorwort, durch das Du, willst Du Dich an die<br />

Regeln und Konventionen halten, hindurchmusst. Du musst<br />

mich überwinden. Aber wann haben Dich Vorschriften nicht<br />

gelangweilt.<br />

Habe ich Dir also geschrieben, die Seiten umgeblättert, weitergeschrieben<br />

und so getan, als hätten wir das nicht schon<br />

gehabt.<br />

Habe ich Dir also geschrieben, als hätte ich nicht immer<br />

schon für Dich geschrieben. Das ist nur die halbe Wahrheit.<br />

Als hätten wir auch das nicht schon gehabt. Aber wer nicht<br />

vermisst wird, kann überall sein. Ein Unbehauster, gehetzt<br />

und unstet.<br />

Was also die Gerade verwehrt, bevor Du beginnst. Bevor meine<br />

Zeilen zu einer Gabe, einer Zugabe geworden sind.<br />

Diese Seiten sind ein umkämpfter Vorort, hier wird geräumt<br />

und so getan, als wären sie tatsächlich unbeschriftet. Das<br />

Weiß gibt die Körper frei, nach und nach. Wege tun sich auf,<br />

Möglichkeiten.<br />

Orientieren wir uns im Feld, am Verlauf der Linien und Brüche.<br />

Satzzeichen bieten mir Deckung und Richtung zugleich.<br />

Ja, ich kann mich auch noch kleiner machen.<br />

Springen wir weiter, heften wir Aufzeichnungen auf hervortretende<br />

Wände, Markierungen einer Bewegung und der<br />

Ort verwandelt sich tatsächlich. Warum die Mauern nicht<br />

beschriften, sich verlagern und das Ungeschützte lesbar machen,<br />

vorlesen.<br />

Worte passieren vermeintlich wie von selbst, aber unter jedem<br />

Schritt gestaltet sich der Raum, immer schon ein Neuland.<br />

Die sich ausbreitende Leere verlangt nach Aufzeichnungen,<br />

nach dem Anlegen von Skizzen, dem Verschwimmen zwischen<br />

Schrift und Zeichnung. Wir bündeln uns im Kommenden,<br />

vernähen uns Lage für Lage.<br />

Die Boten der Geschichte, erlegt und ausgestopft wie Trophäen,<br />

füllen die neu angelegten Regale. Hier stapelt sich<br />

Sinn, bietet vernünftige Maßstäbe für eine Ära des Verrats<br />

und des Gerümpels.<br />

Stellen werden abgeklebt. Das Reisen folgt diktierten Bewegungen,<br />

verfestigt sich. Fiktionen bleiben zuletzt doch gerne<br />

unter sich.<br />

Wer achtet noch auf die Laufrichtung der lahmgelegten Zeit.<br />

Im Raum siedelt das Ungeschriebene. Was sich erneut vor<br />

mir entblättert, ist eine unversperrte Leere, letztlich, Aussicht<br />

auf unsichere Heimat. Ein endendes Privileg, gewiss, doch diese<br />

Maschine läuft aus Wut und Enttäuschung einfach weiter.<br />

Wie dieses Vorwort nicht davon handelt, wovon ich dachte,<br />

dass es handeln wird.<br />

Zirkeln wir uns ab, streuen wir Salz. Glauben wir für einen verzweifelten<br />

Moment, dass all das keine Lüge ist. Eine Phrase<br />

füllt die Leere, noch ein Zauber der Abwehr.<br />

Wie sich erfundene Körper dazwischenschieben, die Wirklichkeit<br />

scheint überschätzt, bis sie uns trifft, unvermittelt und<br />

ungeschönt. Karten und Platzhalter verweisen, was bislang<br />

unsichtbar geblieben ist.<br />

Eine gewonnene Bewegung, nicht direkt, diagonal zwischen<br />

Punkten ziehend, die mir nichts bedeuten. Die Verbindungen


VENEDIG|Dezember2016<br />

57<br />

wiegen schwerer, solange sie dauern. Es ist ein Spiel der Entsprechungen,<br />

verheißungsvoll.<br />

In Halbsätzen agiert sich Versuchung und Schönheit aus,<br />

ganz verwöhnter Schrecken. Unmögliche Tage folgen auf<br />

fragwürdige Nächte. Erwarten wir besser keine Ritterlichkeit,<br />

das hat sich noch nie bewährt.<br />

Vertraue vielmehr auf den perfekten Muskel, auf den Ansatz<br />

zum Gleichklang, zu einem bebenden Gegenüber. Aber es<br />

schlägt zu schnell, diesen Hasenherz. Heutzutage haben ja<br />

selbst die Tiere neue Sorgen.<br />

In meinen Bewegungen treten die Hilfslinien der Wirklichkeit<br />

hervor, Deine bieten Orientierung auf der unvermeidlichen<br />

Fläche.<br />

Habe ich Dir also geschrieben, habe ich Dir vorgeschrieben,<br />

bin ich Dir voraus. Schlage ich mich auf, lesend, den<br />

Text bevorzugend.<br />

Habe ich Dir also vorgelesen, wieder und immer wieder.<br />

Niederschrift und Lektüre fallen in sich zusammen, fließen<br />

wie Körper zeitweise ineinander, bis die Berührung einfach<br />

aufhört. Geborgene Teile, das ist keine Übung mehr. Es<br />

ist bloß eine Wahl. Ich verhalte mich, ohne so zu tun, als<br />

könnte ich umfassend darüber Auskunft geben, was nun<br />

folgt.<br />

Die Zeit ist eine kantige Grenze. Das ist, soweit ich gekommen<br />

bin, bis jetzt und hierher.<br />

Mit diesen Zonen ist mir meine Vorstellung voraus, das war<br />

so nicht zu erhoffen, nicht zu erwarten. Setze ich aus, halte<br />

ich inne. Es geht mit mir durch, dieses Buch.<br />

Das also ist die Zukunft. Hier gibt es Drachen.<br />

Thomas Ballhausen<br />

Geb. 1975 in Wien. Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler.<br />

Lehrbeauftragter der Universität Wien und der Universität Mozarteum<br />

Salzburg. Internationale Tätigkeit als Herausgeber, Vortragender<br />

und Kurator. Hg. der Buchreihe „Bibliothek der Nacht“<br />

(Edition Atelier, Wien). Mehrere literarische und wissenschaftliche<br />

Veröffentlichungen, u.a. „Lob der Brandstifterin“ (Wien, 2013), „In<br />

dunklen Gegenden“ (Wien, 2014), „Signaturen der Erinnerung“<br />

(Wien, 2015) und „Gespenstersprache“ (Wien, 2016).<br />

Prosa


58 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

Peter Paul Wiplinger<br />

Venezianische Notizen<br />

der himmel die mauer das fenster die blumen der stein<br />

das wasser die boote das ufer die brücke die türme die<br />

kuppeln das bild der madonna das ewige licht überall<br />

stimmen ein stimmengewirr dazwischen ein wort laut<br />

oder leise hörbar verstehbar oder auch nicht dein gesicht<br />

in der menge der menschen die füße vor mir auf dem<br />

boden ein lächeln als antwort wer könnte das sein einmal<br />

im leben gesehen für einen augenblick für kurze zeit für<br />

den bruchteil einer sekunde fotoapparat in der hand in<br />

die höhe gehalten auf das display geschaut ein knopfdruck<br />

gespeichert das bild eines von vielen bildern von<br />

hunderten bildern von tausenden bildern unverwechselbar<br />

oder austauschbar einmal und nie wieder so ist das<br />

leben eine abfolge von bildern das denkst du während du<br />

fotografierst alles ist einmalig aber doch flüchtig plötzlich<br />

bist du mitten im nachdenken über das leben über dein<br />

leben gehst weiter fährst weiter weißt nicht wohin<br />

kommst nirgendwo an am morgen der schrei einer möwe<br />

dann uhrenschlagen und glockengeläute jemand ruft einen<br />

namen abgedunkelt das zimmer die fensterläden geschlossen<br />

der weiße bestickte vorhang davor das geräusch<br />

deiner schritte eine tür fällt ins schloß dann<br />

fließendes wasser der duft von kaffee die fensterläden<br />

geöffnet die frische luft einen guten morgen gewünscht<br />

der erste schluck tee dann noch kaffee marmelade aufs<br />

brot was wollen wir heute zu mittag denn essen fisch<br />

oder fleisch die tasche genommen das licht abgedreht<br />

die tür fällt ins schloß der helle lichtstrahl durch den<br />

spalt der geschlossenen grünen fensterläden die beiden<br />

feinen schmalen langen lichtlinien von oben nach unten<br />

an den kanten herab der bunt gesprenkelte terrazzoboden<br />

angenehm das gefühl meiner füße darauf die beiden<br />

eisernen betten im raum das doppelbett das einzelbett<br />

der schöne alte braune kasten die braune kommode das<br />

eiserne nachtkästchen mit häkeldeckchen und mit einer<br />

lampe darauf der schein des lichtes am abend vor dem<br />

schlafengehen oder mitten in der nacht wenn man aufwacht<br />

diese friedliche stille drinnen die kühle die stille<br />

draußen der helle strahlende tag drinnen die bücher die<br />

bibliothek aufgezeichnetes dargestelltes gedachtes erfundenes<br />

eigenes sowie fremdes leben draußen die menschen<br />

das lebendige leben gelebtes vergangenes vergessenes<br />

leben erwachsenenleben und kinderleben leben<br />

von männern frauen burschen buben mädchen gesunden<br />

kranken verzweifelten hoffnungslosen verängstigten sich<br />

am leben aber auch erfreuenden menschen lebensgeschichten<br />

lebensgefahren lebensenttäuschungen bekanntes<br />

und unbekanntes begreifbares und unbegreifbares<br />

leben von bekannten und unbekannten von<br />

fremden hier aber in diesen räumen sind wir sind nur wir<br />

beide mit unseren lebensgeschichten mit der lebensgeschichte<br />

von uns beiden hier in dieser kühle und stille in<br />

einer uns eigentlich fremden stadt mit einer uns bekannten<br />

mit millionen von menschen bekannten kulisse<br />

mit markanten manchmal schon vertrauten sehorten hier<br />

wo wir sind da sind nur wir beide mit unserer vertrautheit<br />

in unserer vertrautheit aber doch immer wieder auch mit<br />

und in unserem fremdsein hier in dieser stille die jedes<br />

gesprochene wort bricht hier umgeben von uns schon<br />

vertrauten gegenständen wie betten und büchern hier<br />

sind wir hier bist du hier bin ich das gelb der zitrone die<br />

rote birne der grüne salat die schwarze lampe der braune<br />

schreibtisch die bücherregale die verschiedenfarbigen<br />

bücherrücken das grau des gezeichneten bildes das<br />

eines uralten knorrigen apfelbaumes im herbst und in<br />

einem rahmen die fotografie einer schönen attraktiven<br />

jungen frau die schon längst verstorben die lange schon<br />

tot ist es wird ein heißer sommertag werden heute hier in<br />

venedig wir werden mit schiffen die wasserstraßen<br />

durchfahren wir werden kirchen und paläste deren fassaden<br />

erblicken erstaunend bewundern wir werden eingekeilt<br />

zwischen den menschen stehen alle wollen irgendwohin<br />

haben ein ziel oder auch nicht alle kommen von<br />

irgendwo her nur wenige menschen leben für immer noch<br />

hier die einen kommen hierher die anderen gehen jedoch<br />

von hier weg wunderschön ist diese stadt sagen die einen<br />

nicht mehr zum leben hier sagen empfinden die andern<br />

und sie werden vertrieben aus der eigenen stadt<br />

von den fremden von den touristen von den besuchern<br />

die sich aufführen als gehörte diese stadt ihnen diese<br />

märchenstadt diese traumstadt diese jahrhundertealte<br />

schönheit diese vergangenheit die geschichte dieser<br />

stadt die relikte aus der vergangenheit aus einem längst<br />

verschwundenen leben spuren suchen spuren hinterlassen<br />

in bildern in der musik buchstaben noten farben architektur<br />

malerei das lächeln einer madonna der gekreuzigte<br />

jesus der mißachtete erniedrigte gesteinigte<br />

mensch in der stille der kirche sitzen wir im dämmrigen


VENEDIG|Dezember2016<br />

59<br />

dunkel leise schöne musik vivaldi albinoni musik von<br />

einem venezianischen meister musik erfüllt den raum vor<br />

dem altar brennt das rote ewige licht ich bin dort gewesen<br />

könnte ich sagen ich bin des öfteren dort gewesen<br />

ich bin einige male dort gewesen in meinem bisherigen<br />

leben in dieser wunderbaren eigenartigen untergehenden<br />

stadt immer wieder bin ich dorthin gekommen habe dort<br />

die mir schon bekannten plätze und sehenswürdigkeiten<br />

aufgesucht habe mich diesen erlebnissen und meinen gefühlen<br />

dabei hingegeben so wie ich dies auch bei begegnungen<br />

mit menschen getan habe etwas auf sich einwirken<br />

lassen und sich dem hingeben mit seinem ganzen ich<br />

das ist es was ich stets gesucht und getan habe damals<br />

als ich geboren wurde damals als du mich geboren hast<br />

damals als ich als zehntes kind als euer zehntes kind hinein<br />

geboren wurde in diese große familie damals als ihr<br />

mich in eure obhut aufgenommen habt damals als der<br />

krieg war damals als eure beiden ältesten söhne im krieg<br />

und dann in gefangenschaft waren damals als die russen<br />

da waren in unserem haus in unserem ort in unserem<br />

land damals als man den einen sohn meinen bruder<br />

heimbrachte in einem schwarzen sarg sein kopf auf<br />

frisches reisig und almrausch gebettet mit edelweißblüten<br />

rundherum damals als der vater aufschrie bei der<br />

nachricht vom tod des zweiten sohnes damals als er völlig<br />

verwirrt und wie geistig zerrüttet war als man den dritten<br />

sohn begrub damals als du in der nacht und stundenlang<br />

am tag immer wieder vor vaters sarg knietest in<br />

unserem haus weinend im gebet verzweifelt und doch<br />

gottergeben damals als du dann selber in deinem sterbebett<br />

lagst mit wächsernem weißen gesicht und bitterem<br />

todesschweiß damals als ich dir das totenkleid anzog damals<br />

als du dann vor mir lagst im sarg wie etwas fremdes<br />

und rundum die blumen der kränze ihren duft zu einem<br />

unbeschreiblichen todesblumenduft mischten damals als<br />

ich dann mitten in der nacht aus der totenkammer auf<br />

unserem friedhof hinaustrat und zu dem für dich vorbereiteten<br />

offenen grab ging damals als die kälte der nacht<br />

und die kälte des todes mir ans herz griffen und es zusammendrückten<br />

in trauer und schmerz da warst du<br />

schon vorher in dieser stadt gewesen in der ich jetzt bin<br />

mit meinen 72 jahren da ich im letzten lebensjahrzehnt<br />

mich befinde da warst du schon hier gewesen wo ich<br />

jetzt bin „wenn die gondeln trauer tragen“ so der titel<br />

eines filmes den ich einmal gesehen aber nicht verstanden<br />

habe der mich aber sehr beeindruckt hat noch immer<br />

sind bilder und bildsequenzen aus meinem gedächtnis<br />

abrufbar kann ich sie in mein mich-erinnern<br />

hereinholen ebenso wie jene aus dem wunderbaren film<br />

„tod in venedig“ ich sehe den herrn aschenbach vor mir<br />

wie er am lido draußen zusammenbricht währenddessen<br />

im film das traumhaft schöne adagietto aus gustav mahlers<br />

5. symphonie erklingt bilder wie in träumen sind diese<br />

bilder aus filmen diese bilder in meiner erinnerung<br />

bilder die so intensiv sind daß sie einem fast wehtun bilder<br />

die mich völlig gefangengenommen in sich aufsaugen<br />

bis ich mich selbst vergessend im erleben dieser bilder<br />

aufgehe so als wäre ich nicht mehr da in wirklichkeit<br />

nicht mehr lebendig so als wäre ich zu einem teil dieser<br />

bilderwelt geworden so denke ich so kommt es mir vor<br />

während ich vorne am bug des vaporettos sitze und die<br />

gleißenden strahlen der späten abendsonne mich blenden<br />

wie bis zum erblinden wir fahren mit dem schiff auf<br />

dem dunklen wasser mitten hinein in die untergehende<br />

sonne jetzt am tagesende ich schließe die augen und<br />

höre gustav mahlers musik die schwarz-weiß-fotos die<br />

ich damals bei meinem ersten besuch in venedig mit meiner<br />

kamera einem mir von meinen eltern zu weihnachten<br />

geschenkten fotoapparat gemacht habe so viele ja die<br />

meisten bilder sind verwackelt unscharf und doch habe<br />

ich schon damals alles fotografiert was mir auch später<br />

etwas bedeutete freilich nur jene objekte und szenerien<br />

im tageslicht aber doch schon den campanile den markusdom<br />

den dogenpalast die rialtobrücke einige palazzi<br />

an den ufern des canal grande die mächtige kirche santa<br />

maria della salute die uferwege die ich jetzt gehe in meiner<br />

erinnerung an damals und hier in der ärgsten mittagshitze<br />

die fondamenta zattere entlang den canale della<br />

giudecca entlang gehen niemand geht um diese zeit<br />

diesen weg außer mir in dieser hitze den langen weg zur<br />

eigenen grenze gehen in diesem alter und nicht mehr<br />

ganz gesund immer diese verrücktheiten die du machst<br />

würde mein vater jetzt sagen immer diese verrücktheiten<br />

sage ich jetzt selber zu mir bei dir ist nichts normal füge<br />

ich als ausdruck meiner selbsterkenntnis hinzu aber so<br />

war es immer von anfang an schon als ich noch ein kind<br />

war die eigenen grenzen erreichen und darüber hinaus<br />

vorstoßen auf ein unbekanntes terrain in ein dir selber<br />

noch unbekanntes ich als er so dalag in seinen letzten<br />

tagen und nächten mit seinem magenkrebs als er so dalag<br />

so armselig und bemitleidenswert als er so dalag hilflos<br />

und arm als er so dalag so gottergeben und sich sei-<br />

Prosa


60 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

nes bevorstehenden todes bewußt als die mutter selbst<br />

schon sehr alt so dasaß neben seinem bett und sich beide<br />

an den händen hielten so wie sie sich beide ein langes<br />

leben aneinander gehalten und jeder dem anderen halt<br />

gegeben und jeder am anderen halt gefunden hatte als<br />

die mutter so dasaß neben dem so daliegenden vater und<br />

weinte und er sie zu trösten versuchte und als er dann zu<br />

mir sagte schau auf die mutter sei ihr dann hilfe und halt<br />

manchmal das leben spüren wie einen festen griff auf<br />

dem arm dann wiederum sanft wie einen windhauch<br />

wenn du zwischen offenen türen stehst du kannst dir<br />

nicht vorstellen daß das leben daß dein leben oder das<br />

leben eines von dir geliebten menschen jemals endet obwohl<br />

du weißt daß es nichts gibt daß es überhaupt nichts<br />

gibt auf der welt und in deinem leben dein leben und das<br />

leben anderer betreffend das von einer solchen gewißheit<br />

ja man könnte da sogar sagen das von einer solch<br />

unerbittlichen gewißheit ist wie jene unumstößliche tatsache<br />

wie jene existentielle wahrheit daß dein und jedes<br />

leben endet daß jedes leben endet im tod eine sprache<br />

nicht sprechen können eine sprache nicht verstehen<br />

können überhaupt nicht sprechen können überhaupt<br />

nichts verstehen können sprachlos sein gehörlos sein<br />

verständnislos sein sich anderen nicht mitteilen können<br />

mit anderen nichts teilen können einmal gesprochen haben<br />

einmal gehört haben dann die sprache das sprechenkönnen<br />

verloren haben oder sich der sprache dem sprechen<br />

entzogen verweigert haben sich ganz in sich<br />

zurückgezogen haben teilnahmslos geworden sein übrig<br />

geblieben sein als ein nicht mehr sprechendes nicht<br />

mehr verstehendes etwas aber doch noch mensch sein<br />

sich auch dem entziehen sprachlos sein verstummen aufwachen<br />

mitten in der nacht oder schon im frühen morgengrauen<br />

aufwachen aus dem leichten schlaf und aus<br />

dem gewirr von schweren vergangenheitsbelasteten<br />

angstvollen träumen aufwachen dann einfach nur daliegen<br />

mit seinen gedanken ohne irgendwelche bestimmte<br />

gedanken sich forttreiben lassen in einem strom von bildern<br />

irgendwohin die strömung die dich mitnimmt spüren<br />

ebenso wie die ungewißheit die ziellosigkeit aufwachen<br />

und dann einfach nur daliegen zum lichtspalt hinsehen<br />

zum licht von einer lampe die noch brennt und licht gibt<br />

in einem gegenüber liegenden haus in einem raum in<br />

dem vielleicht auch soeben jemand aufgewacht ist eine<br />

zufällige gemeinsamkeit ja fast eine gemeinschaft in der<br />

schlaflosigkeit zweier einander unbekannter menschen<br />

die sich fremd und doch zugleich nahe sind eine schicksalsgemeinschaft<br />

in und durch schlaflosigkeit aufgewacht<br />

sein und einfach nur daliegen in die dunkelheit des<br />

raumes hineinsehen dabei auch in die dunkelheit des eigenen<br />

lebens nichts wahrnehmen nur daliegen und wach<br />

sein ohne schlaf dein gesicht in der menge der menschen<br />

deine mir bekannte gestalt du winkst mir zu und lächelst<br />

du winkst und winkst und bedeutest mir ich soll hinüberkommen<br />

zu dir ans andere ufer wo du schon bist ich steige<br />

ein ins traghetto fahre stehend im schaukelnden boot<br />

in der schwarzen gondel hinüber zu dir ans andere ufer<br />

wo du schon wartest auf mich dieses winken bei begegnungen<br />

dieses winken bei abschieden dieses winken<br />

über entfernungen und grenzen hinweg bei einem der<br />

vielen abschiede im leben bei einem abschied für immer<br />

dieses winken zum letzten mal ohne dabei zu wissen daß<br />

dieses winken ein winken zum letzten mal ist lachend<br />

winkst du draußen am bahnsteig vor oder schon bei abfahrt<br />

des zuges schlägst von außen die autotür zu und<br />

winkst noch einmal du winkst aus dem fenster bevor du<br />

es schließt du winkst zurück bevor du in den bus steigst<br />

der dich über das rollfeld zum wartenden flugzeug bringt<br />

du winkst bei ankunft und abschied du winkst nachdem<br />

wir uns voneinander verabschiedet haben du winkst noch<br />

einmal nach der umarmung dann verschwindest du vielleicht<br />

auch für immer ankunft und abschied liegen so nah<br />

beieinander jedenfalls manchmal so ist es im leben im<br />

tod du bist angekommen oft von weither um einander<br />

wiederzusehen um ein wiedersehen zu feiern bist gekommen<br />

um frau oder mann und die kinder zu sehen vielleicht<br />

ein gerade geborenes ein neugeborenes kind bist<br />

angekommen bist noch einmal zurückgekommen bist<br />

hierhergekommen um ihn oder sie noch einmal zu sehen<br />

noch einmal bevor sie oder er oder das kind stirbt bist<br />

noch einmal gekommen um dich zu verabschieden alles<br />

so vieles liegt oft so nah beieinander im leben wie im tod<br />

die häuser die kirchen die paläste die mauern die balkone<br />

die gesimse die dächer die fenster die gärten das<br />

grün der himmel heute bewölkt das wasser hellgrau die<br />

gondeln wie immer in schwarz am abend die lichter aus<br />

palästen und häusern im wasser sich spiegeln menschen<br />

auf den balkonen an fenstern an ufern beim dinner in<br />

teuren restaurants oder mit broten und einem getränk in<br />

den händen menschen mit taschen und koffern mit fotoapparaten<br />

neuen kameras die millionen von bildern von<br />

augenblicken speichern gespeicherte blicke gespeicher-


VENEDIG|Dezember2016<br />

61<br />

tes leben doch auslöschbar und oft ausgelöscht mit<br />

einem einzigen klick als sei nie etwas gewesen in der<br />

nacht das gewitter das zucken der blitze für einen kurzen<br />

augenblick wie gespenstisch erleuchtet das blickfeld<br />

dann das dumpfe donnergrollen die angst damals als<br />

kind einmal das einschlagen des blitzes gleich darauf ja<br />

eigentlich sogar gleichzeitig ein lautes infernalisches krachen<br />

der gemeinsame aufschrei der menschen und dann<br />

das feuer auf dem strohgedeckten dach schnell das vieh<br />

aus dem stall auch dieses angstvoll und in panik verwirrt<br />

später zu spät die feuerwehrmänner der brennende<br />

dachstuhl die brennenden möbel und anderes gerät aus<br />

dem brennenden haus nicht mehr herausgeschafft am<br />

ende nur asche ruinen vom haus wann können wir endlich<br />

reisen wann können wir endlich verreisen in andere<br />

länder und städte so die oft wiederholte frage des kindes<br />

so das ständige fragen von mir als ich ein kind war und<br />

jedesmal darauf dieselbe antwort der mutter reisen können<br />

wir erst wieder wenn endlich dieser krieg aus ist und<br />

wenn nicht mehr krieg ist sondern frieden erst dann können<br />

wir reisen vielleicht dahin wohin wir dann wollen<br />

doch jetzt ist noch krieg aber irgendwann wird er aus<br />

sein dieser entsetzliche krieg dann werden wir reisen dahin<br />

und dorthin wohin du nur willst und der zweitälteste<br />

bruder zeigte mir als der krieg aus und er wieder daheim<br />

war auf den landkarten im großen weltatlas ferne fremde<br />

länder mit ihren grenzen rundherum er zeigte mir kontinente<br />

gebirge und meere große ströme den nordpol und<br />

südpol alaska und grönland mit dem ewigen eis er zeigte<br />

mir die höchsten gebirge die wälder steppen und wüsten<br />

sibirien und die sahara er erzählte mir von diesen ganz<br />

anderen ländern er zeigte mir auch wo er und der älteste<br />

bruder gewesen waren im krieg und in der gefangenschaft<br />

in der normandie in der kamtschatka im nördlichen<br />

eismeer in den kohlengruben in belgien und frankreich<br />

er nannte mir städte gebirge und täler von all diesen<br />

ländern die er mir zeigte beim namen er sagte die worte<br />

hiroshima und nagasaki er sagte brasilien und amerika er<br />

sagte peking hongkong paris london und rom er sagte los<br />

angeles und er sagte new york er zeigte auf inseln mitten<br />

im meer auf große und kleine er zeigte auf australien und<br />

afrika er sagte zu mir du mußt wissen unsere welt ist eine<br />

große sich drehende kugel im unendlichen kosmos und<br />

rund um sie gibt es eine schichte von luft und weit entfernt<br />

sind sonne und mond die sonne leuchtet und wärmt<br />

dich am tag den mond siehst du nachts wenn der himmel<br />

wolkenfrei ist und dann siehst du die sterne die gestirne<br />

die milchstraße und millionen von sternen sind lichtjahre<br />

entfernt von der erde und ihr licht erreicht uns selbst<br />

dann noch wenn es die sterne in wirklichkeit gar nicht<br />

mehr gibt eine weiße magnolienblüte eine rote blüte des<br />

rhododendronstrauches ein dachziegel von den vielen<br />

rotgebrannten dachziegeln mit denen häuser kirchen paläste<br />

bedeckt sind ein einziges goldenes mosaiksteinchen<br />

aus einem der mosaike über den eingangstoren der<br />

basilica di san marco ein farbtupfer aus einem bild des<br />

meisters tintoretto ein pinselstrich aus einem gemälde<br />

tizians aus seinem bild „das letzte abendmahl“ jesus<br />

christus mit seinen aposteln bevor sie aufbrechen nach<br />

gethsemane eine marmorplatte vom fußboden der kirche<br />

santa maria dei miracoli ein goldenes teilchen aus der<br />

monstranz mit der ein priester dich segnet alles nur teilchen<br />

aber ohne diese teilchen gäbe es kein ganzes so<br />

bist auch du so bin auch ich so sind wir alle eben nur<br />

teilchen aber ohne teile gäbe es kein ganzes kein lebensganzes<br />

auf dieser erde in unserem kosmos teil sein von<br />

allem vom ganzen das man schöpfung nennt oder als ergebnis<br />

als ein zwischenergebnis der evolution begreift<br />

grenzen begrenzung endlichkeit grenzenlosigkeit ewigkeit<br />

diese jedoch eigentlich undenkbar weil man mit seinem<br />

denken stets an grenzen stößt weil unser denken<br />

unser denkvermögen begrenzt ist weil es nur angelegt ist<br />

für uns und unsere welt und nicht für die unendlichkeit<br />

liebst du mich fragst du und ich kann dir keine antwort<br />

darauf geben auch nach so vielen jahren nicht nach jahrzehnten<br />

nicht und du weißt das aber immer wieder mit<br />

den jahren immer seltener aber doch manchmal fragst<br />

du mich liebst du mich du sagst das nicht du sprichst den<br />

satz diese worte nicht aus aber deine augen fragen mich<br />

deine augen stellen mir diese fragen etwas in dir fragt<br />

mich das und ich kann dir keine antwort geben außer die<br />

eine ausweichende antwort mit immer denselben worten<br />

die da lauten aber das weißt du doch eine floskel mehr<br />

nicht es ist wie es ist das wäre das ist die wahrheit fallschirmseide<br />

breitetest du aus und wir bestaunten sie<br />

wunderten uns über ihre leichtigkeit bei gleichzeitiger festigkeit<br />

des feinen gewebes transparent wie seide war<br />

dieser stoff so etwas hatten wir zuvor noch nie gesehen<br />

so etwas schönes so etwas eigenartiges so etwas anmutiges<br />

so etwas inmitten des schrecklichen krieges graue<br />

braune und schwarze uniformen stiefel kappen gewehre<br />

kannten wir das eßgeschirrscheppern aber nicht das<br />

Prosa


62 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

lautlose niedergleiten dieses schwerelose niederschweben<br />

des großen tuches von oben herab zu unseren füßen<br />

eine kostbarkeit hattest du mitgebracht ein erlebnis die<br />

schwestern machten sich kleider daraus wie war es damals<br />

als ihr hier gewesen seid in venedig auf einen abstecher<br />

auf der heimreise von eurer romfahrt auf eurer pilgerreise<br />

nach rom mit einem alten autobus in den frühen<br />

dreißigerjahren eine fromme gebetsgemeinschaft bescheiden<br />

mit übernachtungen in klöstern mit euren jausenbroten<br />

die mutter am morgen zurechtmachte während<br />

vater im reiseführer las sicher war er stolz auf sein<br />

gutes italienisch er war ja stets der musterschüler gewesen<br />

auch wenn das seinen vater meinen großvater den<br />

vielleicht etwas einfachen ja sogar groben fuhrwerker gar<br />

nicht interessierte auf bildung gab er nicht viel ja lesen<br />

und schreiben aber vor allem einfaches rechnen das<br />

mußte man können das brauchte man für das geschäft<br />

deine mutter meine großmutter war da ganz anders die<br />

war sicher stolz auf ihren sohn maxl und darauf was er<br />

alles wußte und daß er so gescheit war und daß er neben<br />

latein und altgriechisch auch noch italienisch konnte eine<br />

sprache die man in rom spricht eine sprache die dort der<br />

papst spricht eine sprache die deshalb auch etwas besonderes<br />

für sie war eine sprache welche aber auch die<br />

sprache des damaligen feindes war im weltkrieg zuvor in<br />

einer zeit als es noch den kaiser gab also wie war das<br />

damals als du in venedig nach dem weg zu einer kirche<br />

fragtest den reiseleiter für die reisegruppe machtest als<br />

du gemeinsam mit dem priesterlichen begleiter lateinische<br />

inschriften übersetztest ins deutsche und dabei<br />

auch deine frau meine mutter stolz war auf dich wie war<br />

es damals für euch in venedig wo habt ihr alle geschlafen<br />

wo habt ihr gegessen was habt ihr gesehen im markusdom<br />

seid ihr sicher gekniet und habt gebetet für eure<br />

lieben daheim habt der tante dem onkel karl oder sonst<br />

noch wem vielleicht kartengrüße geschickt schöne<br />

schwarz-weiß-foto-karten mit dem bild vom markusplatz<br />

mit dem markusdom und dem campanile mit den tauben<br />

rundum vielleicht auch eine karte mit einer ansicht vom<br />

canal grande mit der rialtobrücke im hintergrund und den<br />

wunderschönen palazzi beidseits an den ufern seid ihr in<br />

der von mir geliebten kirche santa maria gloriosa dei frari<br />

gewesen seid ihr über den campo san polo gegangen<br />

so wie ich diesen weg schon so oft bei meinem hiersein<br />

gegangen bin und jetzt wiederum gehen werde sobald ich<br />

mein zimmer hier in der wohnung am campiello del sol in<br />

der nähe des campo san silvestro verlassen haben werde<br />

sobald ich damit fertig bin mit dem niederschreiben dessen<br />

was mir so in den sinn kommt da ich daran denke<br />

und mir vorstelle wie es für euch hier in venedig gerwesen<br />

sein mag damals vor etwa 80 jahren bei trübem wetter<br />

und zeitweiligem regen ins jüdische viertel gegangen<br />

ins ehemalige jüdische ghetto wie eine insel auf einer insel<br />

mitten im meer denke ich wenn es so etwas gäbe ein<br />

großer campo darauf brunnen und bäume an zwei wänden<br />

bronzene gedenktafeln reliefs die wesentliches zeigen<br />

bilder und inschriften zum gedenken an die vertriebenen<br />

von hier weggebrachten an die später ermordeten<br />

menschen ns-rassenideologie abgrund des menschen<br />

holocaust shoa unermeßliches leid unbegreifbare unmenschlichkeit<br />

auschwitz bergen-belsen maydanek treblinka<br />

sobibor mauthausen hier und jetzt in venedig lese<br />

ich die namen von männern frauen und kindern von<br />

ganzen familien ich sehe auf den bronzereliefs wie diese<br />

menschen zu den güterwaggons getrieben und in sie hineingepfercht<br />

werden zur fahrt in den tod von den handlangern<br />

der mörder mit den gewehren im anschlag ich<br />

sehe menschen im elektrisch geladenen stacheldraht<br />

hängen an galgen christen katholiken taten überzeugt<br />

und gewissenlos ihren mörderdienst heinrich himmler<br />

adolf eichmann der katholik adolf hitler getauft und nie<br />

exkommuniziert ich suche den weg zur sephardischen<br />

syngoge trete ein in die stille des raumes gedenke der<br />

opfer sprachlos und stumm von hohen mauern umgeben<br />

das große reich der toten auf der isola di san michele<br />

gräberfeld um gräberfeld grabreihe um grabreihe abgegangen<br />

tausende gräber begrabenes leben ausgelöscht<br />

im tod was für eine weile noch bleibt sind gesichter sind<br />

namen sind die geburts und sterbedaten der verstorbenen<br />

sind die erinnerungen der noch lebenden der<br />

nachkommen an ihre lieben an ihre bekannten eine totenstadt<br />

aus aufgemauerten und aneinandergereihten zu<br />

blöcken zusammengefügten gräbermauern fotografien<br />

und blumen grabsteine mit goldfarbenen inschriften<br />

graue und weiße kreuze die kleinen gräber für kinder früh<br />

ausgelöscht aus der freude der eltern wurde bittere trauer<br />

am grab von igor strawinsky gestanden töne und melodien<br />

von sacre du printemps in mir gehört am grab des<br />

mir bekannten malers emilio vedova gestanden mich erinnert<br />

an seine erscheinung an sein gesicht an seine gestik<br />

an seine lebendigkeit bei unserer begegnung vor<br />

etwa 40 jahren mich erinnert an seine bilder viele in


VENEDIG|Dezember2016<br />

63<br />

schwarz-weiß am grab von joseph brodsky gestanden an<br />

dem des großen dichters ezra pound sein gesicht gesehen<br />

vor mir bruchstücke und stil seiner poesie in erinnerung<br />

eine frische rose auf seinem grabstein ein zettel mit<br />

einem ihm gewidmeten gedicht der hohe alles überschattende<br />

baum und die dunkelgrünen schlanken zypressen<br />

wie mahnende zeigefinger der toten hinauf in den himmel<br />

venedig am morgen venedig zu mittag venedig am abend<br />

venedig auch nachts venedig im winter venedig im frühling<br />

venedig im sommer venedig im herbst venedig im<br />

herbst meines lebens venedig vor mehr als 55 jahren<br />

zum ersten mal venedig im regen venedig in der hitze zu<br />

mittag venedig in morgendlicher oder abendlicher kühle<br />

venedig bei ankunft venedig bei abreise venedig in wirklichkeit<br />

venedig im film venedig in der literatur in einer<br />

reiseführerbeschreibung in einer erzählung in einem gedicht<br />

venedig allein venedig wie jetzt in begleitung venedig<br />

an den touristenzentren venedig der einsamen gassen<br />

venedig erlebt bei der biennale gewesen stundenlang<br />

viel kunst gesehen und das was man als kunst ausgibt<br />

weil man meint und daran glaubt daß das kunst ist was<br />

man als kunst bezeichnet als kunst deklariert und seien<br />

es auch nur banale und ganz gewöhnliche alltagsgegenstände<br />

die man aus dem alltagskontext herausnimmt<br />

dann isoliert und unter umständen begründet oder auch<br />

nicht begründet weil begründbar oder auch nicht begründbar<br />

in einen anderen neuen räumlichen zusammenhang<br />

transponiert und dort eingefügt und daß dadurch<br />

ein alltagsgegenstand zu einem kunstgegenstand wird<br />

und dadurch kunst entsteht und irgendein kunstkurator<br />

oder eine kunstkuratorin ein kunstspezialist schreibt<br />

dann in einem katalog oder in einer kunstzeitschrift einen<br />

langen unverständlichen essay er oder sie spricht bei<br />

der eröffnung der ausstellung bedeutsame worte und<br />

sätze stellt zusammenhänge her von zusammenhängendem<br />

oder unzusammenhängendem und alle anwesenden<br />

nicken und klatschen am ende der rede dann<br />

beifall und der angereiste minister oder die ministerin für<br />

kunst und kultur im beruflichen leben eigentlich bankbeamtin<br />

oder handarbeitslehrerin oder zahnarztassistentin<br />

spricht in der eröffnungsrede von einem bedeutenden<br />

beitrag eines exzellenten künstlers und daß wir stolz sein<br />

dürfen auf diesen unseren künstler es fallen noch worte<br />

wie beispielgebend vorbildhaft und repräsentativ und das<br />

bekenntnis daß der staat die politik stets partner bzw.<br />

partnerin der kunst sind denn diese sei unsere kulturbotschaft<br />

nach außen hin und das sei wichtig ja ganz besonders<br />

wichtig im neuen europa und selbstverständlich<br />

auch darüber hinaus denn wir alle wollen doch eine friedliche<br />

welt und weiter geht es mit dem bla-bla und wiederum<br />

klatschen alle zustimmend in die hände und nicken<br />

einander devot und alles bejahend zu nein it needs a<br />

clear and important massage sage ich im russischen pavillon<br />

zur freundlichen russischen dame und hier ist eine<br />

klare und wichtige botschaft zu finden zu sehen aufgebaut<br />

sind die braunen dreistöckigen schlafgestelle der<br />

häftlinge in den sowjetischen gulags ähnlich jenen die<br />

ich in auschwitz gesehen habe und ebenso dokumente in<br />

vitrinen alles zu entdecken in einer weißen konstruktion<br />

in einem weißen raum gleich einem labyrinth aus dem es<br />

für den menschen kein entkommen gibt in dem der<br />

mensch gefangen ist bis zu seinem tod von zeit zu zeit in<br />

eine kirche eintreten und dort eine längere zeit verweilen<br />

sich niedersetzen in eine bankreihe vielleicht hinten auf<br />

einen platz nichts denken nichts reden nichts wollen nirgendwohin<br />

weiterstreben nein einfach nur dasein nur<br />

schauen oder dann auch einmal die augen schließen vielleicht<br />

gibt es leise musik oder eben nichts außer stille<br />

sich dieser stille hingeben sich hineinversenken in sie<br />

versinken in dieser stille abkommen in dieser stille länger<br />

als nur für einen augenblick verweilen in einer stille in dir<br />

die botschaft der stille hören aufnehmen in dich diese<br />

wortlose sprachlose lautlose botschaft bereitwillig aufnehmen<br />

in dich wortlose doch nicht sprachlose bilder auf<br />

denen sich nichts bewegt die aber mich bewegen ohne<br />

daß ich mich frage wohin bilder die mich berühren ohne<br />

daß sie mich anfassen mit händen mit fingern bilder so<br />

anders als in illustrierten in zeitungen im fernsehen im<br />

alltagsgeschehen bilder die ich oft lange und stumm betrachte<br />

bilder mit denen ich manchmal rede ich rede zu<br />

ihnen manchmal beantworten sie meine fragen gestern<br />

das bild „die bergung des leichnams des hl. markus“ betrachtet<br />

von jacopo tintoretto 1562 gemalt der leblose<br />

leichnam zur bestattung getragen so wird man mich einmal<br />

tragen ins feuer oder ins grab das boot gleitet am<br />

abend ruhiger durch das wasser als am morgen oder zu<br />

mittag wenn die taxis und lastenkähne die kanäle durchkreuzen<br />

gerne sitze ich vorne am bug genieße die kühle<br />

des fahrtwindes und die freie sicht auf die prächtigen<br />

bauten an den beiden ufern ich genieße das sanfte licht<br />

das anders ist als zu mittag da alles grell leuchtet und<br />

blinkt jetzt am abend schimmert das glas in den fenstern<br />

Prosa


64 VENEDIG|Dezember2016<br />

Prosa<br />

und die farben rundum erscheinen in dunkleren tönen sodaß<br />

es den augen wohltut und es ist stiller geworden<br />

überall wo man jetzt ist der tag bereitet sich langsam vor<br />

auf die nacht noch einmal bin ich hin zur biennale gegangen<br />

zu einem pavillon den ich noch nicht gesehen ein<br />

mensch hängt am kreuz nein nicht jesus von nazareth<br />

nicht christus nein ein kind mit einer dornenkrone auf<br />

dem kopf und mit dicken brillen vor den augen ein gequältes<br />

gemartertes kind dieses kind schreit es schreit aus<br />

schmerz und angst und andere kinder stehen rund um<br />

das aufgerichtete kreuz ein langer eiserner speer sticht<br />

in den weißen körper des gekreuzigten mädchens und es<br />

tritt schwarzes blut aus der wunde das schwarze blut<br />

rinnt in einem langen schmalen rinnsal der körper hinunter<br />

das mädchen stirbt wird abgenommen vom kreuz ein<br />

grausiges kindliches spiel nein das ist als metapher für<br />

bittere wahrheit klage und anklage zugleich ein kleiner<br />

junge legt ein gewehr an ein anderer junge steht an einer<br />

mauer der junge mit dem gewehr zielt auf den an der<br />

mauer der junge mit dem gewehr drückt ab der an der<br />

mauer stehende junge fällt getroffen tot um ein spiel vielleicht<br />

ein grausiges ein grausames ein unbedachtes spiel<br />

aber in seiner bedeutung nachbildung eine erinnerung an<br />

tausendfaches geschehen nicht nur damals sondern<br />

auch heute und überall auf der ganzen welt auf unserer<br />

erde und wir mitten drinnen als opfer und täter zugleich<br />

das und so ist der mensch videobilder fragmentarisch immer<br />

wieder dieselben in einer endlosschleife scheinbar<br />

absurdes surreales geschehen festhalten von in szene<br />

gesetzten ideen zu artistischen handlungen kombiniert<br />

blütenblätter in einen teich gestreut als poetische handlung<br />

still und lange in diesem sakralen totengedenkraum<br />

sitzen von und zum gedenken an den so früh verstorbenen<br />

christoph schlingensief den großen provokateur<br />

den radikalen denker und radikal handelnden den leidenden<br />

todkranken menschen abschied nehmen von seinen<br />

freunden von der geliebten von der welt vom eigenen<br />

leben mein gott warum hast du mich verlassen kyrie eleison<br />

musik zeig mir dein innerstes wesen zeig mir dein<br />

wahres gesicht der traum vom besseren menschen von<br />

einer guten von einer besseren welt von wahrheit gerechtigkeit<br />

und würde von frieden und freiheit doch überall<br />

die menschen geknechtet entwürdigt mißbraucht geschändet<br />

getötet überall krieg und gewalt auch jene gegen<br />

das eigene volk der kampf um die macht fast aussichtslos<br />

die rebellion gegen potentaten diktatoren<br />

geheimdienst und immer wieder die bereitwilligen helfer<br />

auf seiten der unterdrücker die folterknechte die mörder<br />

die attentäter im namen gottes oder von sonst irgendwem<br />

oder von irgendwas der heilige unvermeidbare krieg<br />

die flucht übers meer in überladenen booten viele von<br />

ihnen versinken menschen treiben hilflos ertrinkend im<br />

wasser stranden irgendwo in europa zu anderen kontinenten<br />

ist es zu weit europa ist jetzt das rettende land so<br />

glauben sie so hoffen sie doch europa tut nichts andere<br />

staaten tun auch nichts die welt schaut gleichgültig zu<br />

denn die zivilisierte welt braucht das erdöl ohne das erdöl<br />

ohne diesel ohne benzin ohne atomkraft geht gar<br />

nichts mehr ohne rohstoffe bricht alles zusammen die<br />

börsenkurse brechen ein länder sind pleite andere länder<br />

bewahren sie vor dem bankrott im eigenen interesse wie<br />

die regierungen sagen europa ist eine währungsunion mit<br />

offenen märkten und grenzen doch jene die in einem der<br />

südlicheren länder vis-à-vis von afrika nach gefahrvoller<br />

fahrt übers meer an den küsten dort stranden die gehören<br />

nicht zu uns die gehören nicht nach europa die gehören<br />

zurückgeschickt ins elend aus dem sie kommen und<br />

überhaupt wichtig ist einzig und allein die stabilität selbst<br />

wenn nur grausame diktatoren eine solche garantieren<br />

das ist europa und auch die roma sollen gefälligst dort<br />

bleiben wo sie schon immer und bisher waren im elend<br />

im dreck konferenzen jetzt weltweit eine konferenz nach<br />

der anderen abgesichert das terrain alles besprochen alles<br />

versprochen vieles geregelt maßnahmen ergriffen wir<br />

sind auf dem richtigen weg sagen sie die glocken läuten<br />

so schön jetzt am morgen hier in venedig heute am<br />

pfingstsonntag wir sind jetzt 30 jahre zusammen weißt<br />

du noch sagst du und ich nicke kann mich jedoch nicht<br />

mehr erinnern morgen der todestag der sterbetag meines<br />

bruders meines lieblingsbruders abgestürzt in den lienzer<br />

dolomiten wieder einmal war er im alleingang unterwegs<br />

dieses mal in den tod mehr als ein halbes menschenleben<br />

ist das nun her mehr als 60 jahre er war erst<br />

22 jahre alt hatte den krieg überlebt aber dann hat es ihn<br />

doch noch erwischt tragisch sagten die leute begreifen<br />

was zeit ist die glocken sind verklungen wieder ist stille<br />

rundum auch hier im raum ich sitze am schreibtisch in<br />

der wohnung am campiello del sol nahe der vaporettostation<br />

san silvestro im sestiere san polo nahe der rialtobrücke<br />

einem touristenzentrum in dieser stadt noch ist es<br />

relativ früh am morgen aber bald schon werden die besucher<br />

von venedig etwa 25.000 personen pro tag fast so-


VENEDIG|Dezember2016<br />

65<br />

viel wie die hälfte der einheimischen bevölkerung ausschwärmen<br />

mit ihren tausenden fotoapparaten und<br />

wasserflaschen und werden die vaporetti überfüllen und<br />

erobern die stadt bald schon werde ich abreisen aus dieser<br />

stadt ob ich noch einmal wiederkommen werde ich<br />

weiß es nicht meine wiederkehrstadt ist nicht venedig die<br />

ist für mich rom das ist die stadt die ich liebe die mir<br />

vertraut ist und mich gleichzeitig erregt so als hätte ich<br />

über das erlebnis der stadt eine geheimnisvolle beziehung<br />

zu ihr venedig ist schön ist wie eine märchenstadt<br />

etwas unglaublich wunderbares doch vieles in dieser<br />

stadt ist bleibt für mich im gesamten nur eine eindrucksvolle<br />

kulisse soviel zuviel ist für mich und wirkt auf mich<br />

nur wie ein künstliches bühnenbild in einem theater<br />

prächtige vergangenheit ja vielleicht auch untergehende<br />

pracht venedig wird durch den massentourismus zerstört<br />

in venedig sind wir alle nicht fremd wir haben diese stadt<br />

und alle ihre sehenswürdigkeiten usurpiert wir haben venedig<br />

sein für-sich-sein geraubt wir sind als eroberer eingefallen<br />

in diese stadt und tun es immer noch vielleicht<br />

sollte und müßte man diesem ort dieser stadt diesem<br />

märchenwunder das leben sein ich-sein zurückgeben indem<br />

man nicht mehr hierherkommt ich weiß es nicht ich<br />

weiß keine lösung jedenfalls bilden vergangenheit gegenwart<br />

und zukunft in venedig keine einheit alles hier wesentliche<br />

liegt nur mehr in der vergangenheit ist etwas<br />

das längst vergangen ist zwar noch erlebbar spurenhaft<br />

und wie ein abglanz des lebens von einst alles hier ist nur<br />

mehr relikt die lebenswirklichkeit dieser stadt kenne ich<br />

nicht ich habe sie nie erlebt nicht erreicht und wenn ich<br />

noch einmal wiederkommen sollte in meinem leben wird<br />

alles nur mehr erinnerung sein erinnerungen projiziert<br />

auf den schauplatz einer gegenwart pfingstmontag ist<br />

heute es ist noch früh am morgen draußen schreien die<br />

möwen der himmel ist bewölkt und grau ein neuer tag<br />

Peter Paul Wiplinger<br />

Geb. 1939 in Haslach, Oberösterreich. Schriftsteller und künstlerischer<br />

Fotograf. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft,<br />

Germanistik und Philosophie. Vorwiegend Lyriker,<br />

aber auch Kulturpublizist und Prosa-Schriftsteller. Bisher 46 Buchpublikationen<br />

in 20 Sprachen und hunderte Beiträge in Zeitungen,<br />

Zeitschriften und Anthologien sowie Rundfunksendungen im<br />

In- und Ausland. Weitere Informationen unter www.wiplinger.eu<br />

Prosa


<strong>66</strong> VENEDIG|Dezember2016 Vereinsleben<br />

PRÄSENTATION<br />

<strong>etcetera</strong> 65 Holz<br />

im Stadtmuseum am 12.10.2016 mit Lesung der Heftautorinnen<br />

Gertraud Artner, Christine Korntner, Wolfg. Maier-König<br />

und Ernst Punz sowie mit einem Künstlergespräch mit dem<br />

Tage der offenen Galerien<br />

Am 15. und 16. 10. 2016 wurde der Bildhauer und Heftkünstler<br />

des Heftes „<strong>etcetera</strong>“ Holz ein weiteres Mal vorgestellt<br />

und mit seinen 25 Objekten gefeiert und bewundert.<br />

Im Künstlergespräch mit Eva Riebler-Übleis erläuterte er<br />

seine Intentionen und Lebens- und Vorgehensweisen. Er<br />

spielte selbst zur Einstimmung auf seiner Blasbalg-Harmonika<br />

seine bei seinen Yoga-SchülerInnen beliebten Lieder.<br />

Die Schupfengalerie Herzogenburg bot einen gebührlichen,<br />

gemütlichen Rahmen für die Holzobjekte und die Lesenden<br />

der LitGes: Christine Huber aus Herzogenburg, Doris Kloimstein,<br />

Elfriede Starkl und Romana Maria Jäger aus St.P.<br />

Kunsttischler Andreas Priesching und dem Holzkünstler Gotthard<br />

Obholzer, der aus dem Stubaital angereist ist. Mit drei<br />

großen Holzskulpturen gab er einen Vorgeschmack auf seine<br />

Ausstellung in der Auslage der Schupfengalerie Herzogenburg,<br />

die noch bis zum 24.11. zu sehen war. Sehr spannend<br />

und psychedelisch klang die Knochenflöte Bernadette Käfers<br />

aus St.P., die mit dieser Österreich 2011 auf der Biennale Kassel<br />

vertreten hatte. Sie hatte zusammen mit Harald Rehak,<br />

dem ehemaligen Schlagzeuger der Gruppe Cosanostra eigene<br />

Stücke entwickelt. Dieser brachte seine Holzinstrumente<br />

mit. Das Cajon-Schlagwerk, das einst die Sklaven z.B. in Peru<br />

aus Mangel an echten Instrumenten aus Holzkisten entwickelt<br />

hatten, und das Yambu.<br />

Foto©Hans Kopitz<br />

5. TAGEBUCHTAG der<br />

Litges am 19.10.2016<br />

In der Buchhandlung Schubert, Wienerstr. 6<br />

Holz wurde somit nicht nur in Form von Skulpturen & Gedankenstoff<br />

für Texte, sondern auch als Grundmaterial für ansprechende,<br />

mitreißende Rhythmen angeboten! Außer am holzigen<br />

Barique wurde beim anschließenden Buffet in geselliger<br />

Diskussionsrunde nicht gespart.<br />

Das Tagebuchschreiben ist allen Schreibens Anfang! Die<br />

Konzentration auf eigene Gedanken und das Festhalten dieser,<br />

schult das Denkvermögen und die Schreibleistung wie<br />

–qualität.<br />

Es las Brigitte Pokornik, nicht aus ihren Aufzeichnungen,<br />

sondern aus dem Tagebuch der „Schönen“, die für ihren<br />

Vater zu einem hässlichen, riesigen Tier auf dessen Schloss<br />

gesendet wurde, um die Schuld ihres Vaters zu begleichen.<br />

Man merkt schon die märchenhaften Züge, die bis zum Ende


Vereinsleben VENEDIG|Dezember2016<br />

67<br />

der Erzählung durchgehalten wurden und das Publikum in<br />

einen richtigen Sog zog. Textauszug: „Auch ein Tier hat eine<br />

Mutter.“, sagte das Tier. Ja – aber eine Mutter, die Harfe<br />

aus St.P. war hervorragend und dem Trio, das seinen ersten<br />

öffentlichen Auftritt hatte, kann man nur eine weitere große<br />

Plattform und zahlreiche Engagements wünschen.<br />

Romana Maria Jäger ist eine Neueinsteigerin bei der LitGes.<br />

Sie ist Sozial-Trainerin und Lebensberaterin und hatte bereits<br />

in der Schupfengalerie Herzogenburg bei Renate Minarz<br />

ihr Yogabuch Mach mich nicht nass! vorgestellt. Dieses Mal<br />

las sie ihre persönlichen, kurzen Tagebucheintragungen des<br />

spielt? „Dann war deine Mutter ein Mensch?“ Es nickte. Die<br />

Erzählung war so spannend, dass das Publikum die jazzigen<br />

Musikstücke des Trios Schwan fast als unangebrachte Unterbrechung<br />

betrachtete. Die Gesangstimme von Shirin Bajalan<br />

letzten Monats. Sie hatte assoziationsartig und resümierend<br />

ihre Gedanken am Ende jeden Tages festgehalten. Befindlichkeitsprosa<br />

wäre wohl ein neuer möglicher Ausdruck für<br />

diese Tagebuchgattung im Vergleich zu den Reisetagebuch-<br />

Einträgen, die das Publikum voriges und vorvoriges Jahr in<br />

der Buchhandlung Schubert vorgetragen bekommen hatte.<br />

Jedenfalls ein wirklich gelungene Mischung aus Textvortrag<br />

und Musik, wie das Publikum in der zum Bersten vollen<br />

Buchhandlung beteuerte!


68 VENEDIG|Dezember2016 Rezensionen<br />

Venedig<br />

Mit Cityplan Venedig.<br />

Ostfildern: DuMont, 2015<br />

120 Seiten<br />

ISBN: 9-783-770-196-142<br />

AuserLesen<br />

25 J. Weigel Litersturstip.:<br />

B. Neuwirth/HG<br />

St. Pölten: Literaturedition<br />

NÖ, 2016, 288 S.<br />

ISBN 978-3-902717-35-1<br />

Judith Gruber-Rizy:<br />

Der Mann im Goldrahmen<br />

Roman<br />

Verlag Wortreich, Wien<br />

2016, 288 Seiten<br />

ISBN 978-3-903091-06-1<br />

Venedig- Zentum jüdischer Literatur und jüdischen<br />

Buchdrucks blickt heuer auf eine 500jähige<br />

Geschichte zurück. Am 15.März 1516 beschloss der<br />

Senat der Seerepublik, dass Juden in einem separaten<br />

Stadtteil leben sollten. „Geto“ wurde dieses Viertel genannt<br />

und seine Bewohner lebten auf engstem Raum.<br />

Erst mit Ende der Seerepublik fand auch das Ghetto sein<br />

Ende. Erst danach begann die Zeit, in der Juden anderen<br />

Bewohnern Venedigs rechtlich gleichgestellt waren.<br />

(Tagesspiegel, 29.03.2016).<br />

Der vorliegende Reiseführer von DuMont widmet mit<br />

„Juden in Venedig - im Ghetto“ der damaligen Zeit ein<br />

eigenes Kapitel und erinnert somit an die 500 Jahre alte<br />

Geschichte und den Beginn des Ghettos 1516. Wir erfahren,<br />

dass heute zirka 600 Juden in Venedig wohnen, allerdings<br />

nicht auf das ehemalige Viertel begrenzt, sondern<br />

in der gesamten Stadt verteilt. An die Zeit damals<br />

erinnern die Synagogen, von denen die Levantinische<br />

und die Spanische Synagoge wohl am eindrucksvollsten<br />

erscheinen, im Gegensatz zur schlicht anmutenden<br />

Deutschen, Italienischen Synagoge und Sinagoga Canton,<br />

die man jeweils auf einem geführten Rundgang in<br />

englischer oder italienischer Sprache besichtigen kann.<br />

Kultgegenstände wie Pessah- und Purimteller sowie<br />

einen Hochzeitsvertrag aus dem 18. Jahrhundert kann<br />

der Besucher im Museo d´Arte Ebraica bewundern.<br />

Moderne Kunst gibt es am Canal Grande, die Collezione<br />

Guggenheim-Museum, ist für Kunstliebhaber ein Muss.<br />

Am Ende des Tages belohnt der schönste Blick auf die<br />

Stadt - San Giogio Maggiore. Ihn sollte man nicht verpassen,<br />

bevor Venedig endgültig versinkt (bei gleichzeitig<br />

ansteigendem Meeresspiegel), denn schließlich<br />

gehörte die prachtvolle Stadt, wie im Wiener Kongress<br />

1815 beschlossen wurde, einst dem Habsburgerreich.<br />

Venedig ist eine Reise wert!<br />

Den Überblick dabei behält man am besten beim Mitführen<br />

des inliegenden Cityplanes.<br />

Cornelia Stahl<br />

Literaten bedürfen der Förderung! Die Kulturabteilung<br />

des Landes NÖ hat dies immer schon gewusst und<br />

seit 25 J. dient der Hans Weigel Literaturpreis dazu, meist<br />

junge AutorInnen zu betreuen und mit einem Stipendium<br />

zu stützen. Aus allen drei Gattungen – Lyrik, Dramatik<br />

und Prosa – werden Talente von einer unabhängigen Jury<br />

bewertet. Diese setzen ihren Weg, ihr Schaffen auch meist<br />

sehr erfolgreich fort. Z.B. Georg Bydlinsky, Erwin Riess<br />

oder Paulus Hochgatterer. Diese Vertreter der ersten Jahre<br />

fanden Eingang in den ersten Sammelband „Am Weg<br />

…“ 2004. In dieser Anthologie sind ebenfalls klingende<br />

Namen wie Hahn, Hirth, Unterrader, Travnicek, Widhalm,<br />

Seisenbacher, Becker, Woitzuck, Klemm, Wurmitzer, Feimer,<br />

Schuberth, Tiwald, Bayer, Eisenkirchner, Hilber oder<br />

Hülmbauer aus dem Lyrik / Prosabereich, sowie Lind und<br />

Prinz aus der Sparte Film oder Lale Rodgarkia-Dara , Niklas<br />

oder Dürr aus der Sparte interdisziplinärer Medien<br />

(Hörstücke, Tonfragmente, Performative Lesung …).<br />

Da das Werk „AuserLesen“ betitelt ist, habe ich als Beispiel<br />

Gertraud Klemm (Autorin von „Aberland“, 2015 bei<br />

Droschl; „Muttergehäuse“, 2016 bei Kremayr & Scheriau):<br />

Ballgefühl auserlesen: Es ist ein Romanauszug, der tiefen<br />

Einblick in die kalkulierende Gedankenwelt einer äußerst<br />

jugendlichen Freundin eines eher pensionsreifen Autors,<br />

der aufs Land gezogen ist, bietet. So richtig offen und<br />

ehrlich werden die lakonischen und opportunistischen<br />

Verhaltensstrategien der jungen Dame dargelegt. Einfach<br />

köstlich zu lesen!<br />

Dank Gabriele Ecker hat der Leser ein qualitativ hochwertiges<br />

Buch vor sich, in dem es stets interessant ist,<br />

zu erkunden, was diese Literaturschaffenden Niederösterreichs,<br />

die fast alle bereits in Rezensionen im „<strong>etcetera</strong>“<br />

beleuchtet worden sind, diesmal an Exempeln der<br />

Veröffentlichung anvertrauten. Stöbern sie in dem Band,<br />

der durch die angehängten Autorenportraits informativ<br />

aufbereitet wurde! Die Texte sind wirklich faszinierend,<br />

abwechslungsreich und spannend!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Fotos zum Nachdenken. »Jeden Tag um halb 10 mache<br />

ich mein Foto.« Einstieg in einen neuen Tag, in ein<br />

neues Kapitel, der Satz in stets abgewandelter Form. Die<br />

Ich-Erzählerin hat sich in ein Bergdorf zurückgezogen,<br />

und aus dem Fenster sieht sie einen Kirschbaum, den sie<br />

jeden Tag mit Fotoapparat und Stativ knipst. Das Foto<br />

ist ein Angelpunkt in ihrem Aufenthalt, den sie für ein<br />

Jahr angelegt hat.<br />

Das wiederkehrende Ritual der Fotografie setzt eine<br />

Struktur fest, in der sich auch weitere wiederkehrende<br />

Aktivitäten befinden, die allerdings als Basis zur Selbstreflexion<br />

dient. Ebenfalls täglich sind die Telefonate mit<br />

dem Sohn David. Für ihn war sie immer da, ihre Identität<br />

teilen sich die Künstlerin und die Mutter.<br />

Im Zentrum des Romans steht eine Beziehung zu einem<br />

um zwanzig Jahre jüngeren Mann, Stephan. Diese Liebschaft<br />

dauerte nur vier Wochen, jene Zeit, die ihr Sohn<br />

auf einer Sprachreise zubrachte. Kurz vor Davids Rückkehr<br />

brach sie die Beziehung zu Stephan ab.<br />

David wird im Laufe des Romans als Grund für die Beendigung<br />

der Beziehung mit Stephan genannt – allerdings<br />

scheint er von dieser Liebschaft überhaupt nichts<br />

zu wissen. Als Stephan ein einziges Mal Davids Zimmer<br />

besichtigte, empfand die Erzählerin dies fast als Verrat.<br />

In keiner Weise ließ sie die beiden zusammenkommen.<br />

Natürlich zweifelt die Ich-Erzählerin an ihrer Entscheidung,<br />

mit Stephan vor Jahren gebrochen zu haben. Mit<br />

der Zeit stellt sich das Gefühl ein, sie könnte noch länger<br />

in den Bergen bleiben, vielleicht sogar für immer. Doch<br />

ein Bekenntnis dazu öffnete auch den Weg für einen<br />

Neubeginn mit Stephan.<br />

Der Mann im Goldrahmen ist ein sehr stilles und doch<br />

beredtes Buch. Die Gedanken der Fotografin schreiten<br />

ruhig voran, und der Anhaltspunkt des täglichen Fotos<br />

gibt in gewisser Weise einen sicheren Pfad vor. Den die<br />

Erzählerin, wie die letzten Seiten des Buches enthüllen,<br />

auch braucht.<br />

Klaus Ebner


Rezensionen VENEDIG|Dezember2016<br />

69<br />

Wann Worte wichtig sind:<br />

Georg Bydlinski und sein<br />

Werk f. Kinder u. Erw.<br />

Inge Ceveka/HG<br />

St. Pölten: Literaturedition.<br />

NÖ, 2016, 340 S.<br />

978-3-902717-33-7<br />

Simone Hirth:<br />

Lied über die geeignete Stelle<br />

für eine Notunterkunft.<br />

Wien:Kremayr&Scheriau,<br />

2016, 188 S.<br />

ISBN 978-3-218-01045-0<br />

Gerald Grassl:<br />

Rebekkas Kraft.<br />

Jüdische Frauen aus Wien-<br />

Band II.<br />

Wien: edition tarantel.<br />

220 Seiten.<br />

ISBN: 978-3-9503673-6-2<br />

Worte und Werke. 2016 feierte der Kinder- und Jugendbuchautor<br />

Georg Bydlinski (geb. in Graz, in NÖ seit<br />

1967 lebend) seinen 60. Geburtstag, daher wird sein<br />

literarischer Vorlass aus dem Literaturarchiv NÖ aufgearbeitet<br />

und in der Reihe der Archiv-Autoren herausgegeben.<br />

Beiträge von Malte Blümke, Inge Cevela, Gabriele<br />

Ecker, Reinhard Ehgartner, Gerhard Falschlehner, Hubert<br />

Hladej, Eva Maria Kohl, Heidi Lexe, Silke Rabus, Arno<br />

Russegger, Gerhard Ruiss, Wilfried Satke und Christian<br />

Teissl runden Werk, Bedeutung und Aus- wie Eindruck<br />

ab. Zahlreiche Gedichte, Erzählungen, Lieder und Übersetzungen,<br />

insgesamt über 80 Bücher, die er oft selbst<br />

illustrierte, liegen vor. Er arbeitete gerne mit Kindern, las<br />

bereits in den 80er Jahren in Volksschulen und begleitete<br />

seine Lesungen (eigene Lieder, gespielt auf der Gitarre),<br />

daher liegt eine von und mit Kindern gestaltete CD dem<br />

Band bei.<br />

Im Gespräch mit Gerhard Falschlehner, das im Band zu<br />

finden ist, meinte er, dass „das Eigene respektiert wird, ist<br />

eine sehr wichtige Grundhaltung im religiösen Bereich“.<br />

Als Autor werfe er gerne Fragen auf und wies auf Wurzeln<br />

hin, indem er z. B. indianische Texte übersetzte. Es ging<br />

ihm darum, die eigene Identität anzunehmen und „nicht<br />

die eine Kultur oder Weltanschauung über die andere<br />

zu stellen“ S. 223. Bei den Indianern begeisterte ihn die<br />

Lebenseinstellung gegenüber der „Mutter Erde“. Einen<br />

indianischen Ausspruch führte er an: Niemand verletzt,<br />

was er schätzt und liebt. Schreiben ist für Bydlinski „eine<br />

unverzichtbare Lebensbegleitung.“, so S. 225.<br />

Und so ist diese Aufarbeitung seines Vorlasses mit den<br />

Werken von 1975 bis 2007 ebenfalls eine unverzichtbare<br />

Lebensbegleitung und Würdigung des Kulturschaffenden.<br />

Und da die Aufarbeitung mitsamt den handschriftlich<br />

vorhandenen Fassungen und Überarbeitungen gut<br />

aufbereitet und dokumentiert wurde, ist es ein spannender<br />

und keinesfalls trockener Band!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Kleinere Räumungs- und Aufbauarbeiten.<br />

Simone Hirth, geb. 1985, studierte Deutsche Literatur<br />

in Leibzig, hat einen höchst interessanten Debütroman<br />

vorgelegt. Der Untergang ist Programm, jedoch durch<br />

persönlichen Einsatz und Raffinesse vermeidbar.<br />

Das Haus der Protagonistin wird geschliffen und sie<br />

muss ihr Kellerloch verlassen. Die triste Situation wird<br />

durch einen abwesenden oder gar nur erdachten Bruder<br />

und die Aussage „Alle Männer sind gefallen oder im<br />

Krieg“ spürbar. Die einsame junge Frau leidet bittere<br />

Not, verzehrt Meisenknödel oder kleine Igel und wird<br />

vom Trinkwasser krank. Dass sie im Kaufhaus stiehlt, ist<br />

logische Konsequenz – die Leser sind trotzdem auf ihrer<br />

Seite – denn Not macht erfinderisch. Außerdem rettet<br />

sie sich selber durch ihren Fleiß und Aufbauwillen. Mit<br />

200 Ziegeln aus ihrem Elternhaus schafft sie sich eine<br />

Notunterkunft und träumt vom Radieschenziehen in<br />

einer gefundenen alten Regenrinne, vom Tomaten- und<br />

Erbsenpflanzen in Eimer und Autoreifen. Ihre Einsamkeit<br />

ist so groß, dass sie die Ameisen um ihre Geborgenheit<br />

im Nest beneidet. „und wünsche, sie trügen auch mich,<br />

gleich ihren Kameraden, irgendwann in ihr Nest…. Wer<br />

keine Sozialversicherung mehr hat, sollte sich frühzeitig<br />

mit den Insekten anfreunden.“<br />

Die Autorin verflicht die Gedanken der Frau außerhalb<br />

der satten Gesellschaft mit den Zitaten aus einem Wirtschaftsratgeber<br />

und einem Botanikbuch, was den Kontrast<br />

zwischen realem Erleben und papierener Weisheit<br />

auf die Spitze treibt. Ebenfalls gelungen sind die Ideen,<br />

sich selber Gebote und Ratschläge aufzustellen, die<br />

eigentlich wie Tagebuchnotizen daherkommen. S. 177<br />

§2 Manchmal finde ich alte Fenster … Jedes hat einen<br />

Namen: das Baumfenster, das Hollerfenster, das Himmelfenster<br />

.. je nach dem, was davor zu sehen sein wird …<br />

Niemals wird Jammern zum Programm sondern sprühender<br />

Galgenhumor und Erfindungsgeist!<br />

Eine wunderbare Gedanken- und Erlebniswelt mit guten<br />

und skurrilen Wendungen. Einfach köstlich! E. Rie-Ü<br />

Der Name ist Programm. Parallel zur Ausstellung<br />

„Lebenswege großartiger Frauen aus der Leopoldstadt“<br />

im Bezirksmuseum Leopoldstadt des 2.Wiener<br />

Gemeindebezirks ist das Buch „Rebekkas Kraft“ von<br />

Gerald Grassl erschienen. Schon der Titel des Buches<br />

ist Programm: Rebekkas Kraft. Dahinter steckt die gebündelte<br />

Kraft von über zwanzig jüdischen Frauen der<br />

Vergangenheit, die Wiens Geschichte prägten. Bekannte<br />

Frauen wie die Pädagogin und Politikerin Stella Klein-<br />

Löw, die am privaten jüdischen Gymnasium in Wien-<br />

Leopoldstadt lehrte sowie Lisl Goldarbeiter, Fotomodell,<br />

welche 1929 als bisher einzige Österreicherin zur Miss<br />

Universum gewählt wurde. Andere Künstlerinnen wie<br />

die austroamerikanische Fotografin Trude Fleischmann,<br />

die Musikerin und Schriftstellerin Vicki Baum werden in<br />

dem umfangreichen Werk vorgestellt. Auch unbekannte<br />

Frauen wie Paula Fürth, Gründerin einer Gartenbauschule<br />

in der Zeit der Ersten Republik sowie Schauspielerin<br />

und Schriftstellerin Lili Grün werden gewürdigt.<br />

Bei der Architektur gehen nach wie vor die Meinungen<br />

auseinander, denn Ella Briggs (1880-1977), wird hier als<br />

erste österreichische Architektin vorgestellt und konkurriert<br />

mit Margarethe Schütte-Lihotzky, bekannt geworden<br />

mit ihrem Modell der „Frankfurter Küche“. Der<br />

Diskurs darüber wird im Buch nur am Rande gestreift,<br />

erzeugt Spannung, und fordert neue Überlegungen.<br />

Der Wiener Autor Gerald Grassl bietet dem Leser ein<br />

breites Spektrum bekannten und unbekannten Persönlichkeiten.<br />

Erfreulich kommen Frauen endlich ins<br />

Rampenlicht, die bisher nur in der zweiten oder dritten<br />

Reihe standen. Eine Kurzbiographie zur jeweils<br />

vorgestellten Frau wäre hilfreich gewesen, beeinflusst<br />

den Lesefluss jedoch nur am Rande. Alle Texte werden<br />

durch schwarz-weiß- Fotografien sowie Archivmaterial<br />

ergänzt. Für an Zeitgeschichte und vor allen Dingen<br />

Frauengeschichte interessierte Leser ist dieses 220<br />

Seiten umfassenden Werk unbedingt zu empfehlen!<br />

Cornelia Stahl


70 Rezensionen<br />

70 VENEDIG|Dezember2016<br />

Michael Köhlmeier:<br />

Das Mädchen<br />

mit dem Fingerhut<br />

Roman, Hanser<br />

2016, 140 Seiten<br />

ISBN: 978-3-446-25055-0<br />

C. Busch, S.Hördler,<br />

R. Jan van Pelt / Hg.:<br />

Auschwitz<br />

durch die Linse der SS<br />

Philipp von Zabern Verlag<br />

2016, 340 S.<br />

ISBN 978-3-8053-4958-1<br />

Francesco Del Romano:<br />

Der Blumenwolf<br />

Norderstedt, BoD<br />

2016, 48 S.<br />

ISBN 978-3-7412-5617-2<br />

Eine Weihnachtsgeschichte. Einmal mehr vermag<br />

es Michael Köhlmeier als erstklassiger Erzähler zu beeindrucken.<br />

Mit dem vorliegenden Roman hat er das<br />

Buch der Stunde zum Thema Flüchtlinge geschrieben.<br />

Denn bekanntlich sind es immer häufiger Kinder, die<br />

völlig alleine aus den Krisenregionen nach Europa<br />

flüchten. Laut Statistik erreichten 2015 fast 10.000<br />

dieser unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge Österreich.<br />

Der Roman spielt in einer großen Stadt irgendwo in<br />

Westeuropa. Ein kleines Mädchen hat alles verloren –<br />

nicht einmal sein Name ist bekannt. Es versteht kein<br />

Wort der Sprache, die man hier spricht, aber wenn<br />

jemand „Polizei“ sagt, beginnt es zu schreien. In einem<br />

Heim lernt es zwei kaum ältere Buben kennen, auch<br />

deren Sprache ist ihm fremd. Aber sie sind genauso<br />

allein wie das Mädchen und gemeinsam begeben sie<br />

sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. Damit beginnt<br />

ein dramatischer Überlebenskampf gegen Hunger<br />

und Kälte, ein Leben am Rande der Gesellschaft,<br />

das der Autor atmosphärisch dicht, voll archaischer<br />

Wucht beschreibt, ohne jemals ins allzu Pathetische<br />

abzugleiten.<br />

Köhlmeier erzählt eine ganz leise Geschichte voller<br />

Poesie – fast wie ein Märchen. Manche mögen sie<br />

berührend wie eine Weihnachtsgeschichte von Charles<br />

Dickens finden.<br />

Ein Happy End sollte sich der Leser, die Leserin allerdings<br />

nicht erwarten. Köhlmeier bleibt der Realität<br />

verbunden und das ist gut so. Es lässt sich auch gar<br />

nicht mit Sicherheit sagen, worin genau ein solches<br />

Happy End bestehen würde.<br />

Ein kurzer Roman von knapp 140 Seiten, der aber lange<br />

zu denken gibt.<br />

Gertraud Artner<br />

Die Banalität des Bösen. Die Täter führten nicht nur<br />

gewissenhaft Buch über die Organisation in den Konzentrations-<br />

und Vernichtungslagern, es gab daneben<br />

auch noch die privaten Fotoalben der SS, in denen sie<br />

- quasi zur Erinnerung - ihre „Arbeit“ und Freizeitgestaltung<br />

liebevoll ausgeschmückt dokumentierten. In<br />

diese Kategorie fällt das „Höcker-Album“. Als Adjutant<br />

des letzten Kommandanten von Auschwitz-Birkenau<br />

genoss Karl Höcker eine einzigartige Perspektive auf<br />

diejenigen, die den Lagerbetrieb organisierten. Wir<br />

sehen die „Belegschaft“ beim gemütlichen Beisammensein,<br />

beim Betriebsausflug, beim Entzünden der „Jultanne“<br />

zu Weihnachten...ganz harmlos und trivial. Aber<br />

Höckers Bilder entstanden zwischen Juni und Dezember<br />

1944 in Auschwitz, während die Tötungsmaschinerie<br />

auf Hochtouren lief, zu dieser Zeit etwa die berüchtigte<br />

Auschwitzer „Ungarn-Aktion“, in der mehr als 300 000<br />

ungarische Juden vergast wurden.<br />

Die Bilder verstören zutiefst, man fühlt sich an Hannah<br />

Arendts Bezeichnung „Banalität des Bösen“ erinnert,<br />

mit der sie ihre Eindrücke vom Eichmann-Prozess in<br />

Jerusalem 1961 zusammenfasste. Und dann hört man<br />

immer wieder, dass irgendwann Schluss sein müsse<br />

mit der „Vergangenheitsbewältigung“. Demgegenüber<br />

betont Sara J. Bloomfield (Leiterin des United States<br />

Holocaust Memorial Museum) in ihrem Vorwort die<br />

aktuelle Bedeutung des Höcker-Albums, da es uns „die<br />

beängstigende wie elementare Wahrheit aufs Neue bewusst<br />

macht: Das Unvorstellbare ist immer vorstellbar<br />

– und das zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jedem Volk“.<br />

Im Band werden die 116 Fotos mit knappen aufschlussreichen<br />

Kommentaren versehen. Acht begleitende<br />

Aufsätze liefern vertiefende Informationen zu den Personen,<br />

zu Auschwitz und zum Stellenwert des Höcker-<br />

Albums für die wissenschaftliche Forschung.<br />

Gertraud Artner<br />

Ein Debütwerk der romantischen Sehnsucht.<br />

Geboren wurde der Autor in Steyr, maturierte in Wels und<br />

studierte Italienisch und Geschichte an der Universität<br />

Salzburg. Aufgrund des einjährigen Studienaufenthaltes<br />

in Perugia liegen diesem Lyrikband viele Gedanken an<br />

den und aus dem Süden sowie das Pseudonym Franceso<br />

Del Romano zugrunde. Italienaffin, mit einem Hang zu<br />

Schwermut und romantisierender Liebe oder Natur gibt<br />

er sein Innerstes preis. Der Kampf mit der Erinnerung an<br />

vergebliche Liebe - Motto: „Die Liebe ist ein freudvolles<br />

und gefährliches Spiel“ S. 31 oder Schicksalsschläge -<br />

Motto: … die „Irrfahrt, die mein Leben bedeutet“ S. 20<br />

klingen resignierend, sind es aber letztendlich nicht. Denn<br />

Hoffnung lauert überall: Der Schlussakkord S. 46 lautet<br />

nämlich: „In jenen Tagen waren meine Gedanken bei einer<br />

reichen Blüte, mein Herz erfüllt von Blumenduft.“<br />

So ist auch das titelgebende Gedicht „der Blumenwolf“<br />

mit den Assoziationen versehen, dass Blumen Positives<br />

bringen. Der Blumenwolf ist das Tier – alias ein Dichter<br />

- , das dräuende Gedanken genauso wie sehnsüchtige im<br />

Gemüt hat. Allerdings versteckt er sich feige im Wald und<br />

ist sich selbst Wolf genug.<br />

Dem Autor und Dichter wünschen wir natürlich, dass er<br />

aus dem Wald flieht und stark seine Worte in die Welt<br />

fetzt!<br />

Ernst Jandl wäre voriges Jahr 90 Jahre gewesen, und aus<br />

diesem Grunde gab sein Verleger und Verlagslektor, Klaus<br />

Siblewski, 2016 eine neue Anthologie und 2015 die Liebesgedichte<br />

Jandls als Taschenbuch (als billiges Taschenbuch,<br />

denn Jandl wollte stets ein breites Leserspektrum<br />

haben) im Inselverlag heraus. Hier findet der Leser natürlich<br />

das starke Kontrastprogramm. Er kann intelligent<br />

schmunzeln! Findet jedoch auch in dieser Liebeslyrik die<br />

sachliche Betrachtung, dass Liebe sogar für den Sprachkünstler<br />

und -witzler Jandl Zuflucht und Halt sei.<br />

Bei der Lyrik Francesco Del Romanos findet er genauso<br />

Beistand, tröstende Worte, kann sich laben und gesunden!<br />

Eva Riebler-Übleis


Rezensionen VENEDIG|Dezember2016<br />

71<br />

Lilly Lindner:<br />

Die Autobiographie der Zeit.<br />

Roman, Mü:Droemer: 2016,<br />

236 S.<br />

ISBN 978-3-426-30540-9<br />

Dine Petrik:<br />

Funken.Klagen. gedichte<br />

weitra, Bibliothek der<br />

Provinz.<br />

2016, 86 S.<br />

ISBN 978-3-99028-542-8<br />

Friederike Gösweiner:<br />

Traurige Freiheit. Roman.<br />

Graz: Droschl.<br />

2016, 148 Seiten.<br />

ISBN: 978-3-85420-976-8<br />

Zwei Welten überschneiden sich. Das Leben spricht<br />

mit dem Tod! Wieso auch nicht – beinhaltet doch ab der<br />

Geburt jedes Lebewesen bereits sein Ablaufdatum.<br />

Wie in ihren vorigen Romanen ist es wieder ein ungeheuerlicher<br />

Inhalt, der dem Leser Denkstoff bietet. In<br />

Winterwassertief, 2015 und Splitterfasernackt, 2011<br />

war es das „Aus dem Körper treten“ und nicht wieder<br />

in diesen geschundenen hineinzufinden, diesen, seinen<br />

einzigen Leib akzeptieren zu können sowie das „Aus den<br />

Schlaglöchern treten“, die einem das Leben zugefügt hat.<br />

In diesem Band sind die Gedanken der Autorin gereift, es<br />

gibt auch angesichts des Fehlverhaltens der Menschheit<br />

keine Vorwürfe. Es gibt nur eine zeitlose Zirkusarena, in<br />

der alle Zeit der Welt und aller Raum vergehen. Das Hinterfragen<br />

und Wissen wird wie die Angst unnötig, da es<br />

keine Dauer gibt.<br />

Der symbolische Aufbau zeigt vier Jugendliche, die die<br />

Zeit/Ewigkeit (Ich-Erzähler), den unermesslichen Raum<br />

(Kevin), die Beständigkeit, zu der auch Liebe zählt (David)<br />

und den zerstörerischen, tötenden, zerfleischenden<br />

Abgrund (Shay) darstellen. Diese vier Mächte regeln<br />

allumfassend die Welt. Verzauberung tritt in diese durch<br />

die bedingungslose Liebe zweier Menschen. Das brutale<br />

Töten von Menschen durch Shay bekommt angesichts<br />

der sonst herrschenden Überbevölkerung Sinn und erst<br />

als diese Vier nicht mehr regieren, bricht die Welt zusammen.<br />

Allerdings lässt die Autorin den positiven Gedanken<br />

einer sich entwickelnden „neuen Zeit“ in ihrem Epilog zu.<br />

Falls der Leser dies und anderes nicht versteht, glt das<br />

tröstende Motto: Im Universum gibt es nur eine Grenze –<br />

die im Gehirn eines Menschen. Und somit kann der Leser<br />

ungestört genießen.<br />

Wie alle Bücher von Lilly Lindner ein Muss! Diesmal<br />

inhaltlich weniger breit im Alltag verankert, sondern<br />

fragmentarisch in knappen komprimierten Abläufen<br />

und Gedankenführungen poetisch weise aufbereitet.<br />

Äußerst reich an Lebens- und Todesphilosophie!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Motive für ein Andante. Zum Heftthema Venedig<br />

passend vereint dieser Lyrikband der im Burgenland<br />

geborenen, in Wien lebenden Autorin Gedichte mit mal<br />

bedächtig vorwärts schreitendem und dann wieder<br />

übermütig springendem, überspringendem Inhalt.<br />

Das Vorwort von Flaubert weist schon darauf hin, dass<br />

der Dichter nie genau angeben kann, was ihn schmerzt,<br />

und die Überfülle der Seele manchmal in die leersten<br />

Bilder überfließt. Dies charakterisiert wahrlich ihre lyrischen<br />

Ausarbeitungen. Weit ausholend, großflächig<br />

und von innen wie von außen besehen, trägt sie doch<br />

immer wieder zum Thema etwas bei und findet zurück<br />

zur Überschrift und nagt mit spitzer Feder an den Gedanken.<br />

Nebel durchziehen ihre Schauplätze – S. 13 (annebeln)<br />

schon wird der tag/ mit spitzer feder abgenagt/ der abend<br />

schwelt im kochtopf/ nebel hängt im fenster wie gardinen/<br />

geifernd nach emotionen - …<br />

Oft weiß die Autorin ein Thema mit Augenzwinkern zu<br />

behandeln oder zu beenden, wie z.b. Themen über das<br />

Alter (über ich), das Schamgefühl (logen fassen) oder<br />

den Verlust der Jungfräulichkeit (hymenlos) usw.,. und<br />

zeigt auch Witz bei ihren Fudschijama-Gedichten, bei<br />

denen man förmlich in der Gondel sich sitzend fühlt und<br />

die vorbei pendelnde Landschaft samt heißen Quellen<br />

und Dampf so sichtbar bzw. unsichtbar wird, wie das<br />

eigene Spiegelbild im Kratersee.<br />

Ein tolles Werk in der Komposition und sorgfältig in der<br />

Ausarbeitung!<br />

Eigenständig und höchsteigenwillig und meist angenehm<br />

skurril in der Sprache und Wortwahl. Ideenreich<br />

und intelligent in der Wahl und Verarbeitung von Inhalten<br />

und nie provozierend oder mit pädagogisch wertvollem<br />

Zeigefinger die Hand erhebend!<br />

Den Gedankenblitzen geht weder das Feuer noch die<br />

Luft aus.<br />

Fazit: Ein außergewöhnlicher Gedichtband mit starker<br />

Anziehungskraft!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Wo bitte geht's hier zum Glück? Hannah wird<br />

das Gefühl nicht los, irgendetwas verpasst zu haben in<br />

ihrem Leben. Trotz erfolgreich abgeschlossenem Studium,<br />

einer erfüllten Partnerschaft, einer gemeinsamen<br />

Wohnung fehlt das für sie entscheidende Puzzleteil:<br />

der perfekte Job! Damit wäre ihr Leben komplett. Sie<br />

schreibt sich die Finger wund, strengt sich an, um bei<br />

Castings einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch<br />

alles scheint vergebens. Bis eines Tages die Zusage für's<br />

Volontariat in Berlin eintrifft. Perfekt! Doch der Hakren<br />

daran: die Entfernung zwischen beiden Städten, die Distanz<br />

schafft und am Lack der bereits angeschlagenen<br />

Beziehung kratzt. Hannah hält fest an ihrer Chance,<br />

springt ins kalte Wasser und zieht zu Miriam nach Berlin.<br />

Klingt wunderbar. Der Leser ahnt bereits, dass es<br />

anders kommen wird, als die Protagonistin plant.<br />

Auf das Volontariat folgt kein Automatismus, kein<br />

Stellenangebot, wie Hannah erhofft. Not macht erfinderisch!<br />

Also greift Hannah auf ihren Studentenjob als<br />

Kellnerin zurück. Vorübergehende Selbstzweifel verfliegen,<br />

jedoch schmecken Übergangslösungen irgendwann<br />

bitter.<br />

Eigentlich wäre sie jetzt lieber bei Jacob, den sie verlassen<br />

hatte, wegen des erhofften Aufstiegs in Berlin, aber<br />

Schwäche zeigen, wäre jetzt fehl am Platz. Ängste und<br />

Atemnot plagen zunehmend Hannahs Alltag. Auswegslosigkeit<br />

macht sich breit. Kommt für sie ein Rückzug ins<br />

Kinderzimmer infrage?<br />

Friederike Gösweiner skizziert eindringlich die Isolation<br />

eines Menschen in einer karriereorientierten Zeit. Protagonistin<br />

Hannah hat sich bemüht, jedoch vergebens. Sie<br />

erlebt sich als Verliererin im Kampf um Arbeit und Erfolg,<br />

im Vergleich mit Gleichaltrigen, die es „geschafft“<br />

haben einen Traumjob zu ergattern.<br />

Ein Debüt, das den Klassiker „Haben und Sein“ (Erich<br />

Fromm) erneut ins Spiel bringt.<br />

Unbedingt lesen !<br />

Cornelia Stahl


www.litges.at

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