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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>66</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />
<strong>etcetera</strong><br />
Venedig<br />
Sehnsucht und Untergang<br />
L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r
2<br />
VENEDIG|Dezember2016<br />
Editorial<br />
03 Vorwort/Impressum<br />
Intro<br />
04 Zum Geleit<br />
Heftkünstler/Portrait<br />
6 Hermann F. Fischl: Schattenspiegel<br />
Interviews<br />
10 Eva Menasse<br />
12 Lilly Lindner<br />
14 Christoph Mayer<br />
Bericht<br />
16 Philosophikum Lech: Reprise<br />
Essays<br />
19 Wolfgang Mayer-König: Venedig<br />
24 Daniel Krcál: Allerseelen: Venezia<br />
Prosa<br />
26 Daniel Weber: Der Gondoliere<br />
34 Erich Sedlak: Hinter den Kulissen<br />
35 Ingrid Reichel: Venezianisches „Kitschee“<br />
39 Michael Burgholzer: Höchste Zeit, San Michele u.a.<br />
44 Andrea Zöhrer: Die zeitlos Lächelnde<br />
50 Sabine Dengscherz: C‘era una volta nel mare<br />
56 Thomas Ballhausen: Hic sunt dracones<br />
58 Peter Paul Wiplinger: Venezianische Notizen<br />
Lyrik<br />
32 Andreas Adam: Elegie asconesi (mit Übersetzung)<br />
42 Hermann F. Fischl: hellovenezia<br />
46 Isabella Breier: Punto in Aria, Campiello del Sole<br />
47 Peter Paul Wiplinger: Im Markusdom, Venedig<br />
48 Norbert Blüm: Der Hungernde ist zu allem bereit<br />
54 Renate Katzer: Venedig überbrückt<br />
Vereinsleben<br />
<strong>66</strong> Präsentation <strong>etcetera</strong> 65 Holz<br />
<strong>66</strong> Tage der offenen Galerien<br />
67 5. Tagebuchtag der Litges<br />
Rezensionen<br />
68 Venedig: Mit Cityplan Venedig<br />
68 B. Neuwirth/Hg.: AuserLesen<br />
68 Judith Gruber-Rizy: Der Mann im Goldrahmen<br />
69 Wann Worte wichtig sind: Georg Bydlinski und<br />
sein Werk für Kinder u. Erwachsene<br />
69 Simone Hirth: Lied über die geeignete Stelle für<br />
eine Notunterkunft<br />
69 Gerald Grassl: Rebekkas Kraft<br />
70 Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut<br />
70 C. Busch, S.Hördler, R. Jan van Pelt/Hg.:<br />
Auschwitz durch die Linse der SS<br />
70 Francesco Del Romano: Der Blumenwolf<br />
71 Lilly Lindner: Die Autobiographie der Zeit<br />
71 Dine Petrik: Funken.Klagen. gedichte<br />
71 Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit<br />
Inhalt
VENEDIG|Dezember2016<br />
3<br />
Liebe Leserinnen, Liebe Leser!<br />
Sie tragen wohl auch Sehnsucht in sich! Für Sie haben wir dieses Heft gemacht!<br />
Venedig sehen und sterben – gilt jedoch nicht mehr, da die Lagunenstadt selbst im Zeichen des Untergangs<br />
steht! Sie finden eine ganz tolle Auswahl an exklusiven Primärtexten vor - dafür bedanke ich mich beim<br />
Heftredakteur Thomas Fröhlich - an Interviews, Essays, Berichten und Buchbesprechungen!<br />
Und weil die LitGes eine lebhafte Plattform ist und nicht als leere Schablone im 30. Jahr ihres Bestehens<br />
untergehen will, ersuchen wir Sie um den Mitgliedsbeitrag (Daten s. u.) für 2017 und wünschen Ihnen ein<br />
glückliches Weihnachtsfest und die Erfüllung Ihrer Sehnsüchte für das Neue Jahr!<br />
Ihre Eva Riebler-Übleis<br />
Impressum<br />
<strong>etcetera</strong> erscheint 4x jährlich<br />
ISSN: 1682-9115<br />
Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />
Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />
Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />
die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />
wieder und müssen mit der Meinung von<br />
Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />
Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />
Heftredaktion: Thomas Fröhlich<br />
Text und Ilustration © bei den Autoren<br />
Cover und Bilder: Hermann F. Fischl<br />
Fotos: siehe © Fotonachweis<br />
Gestaltung: G. H. Axmann<br />
Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />
Medieninhaber:<br />
Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />
HG Eva Riebler-Übleis<br />
Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />
Home: www.litges.at<br />
E–Mail: redaktion@litges.at<br />
LeserInnerservice<br />
Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />
Sie vierteljährlich <strong>etcetera</strong>, die<br />
Zeitschrift für Literatur. Mit Prosa- und<br />
Lyrikbeiträgen, Essays, Interviews, Rezensionen<br />
und Künstlerporträts sowie Einladungen<br />
zu unseren Veranstaltungen.<br />
Abonnementspreis:<br />
24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />
Bestellung = Überweisung an:<br />
Sparkasse NÖ Mitte-West<br />
BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />
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Verwendungszweck: „<strong>etcetera</strong>-Abo“<br />
Bitte Namen und genaue Anschrift leserlich<br />
auf dem Erlagschein vermerken!<br />
LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten<br />
für alle Schreibenden und ZuhörerInnen!<br />
LitGes Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />
Home/Info: www.litges.at<br />
Mitgliederhauptversammlung:<br />
Mittwoch 18. Jänner 2017, 18 Uhr<br />
LitGes Büro Steinergasse 3 STP.<br />
Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />
<strong>etcetera</strong> 67 DRACHE<br />
Vom Weibsteufel zum Papierdrachen, vom<br />
Hl. Georg bis zum Siegfried und ...<br />
Einsendeschluss 15.Dezember. 2016<br />
an Redaktion@litges.at<br />
Redaktion: Joh. Schmid, E. Riebler-Ü<br />
<strong>etcetera</strong> 68 KÖPFE<br />
Ich seh ich seh, was du nicht siehst –<br />
oder vom Dank an würdige Köpfe.<br />
Einsendeschluss 15. März 2017<br />
Redaktion: Doris Kloimstein/ E. Riebler-Ü<br />
<strong>etcetera</strong> 69 LitArena VIII<br />
Literaturwettbewerb für Autorinnen und Autoren<br />
unter 27. siehe www.litges.at<br />
Einsendeschluss 15. Juni 2017<br />
Redaktion: Cornelia Stahl<br />
Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />
LitGes Heftpräsentation „<strong>etcetera</strong>” <strong>66</strong><br />
„VENEDIG - Sehnsucht und Untergang”<br />
6. Dezember 2016, Cinema Paradiso St. Pölten,<br />
20 Uhr. Lesung „The Best Of <strong>etcetera</strong><br />
<strong>66</strong>”: Alexander Kuchar/ Schauspieler. Visuals<br />
Hermann F. Fischl (Heftkünstler). Italienische<br />
Musik von der Renaissance bis zur<br />
Gegenwart: Andreas Adam & Die Tandler.<br />
Moderation: Thomas Fröhlich/Redakteur<br />
Eintritt für LitGes Mitglieder 5 Euro sonst 7 Euro<br />
Fotos© Elias Kaltenberger ©AMT ©Cinema Paradiso<br />
Vorwort/Impressum
4<br />
VENEDIG|Dezember2016<br />
Intro<br />
Zum Geleit<br />
VENEDIG - SEHNSUCHT UND UNTERGANG. Sicher, die „richtigen“<br />
Venezianerinnen und Venezianer werden langsam flächendeckend<br />
durch ein wild gewordenes Investorentum vertrieben;<br />
und der tägliche Kreuzfahrschiff-Heuschreckentourismus<br />
verwandelt den Markusplatz (und davor den Giudecca-Kanal) in<br />
eine Vorhölle Danteschen Ausmaßes.<br />
Doch ein wenig abseits taucht man dann wieder in ein vergessen<br />
geglaubtes Paralleluniversum ein, mit gewundenen Gässchen<br />
und kleinen Kanälen, die - wie bei den Corto Maltese-Comics<br />
des Wahlvenezianers Hugo Pratt etwa - gleichsam traumverloren<br />
zwischen Wirklichkeit und Erzählung dahinmäandern.<br />
Als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Untergangsphantasien<br />
kann wohl keine andere Stadt mit Venedig mithalten:<br />
melancholische, abbröckelnde Eleganz als Antithese zum<br />
Rest einer sich immer hässlicher und „effizienter“ gerierenden<br />
Welt.<br />
Denn - noch - ist die Stadt nicht ausschließlich ein begehbarer<br />
Themenpark. Hat Charakter und weist eine in Europa<br />
mittlerweise selten gewordene Widerständigkeit auf. Ihre<br />
verbleibenden Einwohner gehen etwa im wahrsten Sinne des<br />
Wortes baden, um die nicht nur fürs Stadtbild schädlichen<br />
Schiffskolosse am Befahren des obgenannten Giudecca-<br />
Kanals zu hindern. Üben sich in Sachen EU-weiten Immobilienwuchers<br />
langsam im lokalen Gegenangriff. Und lassen
VENEDIG|Dezember2016<br />
5<br />
sich auch sonst nicht mehr jede (Polit-)Dummheit gefallen.<br />
Venedig hat immer eine Möglichkeit gefunden, sich verschiedensten<br />
Widrigkeiten erhobenen Hauptes zu stellen.<br />
Bis jetzt …<br />
Die Geschichte und Geschichten Venedigs sind jedenfalls<br />
noch lange nicht zu Ende erzählt. Diese ETCETERA-Ausgabe<br />
mit ihren Autorinnen und Autoren sowie dem Fotografen<br />
Hermann F. Fischl erbringt einen schlüssigen Beweis.<br />
Darauf einen Ombra!<br />
Herzlichst, Ihr Thomas Fröhlich, Heftredakteur<br />
Thomas Fröhlich<br />
Geb. 1963 in Wien; lebt in St. Pölten und Wien. Wissenschaftlicher<br />
Bibliothekar, Autor, Redakteur, Kolumnist („Rokko’s Adventures“,<br />
„MFG“, „Etcetera“, „Baker Street Chronicle“, „Podium“<br />
usw.), Veranstalter und Herausgeber („Das Buch der<br />
lebenden Toten, 2010, Evolver Books; „Harte Bandagen – die<br />
Mumienanthologie“, 2015, p.machinery). Hält sich künstlerisch<br />
am liebsten in der popkulturellen „Twilight Zone“ auf. Ausgezeichnet<br />
mit dem „Vincent Preis“ 2014 für die Hörspielfassung<br />
seines Theaterstücks „Sherlock Holmes und das Geheimnis des<br />
Illusionisten“ (2014, WinterZeit)<br />
Träger des Förderpreises für Kunst und Wissenschaft (Literatur)<br />
der Stadt St. Pölten 2008.<br />
Intro
6<br />
VENEDIG|Dezember2016<br />
Hermann F. Fischl<br />
Schattenspiegel<br />
Für ihn ist Venedig ein Kraftort und zugleich ein Ort der Einsamkeit.<br />
Er misstraut der angeblichen Wahrheit des Bildes.<br />
Seine größtenteils schwarzweißen Fotografien zeigen uns<br />
Ausschnitte unserer Wirklichkeit … oder doch etwas ganz<br />
Anderes? Redakteur Thomas Fröhlich bat den Heftkünstler<br />
dieser ETCETERA-Ausgabe, den Fotografen Hermann F.<br />
Fischl, der im Oktober 2016 seinen 65. Geburtstag feierte,<br />
zum klärenden Gespräch.<br />
Da sind diese Spiegelungen im Wasser und auf dem Kopfsteinpflaster<br />
eines nächtlichen Venedig, die ein Eigenleben<br />
zu besitzen scheinen. Oder jene Stromleitungen, die über<br />
unseren Köpfen ganz St. Pölten durchziehen: schwarzweiße<br />
Momentaufnahmen, die Strukturen offenlegen, gleichsam<br />
eine neue, parallele Stadtgeografie entwickeln. Und<br />
diese jungen Schwarzafrikaner, die an einem Zaun sitzen<br />
und trotzdem grinsen … Stopp! Halt! Wieso grinsen die?<br />
Ich meine, an einem Zaun angelangt …? „Da könnte man<br />
jetzt eine Flüchtlingssituation reininterpretieren, was wahrscheinlich<br />
derzeit auch flächendeckend passieren würde,<br />
täte ich das kommentarlos ausstellen.“ Was der bildende<br />
Künstler Hermann F. Fischl aber sowieso nicht tut. „In dem<br />
Fall sind das einfach Arbeiter am Lido von Venedig, die dort<br />
einen Zaun ausbessern. Aber ohne zusätzlichen Text kann<br />
das natürlich keiner wissen.“ Er hält sowieso nicht viel von<br />
dokumentarischer Fotografie: „Ein Bild zeigt immer nur einen<br />
subjektiv gewählten Ausschnitt – das kann gar nie die<br />
‚Wahrheit‘ sein.“ Aber sagt nicht ein Bild bekanntlich mehr<br />
als 1000 Worte? „Nein“, meint Fischl resolut. Und an (Pseudo-)Realitätswidergabe<br />
sei er auch gar nicht interessiert:<br />
„André Heller sagte einmal, ‚Fotografie ist die Beschlagnahme<br />
des Ereignisses und die Übergabe an mein Assoziationsdepot‘.<br />
Schöner kann ich das auch nicht ausdrücken.“<br />
Seine Thementrigger seien auch eher Literatur, Musik, optische<br />
Reize im weitesten Sinne. „Tagesaktualitäten inspirieren<br />
mich künstlerisch so gut wie nie.“<br />
Fischls Annäherung an die Fotografie geschieht auf zweierlei<br />
Weise. „wobei das ‚Ereignis‘ eben entweder von mir<br />
Künstlerportrait<br />
gesucht oder durch vorherige Sensibilisierung einfach gefunden<br />
und persönlich ‚geblickwinkelt‘ wird – keine wie<br />
auch immer geartete Dokumentation, die ja medienimmanent<br />
unmöglich ist.“ Die Ästhetik sei wichtig, aber eben nur<br />
Oberfläche, darunter gebe es immer eine Metaebene.<br />
Fotografiert wird analog, digital - „es ist ein Werkzeug,<br />
sonst nichts.“ Von Purismus in die eine oder andere Richtung<br />
hält er nicht viel. „Ich steh‘ auch sehr auf Polaroid,<br />
weil die Bilder Unikate sind, was ja auch schön ist.“<br />
Wenn man ihn so ansieht, glaubt man ihm eins ja überhaupt<br />
nicht: dass er am 3. Oktober dieses Jahres seinen<br />
65. Geburtstag feierte. Regelmäßig durchmisst er, oft gemeinsam<br />
mit seiner Gattin, die Stadt auf einem der -zig<br />
Fahrräder, die in seinem Atelier in der Wiener Straße untergebracht<br />
sind. Dort befindet sich auch die Auslagengalerie<br />
Fischl-Friebes.
VENEDIG|Dezember2016<br />
7<br />
Fotografieren scheint fit zu halten.<br />
Begonnen hat das alles in den 1950er/60er-Jahren.<br />
„Mein Großvater hat sehr viel fotografiert. Ich habe schon<br />
während meiner ersten Lebensjahre eine Kamera gekriegt<br />
und Dias gemacht. Damals hat sich mein Bildsinn entwickelt.“<br />
‚68/‘69 kam Fischl an „die Grafische“ in Wien.<br />
„Vorher schon stellte ich gerne „Länderschauen“ zusammen.“<br />
Wobei das Reisen an sich nicht das Wichtigste sei.<br />
„Das woanders Sein, eine andere Situation annehmen“<br />
– das fasziniere ihn seit jeher. „Durch diese Dislozierung<br />
entdeckt man immer wieder Kraftorte. Venedig ist ein solcher.“<br />
In der Organisation der „St. Pöltner Restwochen“, einer<br />
ziemlich frechen Alternative zum damals etablierten<br />
Kulturbetrieb in den Mittsiebzigern, machten die beiden<br />
ebenfalls gemeinsame Sache.<br />
Literarisch ist Fischl regelmäßig tätig – mit der (oder<br />
dem) geheimnisvoll-geschlechtslosen „judygal“ hat der<br />
Highsmith-Fan ein fiktives, in seinen sarkastisch-stimmungvollen<br />
Texten immer wiederkehrendes alter ego entwickelt.<br />
„Venedig kann sehr kalt sein“ ist der Titel eines Romans<br />
von Patricia Highsmith. Nicht umsonst nennt sich auch<br />
eine von Fischls Bilderserien so.<br />
An die Grafische sollte er als Lehrender auch wieder zurückkehren.<br />
„Ich habe dort eine eigene AV-Abteilung aufgebaut.“<br />
Als die Digitalisierung an die Tür klopfte, übernahm<br />
die Abteilung Tests für diverse Firmen, was auch<br />
seinen Studenten zugutekam: „Wir kriegten damals nahezu<br />
unerschwingliche Software günstiger.“<br />
Lehre und Kunst – wie geht das zusammen? „Lehre kann<br />
unheimlich bereichernd sein – es gibt seitens der Studierenden<br />
sehr viel Input. Andererseits bist du in viele<br />
Projekte involviert, die dir Zeit für Eigenes nehmen.“ In<br />
Summe habe sich beides aber gegenseitig befruchtet.<br />
„Obgleich ich jetzt auch froh bin, mich in der Pension<br />
ausschließlich auf meine Kunst konzentrieren zu können.“<br />
Zahlreiche Einzelausstellungen sowie die Teilnahme an<br />
Künstlerbund-Werkschauen, etwa in Tokio, belegen das<br />
recht anschaulich. Multimediaproduktionen wie „Sancto<br />
Ypolito – Symphonie einer Stadt“ runden ein abwechslungsreiches<br />
Portfolio ab.<br />
Apropos Künstlerbund: Mitglied wurde er 2011 auf Einladung<br />
durch Obmann Ernest A. Kienzl. Mit Letzterem verbindet<br />
ihn eine schon längere Bekanntschaft, hatte er doch<br />
mit ihm in den späten 1960ern die Band EXP gegründet.<br />
„Der Name rührt von einer Hendrix-Nummer – ich selbst<br />
habe auch Gitarre gespielt.“ Damit enden aber auch schon<br />
die Ähnlichkeiten mit dem Gitarrengott. „Mein Spiel war<br />
nicht fruchtbar, eher furchtbar.“ Fischls Lyrics (etwa „Wir<br />
sind die Gammler!“ – eine stilistisch zwischen hippiesker<br />
Avantgarde und heftigem Rock gelegene Selbsteinschätzungs-Hymne)<br />
stießen zwar im damals wenig urbanen St.<br />
Pölten vielleicht nicht ausschließlich auf Gegenliebe, brachten<br />
aber gegenkulturellen Lifestyle auf den Punkt.<br />
Warum er eigentlich so gerne in Schwarzweiß arbeitet?<br />
Fischl erläutert das anhand seiner Venedig-Bilder: „Verblüffenderweise<br />
ist Venedig für mich ein Ort der Einsamkeit,<br />
ein Ort zum Nachdenken und Schauen, speziell in<br />
der Nacht. Da gibt’s auch wenig Farbe.“ Und ruhig sei es<br />
da auch. Wozu ihm der Schreiber dieser Zeilen nur beipflichten<br />
kann: Untertags gibt’s ein paar Hotspots, die mit<br />
lärmenden (Tages-)Touristen überlaufen sind. Doch zwei,<br />
drei Gässchen vermeint man, sich in einer anderen Stadt,<br />
Portraitfoto© Elias Kaltenberger<br />
Künstlerportrait
8<br />
VENEDIG|Dezember2016<br />
Künstlerportrait<br />
in einem anderen Land, in einem Parallel-Universum zu<br />
befinden, in dem eine mitunter beredte Stille herrscht. In<br />
der Nacht sowieso.<br />
Warum er Kunst macht? „Kunst ist ein Ausdrucks-, ein<br />
Kommunikationsmittel, eine verständliche Sprachmöglichkeit<br />
an eine Welt, die nicht zuhört.<br />
Ein Angebot, nicht das Hinausposaunen der eigenen Befindlichkeit.“<br />
Ein Fotograf – zum Nachlesen. Im wahrsten Sinne des<br />
Wortes wie des Bildes.<br />
Nicht nur, wenn die Gondeln Trauer tragen.<br />
Hermann F. Fischl<br />
Geb.1951 in St. Pölten, verheiratet seit 1977<br />
Schulische Ausbildung/Studium<br />
1974 Absolvent der Höheren Graphischen Bundes-Lehr-&<br />
Versuchsanstalt 1140 Wien, Abteilung Fotografie<br />
1984 Berufspädagogische Akademie/Lehramtsprüfung<br />
Berufliche Qualifikation<br />
1980 Meisterprüfung Fotografie<br />
Beruflicher Werdegang<br />
Angestellter Fotograf / Werbestudio<br />
1976 Assistent an der Graphischen,Wien<br />
1980 Lehrer an der Graphischen Wien, Abteilung Foto<br />
1984 Kolleg-Lehrer an der Graphischen/Multimedia<br />
als Atelierleiter Audiovision<br />
2011 Ende der Lehrtätigkeit<br />
Künstlerischer Werdegang<br />
1970 – 78 Mitglied „künstlergruppe exp“ im Bereich Bild, MusikText<br />
Mitveranstalter der „st.pöltner restwochen“<br />
(Lesungen, Diaschauen, mixedmedia)<br />
Musiker/Texter der Avantgardeband EXP<br />
Teilnahme an Fotoausstellungen in Impuls Maria<br />
Schutz, Salzburg, St.Pölten, Wien<br />
2. LiteraturPreis SPÖ-NÖ Jugendliteraturwettbewerb<br />
„Ich und die Umwelt“,Veröffentlichung des Textes im<br />
ORF Ö3 und in der Literaturzeitschrift DAS PULT<br />
1979 – 2011 visuelle Projektionsgestaltung von Theaterprojekten<br />
(z.B. Hiob, Theater movimento)<br />
& Konzerten (z.b.Iviron / Synagoge St.Pölten)<br />
Multimediaproduktionen für St.Pöltner Stadtfest<br />
(openair Domplatz,Großbildprojektion mit 8 Projektoren),<br />
Auftragswerk „Sancto Ypolito-Symphonie einer Stadt“.<br />
Komponist Helmut Scherner / multimedia mit 17 Pro<br />
jektoren auf alle Saalwände/-decke mit der Sinfonietta<br />
Baden und der Chorkammer Wien / Aufführung 1996<br />
im Stadtsaal St.Pölten<br />
Einladung dieser Produktion zur „mediale“ in Nürnberg<br />
(größtes Multimedia- Festival Deutschlands)<br />
Kurator / Gesamtgestaltung vieler Präsentationen der<br />
Graphischen in Wien, Linz, St.Pölten, Ossiach, Mistel<br />
bach, Köln, Nürnberg, Graz (WIFI, AKH, Künstlerhaus,<br />
WESTLICHT, Haus der Wirtschaft, SiemensForum, di<br />
verse Galerien, Forum Bank Austria, ARS ELECTRONI<br />
CA., Stift Ossiach, Kartause Gaming)<br />
Mitarbeit an der DVD „quo vadis photographia“ (Fotografie<br />
& Programmierung)<br />
Ausstellungsteilnahmen als Gast /Künstlerbund St.Pölten/<br />
DOK und kunst:werk<br />
2010 Anerkennungspreis im Rahmen der Jahresausstel<br />
lung des Künstlerbundes für „Orario“<br />
Ankauf St.Pöltner Stadtmuseum<br />
2011 Lehrtätigkeit beendet / volle Widmung dem Kunstbereich<br />
2012 Teilnahme an allen Ausstellungen des Künstlerbundes<br />
Mitwirkung an der Viertelfestivalveranstaltung VER-<br />
STRICKUNG in St.Pölten-Radlberg als Fotograf<br />
Ankäufe Landesmuseum NÖ<br />
Einzelausstellung VERSTRICKUNG im St.Pöltner Stadtmuseum<br />
November 2012/Jänner 2013<br />
2013 Aufnahme in den St.Pöltner Künstlerbund Teilnahme<br />
an den Künstlerbundausstellungen in<br />
St.Pölten und Steyr<br />
Ab Oktober 2013 permanente Austellung in der Ausla<br />
gengalerie Fischl-Friebes 3100 St.Pölten Wienerstr.43<br />
2014 Künstlerbundausstellungsteilnahme in Kurashiki und<br />
Tokyo<br />
2015 Einzelausstellung AQUA ALTA im LORENZ,St.Pölten<br />
2015 Am:Im Wasser / als Vertreter des St.Pöltner Künstlerbundes<br />
in Mistelbach<br />
Gedicht „hellovenezia” Seite 42
VENEDIG|Dezember2016<br />
9
10 VENEDIG|Dezember2016<br />
Eva Menasse<br />
Anlässlich des Blätterwirbel-Events in St.P. wurde eine<br />
Personale Eva Menasse im Landestheater NÖ präsentiert.<br />
Ein Künstlergespräch zwischen der Autorin und Günter<br />
Kaindlstorfer sowie Lesungen aus ihren Werken VIENNA,<br />
LÄSSLICHE TODSÜNDEN, QUARZKRISTALLE und eine<br />
Vorpremiere ihres neuen Romans TIERE FÜR FORTGE-<br />
SCHRITTENE, das bei Kippenheuer&Witsch im März 2017<br />
erscheinen wird, rundeten das Portrait ab. Eva Riebler-<br />
Übleis war für die LitGes dabei und führte anschließend<br />
ein interview mit der Wiener Schriftstellerin, ehem. FAZ<br />
Reporterin und Korrespondentin und Essayistin.<br />
Wieso betitelten Sie den Roman nicht WIEN?<br />
Das ergibt sich logisch aus der Geschichte. Der Vater muss<br />
als jüdisches Kind aus Wien flüchten, wächst in England<br />
bei Pflegeeltern auf und hat seine Herkunft beinahe vergessen,<br />
als 1947 ein Brief aus der Heimat kommt: Die Eltern<br />
haben überlebt! Nun macht er sich mit gemischten<br />
Gefühlen auf die „Heimreise“, an einen Ort namens Vienna.<br />
Zum Glück kann er dort weiterhin Fußball spielen,<br />
nämlich in einem Club des gleichen Namens: First Vienna<br />
Football Club.<br />
Sie beschreiben z.B. in einem Kapitel aus der Waldheim-Zeit<br />
1986 die eher idyllischen oder vielleicht<br />
Interview<br />
Foto©SRF<br />
Liebe Eva Menasse, Ihr Debütroman „Vienna“ 2005<br />
bei Kiepenh. & Witsch wurde in Deutschland bereits<br />
als Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen hoch<br />
gelobt und in Österreich zeitweise kritisch beäugt.<br />
Da dieser Roman fiktive kritische Anekdoten auch<br />
aus der jüdischen Verwandtschaft enthält, finden<br />
Sie die österreichischen Reaktionen belebend bis<br />
lustig?<br />
Ich muss leider zugeben: Bei manchen österreichischen<br />
Reaktionen auf „Vienna“ habe ich meinen Humor ziemlich<br />
verloren. Leider ist es ganz banal so: Man möchte<br />
am meisten dort geschätzt werden, wo man herkommt.<br />
Deshalb ist es wahrscheinlich so selten der Fall.<br />
doppelmoralischen als sarkastischen Grußformeln am<br />
Tennisplatz in Wien, dem Schneutzelplatz, „Servus du<br />
Arschloch“, kontra „Servus du Hebräer!“. Sehen Sie es<br />
als schade an, wenn diese Wiener-Seelen mit ihrem<br />
Sprachduktus demnächst aussterben werden? Oder<br />
sehen Sie da kein Ablaufdatum?<br />
Absolut kein Ablaufdatum. Im Gegenteil wachsen sie derzeit<br />
besonders stark nach. Leider sind sie inzwischen sehr<br />
weniger lustig als potentiell gewalttätig.<br />
Sie interessierten sich ja bereits in Ihrer ersten Buchveröffentlichung<br />
Der Holocaust vor Gericht, Siedler<br />
Verlag 2000, für die Aufarbeitung der Nazizeit anhand
VENEDIG|Dezember2016<br />
11<br />
der Reportagen aus dem Prozess um den Holocaust-<br />
Leugner David Irving. Sehen Sie da weiterhin ein interessantes<br />
Betätigungsfeld für Ihre Recherchen oder<br />
Romane?<br />
Rein familiengeschichtlich wird mich dieses Thema nie loslassen.<br />
Es scheint in meinen Texten immer auf die eine oder<br />
andere Weise durch.<br />
Ihre momentanen Recherchen führen Sie in die Partnerbörse<br />
und zu Annoncen für weibliche Singles. Wie<br />
kamen Sie zu Ihren köstlichen Schilderungen aus dem<br />
Schlachtfeld der Liebe?<br />
Vieles, was mir im Leben begegnet, fließt in meine Arbeit<br />
ein. Ich bin multipel neugierig, interessiere mich für Medizinisches<br />
ebenso wie für Psychologisches, für neue Erfindungen<br />
und Entdeckungen, insgesamt sehr für Zeitungen,<br />
die einen großen Wissenschaftsteil haben. Wirtschaft interessiert<br />
mich weniger, aber auch da ist schon das eine<br />
oder andere in meinen Büchern aufgetaucht. Und in letzter<br />
Zeit, mit dem Älterwerden, wo die Liebe und ihre Haltbarkeit<br />
abzunehmen scheinen, mache ich im Freundeskreis eben<br />
auch solche Beobachtungen. Und baue sie bei Bedarf ein.<br />
Ist die Welt ungerecht? So viel passiert im Namen des<br />
Genderns Haben es die Männer leichter?<br />
Ich fürchte tatsächlich, dass noch lange oder vielleicht für<br />
immer die Männer die Macht über Geld und Einkommen,<br />
also über das Mess- und Zählbare haben werden. Davon<br />
abgesehen, bleibt die Summe der menschlichen Schmerzen<br />
und Qualen gleich. Aber auch das gilt im koktten Sin<br />
nur für unserer westlichen Welt. In den ärmeren Ländern<br />
sterben die Frauen weiterhin in fürchterlichem Ausmaß an<br />
Krankheiten, Schwangerschaften, Geburten, weil sie von<br />
Männern umgebracht oder sie bereits als weiblicher Embryo<br />
abgetrieben werden. Die Bilanz bleibt, global gesehen,<br />
niederschmetternd.<br />
Das Themenheft der nächsten Literaturzeitung „<strong>etcetera</strong>“<br />
Nr. 67 heißt DRACHE, vom Weibsteufel bis zum Hl.<br />
Georg. Renommierte, kluge aber eher ältere Frauen der<br />
Gesellschaft sind schwer vermittelbar. Wer ist für Sie<br />
der WEIBSTEUFEL?<br />
Es gibt so viele tolle Frauen jeden Alters, die ich bewundere<br />
– darunter ein paatr meiner besten Freundinnen: aber<br />
Weibsteufel ist kein guter Begriff, sondern ein Schimpfwort<br />
der Männer.<br />
Sie meinten in Ihrer Personale im Blätterwirbel St.P. im<br />
Landestheater, dass Frauen nicht die besseren Menschen<br />
seien. Können Frauen besser lügen, täuschen?<br />
Fest steht, dass Frauen unvergleichlich weniger physisch<br />
gewalttätig sind. Deshalb haben sie sich gezwungenermaßen<br />
in anderen Kampfsportarten verfeinern müssen. Aber<br />
besser als die Männer sind darin gewiss noch nicht geworden.<br />
Sonst wäre die Stellung der Frau in der Welt nicht die<br />
oben beschriebene.<br />
Ist es vielleicht besser keine starke Frau zu sein?<br />
Ich glaube, es ist immer gut, ein starker Mensch zu sein,<br />
ob Mann oder Frau. Was ist denn das, ein starker Mensch?<br />
Ich würde sagen: ein großzügiger, unabhängiger und souveräner<br />
Mensch, der nicht nur über die Fähigkeit verfügt,<br />
voranzugehen, sondern auch: nachzugeben. Und der besonders<br />
im Konfliktfall der Vernunft den Vortritt lässt.<br />
Sie meinten, ein Frauenleben besteht aus verschiedenen<br />
Zellen, in denen man je nach Alter einsitzt. In<br />
welcher sitzen Sie gerade und in welcher wollten Sie<br />
nie sitzen?<br />
Die Zelle, in der man sitzt, kann man immer erst beschreiben,<br />
nachdem man sie verlassen hat. Ich habe gerade verlassen:<br />
Die positivistische, auf Auf- und Nestbau konzentrierte<br />
Familienzelle, in der man davon ausgeht, dass alles<br />
immer gut ausgeht. Niemals sitzen wollte ich in einer, die<br />
Abhängigkeit bedeutet, ökonomische, psychische oder physische.<br />
Das wäre mir ein Graus. Aber wenn man alt wird und<br />
bedürftig, kommt so eine Zelle wahrscheinlich unvermeidlich<br />
daher und lässt ihre Tür zuschnappen.<br />
Danke für das Gespräch!<br />
Eva Menasse<br />
Geb. 1970 in Wien, studierte Germanistik in Wien, begann<br />
als Journalistin bei "Profil". Redakteurin der "Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung", begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner<br />
David Irving in London und arbeitete nach<br />
einem Aufenthalt in Prag als Kulturkorrespondentin in Wien.<br />
Lebt seit 2003 als Publizistin und freie Schriftstellerin in<br />
Berlin. Veröffentlichte bisher den Roman Vienna, 2005; Lässliche<br />
Todsünden, 2009; Quarzkristalle 2013, Tiere Für Fortgeschrittene,<br />
Erzählband, für den sie seit 1991 skurrile Tiererzählungen gesammelt<br />
hat und Menschen in diese Situationen oder Strukturen<br />
einpasst. Er erscheint bei Kippenheuer & Witsch im März 2017.<br />
Interview
12 VENEDIG|Dezember2016<br />
Lilly Lindner<br />
Da ich alle Bücher dieser jungen Autorin aus Berlin verschlinge,<br />
Angst habe, dass sie zu Tode kommt, und stets auf<br />
ein neues Werk warte, wie auf ein Lebenszeichen von ihr,<br />
bemühte ich mich um ein Interview. Eva Riebler-Übleis<br />
mich waren es autobiografische Werke, stimmt das?<br />
Sie machten mich so betroffen.<br />
Ich habe zwei Autobiographien geschrieben. „Splitterfasernackt“<br />
und „Winterwassertief“. Sie handeln von meinem<br />
Leben, von dem Raum zwischen mir und allen anderen.<br />
Von der Abgeschiedenheit. Von der Stille. Davon zu sterben<br />
ohne danach tot zu sein. Zu atmen, auch wenn die Luft<br />
nicht schmeckt. Und dann, aus der unendlichen Stille heraus,<br />
Worte zu finden, die das Schweigen brechen, um eine<br />
Geschichte zu erzählen, die beständiger ist als das Ende.<br />
In „Da vorne wartet die Zeit“, Roman Droemer 2013,<br />
sind viele kleine Erzählungen über die Hinfälligkeit<br />
des Daseins versammelt. Das Jenseits ist eine genauso<br />
wichtige Zeit für uns Menschen. Der Tod ist nichts<br />
Schreckliches – sehe ich das richtig?<br />
Ja. In „Da vorne wartet die Zeit“ verbinde ich zwei Orte miteinander,<br />
die unterschiedlicher nicht sein könnten. Seltsamerweise<br />
ist der Ort, an dem alles zu Ende geht, sanftmütiger<br />
und schöner, als der, an dem die Menschen die Zeit<br />
bestehen. Das Buch ist eine Ansammlung des Todes. Aber<br />
es geht nicht ums Sterben, es geht nicht ums Todsein.<br />
Es geht um das Leben.<br />
Das Dasein, das wir begreifen.<br />
Interview<br />
Foto©Silke Weinsheimer<br />
Liebe Lilly, immer hab ich das Gefühl, dass es in Deinen<br />
Werken um den UNTERGANG geht?<br />
In meinen Worten geht es um Zeit. Die Abhandlung von<br />
Glück und Beständigkeit. Die Sanftmütigkeit des Todes,<br />
der mit seiner Sense einen Walzer auf dem Markplatz<br />
tanzt. Und es geht um den Abgrund. Wie einsam er zwischen<br />
uns liegt. Und wie er uns doch alle verbindet. Ich<br />
denke, er weiß mehr über uns, als wir über ihn und alles<br />
andere.<br />
Er ist größer als jeder Verstand.<br />
Vor allem Dein Debütroman „Splitterfasernackt“ und<br />
das nächste Werk, alle Droemer und Knaur Verlag<br />
München, handeln vom persönlichen Untergang, für<br />
Was ist der Tod für Dich?<br />
Einsam. Weil alle ihn ausgrenzen.<br />
Dabei gehört er doch dazu.<br />
In meinem neuesten Werk „Die Autobiographie der Zeit“<br />
erzähle ich die Geschichte der Zeit und ihrer Gefährten.<br />
Am Ende freundet sich die Zeit mit dem Tod an. Da gibt es<br />
diese Stelle: „Ich sah den Tod an. Er hörte auf zu lachen<br />
und nahm seine Kapuze ab. Er stand vor mir. Kleiner als<br />
seine Sense. Er hatte tiefe Augenringe und eine Narbe am<br />
Hals. Da fand ich auf ein mal, dass er genauso einsam aussah<br />
wie ich.“<br />
Ich habe geweint, als ich das geschrieben habe.<br />
Weil ich so sehr daran glaube.<br />
Dass es so ist.<br />
Wofür lohnt es sich zu leben?<br />
Für das Leben.<br />
Ist der Tod ein Sehnsuchtsort – oder hast Du andere?<br />
Ich bin gerne hier. In der Zeit. Auch wenn mir die Welt oft
VENEDIG|Dezember2016<br />
13<br />
viel zu laut ist. Manchmal stehe ich zwischen Menschen<br />
und Menschen und kann nichts sehen. Ich höre nur das<br />
Rauschen. Es ist ein Teil meiner Vergangenheit. Es flüstert<br />
mir zu, dass ich nicht hierher gehöre, dass jeder Fehler auf<br />
dieser Welt meinen Namen trägt. Früher habe ich daran<br />
geglaubt. Früher habe ich an alles geglaubt, woran man<br />
kaputtgehen kann. Heute weiß ich, dass es etwas Besseres<br />
gibt, als abhandenzukommen. Etwas Besseres als Verlorengehen.<br />
Hast Du eine persönliche Beziehung zu Venedig?<br />
Ungefähr so persönlich wie meine Beziehung zu Sex. Ich<br />
war nie dort, aber andere haben mir erzählt, dass es schön<br />
sein soll.<br />
Hast Du einen Lieblingsort? Ist es ein Ort der Sehnsucht?<br />
Zuhause.<br />
Aber das ist kein Ort.<br />
Es ist eher ein Augenblick.<br />
Hast Du einen Lieblingsautor?<br />
Sebastian Fitzek. Ich habe noch nie ein Buch von ihm gelesen,<br />
aber ich mag seine E-Mails. Er ist der einzige Schriftsteller,<br />
mit dem ich befreundet bin, weil ich auf der Buchmesse<br />
immer wie ein Alien im Supermarkt herumstehe<br />
und mich nicht traue, ein richtiger Mensch zu sein. Aber<br />
Sebastian hat sich einfach ganz hinten in die Schlange von<br />
meinen Fans eingereiht und sich ein Autogramm geholt.<br />
Dabei haben wir festgestellt, dass wir in derselben Stadt<br />
wohnen und in dieselbe Schule gegangen sind. Dann haben<br />
wir angefangen, uns jeden Tag zu schreiben, obwohl<br />
wir beide nicht gerne E-Mails verfassen. Aber manchmal<br />
verändert die Zeit Menschen. Und dann verändern Menschen<br />
die Zeit. So entstehen Geschichten. Die es wert<br />
sind, erzählt zu werden.<br />
Einen Lieblingsverleger?<br />
Hans-Peter Übleis vom Droemer Verlag. Am Anfang dachte<br />
ich, er mag mich nicht, weil er mir ständig leere E-Mails<br />
geschickt hat. Ich habe meinen Agenten gefragt, ob das<br />
normal sei, ob Verleger generell nicht mit Autoren kommunizieren.<br />
Mein Agent meinte: „Hm.“ Also habe ich Hans-<br />
Peter noch einmal angeschrieben, dass ich mich schon<br />
sehr über seine leeren E-Mails freuen würde, aber dass es<br />
irgendwie nett wäre, wenn er mir wenigstens einen Satz<br />
schicken könnte, nachdem ich ihm ein ganzes Buch anvertraut<br />
habe. Da hat Hans-Peter mir ganz vielen Worten<br />
zurückgeschrieben und sich entschuldigt: Er würde gerade<br />
versuchen, ein moderner Mensch zu sein, und deshalb hätte<br />
er sich ein iPad gekauft, und er hätte sich schon gewundert,<br />
warum ihm keiner mehr schreibt.<br />
Und was für Züge trägt Dein neues Projekt? Welche<br />
Thematik befindet sich in Deinem nächsten Buch?<br />
Ich weiß noch gar nicht, welches meiner Manuskripte als<br />
nächstes veröffentlich wird. Die Worte stapeln sich bei<br />
meinen Agenten und da ich mir nicht gerne Gedanken über<br />
Marketingstrategien mache, lasse ich ihn und den Verlag<br />
entscheiden, was sie gerne als nächstes machen möchten.<br />
Ich weiß nur so viel: Da werden Worte stehen. Auf einem<br />
festen Grund. Sie entspringen meiner Verfassung.<br />
Ich danke Dir ganz herzlich für das Gespräch und freue<br />
mich auf Dein nächstes Werk!<br />
Lilly Lindner mit ihrem Verleger, Geschäftsführer Hans-Peter Übleis<br />
Lilly Lindner<br />
Geb.1985 in Berlin. Tochter deutsch-koreanischer Eltern und veröffentlichte<br />
im September 2011 ihre Autobiografie, die unmittelbar<br />
nach dem Erscheinen zum Bestseller wurde. Danach verfasste<br />
sie unter anderem die Romane„Bevor ich falle” und „Da vorne<br />
wartet die Zeit”. 2015 erschien ihr zweites autobiografisches Buch<br />
„Winterwassertief”, alle im Droemer Knaur Verlag München. Lilly<br />
Lindners Jugendroman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”,<br />
erschienen im S. Fischer Verlag, wurde auf der Leipziger Buchmesse<br />
2016 von der Leipziger Jugend-Literatur-Jury zum Favoriten<br />
ernannt. Lindner ist seit Sommer 2015 Botschafterin des Deutschen<br />
Kindervereins Essen.<br />
Foto ©Verlagsgruppe Droemer Knaur München<br />
Interview
14 VENEDIG|Dezember2016<br />
Christoph Mayer<br />
Anlässlich der Ausstellung Christoph Mayers in der Artothek<br />
Krems/Stein im Herbst 2016 mit dem Titel „Austrian Pavilion: reply<br />
- extension - upgrade“ sprach Eva Riebler-Übleis mit dem Künstler.<br />
steigernden Prozess des Kontrollverlustes im doppelten Sinn.<br />
Einerseits durch die Sperrigkeit des Materials selbst, und andererseits<br />
durch die Dynamik des Arbeitsprozesses.<br />
Wie fanden Sie die Biennale 2015?<br />
Das kann ich nicht beantworten, denn ich war nicht dort, ich<br />
war noch nie auf einer Biennale in Venedig. Für mich ist Venedig<br />
keine Stadt des steten Untergangs, sondern ein Ort, der<br />
immer wieder mal, so ungefähr alle zwei Jahre, in meinem Kopf<br />
auftaucht. Bis dato also eine reine Fantasiekonstruktion, aber<br />
das kann sich ja noch ändern…<br />
Interview<br />
Foto©Eva Riebler-Übleis<br />
Lieber Christoph, Sie haben eine Nachbildung des Österreichischen<br />
Pavillons 2015 der Biennale in Venedig, der<br />
von Heimo Zobernig gestaltet worden war, aus Heißkleber<br />
angefertigt. Was war Ihre Intention?<br />
AUSTRIAN PAVILION, so der Titel dieser Arbeit bezieht sich auf<br />
den Österreichischen Pavillon der Kunstbiennale in Venedig im<br />
Allgemeinen und im Speziellen auf dessen Gestaltung durch<br />
Heimo Zobernig im selben Jahre. Ich ließ mich zu einer Entgegnung<br />
inspirieren und antwortete auf die räumliche Intervention<br />
Zobernigs, die in ihrer nüchternen Formensprache, dem hochgelobten<br />
Reduktionismus, auf eine nahezu perfekte Harmonie<br />
hinauslief mit einem ironischen Bruch.<br />
Inwiefern ironischer Bruch? Und wieso halten Sie den<br />
Heißkleber für das ideale Material einer solchen Arbeit?<br />
Könnten Sie das näher erläutern?<br />
Ein ironischer Bruch ergibt sich allein schon aufgrund der<br />
künstlerisch-technischen Herangehensweise dieser Arbeit.<br />
Denn es ist so gut wie unmöglich, zumindest in Handarbeit,<br />
mit einer Heißklebepistole die auf geraden Linien beruhende<br />
Architektur der Moderne exakt und gar noch maßstabsgetreu<br />
nachzubilden. Dennoch arrangierte ich die Plastikstränge unterschiedlichster<br />
Stärke zunächst entsprechend einer dreidimensionalen<br />
Visualisierung des Pavillons, um dessen Architektur<br />
nachzuempfinden. Diese Annäherung als vorerst nüchterne<br />
Idee entwickelte sich mit Fortdauer zunehmend zu einem<br />
mehrere Stunden andauernden ekstatischen Arbeitsprozess<br />
mit ungewissem Ausgang. Es ging mir dabei, um einen sich<br />
Wären Sie gerne bei der Biennale in Venedig ein geladener<br />
Künstler?<br />
Selbstverständlich! Ganz im Sinne eines Realitätsgewinnes,<br />
auch wenn er auf Kosten des Traumverlustes ginge.<br />
Oder wo stellten Sie besonders gerne aus?<br />
Ganz spontan würde ich „Kunsthaus Bregenz“ sagen, vor allem<br />
aufgrund der optimalen Architektur und der perfekten Lichtverhältnisse.<br />
Oder das „21er Haus“ in Wien; und dort vor allem<br />
wegen der neu bestellten Direktorin, Stella Rollig, die ich sehr<br />
schätze.<br />
Verbinden Sie Orte mit Sehnsucht? Haben Sie sozusagen<br />
Sehnsuchtsorte?<br />
Vielleicht ist ja Venedig ein solcher Sehnsuchtsort. Ganz sicher<br />
ist es aber Bali, denn ich habe schon zweimal eine Reise dorthin<br />
gebucht und musste sie zweimal stornieren. Ich denke ich<br />
werde es kein drittes Mal probieren, denn ich habe schon so<br />
ein buntes Fantasiegebilde dazu entwickelt, dass die Realität<br />
nur eine Enttäuschung werden könnte.<br />
Können Sie uns die Ausstellung in der Artothek, die Auswahl<br />
Ihrer Objekte, Zeichnungen und Bilder, die noch bis<br />
Feb./März 2017 geöffnet ist, näher erläutern?<br />
Die Auswahl ergab sich aus den räumlichen Gegebenheiten der<br />
Artothek. Einerseits gibt es Platz für sehr viele Arbeiten, andererseits<br />
gibt es eine kojenhafte Aufteilung. Da hat es sich einfach<br />
angeboten, eine Gegenüberstellung von großformatigen Malereien<br />
und kleineren grafischen Arbeiten vorzunehmen. Und im<br />
Zentrum des Raumes steht das vom Niederösterreichischen<br />
Landesmuseum angekaufte Objekt AUSTRIAN PAVILION.<br />
Was sind Ihre nächsten Projekte?<br />
Mein nächstes Projekt ist die Vorbereitung einer Einzelausstel-
VENEDIG|Dezember2016<br />
15<br />
lung in der Wiener Galerie Heike Curtze und Petra Seiser im 1.<br />
Bez./Seilerstätte, voraussichtlich Juni 2017. Abgesehen davon<br />
gibt es einige Kooperationsvorhaben mit Künstlerfreunden.<br />
Das heißt: Alles ist möglich?<br />
Ich bin vielmehr für das „Sowohl Als Auch“ als für das „Entweder-Oder“!<br />
Arbeiten Sie lieber alleine oder im Team?<br />
Ich mache beides gerne, sowohl als auch.<br />
Woran arbeiten Sie zurzeit?<br />
In der Artothek sind nicht nur Heißklebearbeiten ausgestellt,<br />
sondern auch Werke in anderen Techniken.<br />
Ich versuche die Inhalte, mit denen ich mich beschäftige, in<br />
unterschiedlichsten Medien und Techniken umzusetzen. Denn<br />
die diversen Medien haben auch wiederum Einfluss auf die Inhaltlichkeit<br />
und erweitern dadurch die Aussage. Sind sozusagen<br />
immer bereichernd.<br />
Was sind Ihre Methoden in der künstlerischen Auseinandersetzung?<br />
Als typisch würde ich bezeichnen, dass es mit der Fortdauer<br />
des Arbeitsprozesses zu einer zunehmenden Selbstverstrickung<br />
kommt.<br />
Sie selbst schauen aus dem Werk heraus?<br />
Nein. Sondern das heißt, dass ich mich mehr und mehr in der<br />
Arbeit verliere und mich langsam selber wieder neu verorte.<br />
Beschäftigt habe ich mich in den letzten Monaten mit dem Thema<br />
„Haltung und Moral“ am Beispiel kultur-politscher Debatten<br />
in Österreich. Und auch mit österreichischen Auswüchsen<br />
diesbezüglich. Ich meine dieses post-monarchische Verhalten.<br />
Ich versuche, eventuell auch auf unterschiedlichen sozialen<br />
Netzwerken, Personen, vornehmlich aus dem Bereich Kunst<br />
und Kulturpolitik, auf den Zahn zu fühlen.<br />
©christoph Mayer/ AUSTRIAN PAVILION<br />
Ist das dann Ihr Sehnsuchtsort?<br />
Es ist eine Odyssee mit vielen Orten, an deren Ende im optimalen<br />
Fall auch eine persönliche Entwicklung passiert ist.<br />
Das heißt, die Auflösung der Verstrickung?<br />
Ja, genau!<br />
Suchen Sie Bruchlinien?<br />
Ich lote die Inhalte meiner Auseinandersetzung zumeist auf<br />
Spannungsfelder und Polaritäten aus. Dabei tun sich oft unendlich<br />
viele Abstufungen, Ebenen und Nuancen auf. Oft sind<br />
es kleine Nischen, die am spannendsten sind!<br />
Welche inhaltlichen Ausgeburten finden Sie, z. B. in Bezug<br />
auf die Arbeiten Heimo Zobernigs?<br />
Ich lese aus seinen Arbeiten – und unterstelle ihm – ein extremes<br />
Kontrollbedürfnis. Und habe dieses Thema in meinem<br />
Bezug nehmenden Werk verarbeitet und ad absurdum geführt.<br />
Sie lieben keine nüchterne, knappe, klare Gestik oder….?<br />
Ich mag keine zwanghafte, programmatische Ausrichtung.<br />
Geht es Ihnen um Bewusstmachen?<br />
Auf jeden Fall! Ich wollte auch meine eigene Haltung bezüglich<br />
verschiedener Themen ausloten und kennenlernen! Twitter<br />
oder Facebook öffnen für mich ein Loch aus dem Atelierraum<br />
in die Außenwelt, ein Kommunikationskanal sozusagen!<br />
Treffen demnächst wieder Heißkleber, Holz und Metall<br />
aufeinander?<br />
Momentan trifft geschmolzenes Glas, Acrylglas, Kabelbinder<br />
und schwarz getränkte Leinwand aufeinander!<br />
Ist das Ergebnis wieder eine spannende Kombination aus<br />
klaren und diffusen Strukturen?<br />
Ja, wie immer! Ein stetes Wechselspiel aus Chaos und Ordnung!<br />
Ich bedanke mich für das ordentliche Interview!<br />
Christoph Mayer<br />
Geb. 1968 in Wien. 1987-1992 studierte er Publizistik, Russisch und<br />
Philosophie in Wien. 2000 Diplomstudium für Malerei/Grafik an der<br />
Angewandten bei Prof. Christian Ludw. Attersee. Lebt arbeitet in Wien.<br />
Interview
16 VENEDIG|Dezember2016<br />
Philosophikum Lech 21. bis 25.9.2016<br />
„Über Gott und die Welt, Philosophieren in<br />
unruhigen Zeiten“<br />
Kunst. Der hässliche schon! Der Hässliche flüchtet in die<br />
Kunst!<br />
Bericht<br />
Für die LitGes mit dabei war Eva Riebler-Übleis. Anbei einige<br />
kurze Zusammenfassungen, die als Auswahl aus den 12 Referaten<br />
gedacht ist und in der Knappheit natürlich nicht genügend<br />
informiert. Bei Interesse können Sie den Band oder<br />
die CD über das 20. Philosophicum bestellen, unter www.<br />
philosophicum.com und im facebook.com/philosophicumlech<br />
nachlesen. Das Thema des nächsten Jahres wird „Mut<br />
zur Faulheit – Arbeit als Schicksal“ heißen und von 20. bis<br />
24.9.2017 in Lech stattfinden. Fotos ©si!kommunikation<br />
Den Vorabend bestritt wie immer der Autor Michael Köhlmeier,<br />
der aus der Mythologie drei passende Beispiele erzählte<br />
(z.B.1. die Zeugung und grauenhafte Werdung des<br />
Lieblingssohnes Zeus, dem Zagreus, der den Kampf der Titanen<br />
überlebte usw. sowie - 2. Als Luzifer in die Hölle gestoßen<br />
wurde, griff er in den Himmel und nahm sich ein Stück<br />
der Milchstraße als Faustpfand. Auf dieser konnte er von<br />
Zeit zu Zeit Gott den Herrn besuchen und schloss mit diesem<br />
eine Wette ab, ob er Hiob von seiner Gottesgläubigkeit<br />
abbringen könne. Hiob, der Mensch, verliert alles (Schafe,<br />
Rinder, Kamele, alle Söhne und Töchter). Die 3. grausame<br />
Geschichte Köhlmeiers: Marsias spielt mit Apoll und der Gewinner<br />
darf mit dem Verlierer tun, was er will …) und Konrad<br />
Paul Liessmann durchleuchtete und interpretierte gekonnt<br />
philosophisch diese mythologischen Beispiele nach dem<br />
Motto: Der Dichter bringt das Leid zum Ausdruck – für uns<br />
ist es Musik. Das ist das Selbstverständnis des Künstlers im<br />
Zusammenhang zwischen Schönheit und Grausamkeit. Die<br />
Schönheit hat ihren Preis! Liessmanns wilde These auf Siegmund<br />
Freud beruhend: „Der schöne Mensch braucht keine<br />
„Über Gott und die Welt sprechen“<br />
Als Eingangsreferat wies Konrad Paul Liessmann, der 20 Jahre<br />
diese Veranstaltung leitet, darauf hin, dass die Themenstellung<br />
nicht beliebig sei, sondern zu Freiheit des Diskurses<br />
einlade. Wer im Plauderton beginne, werde sich schnell gezwungen<br />
sehen, Begriffe zu definieren. Jedoch das Philosophicum<br />
sei keine universitäre Veranstaltung und von Adorno<br />
stamme ja auch der schöne Satz: „Philosophie ist das Allerernsteste,<br />
aber so ernst wieder auch nicht.“ So hält die<br />
Beliebigkeit Einzug!<br />
Christoph Türcke<br />
In seinem Vortrag, betitelt: „Wir kommen von Gott nicht<br />
los, solange wir noch mit Geld hantieren“ hatte den berühmten<br />
Stoßseufzer Friedrich Nietzsches „Ich fürchte, wir<br />
kommen von Gott nicht los, weil wir noch an Grammatik =(im<br />
Sinne von Verstehen mit Sinnzusammenhang) glauben“ aufs<br />
Geld übertragen. Das Entstehen des Tauschhandels und des<br />
Geldes, des Goldes als Tempelschatz und des Kredites zeigte<br />
er auf, wie die Entstehung des Finanzmarktes nach der Aufhebung<br />
der Goldbindung 1971. Der Finanzmarkt ist das Gegenstück<br />
zu den Zentralbanken und gewann die Oberhand,<br />
jedoch auch die EZB ist im Niedergang. Ihre Finanzspritzen<br />
können die verschuldeten Staaten nicht retten. Ca 14 Milliarden<br />
Strafzinsen werden im nächsten Jahr fällig, die oft von<br />
großen Geldinstituten lieber in Kauf genommen werden, als<br />
Investitionen zu tätigen. Schulden kommen nicht aus der<br />
Welt. Auch jedes Geschenk, jeder von Herzen abgestattete<br />
Dank ist ein Schuldtilgungsbedürfnis, auch wenn es frei von<br />
Profitgier ist. Geld kam in die Welt, um Schulden loszuwerden.<br />
Es konstituierte die Götterwelt, damit die Götter befrie-
VENEDIG|Dezember2016<br />
17<br />
digt wären. Der Urwunsch der vollkommenen Geldlosigkeit<br />
funktioniert nicht, jedoch ihn wach zu halten, ermöglicht maximal<br />
eine Humanisierung der Zahlungsverhältnisse.<br />
Käte Meyer-Drawe<br />
Der Vortrag „Am Anfang war Technik“ beinhaltet den Gedanken,<br />
dass theologische Motive mit der Technik verknüpft<br />
sind. Technik bezeichnet nämlich alle Mittel zur Erreichung<br />
mit den Mekkanern. Khorchide meinte: Gott ist die Freiheit<br />
und lässt anderen Freiheit. Der Gott der Zeit ist aristotelisch<br />
geprägt und ist ein personaler Gott. Er zitiert Emil Brunner:<br />
„Sage mir welchen Gott du hast und ich sage dir, welche<br />
Menschlichkeit du hast!“ Khorchide zeigt den Unterschied in<br />
der Schöpfungsgeschichte zu der christlichen Überlieferung<br />
(z.B. hatte nicht Eva, sondern Adam die verbotene Frucht<br />
vom Baum der Erkenntnis genommen…) und endet im Alltag<br />
der jungen Muslimen der 3. Generation. Diese trügen den<br />
Koran mit sich, könnten jedoch diesen nicht lesen. Ihre Gläubigkeit<br />
ist tief, sie erwarten, dass Gott sie am jüngsten Tag<br />
errette und dieser Glaube gäbe ihnen Zugehörigkeit, Trost<br />
und Kraft in der Fremde. Seit 9/11 polarisiert ihre Zugehörigkeit<br />
zum Islam und ihr Gottesbild wird radikalisiert.<br />
bestimmter Ziele, z. b. die Technik der Rede, Machenschaften<br />
und Manöver, Tricks und die Technik einen Menschen<br />
zu töpfern. Dieser setzte sich Kraft seiner Wissenschaft und<br />
Künste (Technik) über die Kreaturen und schuf Waffen und<br />
Maschinen wie Geräte. Der Diskurs, ob die Technik gut oder<br />
böse ist, erübrigt sich, denn die Alternativlosigkeit beendet<br />
die Kritik.<br />
Es stellt sich vielmehr die Frage, was für Menschen es sind,<br />
die meinen, Maschinen ersetzen zu Unrecht die Menschen.<br />
Denn die Maschine reserviert den Platz eines Mangels, der<br />
darin besteht, dass sie niemals letztlich erkundet, was und<br />
wie sie sind, und keine sozialen Unterschiede kennt.<br />
Markus Gabriel<br />
„Wenn es die Welt nicht gibt, kann es dann Gott geben?“<br />
Mit dieser provokanten Frage spricht er der Welt die Existenz<br />
ab. Was ist Existenz? - Die systematische Antwort gibt darauf<br />
die Ontologie, die Seinslehre. Bei Platon und Aristoteles war<br />
diese gleich der Theologie. Als Unterschied dazu ist die Ontotheologie<br />
zugleich Metaphysik. Dass das maximale Ganze<br />
existiert, ist eine These. Die Existenz bedeutet: In der Welt<br />
vorkommend. Was ist das Ganze? – Wenn ich es denke, gibt<br />
Mouhanad Khorchide /islamischer Theologe<br />
„So fern und doch so nah. Wie verschiedene Gottesvorstellungen<br />
unsere Welt prägen.“ Beziehungsweise ist es<br />
eine Wechselwirkung der Beeinflussung. Er brachte dem Publikum<br />
den Koran nahe. Im Koran ist nicht die Rede Gottes,<br />
sondern die Kommunikation der ersten 23 Jahre Mohameds<br />
es es, denn Denken und Sein ist das Selbe und die Metaphysik<br />
ist das Denken des Seienden – soweit das archaische<br />
Prinzip des Denkbaren des Ganzen.<br />
Die Metaphysik (Wissenschaft, die sich mit der absoluten<br />
Totalität des Existierenden befasst) unterscheidet zwischen<br />
Schein und Sein. Gabriel meint, man möchte, dass die Metaphysik<br />
Recht hat und „Existieren heiße, in einem Sinnfeld<br />
erscheinen.“ Ein Sinnfeld ist mehr als die Welt (z.B. Zahlen,<br />
Placement ..) Er lehnt ab, dass die Welt ein Dinghaufen sei.<br />
Für ihn ist die Welt das Sinnfeld aller Sinnfelder. Dass es<br />
eine Beschreibung gibt, die auf alles zutrifft, ist für Gabriel<br />
eine Unterstellung – daher gibt es die Welt auch nicht! Also<br />
Bericht
18 VENEDIG|Dezember2016<br />
Bericht<br />
gibt es auch Gott nicht! Anhand der Theodizé erkennt man,<br />
dass Gott nicht allmächtig, allwissend und gut sei, denn es<br />
gibt Leid (Holocaust …) Wie wäre es, wenn es Gott gäbe?<br />
– Alles wäre wie es ist! Einerseits gibt es die Position der<br />
Gottsuche (=Unvernunft) und andrerseits den Naturalismus<br />
(=Vernunft). Er schließt mit den Worten Heideggers: „Nur ein<br />
Gott kann uns retten“<br />
Rüdiger Safranski<br />
„Der Wille zum Glauben“. Früher herrschte der heiße Glaube,<br />
der sei erkaltet und wäre nun wie ein Tennisspiel ohne<br />
Ball zu erleben oder zu beobachten.<br />
Lambert Wiesing<br />
„Luxus – eine Weltbeziehung“ Wiesing meint, man nähere<br />
sich der Frage „Was ist der Mensch“ auf drei mögliche Arten.<br />
1. auf dem religiösen, 2. auf dem philosophischen Weg und<br />
3. ästhetischen. Hegel habe diese 3 klassischen Gedanken<br />
ausführlich in Jena ausgearbeitet und in der Wichtigkeit gereiht<br />
wie folgt: Anfangs versuchten sich die Menschen durch<br />
die Kunst selbst zu verstehen (Hegel dachte an die alten<br />
Griechen), später kam eine Epoche der Religion, die im dritten<br />
Schritt durch die Philosophie überwunden wurde. Schiller<br />
hingegen schreibt in seinem Brief über die ästhetische<br />
Erziehung 1795, dass nicht die religiöse Erziehung oder der<br />
philosophische Weg sinnvoll sind, sondern einzig der ästhetische!<br />
Weiters redete Wiesing dann der Bedeutung des Luxus das<br />
Wort, denn der entstehe, da die Menschen sich unterscheiden<br />
wollen, also aus einem gesellschaftlichen Zwang. Luxus<br />
ist nichts Überflüssiges, wie es vielleicht der Protz ist, sondern<br />
ist ein Mittel der sozialen Selbstbehauptung. Natürlich<br />
kann der Hang zu Luxus als oberflächliche Naivität oder Interesselosigkeit<br />
gesehen werden. Es geht um soziale Statussymbole<br />
oder die eigene ästhetische Erfahrung oder letztendlich<br />
um Zweck oder Zwecklosigkeit! Jedenfalls ist Luxus<br />
ein Phänomen, das zumindest bemerkt werden sollte!<br />
Peter Strasser<br />
„Die Welt als Schöpfung betrachtet“. Strasser versuchte<br />
1. die Schöpfung ohne Schöpfer (die Welt sei als spontaner<br />
Akt, aus einer Art von Nichts heraus erklärbar), 2.<br />
den schöpferischen Zufall (die Welt ist nicht nur als Zufall<br />
denkbar …unseren Handlungen kommt Bedeutung nicht nur<br />
in Form von Ursache und Wirkung zu …Es gibt die Freiheit<br />
des Handelns...) und 3. den ontologischen Überschuss (ist<br />
die Wahrheit absolut oder erzeugen unterschiedliche Weltsichten,<br />
Lebensweisen und Moralen unterschiedliche Wahrheiten,<br />
von denen keine behaupten darf, die einzig gültige zu<br />
sein) darzustellen. 4. erläuterte Strasser das anthropische<br />
Prinzip (1973 durch den Kosmologen Brandon Carter so<br />
formuliert: Das Universum sei angelegt, Bewusstsein hervorzubringen)<br />
und führte u a Goethes poetische Reaktion<br />
auf den naturwissenschaftlichen Hang dem Physischen die<br />
große Bedeutung zuzuschreiben, an. Goethe schrieb in den<br />
Zahmen Xenien 1824: „Wäre nicht das Auge sonnenhaft, die<br />
Sonne könnt es nie erblicken.“ So werde der Mensch trotz<br />
des wissenschaftlichen Anspruchs ein Bewusstseinswesen<br />
mit mythischem Verhältnis zur Welt. Strasser zitiert: Wir haben<br />
einen Platz im Kosmos, der nicht bloß aus Beziehungen<br />
besteht, die schwindelerregend sein mögen – umfassen sie<br />
doch schier unendliche Räume – und die uns dennoch alle<br />
vollkommen äußerlich bleiben.
VENEDIG|Dezember2016<br />
19<br />
Wolfgang Mayer-König<br />
Venedig<br />
Kein Ort, der verblieb. Hier endete die Existenz. Vertrieben<br />
aus angestammtem Leben. Von Wohlstand nicht zu reden, an<br />
künftigen Wohlstand nicht zu denken. Was blieb war nur noch<br />
das offene Meer, die Fischerboote, die Angst und die Friedfertigkeit,<br />
ohne die geringste Hoffnung, an irgend einem jenseitigen<br />
Ufer hinterlegt zu haben. Was blieb war die bedrohliche<br />
Übermacht von außen: Goten, Wandalen, Hunnen. Keine<br />
Hilfe in Sicht außer der eigenen, scheinbar nutzlosen. Da<br />
befanden sich vor dem Meer lediglich Sümpfe mit Schlammklumpen,<br />
die bei Ebbe über die Wasseroberfläche lugten.<br />
Insektenschwärme, die unaufhörlich auf die Flüchtlinge einstachen.<br />
Wo im stinkenden Brackwasser der Ausläufer ohne<br />
Wasseraustausch die tödlichen Malariamücken wimmelten.<br />
Kleine Binneninseln umgab zwar bewegliches Wasser, aber<br />
auch dieses war brackig und trüb vom anlandenden Sand.<br />
Die dadurch bedingten Untiefen machten das Gebiet geradezu<br />
unschiffbar. Die Winterstürme trieben die Flut vor sich<br />
her, sodass alle Inseln unter Wasser standen. Und hier gab<br />
es kein Trinkwasser außer dem aufgefangenen Regen. Was<br />
die Gebirgsflüsse hier her trugen war Sand, Geröll und Steine<br />
aus den nahen Alpen, und sie schoben die Flussmündungen<br />
immer weiter hinaus ins Meer. Die auftauchenden Inseln und<br />
Sandbänke wurden von der Meeresströmung wieder fortgeschwemmt.<br />
An manchen Stellen trug das Meer alles zu<br />
schlanken Nehrungen zusammen, natürlichen Dämmen, die<br />
der schließlich einsetzende Bewuchs gegen Brandung und<br />
Wind schützte. Diese „Lidi“ bildeten eine Barriere gegen die<br />
See, an manchen Stellen jedoch auch Durchlässe für den<br />
Wasseraustausch, wodurch eine Lagune entstand. So war<br />
es die Natur selbst, die half und weitere Hilfe ermöglichte,<br />
wenn nur irgend ein guter Wille da war. So gingen die von<br />
niedrigen Inseln überragten Wasserflächen in marschige Salzwiesen<br />
und schließlich in „terra ferma“, in Festland über.<br />
Obwohl sie weder Binnenseen noch offenes Meer waren,<br />
herrschten in den Lagunen die Gezeiten. Rund um die „Lidi“<br />
reinigte das Salzwasser die Lagune; wo die Flut nicht hingelangte,<br />
verfaulte alles zur toten Lagune. Das war der „rivus<br />
altus“, der „rialto“, so entstand Venedig, der Fluchtort, der<br />
Schutzort. Hierher konnte kein Feind kommen, kein Kriegsschiff.<br />
Die Hälfte der Zeit reichte hier das Wasser nur bis zum<br />
Nabel eines Menschen. Und der schlickige, sandige Grund<br />
war heimlich durchzogen von tiefen Rinnen, den Ausläufern<br />
der Bäche und Flüsse. Kriegerisches Fußvolk oder Reiterei<br />
hätten hier keine Chance gehabt. So baten sie nicht andere<br />
um Lebensraum, sie zwangen nicht andere, den Lebensraum<br />
mit Ihnen zu teilen, nein, sie schufen sich selbst ihren Lebensraum<br />
im Niemandsland, im Morast, im lebensunmöglichen<br />
Raum. So galt es erstens das Niveau der niedrigen, häufig<br />
von der Flut überspülten Inseln zu erhöhen. Die Flüchtlinge<br />
baggerten, nunmehr schon als Siedler, Sand aus der Lagune<br />
und fertigten Anschüttungen auf die natürliche Unterlage aus<br />
Muschelablagerungen, Seetang und Schlick. Als Nebeneffekt<br />
beseitigten sie dadurch Untiefen und gewannen geheime Kanäle.<br />
Den neuerworbenen Grund und Boden sicherten sie mit<br />
Weidengeflecht. Als zweiten Schritt galt es die Inselufer zu<br />
befestigen, deshalb trieben sie reihenweise Holzpfähle in den<br />
Schlamm. Um das bewerkstelligen zu können, errichteten sie<br />
zunächst mit breiten Brettern und Baumstämmen Sperren<br />
gegen die Lagune und schöpften den entstandenen Innenraum,<br />
die Baugrube, trocken. Von einem einfachen Gerüst<br />
aus schlugen nun jeweils zwei Mann die angespitzten Pfähle<br />
aus Eichen, Pappeln und Erlen in den morastigen Boden. Dazu<br />
benützten sie eine metallene Handramme, einen Zylinder mit<br />
seitlichen Griffen, der über den Stamm gestülpt und dann<br />
hämmernd in den Boden gerammt wurde. So konnten sie<br />
tausende solcher Pfähle dicht nebeneinander setzen und verbleibende<br />
Zwischenräume mit Lehm auskleiden. Schließlich<br />
wurden breite Bretter auf die flachen Pfahlenden genagelt,<br />
denn die Uferbefestigung war gleichzeitig die Voraussetzung<br />
für ein gemauertes Fundament. Dann wurde rasch die Eindämmung<br />
der Baugruben entfernt, denn das Allerwichtigste<br />
war, dass der Unterbau, das Fundament, stets von Wasser<br />
umspült wurde. Drang Luft an die Holzpfähle, verfaulten sie.<br />
Längst war aller Pioniergeist verblasst, die unermesslichen<br />
Mühen der Anfänge achtlos vergessen, aus der künstlichsten<br />
Stadt der Welt, aus unwiederholbarer Pracht, wieder eine<br />
morastige Kloake geworden. Diesmal jedoch nicht eine der<br />
natürlichen Umwelt, sondern vielmehr eine solche der Weltanschauung.<br />
Bis zur Verzückung ins eigene Spiegelbild verliebt zu sein, galt<br />
seit je her als geradezu selbstverständliche Eigenschaft dieser<br />
Stadt. Das Selbstwertgefühl sollte so weit gediehen sein,<br />
bis man von sich selbst entzückt war, sich des angenehmen<br />
Eindrucks nicht mehr erwehren konnte, den man von sich<br />
selbst hatte. Denn sogar die prunkvoll ziselierten Palastfassaden<br />
spiegelten sich doch ohne jeden Zweifel selbstgefällig im<br />
glitzernden Wasser der Kanäle und dieses wiederum in mit<br />
Goldstaub durchzogenen mehrstöckigen Lüstern, der auf sol-<br />
Essay
20 VENEDIG|Dezember2016<br />
Essay<br />
che Weise geschmückten Holzbalken und getäfelten Holzdecken<br />
der Paläste. Für derartige Selbstinszenierung, ja Selbstverzückung<br />
und dem Schein geweihte Selbstvereinigung<br />
musste unendlich viel geblasenes Glas mit Quecksilber und<br />
einer dünnen Zinnfolie beschichtet werden. So kostbar waren<br />
einst die Geheimnisse der venezianischen Glasbläser und<br />
Spiegelmacher, dass es ihnen bei Todesstrafe verboten war,<br />
die Lagune zu verlassen. Die Angst, die Attribute der Einzigartigkeit<br />
zu verlieren, brachte es auch so weit, dass der Schöpfer<br />
der astronomischen Uhr auf dem Markusplatz mit den<br />
zwei zum Glockenschlag ausholenden Mohren, geblendet<br />
werden sollte, um ein solches Werk nicht anderswo wiederholen<br />
zu können. Die Angst reichte von der Sucht, einzigartig<br />
zu sein, über die strikte Bewahrung gewonnener Geheimnisse<br />
des eigenen Vorteils oder einer klammheimlich erworbenen<br />
Verbrechensschuld, bis zur Angst, nicht ausgepfiffen zu werden,<br />
weil man sich eine Welt schuf, die nur noch Theater war.<br />
Aus der man zwar zugegebenermaßen auch herauspurzeln<br />
konnte, ja streckenweise aufwachen musste, wenn das üppig<br />
genossene Wildbret, das Eiweiß hart gekochter Eier, die Austern,<br />
die Trüffel, der Stör und die Sardellen, Makrelen und<br />
Brassen, Champagner, Prosecco und Punsch heftige Koliken<br />
auslösten, innere Steinabgänge und Gichtanfälle; im dichten<br />
Nebel der Herbst- und Wintermonate Husten und Asthmaanfälle<br />
zunahmen. Nein, nicht ausgepfiffen zu werden „blieb das<br />
Wichtigste.“ Sollte das Buch der Geschichte meines Lebens<br />
ausgepfiffen werden, so hoffe ich, dass es mir niemand sagt“,<br />
bekennt Casanova am Ende seines Lebens. Nein, das Leben,<br />
die Schau musste weitergehen, der Dauergesang der auslobenden<br />
Händler und Krämer, der Handwerker und Gondolieri,<br />
der auf und ab wogende Redeschwall der Geschichtenerzähler,<br />
das Vibrato und Tremolo der Priester und Prediger, der<br />
ungekonnt plumpe Trommelwirbel, welcher an den Buden der<br />
Zahnreisser das Schreien der Patienten übertönen sollte.<br />
Man gaukelte sich stets vor, unendlich frei zu sein, und lebte<br />
mit der Angst, die das Risiko solch unbegrenzter Freiheit mit<br />
sich brachte. Rund um das Arsenal, jener Schiffswerft und<br />
maritimen Waffenschmiede der Venzianer, musste die Höhe<br />
der Häuser auf die der Umfassungsmauer begrenzt werden,<br />
aus Angst vor Spionen. Man lebte ja so frei, weil Venedig<br />
noch eine Jungfrau war, unangetastet, niemals eingenommen,<br />
eine schöne Moribunde, ergraut im Bösen der Macht.<br />
Wir stimmen zu, hatten die Venezianer geschrien, nachdem<br />
der fast hundertjährige blinde Doge förmlich das Volk befragte,<br />
sich gegen Konstantinopel einzuschiffen. Den entscheidenden<br />
Schlag führt dann der Blinde selbst mit seiner<br />
Dogengaleere am goldenen Horn. Er lässt sie an den anderen<br />
Schiffen vorbeisteuern und mit hoher Geschwindigkeit auf<br />
Konstantinopel zuhalten. In voller Rüstung steht er selbst am<br />
Bug mitten im Schwirren der Pfeile und Wurfgeschosse, das<br />
Markusbanner Venedigs fest in der Hand. Als die Galeere am<br />
schmalen Landsaum aufläuft, springen einige an Land und<br />
rammen die Standarte in den Boden. Die Venezianer erstürmen<br />
die Mauern Konstantinopels und erobern die Wachtürme.<br />
Was in der Folge geschieht ist nicht zu beschönigen, auch<br />
nicht in Jahrhunderten vor dem blendenden Spiegel der Geschichte<br />
und der Geschichten. Es wurde ein brutaler Raubzug,<br />
der wie im Wahn alles zerstörte. Gold und antike Statuen<br />
wurden aus den Palästen gezerrt, Kleinodien und Schmuck<br />
aus den Häusern geraubt. Porphyrene Säulen und kostbare<br />
Halbreliefs, die schönsten der damaligen Welt, wurden abmontiert,<br />
abgebrochen, abgerissen zur künftigen Ausstattung<br />
der Hauskapelle des Dogen, der Markuskirche. Aber auch die<br />
anderen Kirchen Venedigs, welche zahllosen Heiligen geweiht<br />
sind, zeigen mit sündigem Stolz die Schätze erschlagener<br />
Menschen und Völker. Der Hochaltar der oströmischen<br />
Hauptkirche, der „Hagia Sophia“, zerschlagen, um die Edelsteine<br />
seiner kunstvollen Verzierungen schneller herausbrechen<br />
zu können. Alles, was nicht niet-und nagelfest war, wurde<br />
verschleppt, selbst noch die Silberverkleidung der<br />
Altarstufen. Um die reichliche Beute abzutransportieren, wurden<br />
zahllose Maultiere in das Heiligtum getrieben, bis der<br />
kunstvoll ausgestattete Boden über und über mit Kot bedeckt<br />
war. Währenddessen wurden am Hochaltar Frauen vergewaltigt.<br />
So entledigten sich die christlichen Krieger ihrer Kreuzzugspflicht.<br />
Das Beutegut der Venezianer aber wurde an die<br />
Lagune verschifft. Eines der hervorragendsen Kunstwerke<br />
Konstaninopels, die vielbesungene und gepriesene „Quadriga“,<br />
eine Gruppe von vier Pferden von den Wendepunkten<br />
des Hippodroms, der Pferderennbahn Konstantinopels, stellten<br />
die Venezianer voll Stolz über dem Hauptportal der Markuskirche<br />
auf. Jener prächtig vergrößerten Hauskapelle des<br />
Dogen, in welcher die reliquiaren Gebeine des Heiligen Markus<br />
ruhen, die auf ähnliche Weise aus Alexandrien besorgt<br />
worden waren. Natürlich musste man da Angst haben, das so<br />
Erworbene wieder zu verlieren. Schließlich war Venedig ja<br />
Jungfrau geblieben und noch nie ausgeplündert worden. Irgendwann,<br />
so malt es sich die aufkommende Angst aus,<br />
könnten doch dunkle Elemente durch die Gassen schleichen,<br />
die mächtigsten Anlagen auskundschaften, die bedeutendsten<br />
Schätze. Andere Gestalten sieht die Angst schon<br />
klammheimlich in die Lagune rudern, um die Eintiefungen der
VENEDIG|Dezember2016<br />
21<br />
zum offenen Meer führenden Kanäle auszumessen und herauszufinden,<br />
welche Dalbenstrassen in der Lagune für größere<br />
Schiffe passierbar sind. Ist man zu feige und gierig geworden<br />
und doch zu bewegungslos in Kriegsdingen? Musste<br />
man Angst haben, möglicherweise von der Nachwelt dafür<br />
ausgepfiffen zu werden? Hier durfte der schöne Schein nicht<br />
von der Sicht auf die Dinge ablenken. Jetzt halfen nicht gekaufte<br />
Zurufer und Claqueure, jetzt müsste man tatsächlich<br />
eine bella figura machen. Was half es jetzt ein „libertino“ zu<br />
sein, der sich stets von den herrschenden Ideen mehr als von<br />
einer inzwischen verschütteten eigenen Fantasie inspirieren<br />
lässt. Denn die Fantasie ist nicht nur von Geilheit sondern vor<br />
allem von Angst verschüttet. Denn wann immer ein Toter im<br />
„Canale Orfano“ treibt, der von San Marco aus durch die Lagune<br />
ins offene Meer führt, und es sind deren viele, heißt es,<br />
strangulierende Auftragsmörder seien wieder am Werk gewesen<br />
oder gedungene Giftmörder, die sich nirgendwo so auf ihr<br />
Handwerk verstünden wie in Venedig. Den schrecklichsten<br />
der Schrecken verbanden die Venezianer aber mit dem Gedanken<br />
an die Furcht vor dem „Rat der Zehn“. In einem nahezu<br />
uneinsehbaren Raum im dritten Obergeschoss des Dogenpalastes<br />
tagte turnusmäßig jener „Eccelso Consiglio dei<br />
Dieci“, der „Erhabene Rat der Zehn“, der Venedigs Geheimtribunal<br />
und dem dazugehörigen Geheimdienst vorstand. Seine<br />
Mitglieder waren oberste Richter und Ankläger in einem. Hier<br />
wurden diplomatische und geheimdienstliche Berichte ausgewertet,<br />
Hinterbringungen von Spitzeln und Denunzianten.<br />
Denn wer wollte, verstand es, Machteinrichtungen für sich<br />
geschickt auszunützen, konnte hier, wie nirgendwo sonst, seine<br />
Rache nach Lust und Laune befriedigen. Hier wurden Haftbefehle<br />
ausgestellt, peinliche Verhöre durchgeführt und in<br />
Auftrag gegeben und gedungene Mörder entsandt bis weit<br />
über die Grenzen Venedigs. Man hat sich darauf verstanden,<br />
im Geiste der Machtausübung und der Hinterlist die Ordnung<br />
zu sichern, da die offene Austragung und Sicherung des<br />
Rechts unkalkulierbar, unpraktikabel erschien, weil man die<br />
Hintermänner der Bedrohung für die Serenissima nicht kenne.<br />
Warum Truppen und viele Argumente ins Treffen führen,<br />
langen Prozess machen, wenn der kurze Prozess eines gedungenen<br />
Auftragsmörders den gleichen Effekt erzielt. Jedes<br />
Jahr wurden vom „ Consiglio grande e generale“, dem großen<br />
Rat, zehn „nobili“ in den „Consiglio dei Dieci“ gewählt und<br />
berufen. Es war ausdrücklich ausgeschlossen, dass zwei Mitglieder<br />
ein und derselben Familie dorthin berufen werden,<br />
damit keine Sippe in diesem heiklen Gremium zu mächtig<br />
wird. Drei Vorsitzende wählte der „Rat der Zehn“ aus den eigenen<br />
Reihen, von denen jeder jeweils einen Monat im Amt<br />
blieb. Neben den Zehn gehörten der Doge selbst und seine<br />
sechs Ratgeber dem Rat an, weshalb der Rat der Zehn eigentlich<br />
der Rat der Siebzehn war. Innerhalb dieses geheimen<br />
Zirkels wurde ein noch geheimerer Zirkel gebildet<br />
und mit besonderer umfassender Macht ausgestattet: drei<br />
Staatsinquisitoren als ranghöchste Ermittler. Von den zehn<br />
eigentlichen Ratsmitgliedern werden zwei in dieses Gremium<br />
entsandt, der dritte wird aus dem Kreis der sechs Räte<br />
des Dogen gewählt. Wer Hochverräter ist, bestimmt allein<br />
dieses Gremium. Es wird spioniert, dechiffriert, es werden<br />
abgefangene Briefe ausgewertet und archiviert, Informanten<br />
angeheuert und deren Berichte entschlüsselt. Gnadenfristen<br />
sind meist ein Bestandteil der psychologisch<br />
trickreichen Inszenierung einer raschen Exekutierung. Man<br />
beginnt Verhöre oftmals wie Konversationen und Verhandlungen,<br />
wiegt den Inkriminierten in Sicherheit. Höflich wird<br />
vorerst über allgemeine Fragen parliert, sodass der Vorgeladene<br />
mit Staunen Mut fasst und die Welt nicht mehr verstehen<br />
kann, wieso dem Rat der Zehn eine solch furchterregende<br />
fama vorauseilt. Doch wenn man glaubt, längst<br />
gehen zu können und nicht mehr stehen zu müssen vor dem<br />
Rat der Zehn, in jenem holzvertäfelten Raum, direkt oberhalb<br />
jener Brücke, die von den Neuen Gefängnissen in den Dogenpalast<br />
führt, und in welchem sich in geschnitzten, vergoldeten<br />
Rahmen fünfundzwanzig Deckengemälde befinden, in deren<br />
Mittelpunkt Veroneses Bild des Gottes Jupiter, welcher seine<br />
Blitze gegen das Laster schleudert, während man also glaubt,<br />
einfach gehen zu dürfen, in dieser Annahme geradezu bestärkt<br />
durch die indifferente Höflichkeit der Ratsmitglieder, jener<br />
Richter, die gleichzeitig Ankläger und alles in einem sind, und<br />
da vorne auf einem halbrunden hölzernen Podest thronen,<br />
wird man kommentarlos und unversehens auch schon auf<br />
kürzestem Wege, nämlich über die „Seufzerbrücke“, in den<br />
gegenüberliegenden Kerker, die „Bleikammern“ befördert.<br />
Denn kriminalistische Untersuchungen gehen nahtlos in Anklage<br />
und ebenso nahtlos in einen Urteilsspruch über, ohne<br />
dass die Angeklagten überhaupt davon Kenntnis erlangen.<br />
Wer vor dem „Rat der Zehn“ steht, erfährt meist nicht einmal<br />
das volle Ausmaß der Anklage gegen sich. Er erfährt auch nie,<br />
wer ihn angezeigt hat. Und er hat vor allem keinen Verteidiger.<br />
Die prozessuale Verteidigung ist den Venezianern unbekannt.<br />
Der Rat fasst Beschlüsse, „parti“, die zusammen mit<br />
allfälligen Beweisstücken zu den geheimen Akten gelegt werden.<br />
Und Auftragsmorde sollen immer den Anschein erwecken,<br />
als seien sie keineswegs auf höhere Anordnung erfolgt.<br />
Essay
22 VENEDIG|Dezember2016<br />
Essay<br />
Darüber hinaus lesen die „Tre Capi“ alle Denunziationen, die<br />
beim „Rat der Zehn“ eingehen. Im Dogenpalast befindet sich<br />
nämlich eine allgemein begehbare Loggia um alle vier Seiten<br />
des Innenhofs. Dort und auch anderswo sind sogenannte<br />
steinerne „Löwenmäuler“ mit einem steinernen Einwurfschlitz<br />
als Mundöffnung angebracht, in die nach Lust und<br />
Laune vertrauliche Anzeigen und Denunziationen eingeworfen<br />
werden konnten. Was einmal eingeworfen wurde, konnte<br />
niemals mehr zurückgenommen werden. Und wie leichtfertig<br />
ging man mit der Existenz von Menschen um. „Denontie secrete“<br />
definieren Inschriften die staatlich autorisierte Einladung<br />
zur Denunziation. Jedermann durfte hier noch so unbewiesene<br />
oder haltlose Verdächtigungen und Beschuldigungen<br />
einwerfen. Sie wurden allesamt peinlichst genau gelesen in<br />
jenem kleinen Nebenraum des Verhandlungssaals des „Rats<br />
der Zehn“. An den Wänden hier ein Triptychon von Hieronimus<br />
Bosch und darin Szenen aus der Hölle. Alle Arten der<br />
Folter, welche die Hölle kennt, hier auf ein Tafelbild gemalt,<br />
bildeten aber gleichzeitig einen Spiegel der Wirklichkeit<br />
dieses Raums. Denn hier wurde qualvollste Folter ausgelöst,<br />
ohne jede Urteilsbegründung unbefristete Kerkerstrafen verhängt,<br />
lebenslange Verbannung auf isolierte Inseln im Peloponnes<br />
oder Hinrichtung. Denn oft, wenn die „Marangona“,<br />
die größte Glocke im Campanile auf dem Markusplatz läutete,<br />
und die ersten Menschen noch schlaftrunken die Piazzetta<br />
überquerten, erblickten sie erschrocken, zwischen den beiden<br />
prachtvollen Säulen mit den gestohlenen Schutzheiligen<br />
der Stadt und dem assyrischen Löwen mit den Bergkristallaugen,<br />
zwei Gestelle, auf die wie ein X-förmiges Andreaskreuz<br />
mit dem Kopf nach unten, Würgemale an den Kehlen und<br />
zahllosen Folterspuren, die Leichen mehrer Männer zur Abschreckung,<br />
wie geschlachtetes Vieh, öffentlich aufgehängt<br />
waren. Auf Folter und Qual verstanden sich die Venezianer ja<br />
blendend, ebenso wie auf den aus allem und jedem zu ziehenden<br />
Lustgewinn. Heilige Symbole, wie das „Andreaskreuz“,<br />
dem Patron der Ostfahrt, der Kreuzfahrt gewidmet,<br />
missbraucht in Folter, Hinrichtung und Pornographie. Sodass<br />
es scheint, dass die Pornografie bestenfalls nicht dem Leben<br />
diente, sondern dem Tod. Stellungen im Geschlechtsakt, die<br />
der Renaissance-Pornograph Pietro Aretino empfiehlt, wie<br />
das „Andreaskreuz“, wurden hier gleichermaßen für Folter<br />
und Hinrichtung angewandt. Und alles doppelt so wirksam in<br />
Szene gesetzt vor den illuminierten Spiegeln der venezianischen<br />
Öffentlichkeit. Solche Tugenden erheben offensichtlich<br />
die Nobilität über die Lohnarbeit, die vom Pöbel ausgeübt<br />
wird, zur höheren Ehre der Reichen und Mächtigen. Man hat<br />
alle Regeln des weisen Betrugs gelernt, ohne die alle Liebhaber<br />
und Glücksspieler zu Grunde gingen, und deren Anwendung<br />
keinesfalls als Schande gilt. Das Leben, die sogenannte<br />
Liebe, in Venedig gespiegelt als beliebtes Spiel: „Biribi, Primero,<br />
Bassette, Piquet und Pharao“. Geradezu verrückt vor gekünstelter<br />
Heiterkeit. Die Mechanik geradezu aller Mirakel<br />
durchschaut. In eine Truhe gesperrt, um singend und schreiend<br />
vom ständigen Nasenbluten geheilt zu werden. Ein anderes<br />
Mal zu fürchten, ein Toter liege nebenan, und dabei allmählich<br />
zu bemerken, es sei nur der eigene eingeschlafene<br />
Arm gewesen. Dann überall phantastische Rezepte zur Goldherstellung<br />
zu verkaufen, dafür Dilettanten zu finden, die sich<br />
aus reiner Freude für einen Blödsinn begeistern lassen, eine<br />
Lotterie ins Leben zu rufen, einer einst schönen Moribunden<br />
bei ihrer Wiedergeburt im Körper eines bezaubernden Knaben<br />
behilflich zu sein, ihn mit ihr zu zeugen versprechen, mit<br />
weit gespreizten Beinen, aus deren Schoß dann Signoras<br />
Seele ausfahren kann. Und die mehr als eintausend Huren,<br />
die während des Karnevals Venedig durchschlendern, ein Blumensträußchen<br />
als Kennzeichen hinter dem Ohr. Aber Huren<br />
benehmen sich oft menschlicher als Geliebte und Gatten.<br />
Nach ähnlichem Erleben kauft sich Casanova einen Papagei,<br />
dem er nur einen Satz einlernt: „Signora Chapillon ist eine<br />
noch schlimmere Hure als ihre Mutter“. Auch Friedrich Nietzsche,<br />
von Richard Wagner von Venedig aus brieflich gequält,<br />
er solle ihm in Basel seidenen Unterhosenstoff besorgen,<br />
zieht nach dem Tod des Meisters wieder nach Venedig, diesmal<br />
zu einer Hure nahe der Rialtobrücke. Noch bei seiner Einlieferung<br />
ins Irrenhaus singt er, ständig wiederholend, ein venezianisches<br />
Gondellied, bevor er endgültig verstummt. Nur<br />
scheinbar ist die Liebe ein süßer Betrug, in welchem es keine<br />
Opfer gibt. Werden den Liebenden alle Ränke ob der Augenblicksempfindung<br />
verziehen. Werden gehörnte Ehemänner in<br />
den Krieg geschickt und ihnen nicht einmal mehr die Rolle<br />
des Heimkehrers zugebilligt. Andererseits macht sich einer,<br />
der glaubt, mit seiner eigenen Gattin auf der Piazetta zu promenieren,<br />
zur Witzfigur. Goldoni sagt, Eifersucht sei eine ordinäre<br />
und veraltete Leidenschaft. Eheliche Pflichten überlassen<br />
die Gatten bereitwillig dem Nebenbuhler und die täglichen<br />
Zuwendungen dem „cicisbeo“, einem jungen Mann aus<br />
gutem Haus. Er ist eine weit entwickeltere Art als ein bloßer<br />
Eunuch. Denn er verzichtet freiwillig nach Art eines Troubadours<br />
auf das Ziel seiner Anbetung, die Einlösung und Abgeltung<br />
seiner Dienste in barer fleischlicher Münze. Denn er gefällt<br />
sich darin, seiner Gebieterin Tag und Nacht zu Diensten<br />
zu sein. Er ist wie ihr Spiegelbild, ihre innere Stimme, die sie
VENEDIG|Dezember2016<br />
23<br />
auf Schritt und Tritt begleiten. Er berät sie in Fragen der Konversations-Koketterie,<br />
in Fragen der Perückenhöhe und der<br />
Frisur, er schaut auf ihr Hündchen und umtanzt ihre Sänfte.<br />
„Dreispitz“, „bauta“ und Täschchen unterliegen seiner Beratung,<br />
seiner Mitbestimmung. Der „cicisbeo“ ist der erste morgendliche<br />
Besucher und darf auch der Morgentoilette beiwohnen.<br />
Auch bei Unpässlichkeit ist er zugegen. Warum<br />
sollte es der Gatte sein? Dienst ohne Gegenleistung, ein Symbol<br />
einer heiteren Laune des Geschicks. Denn mitten in den<br />
sonstigen Liebesgefechten werden die Masken vertauscht,<br />
sieht man sich gemeinsam in dem kerzenerhellten Spiegel,<br />
um selbstverliebt den Besitz auf das eigene Spiegelbild anzumelden,<br />
die Lust des Anderen gegenseitig zu belauschen, wie<br />
durch das Gemälde eines Stilllebens, in welchem an Stelle<br />
eines Blumenkelchs ein Loch gebohrt wurde, um dem Liebesakt<br />
lauschend und erspähend beizuwohnen. Alles nach<br />
Selbstauskunft der Serenissima berückend und harmlos.<br />
Aber dann offensichtlich doch nicht. Ein gehörnter Ehemann,<br />
der sich seine Lächerlichkeit vor Augen führt, und in Blut baden<br />
will. Die Geliebte, die nicht nur zum Anschein einer Theaterszene<br />
auf den Balkon steigt, und dann doch nicht springt.<br />
Nein sie denunziert den Geliebten ob der erst erbeuteten und<br />
sodann verschmähten Liebe bei den denontie secrete, erkennt<br />
dann aber die Unwiderruflichkeit ihres Tuns, sie springt<br />
deshalb wirklich und eröffnet im Tod all die bis dahin ignorierten,<br />
aufgeschobenen Fragen, die unversorgten Kinder, die<br />
kranken Eltern, die enorme Schuldenlast, die auf die Familie<br />
überbunden wird. Umso grauenvoller und tiefgreifend irreversibler<br />
aber, wenn ein Kind springt, weil es mit der Spaltung<br />
solcher Werthaltung und solchen Bewusstseins nicht mehr<br />
fertig wird. Wo bleibt da Gott, wenn er gerufen wird, wo er<br />
doch sprichwörtlich und unbewusst ständig angerufen wird.<br />
Venedigs Frivolität vollzieht sich in sonderbaren Ordnungen.<br />
Schon gleiten wieder die Gondeln der Staatsinquisitoren mit<br />
ihren roten Laternen über die Lagune, sie verheißen Folter,<br />
Galeerenfron und Todesstrafe, um das Nichts zu sühnen, die<br />
haltlosen Denunziationen, eingeworfen in den Mund grimmiger<br />
Steingesichter. Die neunzehn unterirdischen Kerker mit<br />
ihren Menschenkäfigen und pfeifenden Wasserratten sind<br />
heillos überfüllt. Hier endet alle Selbstinszenierung und<br />
Selbstverführung. Hier befinden sich die ohne Schuldbegründung<br />
Unglücklichen, die nach Begründung brennen bis ans<br />
Ende ihres Lebens. Aber auch das werte Publikum hat das<br />
Theater längst verlassen. Venedigs Herrschaft ist ebenfalls<br />
ständig geschrumpft. Der Doge, einst Herrscher eines stolzen<br />
Reiches und einer überragenden Seemacht, ist zum Mimen<br />
vergangenen Glanzes degradiert, der nur um des Publikumsbeifalls<br />
wegen auf die Loggia seines Palastes tritt. Jeder seiner<br />
Schritte wird von den Staatsinquisitoren kontrolliert, die<br />
Tag und Nacht unangemeldet in seine Gemächer eindringen,<br />
ihn befragen, ihm aber auch Weisungen erteilen können. Nur<br />
in ihrem Beisein darf er Dokumente fertigen, Staatsgeschäfte<br />
erledigen oder auswärtige Gesandte empfangen. Selbst für<br />
einen Kuraufenthalt auf der „Terra ferma“ benötigt er die ausdrückliche<br />
Zustimmung des „Consiglio grande e generale“,<br />
dessen Beschlüsse alle seine Veranlassungen genau vorherbestimmen.<br />
Doch am Himmelfahrtstag, da fährt er noch einmal<br />
mit der Prunkgaleere, dem „bucintoro“, hinaus, um die<br />
symbolische Hochzeit Venedigs mit dem Meer zu feiern. Sein<br />
Schiff strahlt wie kein anderes vom Gold der Applikationen<br />
und Voluten. Skulpturen schmücken Bug und Heck und vom<br />
Bug flattern die erbeuteten Fahnen der Türken. Tempi passati.<br />
Dann lässt der Doge den goldenen Vermählungsring ins Wasser<br />
gleiten und ruft: „Wir vermählen uns mit dir im Namen<br />
wirklicher und dauernder Herrschaft.“ Und Jubel steigt auf,<br />
ringsumher, von den zahllosen Gondeln und Begleitschiffen,<br />
in welchen die Menge am Ufer, von den Balkonen der Häuser<br />
und Paläste, einstimmt. Auch Casanova schaut von einem<br />
Boot aus zu – und er kommentiert diesen Vorgang, als nehme<br />
er den heraufdämmernden Verfall und Untergang schon vorweg.<br />
Er notiert: „Beim leisesten ungünstigen Wind könnte das<br />
Schiff kentern und der Doge ertrinken, zusammen mit der<br />
ganzen erlauchten Signoria, mit den Botschaftern und auch<br />
mit dem Nuntius des Papstes. Um das Unglück voll zu machen,<br />
brächte ein solcher Zwischenfall ganz Europa zum Lachen,<br />
denn man würde sagen, der Doge von Venedig habe die<br />
Ehe endlich vollzogen.“<br />
Wolfgang Mayer-König<br />
Geb.1946, lebt als Schriftsteller und Universitätsprofessor in Graz<br />
und Emmersdorf an der Donau. Gründer des Universitätsliteraturforums.<br />
Herausgeber der Literaturzeitschrift LOG. Ständiger Delegierter<br />
bei den Vereinten Nationen. Mitglied der italienischen Akademien<br />
„Tiberina“ in Rom und „Cosentina“ in Cosenza. Autor von<br />
45 Büchern. Im Herbst erscheint im Löcker Verlag sein neuer Prosaband<br />
„Das begeisterte Wort“.<br />
Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse,<br />
Kulturmedaille des Landes Oberösterreich, Chevalier des Arts et des<br />
Lettres der Französischen Republik. Ehrenobmann der Literarischen<br />
Gesellschaft St. Pölten.<br />
Essay
24 VENEDIG|Dezember2016<br />
Essay<br />
Daniel Krcál<br />
Allerseelen: Venezia<br />
Julian Cope, Gründer der legendären Band Teardrop Explodes<br />
und Krautrock-Experte, ist bekennender Allerseelen-<br />
Fan und weiß auf seiner musikologischen Homepage Head<br />
Heritage von so mancher Allerseelen-Platte zu schwärmen.<br />
Und dennoch kennt die Band in Österreich kaum wer. Was so<br />
ein bisschen seine Gründe hat.<br />
Das Ein-Mann-Projekt Allerseelen ist die experimentelle<br />
Spielwiese des Österreichers Gerhard Petak, früher unter<br />
dem Künstlername Kadmon und nun als Gerhard Hallstatt<br />
tätig, in jungen Jahren unter anderem Trommler bei Hermann<br />
Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Es ist eingebettet in eine<br />
im Post-Punk, Industrial und Gothic fußende Subkultur, die<br />
in ihrer post-satanischen Suche nach identitätsstiftenden bis<br />
subversiven Inhalten unter anderem auch auf das Thema Okkultismus<br />
im Dritten Reich gestoßen war. Da einige Protagonisten<br />
dieser sich selbst meist Apocalyptic Folk oder Neofolk<br />
nennenden Szene ihre Auseinandersetzung mit verbrannter<br />
Symbolik durchaus obsessiv, exzessiv oder gar provokant unkommentiert<br />
betrieben, kam es bald zu den unvermeidlichen<br />
Missverständnissen und Anschuldigungen durch Außenstehende.<br />
Darauf im Einzelnen tiefer einzugehen, würde hier zu<br />
viel Platz einnehmen, aber zusammengefasst kann gesagt<br />
werden, dass man es mit einer bunten Szene zu tun hat, für<br />
die das dekadente Spiel mit rechten Codierungen nur ein Aspekt<br />
von vielen ist. Dort, wo es aber betrieben wird, pendelt<br />
es sich irgendwo zwischen postideologisch unpolitischer<br />
Aneignung, linker bis antifaschistischer Interpretation, blanker<br />
Provokation und rechter Affirmation ein. Ein spannendes,<br />
riskantes, vieldeutiges Wagnis, das eher zu eigenständigem<br />
Denken einlädt als zu simplen Schlussfolgerungen. In den<br />
Ursprungsländern der nationalsozialistischen Verbrechen<br />
jedoch für viele - verständlicherweise - ein schwer zu tolerierendes<br />
Problemfeld. Was so einige nicht verstehen (können<br />
oder wollen): Es geht um Kunst, nicht Agenda. Reflektieren,<br />
nicht skandieren.<br />
Allerseelen sind eine jener Bands, die aufgrund so mancher<br />
thematischen Exploration immer wieder in besagten Verdacht<br />
kamen. Auf diese Anschuldigungen kann hier keine Antwort<br />
gegeben, dafür aber auf den künstlerischen Ertrag verwiesen<br />
werden, der keine politische, sondern die vielfältige<br />
Sprache eines von mannigfachen, kontrapunktischen Einflüssen<br />
durchdrungenen Gesamtkunstwerks spricht. Und ein<br />
Zitat des Künstlers beigefügt werden: „Gerade unsere Liebe<br />
zu kleinen Ländern und Regionen wie das Baskenland, wie<br />
Katalonien, Korsika, Österreich, Südtirol, Slowenien bewahrt<br />
uns davor, totalitäre oder autoritäre Strukturen und Systeme<br />
zu verherrlichen.“.<br />
Gemäß dieser Vorliebe fürs Regionale ist eine der wichtigsten<br />
Inspirationsquellen für Gerhard Hallstatt das Reisen:<br />
„Für mich ist eine Reise wie ein Mikrokosmos von einem<br />
Leben: Das beginnt mit der Geburt, das ist der Aufbruch, und<br />
es gibt ein Ende, das ist die Heimkehr.“. Eines der wichtigsten<br />
wiederkehrenden Reiseziele ist seit 1982 Venedig: »Ich<br />
mag Venedig sehr, allerdings nur in der kalten Jahreszeit. Ein<br />
magisches Inselreich mit funkelnden Visionen, eine trunkene<br />
Altstadt wie auf Zauberstäben, in der alles fließt und flüstert,<br />
in der jedes Wesen nicht nur einen Schatten, sondern auch<br />
ein Spiegelbild besitzt, schimmernd und schlummernd, aristokratisch<br />
und dekadent wie Charles Baudelaire und Gabriele<br />
d’Annunzio.«. Kein Wunder also, dass die Stadt, von der<br />
Hallstatts Lieblingsdenker Nietzsche meinte, wenn er ein<br />
anderes Wort für Musik suche, fände er immer nur das Wort<br />
Venedig, 2001 Motiv für ein ganzes Album wurde.<br />
Venezia stammt aus einer Zeit des leichten stilistischen<br />
Umbruchs Hallstatts. Das Experimentelle, bislang bestimmendes<br />
Element in der Musik von Allerseelen, findet von<br />
nun an Einschluss in gängigere, popmusikalischere Songstrukturen.<br />
Diese wiederum öffnen sich verschiedensten<br />
Stilen. Was entsteht, ist eine Art endzeitlicher Artpop. Entarteter<br />
Endzeitpop. Neugierig, poetisch. Vielschichtig, Lage um<br />
Lage durchpoliert.
VENEDIG|Dezember2016<br />
25<br />
Gleich der Opener des Albums schiebt mit schneidend<br />
hypnotischem Beat und einer beschwörenden Repetition<br />
des Liedtitels an – „Dolce Vita, salzig und süß“. Der<br />
zweite Track „Tanzt die Orange“ bricht das aufgenommene<br />
Tempo auf einen trippig polternden Dub herunter, umspielt<br />
damit Fragmente aus Rainer Maria Rilkes „Die Sonette an<br />
Orpheus“. In „Horusknaben“ dann werden Rhythmik und<br />
Tanzbarkeit wiederkehrend von Klassikpomp durchrissen,<br />
und Hallstatt, damals noch Kadmon, dichtet unter anderem<br />
apophthegmatisch: „kubingraue Tauben“.<br />
In „Musa“ - ein Höhepunkt des Albums - wird Ezra Pound<br />
in treibende Akustikgitarre, Bass und Klavierschnipsel<br />
gebettet; flüsternd, lyrisch, geheimnisvoll - die Muse, die<br />
einen im Schlaf überkommt. Hallstatt zu Pound und Venedig:<br />
„Venedig war sicher für Ezra Pound eine Insel der Seligen,<br />
eine Dolce Vita nach seiner Zeit in den USA, wo er doch<br />
jahrelang in diesem Irrenhaus war. Es ist auch sehr interessant,<br />
dass Pasolini Ezra Pound in Venedig besucht hat.<br />
Ich schätze manche Texte von Ezra Pound sehr, allerdings<br />
finde ich, dass viele seiner Dichtungen zu überladen sind,<br />
zu schwierig, kaum zu verstehen ohne ein mythologisches<br />
Wörterbuch. Sein Schicksal ist beeindruckend, ist eigentlich<br />
wie geschaffen als Stoff für eine Tragödie des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts. In seinem Leben verbinden sich Dichtung und<br />
Zeitgeschichte sehr unheilvoll: Ein Mann, der für den italienischen<br />
Faschismus Radiosendungen macht, der von den<br />
Amerikanern in einen Käfig eingesperrt wird. Mich faszinieren<br />
immer solche tragischen Persönlichkeiten, mit einem<br />
tragischen Leben oder einem tragischen Tod.“.<br />
„Cuore Avventuroso“ bietet repetitiven, dekadent verschleppten<br />
Electronica-Sample-Jazz. „Bist du die Nacht“<br />
begibt sich mit behäbigem Tempo und Rilke-Fragmenten<br />
auf eine nächtliche Wanderung durch die Gassen des Wundersamen.<br />
„Venedig“ umwebt Friedrich Nietzsches gleichnamiges<br />
Gedicht mit elegischen Slide-Gitarren-Lappen.<br />
„Spiegel sind Türen“ übt sich mit rauem Beat an Jean Cocteau<br />
ab.<br />
In „Rifflessioni“ haucht Kadmon/Hallstatt seine Poesie gegen<br />
einen Wandteppich aus mächtigen Ambient-Streichersamples,<br />
in „Gondelwerkstatt“ wiederum gegen einen aus<br />
Ambient, Industrial und Dub, und in „From Her To Eternity“<br />
(der Titel ist eine Hommage an Nick Cave) dann in die Synkopen<br />
einer temporeichen, trance-basierten Rhythmik.<br />
„Toteninsel“ schließlich - Pound liegt auf der venezianischen<br />
Insel San Michele begraben – ist ein würdiger Ausklang.<br />
Mystisch, blubbernd, ganz so, als würde ein müder Krieger<br />
langsam im venezianischen Meer versinken und nach und<br />
nach nur noch die Reste seiner erschöpften Lunge als Luftblasen<br />
an die Wasseroberfläche tanzen lassen.<br />
Obwohl Hallstatt die musikalische Ausdrucksform von<br />
Venezia selbst als „musica marittima“ bezeichnet, ist das<br />
Album weitab von Sonne und Mittelmeeridyll, gibt nicht<br />
jenen verkitschten Geist Venedigs wieder, den sich der<br />
durchschnittliche auf ausgetretenen Pfaden wandelnde<br />
Tourist erwartet; der eine oder andere Moment des Albums<br />
steht diesem süßen Klischee der Gondelstadt gar antipodisch<br />
gegenüber - ist zu harsch, zu kantig. Vielmehr ist es<br />
als inneres und äußeres Reisetagebuch zu sehen, als ein<br />
gegenständliches Eintauchen mit den Mitteln und unter den<br />
Vorlieben des Eintauchenden. Ein sorgsam geflochtenes<br />
Netz aus ausgewählter Sprachverliebtheit, geographischer<br />
Neugier und musikalischer Abenteuerlust. Eine auditive<br />
Reise, die den Blick auf ein anderes, heimliches, kühnes,<br />
abseitiges Venedig freigibt, und nicht nur deswegen unbedingt<br />
gewagt werden sollte.<br />
Daniel Krcál<br />
1971 mit Prager Wurzeln in Wien geboren. Prosa, Lyrik. Essays<br />
zu dies- und jenseitiger Populärkultur mit den Schwerpunkten<br />
Apocalyptic Folk, Unexplained Aerial Phenomena und Verschwörungstheorien.<br />
Mitglied der Literaturgruppe Wortwerft. Veröffentlichungen<br />
unter anderem in Rokko‘s Adventures, <strong>etcetera</strong> und<br />
Keine Delikatessen. Musikalische Arbeiten und literarische Vertonungen<br />
als hano aaruk, rukaanoha und Ku Raa oNa H.<br />
Essay
26 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
Daniel Weber<br />
Der Gondoliere<br />
Ich habe ein langes und erfülltes Leben hinter mir, über achtzig<br />
Jahre; ich habe vieles erlebt und gesehen, doch eine Sache<br />
gibt es, über die ich mit niemandem je gesprochen habe,<br />
bis heute nicht. Jetzt, wo sich der Tod langsam, aber sicher<br />
anbahnt, er mich mit seiner knochigen Hand zu sich winkt,<br />
möchte ich mir diese eine Sache noch von der Seele schreiben,<br />
die ich nicht vergessen, geschweige denn verdrängen<br />
kann.<br />
Ich war einen Großteil meines Lebens Enthüllungsjournalist,<br />
schrieb für viele große Zeitungen und genoss Ruhm und Ansehen<br />
in meinem Metier. Ich war gefragt und verdiente dementsprechend<br />
gut. Es gab nur eine Story, wie man so schön<br />
sagt, die ich nie veröffentlicht habe, einerseits, weil ich nur<br />
an deren Oberfläche gekratzt hatte, bevor ich die Flucht antrat,<br />
andererseits, weil sie zu unglaublich erscheint, als dass<br />
sie irgendeine Zeitung abgedruckt hätte, die sich selbst als<br />
seriös versteht.<br />
Es war irgendwann in den beginnenden Achtzigerjahren – verzeihen<br />
Sie meine Ungenauigkeit dahingehend, das Gedächtnis<br />
eines alten Mannes ist nicht mehr das verlässlichste. Während<br />
eines frühen Sommers spielte mir eine vertrauensvolle<br />
Quelle zu, dass in Venedig etwas nicht mit rechten Dingen<br />
zugehen solle. Touristen verschwanden dort, und die Polizei<br />
und die Regierung, unterstützt von der Bevölkerung, würden<br />
diesen Umstand zu vertuschen suchen; zweifellos hatten sie<br />
Angst, der Tourismus könnte einbrechen, würde diese Sache<br />
an die Öffentlichkeit gelangen.<br />
Nun, das roch nach Skandal, und obwohl ich damals schon<br />
nicht mehr der Jüngste war, war ich doch als Mann mittleren<br />
Alters noch in Abenteuerstimmung und machte mich auf<br />
nach Venedig, einer Stadt, die ich schon immer geliebt habe.<br />
Ich sehe jedoch davon ab, Venedig in ihrer Schönheit und<br />
Pracht zu beschreiben; jenen, die bereits zu Gast in dieser<br />
Stadt waren, müsste eine solche Beschreibung als ganz und<br />
gar unzulänglich erscheinen, und jenen, die sie noch nicht<br />
kennen, würde es ein vollkommen falsches Bild liefern. Diese<br />
Stadt muss man mit eigenen Augen sehen, denn sie lässt sich<br />
nicht beschreiben. Ich hatte immer das Gefühl, ihr hafte eine<br />
Atmosphäre der Erhabenheit und des Glanzes an; aber auch<br />
eine Aura der Melancholie schien von ihr auszugehen, wenn<br />
ich sie besuchte, doch dieser Eindruck ist vielleicht einer zu<br />
leidenschaftlichen Lektüre Thomas Manns zuzuschreiben.<br />
Jedenfalls verlor ich keine Zeit, nachdem mich meine Quelle<br />
kontaktiert hatte, und machte es mir nach ein paar Tagen<br />
bereits in einem bescheidenen Zimmer eines Viersternehotels<br />
in Venedig gemütlich. Das Hotel stand unweit des<br />
Markusplatzes, einer meiner liebsten Plätze in dieser Stadt;<br />
vor allem der Dogenpalast war immer wieder Ziel meiner<br />
ausgedehnten Spaziergänge, aber auch den Canal Grande<br />
ging ich immer wieder gerne entlang; wenn sich die untergehende<br />
Sonne abends auf dem bewegten Wasser spiegelte,<br />
überkam mich immer ein sonderbares Gefühl, als hege diese<br />
Stadt Geheimnisse unter ihrer romantischen Fassade.<br />
Ich kann mich heute nicht mehr an alle Straßen, Gassen, Kanäle<br />
und engere Wasserstraßen erinnern, doch ich durchforstete<br />
sie ohne Ausnahme auf meinen Nachforschungen. Von<br />
der Polizei würde ich nichts herausbekommen, dies war so<br />
gut wie sicher; selbst, wenn ich Kontakte zu ihr gehabt hätte,<br />
wäre es fraglich gewesen, ob diese mir so weit entgegengekommen<br />
wären, um ihre Stadt durch einen Skandal in Verruf<br />
zu bringen. Also versuchte ich, mit kleineren Händlern und<br />
ärmeren Einheimischen zu reden. Ich war schon immer ein<br />
charismatischer Mensch, und ich scheute auch nicht davor<br />
zurück, reichlich Bestechungsgeld einzusetzen, um zu meinen<br />
Informationen zu gelangen – und nach einigen Tagen<br />
stellte sich heraus, dass ich offenbar wirklich einer großen<br />
Sache auf der Spur war!<br />
Aus verschiedenen Mündern, die einen mehr, die anderen<br />
weniger glaubwürdig, setzte sich eine Geschichte zusammen,<br />
welche die einheimischen Behörden schier zur Verzweiflung<br />
brachte und an die Grenzen ihrer Kompetenz: Seit einigen<br />
Wochen verschwanden offenbar regelmäßig Touristen, ein<br />
Umstand, der so weit noch keine Sensation gemacht hätte,<br />
denn Touristen verschwinden einfach immer mal wieder<br />
in einem fremden Land. Das Mysterium dahinter waren die<br />
Umstände ihres Verschwindens! Aus den Zeugenaussagen<br />
zu schließen, die augenscheinlich zahlreich waren, wurde<br />
jeder Tourist vor seinem Verschwinden beim Besteigen einer<br />
Gondel gesehen. Die in Frage kommenden Gondolieri –<br />
wenn es denn überhaupt verschiedene waren, denn darüber<br />
war man sich unschlüssig – konnten jedoch nie identifiziert<br />
werden. Die vagen Beschreibungen von Verdächtigen waren<br />
die von Allerweltgesichtern, die sich vielleicht, vielleicht<br />
auch nicht ähnlich sahen. Die Polizei befragte die Gondolieri<br />
immer wieder, doch wussten diese offenbar nichts zu den<br />
verschwundenen Touristen zu sagen; auf keinen von ihnen<br />
passten zudem die Beschreibungen der Augenzeugen, obgleich<br />
manche vergleichbare Gesichtszüge zu haben schie-
VENEDIG|Dezember2016<br />
27<br />
nen. Wussten sie etwas und verschwiegen es? Oder wussten<br />
sie wirklich nichts? Damals habe ich mich das oft gefragt,<br />
und auch heute noch bin ich mir nicht sicher.<br />
Eine Atmosphäre der Angst unter den Einheimischen war<br />
beinahe greifbar; einerseits fürchteten sie um ihr Einkommen,<br />
sollte der Tourismus wegen einer Veröffentlichung dieser<br />
Geschehnisse zurückgehen, andererseits fürchteten sie<br />
sich vor dem Geheimnis an sich; einfache Menschen neigen<br />
zu Aberglauben, und bei meinen zahlreichen Befragungen<br />
geschah es nicht selten, dass eine meiner Gewährspersonen<br />
plötzlich von übernatürlichen Phänomenen zu stammeln begann,<br />
welchen ich selbstredend keine Bedeutung beimaß;<br />
meiner Vermutung nach handelte es sich um einen oder<br />
mehrere Serientäter, die gerade hier in Venedig ihr Unwesen<br />
trieben und welchen die örtlichen Behörden nicht Herr werden<br />
konnten, weswegen sie die ganze Sache vertuschten.<br />
Aber ich brauchte mehr, ich brauchte Beweise. Die stammelnden,<br />
teils unzusammenhängenden Aussagen der Einheimischen<br />
reichten bei Weitem nicht aus, um daraus eine<br />
richtige Story zu machen, das wäre die Vorgehensweise von<br />
Revolverblättern und Möchtegernjournalisten gewesen.<br />
Ich machte mich also daran, auch die Gondolieri zu befragen,<br />
doch hier musste ich freilich subtiler, unterschwelliger<br />
vorgehen, da sie ja implizit in Verdacht standen, etwas mit<br />
dem Verschwinden der Touristen zu tun zu haben, und vielleicht<br />
gehörten einzelne sogar wirklich zu den Tätern, die ich<br />
vermutete. Ich glaubte, ein großes Risiko einzugehen, mich<br />
mit vielen von ihnen zu unterhalten, vielleicht sogar mich in<br />
Todesgefahr zu begeben. Sollte ein Gondoliere, mit dem ich<br />
sprach, wirklich Dreck am Stecken haben und Verdacht hegen,<br />
was meine wirklichen Absichten anlangte, könnte dies<br />
übel für mich enden. Doch Risiko gehörte zu meinem Beruf;<br />
obwohl ich die Auslandskorrespondenten in Kriegsgebieten<br />
nicht um das ihrige beneidete, so gab es mir doch ein gewisses<br />
Gefühl der Aufregung; es machte mir Spaß!<br />
Ich erwartete auf Grund der Umstände, auf verschlossene,<br />
womöglich sogar etwas missmutige Männer zu treffen, die in<br />
ihren rot-weiß oder blau-weiß gestreiften Leibchen die Gondeln<br />
steuerten, doch dem war, im Großen und Ganzen, nicht<br />
so: es waren freundliche Männer, die mich gerne in ihren<br />
Gondeln auf unzählige Spazierfahrten ohne Ziel mitnahmen.<br />
Diese nutzte ich dazu, ungezwungen und ohne Misstrauen<br />
zu erregen mit ihnen zu plaudern, um nähere Informationen<br />
zu erhalten.<br />
Doch meine Versuche scheiterten kläglich! Wie ich es auch<br />
anstellte, sie stiegen auf keine Gespräche ein, die in Richtung<br />
sonderbare Vorkommnisse, Verbrechen oder sonstiges<br />
in ihrem Metier abzielten. Es war zum Verzweifeln! Meine<br />
raffiniertesten Tricks im Gespräch führten zu nichts, all meine<br />
Befragungstechnik schien mich im Stich zu lassen! Entweder,<br />
sie wussten wirklich nichts, oder sie hatten sich alle<br />
verschworen. Eines erschien mir jedoch so unglaubhaft wie<br />
das andere – also was steckte hier bloß dahinter?<br />
Ich kann heute nicht mehr sagen, wie viele Tage ich mit der<br />
Befragung der Gondolieri zubrachte, mit wie vielen von ihnen<br />
ich Spazierfahrten unternahm, teilweise bis spät in den<br />
Abend hinein, um dann zu Tode erschöpft in mein Hotelbett<br />
zu fallen. Es müssen sicherlich an die zwei Wochen gewesen<br />
sein, in welchen ich so gut wie nichts erfuhr, außer, dass<br />
in der Zeit meines Aufenthalts wieder zwei Touristen, ein<br />
junges Paar diesmal, verschwunden waren, die zuletzt beim<br />
Besteigen einer Gondel gesehen worden waren – und der<br />
fragliche Gondoliere war wieder einer mit Allerweltgesicht<br />
ohne jegliche besondere Kennzeichen…..<br />
Lange Rede, kurzer Sinn: es verließ mich schön langsam der<br />
Mut. Sicherlich, ich war langwierige und schwierige Untersuchungen<br />
gewöhnt, aber nie zuvor oder danach bin ich auf<br />
eine solch undurchdringliche Mauer des Schweigens gestoßen.<br />
Ich wollte schon aufgeben und mich geschlagen geben,<br />
bis ich eines Abends doch noch auf einen Gondoliere stieß,<br />
der mir irgendwie seltsam vorkam; ich kann nicht sagen, wieso.<br />
Ich glaubte, er sei anders als jene, die ich bisher befragt<br />
hatte, also eilte ich auf seine Gondel zu, die gerade am Rande<br />
eines schmaleren Kanals Halt machte.<br />
Der Gondoliere war ein hochgewachsener, hagerer Mann,<br />
dessen Gesicht ich auf Grund des bereits einsetzenden<br />
abendlichen Zwielichts nicht genau erkennen konnte. Es<br />
schien mir alltäglich, fast gewöhnlich zu sein, wenn auch etwas<br />
blass. Eine schwarze Mütze bedeckte sein Haupt und ich<br />
vermutete, dass sich darunter eine Glatze befinden müsse.<br />
Als ich auf ihn zuschritt, trafen sich unsere Augen. Ich blickte<br />
in die seinen, die blassgrün und kühl auf mich gerichtet waren,<br />
als würden sie durch mich hindurchspähen; es war fast,<br />
als wäre dieser Mann nicht ganz anwesend im Hier und Jetzt,<br />
und trotz allem verneigte er sich, als er erkannte, dass ich<br />
zu ihm kam. Sein rot-weiß gestreiftes Leibchen hing beinah<br />
schlabberig an seinem Körper und die Düsternis warf Schatten<br />
auf sein undeutliches Gesicht und seine dünne Gestalt.<br />
Ich sagte ihm, ich wolle eine kleine Abendspazierfahrt unternehmen.<br />
Er neigte darauf seinen Kopf etwas nach vorne,<br />
was ich als Zustimmung deutete, und ich wollte bereits einsteigen,<br />
als er mich mit einer Handbewegung davon abhielt.<br />
Prosa
28 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
Er streckte mir seine knochige Hand offen entgegen, sagte<br />
jedoch nichts. Kurz stand ich verdutzt da, bis ich begriff, dass<br />
er die Bezahlung im Vorhinein verlangte; ich zögerte kurz, da<br />
mir das Ganze nun plötzlich nicht mehr geheuer war. Dieser<br />
Kerl sagte kein Wort – vielleicht war er stumm, ich wusste<br />
es nicht – und einfach so die Hand nach Geld auszustrecken<br />
war doch nicht unbedingt die höflichste Art und Weise, den<br />
Obolus zu erbitten.<br />
Doch irgendetwas sagte mir, dass ich bei diesem Gondoliere<br />
vielleicht auf Informationen stoßen könnte, die mir endlich<br />
weiterhelfen würden, also überwand ich meinen Widerwillen<br />
und kramte ein paar Geldscheine heraus. Ich reichte sie ihm<br />
hin, doch er zog seine Hand zurück, ohne das Geld entgegenzunehmen.<br />
Ich blickte ihm verwirrt in die Augen, bis er in<br />
seine Hosentasche griff, ein paar Münzen herauszog und sie<br />
klimpern ließ. Er wollte Kleingeld.<br />
Etwas enerviert ob dieser Unverschämtheit, die mich meine<br />
anfängliche Skepsis diesem Kerl gegenüber kurz vergessen<br />
ließ, kramte ich selbst in meiner Hose nach Kleingeld und ließ<br />
es in die nun wieder ausgestreckte Hand dieses Halunken fallen,<br />
sodass es abermals leise klirrte. Der Gondoliere neigte<br />
daraufhin erneut sein Haupt und bedeutete mir mit einer einladenden<br />
Armbewegung, ich dürfe mich nun in sein Gefährt<br />
setzen, was ich auch tat. Und dann fuhren wir los, langsam<br />
und schaukelnd, während das Wasser um uns herum leise<br />
plätscherte. Der Abend war schon vorangeschritten und das<br />
tägliche Treiben der Stadt beruhigte sich allmählich.<br />
Wir fuhren gemächlich durch kleinere Kanäle, nur vereinzelt<br />
begegneten wir Gegenverkehr und es waren fast keine Menschen<br />
mehr auf den Straßen; eine angenehme Ruhe umgab<br />
mich, es wurde mit der Zeit sogar richtig still. Doch anstatt<br />
mich darüber zu wundern, versank ich zu Beginn der Fahrt<br />
in eine wohlige Zufriedenheit, die mich beinah‘ schläfrig<br />
machte und mich wünschen ließ, in dieser Gondel einfach<br />
dahin zu dösen, während sie mich durch die engen Wassergässchen<br />
schaukelte.<br />
Bald senkte sich die Nacht über Venedig, ich hatte jegliches<br />
Zeitgefühl verloren und wir fuhren gerade in einer der<br />
verwinkelten Wasserstraßen entlang, die von teilweise brüchigen<br />
Hausmauern umsäumt sind. Der Mond war aufgegangen<br />
und schien direkt auf unseren kleinen Wasserweg;<br />
er beleuchtete silbrig glänzend den Gondoliere, der mir mit<br />
einem Mal noch blasser vorkam als zuvor.<br />
Und auch etwas anderes fiel mir auf: eine Stille und eine<br />
Leichtigkeit, die gleichzeitig das Gegenteil ihrer selbst waren.<br />
Ich runzelte die Stirn und versuchte mir Klarheit darüber<br />
zu verschaffen, was diese Diskrepanz in meiner Wahrnehmung<br />
verursacht hatte. Schleichend schälten sich dann<br />
einzelne Eindrücke heraus, die mich aufhorchen und um<br />
mich blicken ließen: Die Stille war eine vollkommene Stille,<br />
doch durchbrochen von einem unhörbaren Ruf, ein Ziehen<br />
gleichsam, der und das direkt aus meinem Inneren zu kommen,<br />
oder in mein Inneres von irgendwoher einzudringen<br />
schienen; ich weiß bis heute nicht, was zutreffend ist. Und<br />
die Leichtigkeit war zwar eine Leichtigkeit meiner Seele,<br />
fast ein Losgelöstsein von meinem Körper, doch ich merkte<br />
nun, dass wir Schwierigkeiten hatten, vorwärtszukommen;<br />
wir fuhren plötzlich sehr langsam und schaukelten auch fast<br />
gar nicht mehr.<br />
Der Gondoliere schien von alledem keine Notiz zu nehmen,<br />
also beugte ich mich etwas hinaus aus der Gondel, um aufs<br />
Wasser zu schauen. Es war schwarz, unheimlich düster, und<br />
spiegelte den Mondschein nicht so glänzend, wie es dies<br />
hätte tun sollen. Und mit diesem Anblick, gleichsam einer<br />
latenten Erkenntnis, erwachte ich nach und nach aus einer<br />
Trance, die mich in dem Moment erfasst hatte, als ich<br />
in diese Gondel eingestiegen war. Ich begann wieder klar<br />
zu sehen und zu denken, bemerkte meine immer düsterer<br />
werdende Umgebung, fühlte die Enge der Wasserstraße<br />
und musste plötzlich fest an mich halten, da irgendetwas<br />
an meinem Innersten zu zerren schien, etwas Ungreifbares,<br />
doch Starkes.<br />
Ich erinnerte mich, dass ich doch vorgehabt hatte, dem<br />
Gondoliere Fragen zu stellen über das unerklärbare Verschwinden<br />
von Touristen in den letzten Wochen, und wunderte<br />
mich, warum ich es vergessen hatte. Ich war verwirrt<br />
und versuchte, meine seltsamen Eindrücke abzuschütteln,<br />
die ich einer zu großen Erschöpfung zu Lasten legte, der ich<br />
ja zweifellos in den Wochen in Venedig ausgesetzt gewesen<br />
war. Doch es gelang mir nicht so ganz, mich von meiner<br />
aufkeimenden Angst und dem Eindruck zu befreien, an mir<br />
würde innerlich gezerrt werden.<br />
Ich fühlte mich nicht mehr wohl und beschloss, dem Gondoliere<br />
Bescheid zu geben, dass ich nun aussteigen wolle. Ich<br />
wandte mich zu ihm, öffnete bereits meinen Mund, um zu<br />
sprechen, doch die Worte blieben mir ungeformt in meinem<br />
Halse stecken. Plötzlich dachte ich nichts mehr, wollte auch<br />
nichts mehr sagen, denn ich sah nur mehr: Vor mir stand<br />
die hagere Gestalt des Gondolieres mit mir zugewandtem<br />
Rücken. Auf seinem rot-weiß gestreiftem Leibchen, das in<br />
diesem seltsamen Licht mehr grau als bunt erschien, zeichneten<br />
sich seine Schulterblätter deutlich ab, standen fast
VENEDIG|Dezember2016<br />
29<br />
wie kurze Flügel aus seinem oberen Rücken heraus. Auch<br />
die langen Ärmel seines Gewandes hingen lose an seinen<br />
dürren Armen, sodass sich die Knochen, vor allem die Ellenbogen,<br />
deutlich abzeichneten; und als ich den einen Arm<br />
mit den Augen bis zu der Stelle verfolgte, wo er in die Hand<br />
überging, die mit der anderen gemeinsam das Ruder hielt,<br />
erblickte ich lediglich zwei Knochengebilde ohne Haut oder<br />
Fleisch oder Muskeln. Es waren zwei Skeletthände, die das<br />
Ruder umklammerten, blendend weiß im Mondlicht, beinahe<br />
silbrig, und mir stockte der Atem!<br />
Und nun ging alles sehr schnell! Ich wusste nicht, was ich<br />
tun sollte, also sprang ich auf und hinaus aus der Gondel<br />
und hinein ins Wasser und schwamm! Ich schwamm weg,<br />
weg von der Gondel und diesem grässlichen Gondoliere,<br />
weg aus dieser Aura der Angst und des Zerrens an meinem<br />
Innersten! Weg! Weg! Ich wollte einfach nur weg und flüchtete,<br />
während ich Wasser schluckte und mir meinen Weg gegen<br />
eine leichte Strömung bahnte. Ich strampelte mit Händen<br />
und Füßen und wusste, ich durfte nicht zurückblicken!<br />
Ich strampelte und keuchte, während ich merkte, dass nach<br />
mir gegriffen wurde; irgendetwas versuchte immer wieder,<br />
einen meiner Knöchel festzuhalten, mich am Rumpf zu packen<br />
oder mir den Arm zurückzuziehen, während ich vorwärts<br />
schwamm. Es fühlte sich an wie Hände, glitschig und<br />
kalt, Hände aus einer unermesslichen Tiefe, dem Abgrund<br />
… Und ich wusste, ich durfte nicht zurückblicken! Ich durfte<br />
nicht zurückblicken!<br />
Irgendwann nach Mitternacht fischte man mich aus dem<br />
Wasser, wirres Zeug stammelnd und am ganzen Leibe zitternd.<br />
Ich will Ihnen die Details meines Nervenzusammenbruchs<br />
ersparen, es sei nur so viel gesagt, dass ich von<br />
Glück reden kann, nicht in eine Anstalt eingewiesen worden<br />
zu sein.<br />
Ich verbrachte zirka eine Woche in einem örtlichen Krankenhaus,<br />
denn nicht nur mein Geist war zerrüttet, ich hatte<br />
mir auch noch eine recht gefährliche Grippe eingefangen,<br />
die mich transportunfähig machte. Doch sowie es die Ärzte<br />
erlaubten, machte ich mich auf den Heimweg und kehrte<br />
meiner Story und Venedig den Rücken, für immer!<br />
Ich bin seither nie wieder dort gewesen, was ich heute sehr<br />
bedaure, denn es ist wirklich eine phantastische Stadt;<br />
doch ich konnte mich nie mehr überwinden, nach Venedig<br />
zu reisen, die Angst war zu groß.<br />
Ich glaube, es sind dann noch ein paar Touristen verschwunden,<br />
gleichsam vor ihrer Zeit abberufen worden. Ich will jedoch<br />
nicht über das Warum spekulieren – die Launen höherer<br />
(oder sehr alter) Mächte sollte man, denke ich, nicht<br />
hinterfragen, denn die Antworten würden dem Menschen<br />
nur seine eigene Nichtigkeit vor Augen führen.<br />
Ich schenkte den weiteren Vorfällen auch keine Aufmerksamkeit<br />
mehr, ich wollte vergessen, doch erfolglos. Die ganze<br />
Sache wurde jedenfalls nie aufgeklärt – Wie auch? –, und<br />
jetzt, nach dreißig Jahren, wird sich schwerlich noch jemand<br />
daran erinnern, außer vielleicht ein alter Mann, der noch seine<br />
Geschichte erzählen wollte, bevor er stirbt.<br />
Und ich sterbe bald, ich bin alt – und krank – und hatte<br />
ein erfülltes, glückliches Leben, doch diese Erinnerung lässt<br />
mich nicht mehr los:<br />
Ich hatte mir, als ich die Flucht aus der Gondel angetreten<br />
bin, fest vorgenommen, nicht zurückzublicken. Als ich in von<br />
Grauen heimgesuchter Eile wegschwamm und mich gegen<br />
die unsichtbaren Klauen aus dem Abgrund wehrte, sagte<br />
ich mir immer, ich dürfe nicht zurückblicken, ich dürfe nicht<br />
zurückblicken! Und ich wollte nicht zurückblicken! Ich wollte<br />
es nicht …<br />
Ich werde es nie vergessen: Dieses Grinsen jener weißen,<br />
blanken Zähne, blinkend und glitzernd im Mondlicht, und<br />
diese zwei schwarzen Höhlen, die mir fast sehnsüchtig, ja<br />
bittend hinterherstarrten, als würden sie mich auffordern<br />
wollen, doch meine Meinung zu ändern und mit ihm zu<br />
kommen … Doch meine Zeit war noch nicht abgelaufen, die<br />
Sanduhr mit meinem Namen darauf hatte noch einige Körnchen<br />
übrig.<br />
Jetzt ist sie es, die Körnchen sind beinahe alle nach unten<br />
gerieselt, und ich frage mich, ob, wenn ich endlich meinen<br />
letzten Atemzug holen werde, er mich abholen wird oder ein<br />
anderer. Ihn hätte ich jedenfalls schon bezahlt, doch es ist<br />
fraglich, ob er sich noch an mich erinnern kann.<br />
Ich jedenfalls habe den Fährmann nicht vergessen und erwarte<br />
ihn nun auf meinem Sterbebett.<br />
Lebt wohl!<br />
Daniel Weber<br />
Geb.1993 in Wien, ist diplomierter Schauspieler und studiert Deutsche<br />
Philologie an der Universität Wien. Dieses Jahr erschien, nach<br />
„Das verwunschene Bildnis“ 2013, sein zweiter Band mit Horrorerzählungen,<br />
„Der Kuss der Dämonin“, im Eigenverlag. Seit April<br />
2016 veröffentlicht er außerdem regelmäßig literarische Texte auf<br />
seiner Website weberdaniel.at. Gegenwärtig lebt er in Wolkersdorf<br />
im Weinviertel, Niederösterreich.<br />
Prosa
30 VENEDIG|Dezember2016
VENEDIG|Dezember2016<br />
31
32 VENEDIG|Dezember2016<br />
Andreas Adam<br />
Elegie asconesi<br />
In omaggio di una cardiologo veneziana (una cosidetta<br />
dotoressa per il cuore) che lunghi anni fà, inaspettato ed<br />
all´improvviso, mi ha addolcito due notti ed una giornata<br />
nell´ambito di una giornata di formazione ad Ascona.<br />
Asconeser Elegien [Übersetzung]<br />
Zugeeignet einer venezianischen Kardiologin - einer Herzensärztin<br />
sozusagen - welche mir vor vielen Jahren unerwartet<br />
und spontan zwei Nächte und einen Tag im Rahmen einer<br />
Fortbildung in Ascona versüßte.<br />
Non basteranno solo seghe<br />
piene di curiosita<br />
corteggando le colleghe.<br />
Evviva la vogliosita.<br />
Es werden wohl keine Luftschlösser<br />
voller Wissbegierde reichen<br />
um den Kolleginnen den Hof zu machen.<br />
Ein herzhaft` Hoch der Lüsternheit.<br />
Svegliandosi alla mattina<br />
in un bel letto, ma altrui.<br />
„Dottoressa, sta vicina<br />
a chi baciasti, a colui!“<br />
Aufwachend eines Morgens<br />
in einem schönen Bett, aber einem fremden.<br />
„Dottoressa, bleib nahe dem<br />
den Du küsstest, demjenigen.“<br />
„Sorbii la tua ostrica,<br />
in grembo sprofondai,<br />
impastai la soda natica<br />
dalle labbra assaggiai.“<br />
„Ich schlürfte Deine Auster,<br />
im Schoß versank ich,<br />
knetete Deinen drallen Hintern<br />
und kostete von Deinen Lippen.“<br />
Così – il bel aggiornamento<br />
corse in velocità –<br />
„e per questo supplemento<br />
erotico... si rivedrà?“<br />
Und so – die schöne Fortbildung<br />
verging in Windeseile –<br />
„und wegen dieser erotischen Draufgabe<br />
wird man sich ... wiedersehen?“<br />
un paio di giorni dopo, rimuginando di notte mentre il ritorno<br />
a casa mia, seque questo breve postludio...<br />
einige Tage später, nachts auf der Heimreise sinnierend,<br />
folgt dies kleine Postludium...<br />
„Dormi ben‘, mia ragazzina,<br />
se ci sarei, ti coprirei<br />
con delle rose senza spina-<br />
- e pian- piano... ti chiaverei.“<br />
„Schlaf` gut, mein kleines Mädchen,<br />
wäre ich hier, dann bedeckte ich Dich<br />
mit Rosen ohne Dornen –<br />
– und ganz langsam würde ich Dich....“<br />
Lyrik<br />
Andreas Adam<br />
Geboren 1959 als Blindgeglaubter, aus diesem Grunde frühe Zuwendung zu sinnlich ausgerichteter Autodidaktik, auch in den nunmehrigen<br />
Betätigungsfeldern als Lehrer, Psychotherapeut, Arzt, Musikant, Gestaltender. Aus derselben Tradition heraus kommt auch die<br />
kindliche Begeisterung an Sprache(n) mit anlassbezogenem Verfassen von Bedarfslyrik und -aphoristik.
VENEDIG|Dezember2016<br />
33
34 VENEDIG|Dezember2016<br />
Erich Sedlak<br />
Hinter den Kulissen<br />
Prosa<br />
Den Tagestouristen wird es kaum auffallen, oder denen,<br />
die alle zehn, fünfzehn Jahre hier her kommen. Aber einem<br />
wie mir, dem es zur lieben Gewohnheit geworden ist, jeden<br />
Herbst nach Venedig zu reisen, um sich dort seine Portion<br />
Melancholie und Morbidität abzuholen, ist es nicht mehr<br />
länger zu verheimlichen: hier beginnt in diesen Tagen ein<br />
riesiges Täuschungsmanöver, hier gaukelt man den Leuten<br />
etwas vor, das längst nicht mehr vorhanden ist, hier verlangt<br />
man Geld für eine Vorstellung, die längst nicht stattfindet!<br />
Darauf gekommen bin ich, als ich die Baustelle des wegen<br />
der unheilvollen Schicksale seiner Bewohner von mir besonders<br />
geschätzten Palazzo Dario am Canal Grande näher<br />
betrachtete. Die rührige Stadtverwaltung hat ihn rundum<br />
mit Holzplanken und undurchsichtigen Planen verhängt,<br />
auf die talentierte Bühnenmaler den Palazzo Dario genau<br />
so aufgepinselt haben, wie er nach erfolgter Restaurierung<br />
wieder aussehen soll. Von größerer Entfernung aus,<br />
oder wenn man mit dem vaporetto daran vorbeifährt, ist<br />
zum Original fast kein Unterschied zu erkennen. Doch ich<br />
schlüpfte in einem unbeobachteten Augenblick hinter die<br />
Planen und was ich dort sah, nahm mir fast den Atem: es<br />
gibt keinen Palazzo Dario mehr! Ein paar jämmerliche Mauerreste<br />
sind alles, was von ihm noch übrig geblieben ist,<br />
einige aus dem schmutzigen Wasser herausragende längst<br />
verfaulte Holzpiloten. Er muss wohl eines Nachts in sich<br />
zusammengefallen sein, und damit der faule Zahn in dem<br />
unbeschreiblich schönen Ensemble der Schönsten Straße<br />
der Welt nicht unangenehm auffällt, hat man dann zum<br />
plumpen Trick mit der Kulissenmalerei gegriffen.<br />
Sie können sich vorstellen, dass ich nach dieser grauenvollen<br />
Entdeckung mit völlig anderen Augen durch mein<br />
geliebtes Venedig ging. Doch wie oft ich auch hinter die<br />
Planen von Baustellen blickte - überall war es das gleiche:<br />
die totale Auflösung, die endgültige Zerstörung, irreparable<br />
Schäden. Sogar ein Stückchen vom Palazzo Ducale, dem<br />
weltberühmten Dogenpalast, hat man auf diese armselige<br />
Weise versucht wieder zu ergänzen.<br />
Eines Tages wird jenes Venedig, wie wir es einmal gekannt<br />
und geliebt haben, nicht mehr existieren. Die Touristen<br />
werden aber dennoch nach Bezahlung eines sündteuren<br />
Sigthseeing-Tickets ihre obligate Rundfahrt absolvieren.<br />
Sie werden den Canal Grande entlangfahren, umdort dessen<br />
herrlichen Palazzi zu fotografieren, die dann nur noch<br />
auf Leinwand aufgemalt sein werden, und sie werden auch<br />
über die Markusplatz spazieren, um dort die Attrappen des<br />
Dogenpalastes, des Campanile und der Basilica San Marco<br />
zu bestaunen.<br />
Und sie werden glauben, die berühmte Lagunenstadt Venedig<br />
zu besichtigen, doch dieses Venedig wird nur noch<br />
aus armseligen Kulissen bestehen, und dies vielleicht gar<br />
nicht mehr an jenem Ort, an dem es sich heute noch befindet.<br />
Eine Riesen-Ansichtskarte, ein Venedig aus Pappmache’<br />
wie seine Masken zum carnevale, ein Venedig, dessen<br />
Bauwerke, wie dann die strenge Anweisung der Reiseführer<br />
lauten wird, wegen akuter Einsturzgefahr nicht mehr betreten<br />
werden dürfen. Arrivederci Venezia!<br />
Erich Sedlak<br />
Geb. in Wien, lebt in Wiener Neustadt, Autor und Herausgeber; 22<br />
Publikationen; Hörspiele, Drehbücher, Bühnenstücke, TV-Theater,<br />
Anthologien, zahlreiche Literaturpreise; Mitgliedschaften: Internationaler<br />
und Österr. P.E.N.-Club, podium, ÖSV, IG AutorInnen,<br />
Präsident des NÖ P.E.N.-Clubs. www.erichsedlak.at
VENEDIG|Dezember2016<br />
35<br />
Ingrid Reichel<br />
Venezianisches „Kitschee“<br />
Eine Doppelconférence über La Serenissima Repubblica di<br />
San Marco - die allerdurchlauchteste Republik des Hl. Markus<br />
- Attention, please! Adrianische Küstenbewohner flüchten<br />
vor den Westgoten auf die Lagunen. Gründen die Stadt 421.<br />
- Ich nehme an, nach Christus.<br />
- Wie, nach Christus? Die ganze Geschichtsschreibung ist auf<br />
christliche Werte aufgebaut!<br />
- Check! Da lob ich mir die Paläontologinnen!<br />
- Sì! Die schreiben das Jahr NULL ab 1950.<br />
- Bravissimo!<br />
- Ab 1950 gilt BP, Before Present, my dear! Avant aujourd‘hui!<br />
Vor heute!<br />
- Und heute ist 1950?<br />
- Sì! Nach dem 2. Weltkrieg, après la seconde guerre mondiale,<br />
la seconda guerra mondiale! Capite?<br />
- Ho capito, non British Petrol!<br />
- Sì !<br />
- Dazwischen ist aber viel Wasser ins Sumpfgebiet geflossen.<br />
- Sì, zwischen Süß- und Salzwasser, zwischen Ebbe und Flut:<br />
Laguna morta e Laguna viva. Wobei wir schon beim Thema<br />
angelangt wären: Leben und Sterben einer Stadt. Von seiner<br />
Gründung bis zur mittelalterlichen Handelsmacht: Das Wasser<br />
war Rettung, das Wasser war Schutz, das Wasser war<br />
Abwehr, das Wasser war Hafen, das Wasser war Handel,<br />
Gewürze, Weizen und viel Salz, das Wasser war Reichtum,<br />
das Wasser war Doge und Expansion, Kolonialismus bis zum<br />
byzantinischen Konstantinopel.<br />
- Dodsche?<br />
- Sì, doge! Von dux, duce.<br />
- Sie meinen Duc, Herzog?<br />
- No! Duce von Führer. Aber gewählt vom Volk, comprendete?<br />
Nach der Flut kommt die Ebbe, und das Wasser brachte den<br />
Rückzug durch das Osmanische Reich und schließlich den<br />
Tod durch die Pest. Später ist es das gestörte ökologische<br />
Gleichgewicht der Lagune, die verantwortlich für ihr Sterben<br />
sein soll, sagt man.<br />
- Aber das gilt ja weltweit.<br />
- Eben, mondiale! Sì! - Aber dazwischen kamen noch der Genuese<br />
Cristoforo Colombo …<br />
- Christoph Kolumbus?<br />
- … sì, und der Florentiner Amerigo Vespucci, und sie entdeckten<br />
Amerika, der eine, und der andere gab den Namen…<br />
- Weil ersterer nicht gecheckt hatte, dass Indianer keine Inder<br />
sind.<br />
- …sì. Die ersten Siedler der Neuen Welt nannten sich dann<br />
Amerikaner, dank Amerigo!<br />
- Ah, AmeriGaner…?<br />
- No, American!<br />
- Ah, yes, we can! Zwei Italiener im Dienste der Spanier?<br />
- No, no, no! Noch nicht. Kastilien, por Reino de Castilla. Und<br />
als Italiener kann man Kolumbus und Vespucci auch nicht<br />
bezeichnen.<br />
- Perché?<br />
- Weil die italienische Identität die jüngste in Europa ist. Sie<br />
ist erst knapp hundert Jahre alt, glaube ich.<br />
- Und Venedig?<br />
Venezia verlor zunehmend an Bedeutung. Die Atlantikroute<br />
war für den Schiffshandel ergiebiger, Sklavenhandel, all inclusive.<br />
Irgendwann reichte es auch dem letzten Dogen und<br />
er dankte ab.<br />
- Wie, es reichte ihm?<br />
- Napoleon Bonaparte marschierte ein, er duldete wohl keinen<br />
Zweiten. Aber egal, Napoleon verlor alles, wie auch Venedig,<br />
an die Habsburger. Ich sage nur Wiener Kongress.<br />
- Upps!<br />
- Aber auch das wehrte nicht lange, dann vereinigte sich Venedig<br />
mit dem Königreich Italien.<br />
- Aah!<br />
- Aber auch nicht für lange, denn Italien ist ja bekanntlich<br />
kein Königreich mehr.<br />
- Upps!<br />
- Ich sage nur Norditalien und Süditalien.<br />
- Und dazwischen der Vatikan!<br />
- Sì, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.<br />
- Capisco! Aber das alles ist doch ziemlich verwirrend.<br />
- Ich sagte doch Brainstorming…<br />
- Aah, sì! Ascoltate e ripetete!<br />
- Flüchtlinge gründen Venedig und werden innerhalb von<br />
1000 Jahren zur Handelsmacht Nr. 1. Dann expandiert das<br />
Osmanische Reich und das Kastilianische Reich. Venedig<br />
verliert zunehmend seine politische und wirtschaftliche<br />
Rolle bis es schließlich von fremden Mächten erobert wird.<br />
Nicht zu vergessen sind die zwei Pestepidemien und auch<br />
die Cholera.<br />
- À propos Cholera: Der letzte Deutsche, der an der Cholera<br />
in Venedig starb, war Gustav von Aschenbach, ein Literat.<br />
- Sie meinen Thomas Mann.<br />
Prosa
36 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
- Nein, der starb nicht an der Cholera.<br />
- Aber er schrieb doch die Novelle „Der Tod in Venedig“?<br />
- Ja, das wohl. Doch Fiktion und Realität sind oft so knapp beieinander,<br />
man kann sie oft nicht unterscheiden. Aschenbach<br />
und der hübsche Jüngling Tadzio, sein persönlicher Todesengel<br />
im Grand Hotel des Bains am Lido von Venedig. Wussten Sie,<br />
dass es erst kürzlich zu einem Boutique-Hotel umfunktioniert<br />
wurde?<br />
- Nevvero!?!<br />
- Sì!<br />
- Der Glanz der alten Zeiten ist schon lange verloren gegangen.<br />
- Es gab einmal eine Plakataktion, um die Ein-Tages-Touristen<br />
von Venedig fernzuhalten. Man propagierte stinkenden Kanäle,<br />
Ratten…<br />
- Um die dritte Pestepidemie zu stoppen, meinen Sie?<br />
- Sì!<br />
- Aber ich habe sie gerochen, diese stinkenden Kanäle, und ich<br />
habe sie gesehen, die Ratten.<br />
- Seien Sie nicht albern, die habe ich auch vor meiner Haustür.<br />
- Dio mio! Vero?<br />
- Eh, sì!<br />
- Woher kommen Sie?<br />
- Ich komme aus dem Land, das vom Habsburger Reich übriggeblieben<br />
ist.<br />
- Das Land, was keiner wollte?<br />
- Sì, wenn Sie so wollen.<br />
- Haben Sie ein Identitätsproblem?<br />
- Sie meinen so eines wie die Italiener?<br />
- No. Wie die Venezianer.<br />
- Aber die Venezianer sind doch ein stolzes Volk.<br />
- Sì!<br />
- Haha! Venedig im Regen, hä? *Augenzwinker*<br />
- Ach hören Sie mir auf mit dem Kitsch, Schmach österreichischer<br />
Songcontestler verklärter Anflug an Romantik über<br />
l‘acqua-alta!<br />
- Sie bleiben lieber bei Ihrer Traviata?<br />
- Nun, die Musikindustrie ist nun wirklich ein anderes Thema,<br />
renommierte Komponisten aller Welt haben sich seit der Barockzeit<br />
hier beflügeln lassen. Ich meine, die Venezianer mögen<br />
sich aus wirtschaftlichen Gründen an den Tourismus verkauft<br />
haben, sind jedoch im Grunde ihres Herzens Venezianer<br />
geblieben. Verstehen Sie?<br />
- Glauben Sie?<br />
- Ich meine, Venedig ist eine Stadt, die wie ein Archetypus<br />
funktioniert.<br />
- Sie meinen, jedes Kind kennt es, ohne zu wissen warum?<br />
- So, in etwa.<br />
- Perché?<br />
- Es ist wie mit dem Stier, il toro, der das Symbol für Sexualität<br />
ist. So ist Venedig der Ort für Leben und Tod im Einklang. Wie<br />
es die Natur vorsieht. Doch geht Venedig unter, bedeutet dies<br />
der Untergang der Menschheit. Sie ist ein Vorbote des Todes<br />
und ist somit die Hoffnung auf ewiges Leben.<br />
- Meinen Sie nicht, dass die Gondeln schon lange Trauer tragen?<br />
- Ich sage nur „Don’t look now“!<br />
- Aber Venedig kann sehr kalt sein…<br />
- But just for „Those who walk away“.<br />
- Sie meinen, die Amerikaner wollen zu ihren alten Wurzeln<br />
zurückkehren?<br />
- Manche sicher.<br />
- Weil sie sich während der Biennale ausstellen lassen? Weil<br />
sie sich während der Filmfestspiele hofieren lassen? Weil sie<br />
sich hier niederlassen und ihre Romane schreiben? Weil sie<br />
ihre Hochzeiten hier feiern?<br />
- Weil sie sich hier mit Europa vermählen.<br />
- Aber in Venedig ist kein Platz für einen Golfklub.<br />
- Sie sind im Irrtum. Wir haben bereits einen und brauchen<br />
keinen zweiten.<br />
- Das kann ich gut verstehen. Der Prunk hängt bei Ihnen sowieso<br />
an den Wänden.<br />
- Sì! Nach venezianischem Modell haben wir es uns einst leisten<br />
können, die Wände unsere Palazzi mit den besten Gemälden<br />
unserer heimischen Künstler zu schmücken - wie Tintoretto,<br />
die Brüder Bellini, Tizian, Veronese, Canaletto, Tiepolo, um<br />
nur ein paar Namen zu nennen.<br />
- Sie meinen, zu tapezieren?<br />
- Nun, über guten Geschmack lässt sich streiten. Die Wände<br />
mögen damals noch nicht so feucht gewesen sein…<br />
- Und Ihre Toten begraben Sie auch senkrecht auf einer eigenen<br />
Lagune?<br />
- Sì! Auf San Michele.<br />
- Mit Gondel oder Vaporetto?<br />
- Scusi, aber nach dem Tod, welche Rolle sollte das noch spielen?<br />
- Ich kann mich an ein Pink Floyd Konzert am Markusplatz<br />
erinnern. Durch die Kraft der Verstärker fielen Marmortrümmer<br />
von einer Fassade, betroffen soll eine Statuen- Gruppe<br />
des aus Bergamo stammenden Bildhauers und Baumeisters<br />
Bartolomeo Bon gewesen sein. Auch wegen des Publikums,<br />
das bei 60.000 erlaubten Besuchern die 200.000 überschritten<br />
hatte. Diese verursachten den Hauptschaden: 300 Tonnen
VENEDIG|Dezember2016<br />
37<br />
Müll und 500 m 3 Dosen und Flaschen, und Exkremente everywhere<br />
sollen sie hinterlassen haben. Der damalige Bürgermeister<br />
musste seinen Hut nehmen.<br />
- Sì, das war anno 1989 nach Christus. Der damalige sindaco<br />
wusste nicht, wer Pink Floyd waren. Nun, dazu kann ich nur<br />
sagen: Es werden noch viele den Hut nehmen, bevor diese<br />
Stadt untergeht. Bei besagter Statuen-Gruppe handelte es<br />
sich übrigens um „Salomons Urteil“. Genießen Sie noch Ihren<br />
espresso, Signore! Arrividerla!<br />
- Arrividerla, Signorina! Cameriere, il conto, per favore!<br />
- Sei Euro, prego!<br />
- Für einen Fingerhut caffè senza Giotto!<br />
Der Tod in Venedig (1911), eine Novelle von Thomas Mann (1875-1955)<br />
Don’t look now/ Wenn die Gondeln Trauer tragen, Film (1973) von Nicolas<br />
Roeg nach der Erzählung Don’t look now aus Not after Midnight.<br />
Collection of five long stories (GB, 1971; Don’t look now and other stories,<br />
USA) von Daphne du Maurier (1907-1989). Those who walk away (1967)<br />
/ Venedig kann sehr kalt sein (1968) von Patricia Highsmith (1921-1995)<br />
http://ultimateclassicrock.com/pink-floyd-venice-1989/<br />
Ingrid Reichel<br />
Geb.1961 in St. Pölten. Malerin und Mixed-Media-Künstlerin.<br />
2006-2013 <strong>etcetera</strong>-Redakteurin. Kunstkritikerin, Buch- und Theaterrezensentin.<br />
Seit 2013 Studentin der Romanistik.<br />
Prosa
38 VENEDIG|Dezember2016
VENEDIG|Dezember2016<br />
39<br />
Michael Burgholzer<br />
Höchste Zeit<br />
Ich habe jetzt die Lösung für Venedig: Die ganze Stadt<br />
wird integriert als Zwi schen deck in ein noch zu bauendes<br />
Kreuz fahrtschiff von nie dagewesenen Ab mes sungen. Sie<br />
wird dann in der Lage sein, sich von der unseligen Lagune<br />
zu lösen und kann selbst auf Reisen gehen, sogar<br />
bis in den fernen Osten. Und ja, die Straße von Gibraltar<br />
ist breit genug für eine ge fahrlose Durchquerung, ich bin<br />
die Strecke mehrmals abge schwommen. Die Nutzung des<br />
Kraters nach dem Abgang der Stadt ist einem Pangasiuszüchter<br />
versprochen, auch eine Wasser nudel farm ist<br />
im Gespräch. Der Doge ist freilich in formiert. Feuer und<br />
Flamme ist er und übt schon Floskeln auf Chine sisch, aus<br />
Höflichkeit, für kommende Land gänge.<br />
San Michele<br />
Ich suche so gründlich nach der letzten Ruhe stätte des<br />
Physikers Doppler, dass ich das letz te Vaporetto versäume,<br />
das sanft tutend in der abendli chen La gu ne ver schwindet.<br />
Seufzend wärme ich mir nach Ein bruch der Dunkelheit<br />
inmitten der Grä ber auf meinem Camping kocher eine<br />
Dose Bohnen suppe. Aus der Deckung der Zypressen tritt<br />
eine hagere Ge stalt auf mich zu und fragt mich, ob ich<br />
ahn te, mit wem ich das Vergnügen hätte. Jetzt dämmere<br />
es mir, sage ich mit fes ter Stimme zu dem uralten Mann,<br />
warum meine Suche unter den Toten ver geblich gewesen<br />
sei. Er sei der be rühmte Physiker, bestätigt der Alte, durch<br />
sei ne Ent deckungen sei er leider unsterblich geworden, er<br />
hungere nach ewiger Ruhe. Wir löffeln gemeinsam meine<br />
Bohnensuppe aus.<br />
Auf der Quit tung steht meine Nummer. Ein Advokat nötigt<br />
mir aus seinem Bauch laden einen Flyer auf, in dem alles<br />
beschrieben ist. Ich blicke nach vorne über den Zaun. Von<br />
dort, wo die Hitze aufsteigt, dringt lautes Stöh nen herüber.<br />
Ich schä me mich nicht länger meiner Armut; als meine<br />
Nummer auf dem Display er scheint, durchquere ich<br />
mit festem Schritt das blaue Tor.<br />
Zahltag<br />
Der Nebel ist tückisch, ich habe mich verfahren, ohne<br />
see männisches Wissen hät te ich mich nicht auf den Brentakanal<br />
wagen sollen. Mein Polentalieferant hat mir sein<br />
Hausboot auf genötigt, unsere Geschäftsbeziehung ist<br />
seit Jahren frik ti ons frei. Ich bringe mein Wasserfahrzeug<br />
hinter einer Grup pe weiterer Boote, die mir den Weg versperren,<br />
zum Still stand. Ob wir denn mitten in Venedig<br />
gelan det seien, frage ich höflich die Besatzungsmitglieder<br />
auf den Booten vor mir, von der Brücke, die schemenhaft<br />
in der Ferne zu sehen sei, drängen nämlich starke Seufzer<br />
herüber. Wir seien am Schleu senhaus, klären mich die<br />
Ange sprochenen auf, die Seufzer entführen denen, die<br />
dort die Benutzungsge bühr für den Kanal ent richteten,<br />
bald sei die Reihe auch an uns.<br />
Murano<br />
Endlich ist meine Zeit gekommen, mein Leben lang habe<br />
ich, wie alle gläubigen Licht jünger, für das Ereignis gespart.<br />
Ich steige aus der Gondel und reihe mich ein in<br />
die Schlange der Wartenden. Für das Heißritual ist mein<br />
Vermö gen zu ge ring, ich werde mich kalt ver glasen lassen<br />
müssen. Das vor geschriebene Säck chen mit dem umgetauschten<br />
Si lizi um wer fe ich in eine durchsichtige Kassa.<br />
Michael Burgholzer<br />
Geb. 1963 in Linz, selbständiger IT-Dienstleister, 4 Kinder, wohnt<br />
und arbeitet in Bürmoos, mehrere Literaturpreise und -förderpreise,<br />
zahlreiche Veröffent li chun gen von Texten und Fotografien<br />
in Anthologien und Literaturzeitschriften („<strong>etcetera</strong>“, „Salz“, „Die<br />
Rampe“, „Krautgarten“, „Sterz“, „Landstrich“, „Am Erker“, „silbende_kunst“,<br />
„Off-the-Coast“)<br />
Prosa
40 VENEDIG|Dezember2016
VENEDIG|Dezember2016<br />
41
42 VENEDIG|Dezember2016<br />
Hermann F. Fischl<br />
hellovenezia<br />
Hello Venezia ist wohl gemeint / cool / zusammengeschrieben.<br />
alle drängen unterm schild,<br />
sich und die anderen, weiter,<br />
weiter, vorwärts<br />
schwitzend schwitzend angepresst, ja ins vaporetto rein.<br />
sardinen haben ja wenigstens noch speiseöl, meistens.<br />
schweiß und Sonnenöl<br />
also doch wohl<br />
hell of venezia<br />
lido leiberbratrost auf sandsandsand<br />
und wenden<br />
es zischt ein wenig<br />
sogar das meer zieht sich zurück<br />
ein wenig nur<br />
aber doch<br />
helles hautfell ins glühende gereckt<br />
geduldig gebraten<br />
„der sonn entgegen“<br />
- hat er wohl anders gemeint,der alte -<br />
aber auch hier<br />
gemeinsames<br />
denn wieder spechtelt einer<br />
rennt im hüfttiefen auf und ab<br />
immer wieder<br />
in die nähe des begiert-begehrten bratobjekts<br />
es hilft nix<br />
und so gibt er den onan<br />
mein blick starrt<br />
mir ist heiß<br />
hinter meiner spiegelbrille<br />
hell of venezia<br />
heisser sand und ein verlornes land..<br />
ein leben in gefahr?<br />
aber nur bei unerwünschter einmischung<br />
lolita - oder wer?<br />
mein hirn ist übertemperiert und (b)rät<br />
aber nicht allzu lang<br />
und still schieben sich weiß wabernde leiber<br />
in meinen sonnenbrillenausschnitt<br />
still?<br />
eher nicht.<br />
der worte gibt es viele<br />
und gedanken<br />
über sprachmelodie.<br />
fehlende.<br />
wenn man die augen schlösse<br />
würde der breit grinsende nabel wohl verschwinden
VENEDIG|Dezember2016<br />
43<br />
aber still<br />
wird‘s nicht so schnell.<br />
denn ewig rauscht das meer..<br />
seemann<br />
lass das träumen<br />
doch lolita.<br />
aus st.pölten bei spratzern<br />
auch freddy<br />
der quinn<br />
wär ein tip / typ sowieso.<br />
hell of venezia<br />
dependance lido di venezia<br />
wo der ruhige (deutsche?) familienvater<br />
seinen i pad kühn auf den sattel<br />
des leihrades legt<br />
um dem nachwuchs schnell geld fürs gelati zu reichen<br />
wo soignierte ält‘re damen ein abstellplatzerl fürs bicicletta<br />
suchen und<br />
keins finden<br />
weil der fahrradständer aber sowas von voll ist<br />
und sie rammt das rad<br />
brutal ins dichte<br />
das meer der abgestellten wankt<br />
und teilt sich<br />
gering<br />
aber tief geht der stoß<br />
und drin ruht das rad<br />
verkeilt-verfangen<br />
und ich glaub meinen augen kaum<br />
sie kriecht ins stahlgewühl<br />
und schlingt die absperrkette<br />
und schafft es<br />
kommt unversehrt wieder zum vorschein<br />
streift glatt das kleid<br />
und ab in den conad (vormals billa)<br />
fallhöhe: ca. 70cm<br />
aufprall: kante<br />
untergrund: leider kein sand<br />
hell of venezia<br />
auf der Stirne heiß<br />
vor allem hinter der spiegelbrille<br />
das verblüffende:<br />
er hat weder geschrien noch geweint<br />
auch Höllen können still sein.<br />
und du weisst<br />
um die unendliche länge des rückwegs<br />
hin zum tronchetto
44 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
Andrea Zöhrer<br />
Die zeitlos Lächelnde<br />
Kein Photoshop, kein Filter. Gnadenlos zeigt das weiße Mittagslicht<br />
alle Falten und Risse, alles, was du hinter deiner<br />
Eitelkeit verbergen möchtest, wird bloßgestellt. Tausende<br />
und Abertausende betrachten, fotografieren und kommentieren<br />
deine Zahnlücken, deine zahllosen Augen, die halb<br />
geschlossen den Blick in dein Innerstes verwehren. Deine<br />
hängenden Augen, deine schiefen Münder sind es, die ein<br />
Schmunzeln hervorrufen und ein Feuerwerk an Träumen<br />
explodieren lassen, Gedankenblitze, Erinnerungen an eine<br />
Zeit, als alles frisch, strahlend und so gerade gewesen sein<br />
muss, wie geplant oder zumindest so senkrecht wie möglich.<br />
Dein vorsichtiges Lächeln, das dir an den schrillen Tagen<br />
von Mal zu Mal schwerer fällt und deinen ruinösen Zustand<br />
kaschieren soll, hat nichts von seinem verführerischen<br />
Charme verloren. Du flirtest, dennoch wirkt dein Strahlen<br />
angestrengt. Du bist müde geworden.<br />
Die einsame Träne, einst dekorativ kitschiges Detail deiner<br />
Maske, ist nun ein ständiger Begleiter deiner rückwärts gerichteten<br />
Zuversicht.<br />
Der nagende Zahn der Jahrhunderte attackiert zusehends<br />
aggressiver deine fauligen Holzbeine, deine Basis. Zuversichtliche<br />
Helfer tauschen sie unermüdlich gegen neue aus.<br />
Immer mehr und mehr Gaffer dringen in dich ein, quetschen<br />
sich durch deine Schläuche, über deine Brücken, drängeln,<br />
quengeln und porträtieren deinen Verfall. Sie zwängen sich<br />
in kitschige Fetzen, setzen sich Masken auf – made in Taiwan<br />
– und drehen sich affig imitierend grad so, als wären<br />
die Errichter deiner prachtvollen Vergangenheit Kreisel gewesen.<br />
Picture please? Five Euros...and keep smiling.<br />
Kraftlos und gelangweilt schließt du deine Augen komplett<br />
mit grünen, blauen oder braunen Klappen, unfähig und unwillig<br />
mit architektonischem Botox und hyperästhetischen<br />
Eingriffen der ewigen Jugend nachzujagen, chancenlos, sie<br />
vorzugaukeln, so zu tun, als ob.<br />
Werbewirksam behängen dich finanzkräftige Freunde, legen<br />
Schleier über dich, die deine zerstörte, hässliche Seite<br />
verbergen sollen. Darauf im Fotoprint ein Versprechen,<br />
dass du mit millionenschwerer Zauberei wieder wie neu erscheinen<br />
wirst, nur ein bisschen verändert, eine russische,<br />
amerikanische oder arabische Ergänzung. B2B. Business<br />
as usual.<br />
Das ist dir alles egal. Im grellen Licht lässt du alle zappeln<br />
und trappeln, du lässt an dir arbeiten, hämmern, gestalten,<br />
du lässt die Augen geschlossen, lächelst und wartest.<br />
Im orangeroten Abendschein beginnst du ein bisschen zu<br />
blinzeln, nimmst nach und nach die Klappen weg und gestattest<br />
einen Blick ins Innere. Vier Jahrhunderte haben<br />
sich in deinen Kanälen aufgelöst. Gold, Stuckmarmor, Fresken,<br />
Kristallluster, Gobelins, überschwänglicher Barock<br />
bringt die Massen zum Staunen, zu Fratzen erstarren. Picture<br />
please? You can take me now.<br />
In Booten dürfen sie glotzen, aus Booten dürfen sie dich<br />
anhimmeln, dir huldigen, dein Gepränge fotografieren und<br />
kommentieren - but please – don‘t touch. Nein, wirklich berühren<br />
darf man dich nicht.<br />
Nach und nach begreifen deine Bewunderer, dass du nichts<br />
von deiner jahrhundertealten Energie verloren hast, im Gegenteil,<br />
du speicherst und potenzierst sie in dir, tagsüber,<br />
hinter den undurchdringlichen Fassaden. Generationen<br />
über Generationen haben diese Kraft im Innersten bewahrt,<br />
kultiviert, akkumuliert, du lächelst und wartest.<br />
Abends spuckst du sie nach und nach aus, deine Bewahrer,<br />
deine Lebensgeister. Auf Plätzen oder in Palästen, je nach<br />
sozialer Größe, treffen sie sich, tauschen sich aus, loben,<br />
lieben, rügen dich. Ihr Leben ist dein Leben, ihr klammert<br />
euch aneinander und sinniert vom prachtvoll verglasten<br />
Früher, das auf jeden Fall besser war, als das verplastikte<br />
Heute, ganz gewiss, schließlich haben es die Alten erfolgreich<br />
hinter sich, ihr steckt noch mitten drin und müsst<br />
weitermachen. Mosé soll euch dabei helfen, für die Zukunft<br />
scheinst du gerüstet. Deine nächste Generation steht<br />
schon bereit diese heitere Aufmachung zu erhalten.<br />
Und die Gaffer? Sie besteigen von Vivaldi begleitet das<br />
Boot, das sie zum Bahnhof bringt, bewundern deine reife<br />
Schönheit neidisch, drücken noch einmal ab und planen,<br />
vom serenen Virus infiziert, ihre Rückkehr mit einem Lächeln<br />
auf den Lippen. A presto.
VENEDIG|Dezember2016<br />
45<br />
Andrea Zöhrer<br />
Ist eine Gern-, aber keine Vielschreiberin. Aufgewachsen und wohnhaft im Westen Österreichs kämpft sie im beruflichen Alltag mit den<br />
regionalen und nationalen sprachlichen Phänomenen. Wenn sie nicht arbeitet, klebt die passionierte Papierleserin ihre Nase zwischen<br />
zwei Buchseiten.<br />
Prosa
46 VENEDIG|Dezember2016<br />
Isabella Breier<br />
Punto in Aria<br />
oder: nach Schlingen- und Sonnenstichen in Burano bin<br />
ich im Vaporetto hinterm leicht versetzten Beat schwer<br />
getriggert zurückgeblieben<br />
allein<br />
die Ewigkeit<br />
immer noch<br />
zehr ich von pesce<br />
in Tüten vom November<br />
Kann ich in diesen Möwensound hineinrobben,<br />
als wär’s ein Ballon<br />
mit reliefierter Öffnung?<br />
Ist’s mir ein ornamentales Feld<br />
oder ein simpler Strom<br />
mit zwölftonwogenden Federwolken,<br />
vierviertlig drin, drauf, dran?<br />
Flieg oder fließ ich,<br />
fädelt wer was ein,<br />
schwebt‘ s, trennt man mich auf<br />
oder eh weder noch?<br />
immer noch<br />
liebkreischen Möwen vor Müllsäcken,<br />
locken Sirenen<br />
durch hohe Gemäuer<br />
in dritten Gummistiefeltag<br />
immer noch<br />
saus ich<br />
auf schwimmenden Stühlen<br />
durch Gässchen,<br />
via Brückchen<br />
den dauernd aufs Neue sich wandelnden Spiegelungsbildchen<br />
zu<br />
Lyrik<br />
Geben sich doppelgebrochene Delays<br />
nicht extra zu erkennen,<br />
gab ich sie im Füllmuster längst hin.<br />
Ich schwör,<br />
ich nahm uns beim Stakkato an den Spitzen,<br />
fasste übers Ziernetz nach Frequenz,<br />
die sich nicht fügte,<br />
in ihrem böigen Fluss blieb,<br />
erst Höhe Giardini<br />
übersetzen wollte<br />
ins windgeschützte Wort.<br />
Campiello del Sole, samstags,<br />
kurz nach sieben<br />
in jenem Moment<br />
in dem mein Fuß berührt<br />
das Fleckchen gesprenkelten Morgenlichts<br />
bauscht’s sich auf<br />
wird’s zum Bündel<br />
das platzt<br />
und raus springt<br />
für mich<br />
Nebel sei ein Zauberwort,<br />
in der Sonne schwinden eine Wendung,<br />
die in Regen- und Gedankenbögen<br />
bröckelnde Schatten werfe,<br />
dort übern Canale della Giudecca,<br />
da steckt viel spezielles Gelb, das wie aaa klingen kann, aber<br />
auch wie iii<br />
das Zwielicht beim Traghetto<br />
bleibe erinnert:<br />
die Stille, sag ich, gaaanz,<br />
der Lärm so plötzlich, denn<br />
hinterm arco del portone:<br />
der Fischmarkt und<br />
die Unterschriftenliste<br />
für die wirklichen Dinge<br />
vorm funkelflirrenden Diminutiv __<br />
Isabella Breier<br />
Geb. 1976; Studium Philosophie/Germanistik, Promotion in Phil.;<br />
Dozentin/Trainerin für DaF/DaZ; Lyrik- und Prosa in Anthologien<br />
u.Zeitschriften; Preise und Stipendien, zuletzt: *Prokne & Co.“ (Eine<br />
Groteske) Kitab 2013; „Allerseelenauftrieb“ (Ein Klartraumprotokoll)<br />
Mitter Verlag 2013; „Anfang von etwas“ (Reihe: Neue Lyrik aus Österreich,<br />
Band 8) Verlag Berger 2014. www.literaturport.de/Isabella.Breier/
VENEDIG|Dezember2016<br />
47<br />
Peter Paul Wiplinger<br />
Im Markusdom<br />
(in Venedig)<br />
dunkle goldmosaiken<br />
an wänden und kuppeln<br />
die gestalten von heiligen<br />
und von engeln rundum<br />
immer ist es die stille<br />
die mich hier aufnimmt<br />
ein altar ist beleuchtet<br />
davor das ewige licht<br />
Venedig<br />
brüchige fassaden<br />
unterhöhlter stein<br />
an uferpfählen<br />
schwarze muscheln<br />
aus den fugen<br />
violette blüten<br />
feine risse<br />
durch die bilder<br />
alter meister<br />
das bild des gekreuzigten<br />
in einem kostbaren schrein<br />
gold und silber<br />
in vitrinen<br />
der steinboden ist gewölbt<br />
als versinke mit ihm die zeit<br />
antike münzen<br />
hinter glas<br />
Biografie Seite 61<br />
Lyrik
48 VENEDIG|Dezember2016<br />
Norbert Blüm<br />
Der Hungernde ist zu allem bereit<br />
Lyrik<br />
Die stampfende<br />
Tätigkeit<br />
des Maschinendecks;<br />
das Schiff<br />
nahm<br />
seine so nah dem Ziel<br />
unterbrochene Fahrt<br />
durch den Kanal<br />
von San Marco<br />
wieder auf:<br />
ein triumphaler Einzug,<br />
von mediterraner<br />
Begeisterung<br />
und<br />
mit besten Absicht<br />
metamorphisch<br />
das Leben<br />
zu ehren.<br />
Eine gute Absicht,<br />
die Wirkung<br />
verheerend.<br />
Dann der Kniefall<br />
auf die Bretter:<br />
Die blendende<br />
Komposition<br />
phantastischen Bauwerks,<br />
gleichzeitig<br />
fiel der Blick<br />
auf eine vorbei gleitende<br />
Gondel;<br />
ein ungleiches Pärchen lag<br />
im Inneren,<br />
eng umschlungen,<br />
wie<br />
in einem offenen<br />
Sarg.<br />
Da!<br />
Der Gondoliere,<br />
er winkte.<br />
Was steckte alles<br />
hinter dieser<br />
Geste?<br />
Laut,<br />
rau,<br />
brutal,<br />
vulgär<br />
schien<br />
sie<br />
zu sein,<br />
ein stummer Territorialgesang.<br />
Diese Reise<br />
gab<br />
keine Antworten<br />
und Fragen waren<br />
egal.<br />
Genau!<br />
Und täglich<br />
plant<br />
die weiße Mittelschicht.<br />
Bald<br />
schleicht sich<br />
der Verdacht<br />
ein,<br />
es sind<br />
missionarische<br />
Züge<br />
in den Worten,<br />
dann heißt es<br />
unkontrolliert:<br />
Patrioten essen<br />
keinen Parmesan.<br />
Flucht:<br />
eine Groteske<br />
im Gepäck,<br />
des Maestro.<br />
Geflohen<br />
vor dem Gesetz<br />
der Begierde<br />
und<br />
der Sprache<br />
der Lust.<br />
Das englische Matrosenkostüm<br />
mit<br />
Schnüren,
VENEDIG|Dezember2016<br />
49<br />
Maschen,<br />
Stickereien<br />
und<br />
die goldig dunklen<br />
Locken,<br />
aber<br />
das war es<br />
noch<br />
nicht,<br />
erst<br />
die elfenbeinweiße Haut<br />
des Gesichtes<br />
ließ ihn<br />
sich<br />
fürchten;<br />
auf den Fersen<br />
im<br />
monströsen<br />
Garten –<br />
im Gehrock.<br />
Hysterie<br />
eines<br />
unbefriedigten,<br />
unnatürlichen<br />
Hungers.<br />
Vielleicht<br />
sind es gute Absichten,<br />
drang es erneut<br />
in den Kopf.<br />
Der Gedanke behagte.<br />
Die Sonne und die Seeluft<br />
verbrannten<br />
das Bekenntnis.<br />
Dieses Versprechen,<br />
es ist zu ahnen,<br />
war nicht<br />
einzulösen.<br />
Und die Blicke trafen<br />
sich,<br />
der Gegner,<br />
das Lächeln,<br />
mit Lippen,<br />
die sich<br />
im Lächeln<br />
erst langsam<br />
öffneten.<br />
Die Unbeholfenheit<br />
brach<br />
jeden Widerstand.<br />
Chaotisch<br />
die Neugierde<br />
um Sympathie.<br />
Ein verhängnisvolles Geschenk,<br />
das auf kleinem Feuer<br />
köchelte,<br />
bis es zähflüssig<br />
dahinfloss.<br />
Die Verhältnisse waren damit<br />
ausgerechnet:<br />
Was blieb,<br />
war<br />
ein englischer Matrosenanzug<br />
mit roter Schleife.<br />
Norbert Blüm<br />
Geb.1984 in Schwerin. Gemeinsam mit den Eltern und der älteren<br />
Schwester zog er im Alter von fünf Jahren nach der Wende nach<br />
Deutschland. Zunächst in das Auffanglager in Unna-Massen, dann<br />
weiter nach Düsseldorf. Irgendwann Abitur, Zivi, Studium der<br />
deutschen Sprache und Geschichte, nun freier Mitarbeiter bei der<br />
WAZ. Veröffentlichungen in der Nocthene, S/ash, LUKS-Magazin.<br />
Lyrik
50 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
Sabine Dengscherz<br />
C‘era una volta nel mare<br />
Wasser. Überall Wasser. Es riecht modrig nach nassem<br />
Holz und Fisch. Und nach Nebel. Wenn du untertauchst,<br />
siehst du grüne Algen auf grauen Mauern und schwarzen<br />
Pfählen. Die Pflanzen schwingen hin und her, her und hin,<br />
gleichgültig sachte. Deine Haare schwingen wie die Algen,<br />
sind Teil des neuen Elements, schweben und schwimmen<br />
in fließenden Übergängen hin und her, her und hin wie in<br />
Zeitlupe. Der Widerstand des Wassers dämpft alles, die<br />
Geräusche, das Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit.<br />
Jede äußerliche Bewegung verlangsamt … schnell und laut<br />
klopft nur dein Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die<br />
dir die Luft abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du<br />
sie weniger. Unter Wasser ist alles Leben in algiges Grün<br />
getaucht, ein Aquarell aus kühlen Farben, verschwommen,<br />
zerflossen. Und darüber ein graues Aerosol, Meer<br />
als Schwebeteilchen, Nebeldunst. Unter Wasser ist es<br />
schöner. Unter Wasser ist Frieden. Lass dich fallen und die<br />
Stadt gehört dir. Lass einfach los und werde eins mit allen<br />
Elementen … lass dich sinken … … … und alles wird gut …<br />
… …<br />
Game over.<br />
Wieder ein Leben weniger.<br />
Das Spiel ist aus.<br />
Neustart.<br />
Die Katze schreitet über den Schreibtisch und schmiegt<br />
sich an den Bildschirm. Sie hält den Kopf schräg und<br />
schaut geradeaus. Dann hebt sie eine Tatze und berührt<br />
die Tasten. Zögerlich erst, dann bestimmter, schneller, verspielter.<br />
Sie geht auf der Tastatur auf und ab, ab und auf.<br />
Manchmal setzt sie sich auf die Hinterbeine und versucht<br />
die Zeichen zu fangen, die auf dem Bildschirm erscheinen.<br />
Dann versinkt sie wieder völlig in ihrem Schreibfluss. Sie<br />
ist eine Göttin.<br />
Die Schriftstellerin schlendert am Ufer entlang, den Blick<br />
auf ihren Kommissar geheftet, der sich über eine nasse<br />
junge Frau beugt. Ihre langen Haare klatschen auf das<br />
Pflaster. Noch haben sie keinen Raureif angesetzt, sie<br />
kann noch nicht lange hier liegen. Der Kommissar hebt<br />
den Kopf und sieht die Gerichtsmedizinerin an. Es ist ein<br />
fragender Blick. Die Ärztin beginnt zu sprechen.<br />
Wasser. Überall Wasser. Das Boot schwankt über die Wellen.<br />
Du hast keine genaue Vorstellung davon, wo ihr seid.<br />
Irgendwo zwischen zu Hause und Europa. Das Zuhause<br />
gibt es nicht mehr, und Europa ist weit weg, irgendwo jenseits<br />
des Nebels. Alles schwarz um euch. Woher wissen<br />
die, wo sie hinschippern? Wissen sie es überhaupt? Früher<br />
– das ist jetzt unvorstellbar weit weg – hast du geträumt<br />
vom Meer und von Booten. Es waren schöne Träume, voller<br />
Sehnsucht, durchzogen von Erinnerungen an glückliche<br />
Momente. Jetzt stellst du dir vor, wie es sich anfühlen<br />
würde, wenn das Boot untergeht. Schreie zuerst, Chaos,<br />
Durcheinander, dann wird es stiller und stiller. Du denkst<br />
in Filmszenen. Aber euer kleines Boot hätte nicht so einen<br />
Sog wie die Titanic. Es wäre einfach nur weg. Ihr würdet<br />
schwimmen, solange ihr könnt, einander zurufen, bis ihr<br />
keine Kraft mehr habt. Du würdest untergehen. Du spürst<br />
es schon kalt und nass an deinem Körper, strampelst, so<br />
fest du kannst, aber der Widerstand des Wassers dämpft<br />
alles, dein Gerangel mit dir selbst, die Geräusche, das<br />
Licht, die Gedanken, die Geschwindigkeit. Jede äußerliche<br />
Bewegung verlangsamt – schnell und laut klopft nur dein<br />
Herz, eine innere Antwort auf die Kälte, die dir die Luft<br />
abschnürt. Wenn du untertauchst, spürst du sie weniger.<br />
Unter Wasser ist alles … du ziehst deine Schwimmweste<br />
fester um dich und versuchst, die Bilder durch andere zu<br />
ersetzen: Schnitt ||| Ein Strand mit Palmen, es scheint<br />
die Sonne, ihr zieht das Boot ans Ufer. ||| Schnitt |||<br />
Der Strand und die Sonne versinken im Meer und es wird<br />
finster, nass und kalt. Wasser. Überall Wasser. ||| Schnitt<br />
||| … ||| Schnitt ||| … ||| Schniiiitttttt !!!! ||| Andere<br />
Bilder müssen her! … und sie müssen halten … Wie kriegst<br />
du die Bedrohung heraus aus der Konstellation von Wasser,<br />
Nacht und Boot? – – – Lachende Menschen in einem<br />
winzigen Kahn, alle glücklich und in Sicherheit, ganz ohne<br />
Schwimmwesten gleiten sie in einen städtischen Abend.<br />
Das ist aus einem Dokumentarfilm über eine Stadt am<br />
Wasser und im Wasser, sie nannten sie das Venedig des<br />
Nordens oder das Venedig des Ostens oder so ähnlich. Ja,<br />
Amsterdam, das wäre auch ein Ort auf deiner Liste. … Irgendwann<br />
wird alles gut. Irgendwann hast du die Dinge<br />
wieder im Griff. Und jetzt nimmst du wenigstens deine Gedanken<br />
wieder in die Hand, das ist schon mal was. Noch<br />
ein paar Filmbilder, und dann eine Erinnerung an selbst<br />
Erlebtes im „echten“ Venedig. Lang ist es her. Du bist noch<br />
ein Kind und hast dir die Gondelfahrt gewünscht. Deine<br />
Eltern sitzen dir gegenüber, hinter ihrem Rücken siehst du
VENEDIG|Dezember2016<br />
51<br />
den Gondoliere, der euch durch die Kanäle steuert. Zum<br />
Leben erwachter Kitsch. Es dämmert schon, der Himmel<br />
ist dunkelblau (nicht schwarz!) und die Lichter der Stadt<br />
spiegeln sich im Wasser (das ist allerdings schon schwarz).<br />
Ihr gleitet Richtung Canal Grande unter der Seufzerbrücke<br />
durch – – – ||| che sarà della mia vita? ||| – – – wieder<br />
Flimmern, wieder Störgeräusche –– jetzt gehst du selber<br />
über die Seufzerbrücke ––– und jetzt bist du Raif Badawi,<br />
der sich vorstellt, wie es sein wird, wenn er die nächsten<br />
Peitschenhiebe bekommt ||| – – ||| che sarà della mia<br />
vita? ||| – – Nein, es sitzen nicht alle im selben Boot. Eures<br />
schwankt recht einsam über die See. Das Mittelmeer<br />
ist ein Massengrab. Das ist bekannt. Aber non! Non, je ne<br />
regrette rien … es kann nur besser werden …<br />
Unter welchen Umständen hält sich ein Thema in der Öffentlichkeit?<br />
Unter welchen Bedingungen findet es die Kanäle<br />
ins Bewusstsein der Menschen? Und wann geht es<br />
wieder unter? Die Nachrichtenredakteurin nippt an ihrem<br />
Tee und tippt nachdenklich ein paar Zeilen in den Laptop.<br />
Eine Studie hat festgestellt, dass die 62 reichsten Menschen<br />
der Welt ebensoviel besitzen wie die ärmere Hälfte<br />
der Weltbevölkerung: 3,6 Milliarden Menschen. Dazu<br />
braucht es jetzt einen vernünftigen Hintergrundartikel.<br />
Und für den Artikel einen Aufhänger. Sie surft noch ein<br />
Prosa
52 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
wenig durchs APA-Archiv, scrollt über Bilder von Flüchtlingen,<br />
unter anderen über das Bild eines ertrunkenen<br />
Kindes am Strand, das traurige Berühmtheit erlangt hat.<br />
Manche Bilder werden zu Symbolen. Die Zahl der 62 wird<br />
wahrscheinlich auch so ein Symbol. Oder auch nicht, wer<br />
weiß das schon vorher. Kommt darauf an, was sonst noch<br />
alles passiert. Irgendwie hängt alles mit allem auf eine<br />
Weise zusammen, dass einem schwindlig werden könnte.<br />
Die Welt ist auf Sand gebaut und wartet wie Venedig auf<br />
den Untergang. Oder rutscht dir sonstwie unter den Füßen<br />
weg. Schneller als Venedig werden wohl ohnehin die Malediven<br />
untergehen. Die Regierung schmiedet bereits Pläne<br />
für die Evakuierung. Es braucht Land, Grundstücke, Verträge,<br />
verbrieftes Recht, damit nicht eine ganze Nation zum<br />
Almosenempfänger wird. ||| Grundregel des Kapitalismus:<br />
Rechtzeitig drauf schauen, dass mans hat, wenn mans<br />
braucht. ||| Die Katze streicht schon seit einer Weile um<br />
die Beine der Journalistin und bettelt nach Futter. Geschäftig<br />
und zufrieden gurrend läuft sie voraus, als ihr Frauchen<br />
sich auf den Weg in die Küche macht und sitzt schon majestätisch<br />
erwartungsvoll neben ihrem Schüsserl, bevor die<br />
Lade mit dem Trockenfutter aufgeht. Nur eine kleine Handvoll,<br />
nicht immer nur ans Fressen denken! Die Nachrichtenredakteurin<br />
holt ein Stück Tiramisu für sich selbst aus<br />
dem Kühlschrank (ein richtiges mit Mascarpone) und kehrt<br />
an den Schreibtisch zurück. Es fühlt sich fast wie Urlaub<br />
an, einmal einen Tag zu Hause zu arbeiten. Langsam lässt<br />
sie die Gabel in die weichen Schichten dringen. So soll<br />
auch der Artikel werden, so dass sich das Thema Schicht<br />
für Schicht von der Oberfläche in die Tiefe erschließt. Und<br />
auf der Zunge soll der Text zergehen, wie der Bissen, den<br />
sie nun genüsslich von der Gabel schleckt. ||| che sarà<br />
della mia vita? ||| Sie lehnt sich kurz zurück, zieht die<br />
Schulterblätter nach hinten, kippt dann ihren Oberkörper<br />
entschlossen nach vorne und beginnt zu tippen.<br />
Die Schriftstellerin beobachtet ihren Kommissar aus den<br />
Augenwinkeln. Er scheint angestrengt nachzudenken. Im<br />
Hintergrund ist eine perfekte Kulisse zu sehen: In der Ferne<br />
die Stadt, auch einzelne touristische Sehenswürdigkeiten<br />
(wie der Campanile) kommen ins Bild, im Vordergrund hingegen<br />
eine Location, die sich eher industrial ausnimmt und<br />
die Wasserleiche dementsprechend stimmungsvoll rahmt.<br />
Eine Ertrunkene in einem verlassenen Hafengelände fügt<br />
sich perfekt in die Landschaft. Auch alte Fabrikshallen<br />
sind immer gut für einen Mord und einen Leichenfund.<br />
Überhaupt Abbruchhäuser aller Art. Aber ist das nicht<br />
zu vorhersehbar? Wäre nicht genau deshalb ein belebter,<br />
schöner, touristischer Ort viel besser? Zusammen mit der<br />
Gewissheit, dass sich in aller Öffentlichkeit, mehr oder weniger<br />
vor aller Augen, etwas Tragisches abgespielt hat …<br />
und niemand hat es bemerkt, niemand ist eingeschritten,<br />
niemand hat geholfen. Game over, ein Leben ist zu Ende,<br />
aber es gibt keinen Neustart. Es gibt nur noch viele, viele<br />
andere Menschen auf der Welt, die alle ihre eigenen Sorgen<br />
haben.<br />
Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. (Das<br />
wusste schon Erich Kästner.)<br />
Man kann auch in einer Pfütze ertrinken.<br />
Aber im Meer ist es wahrscheinlicher.<br />
Die Statistik wiederum sagt bekanntlich nichts über den<br />
Einzelfall aus.<br />
Einzelfälle sind einzigartig, werden in ihrer Einzigartigkeit<br />
aber gerne zu Gruppen zusammengefasst, weil wir sonst<br />
vor lauter Einzigartigkeiten den Überblick verlieren. So beginnt<br />
der Kommissar den Fall seiner Wasserleiche, die man<br />
aus dem Rio de la Canonica (kurz vor der Mündung in den<br />
Canal Grande) herausgezogen hat, mit anderen Fällen von<br />
anderen Leichen aus anderen Gewässern zu vergleichen.<br />
Und er zieht Schlüsse aus den Vergleichen. Ob ihn diese<br />
Schlüsse zur Lösung des Falles führen, wird sich weisen.<br />
Manche davon werden wohl zunächst einmal auf Abwege<br />
und in Sackgassen führen. Er wird ein paar zu voreilige<br />
Schlüsse sicher revidieren müssen, mehr herausfinden,<br />
neue Schlüsse ziehen, damit das Bild differenzierter wird<br />
und der Wahrheit näher kommt. Er muss komplexer denken,<br />
mehr Faktoren einbeziehen, den Fall aus den Gruppen<br />
herauslösen und wieder einzigartig werden lassen. Nur so<br />
wird er ihn lösen können.<br />
Das Boot schwankt. Du frierst. Die anderen wohl auch,<br />
aber ihr redet schon seit einer Weile nicht mehr. Alle sind<br />
in der Hölle ihrer eigenen Gedanken gefangen. Du bist<br />
wieder einmal am Ertrinken. Allmählich hast du dich an<br />
die Vorstellung gewöhnt. Das Wasser kann nicht mehr viel<br />
kälter sein als der Wind und die kalte Luft, die euch umgibt.<br />
Wenn man erfriert, dann wird einem am Ende wieder<br />
warm, heißt es. Kurz bevor man stirbt, fühlt man sich<br />
wieder gut, heißt es … und dann will man gar nicht mehr<br />
zurück ins Leben. Das ist vielleicht so wie der Moment<br />
vor dem Einschlafen: Vielleicht ist noch ein bisschen Neu-
VENEDIG|Dezember2016<br />
53<br />
gier da, wie der Film weitergeht, aber keine Kraft mehr<br />
für das Schauen, die Augen fallen zu, es gibt nur noch<br />
Stimmen, aber auch die erscheinen immer weiter weg.<br />
Und dann lässt du dich fallen in deine eigene innere Welt.<br />
Ob dir der Moment bewusst werden wird, wenn diese innere<br />
Welt für immer versinkt, für immer verstummt? Fragen<br />
über Fragen, und die Antwort willst du eigentlich gar<br />
nicht wissen. Nicht jetzt. Das Boot schwankt, du frierst.<br />
Du stellst dir vor, dass du durch die Kanäle von Venedig<br />
treibst … du liegst am Rücken im Wasser und lässt dich<br />
unter der Seufzerbrücke durchgleiten, in Sicherheit (aber<br />
es ist trotzdem ein bisschen unheimlich). Es riecht modrig<br />
im falschen Song! – ¿kommt dir das nicht spanisch vor?<br />
– ¿na und? … Whatever will be, will be.<br />
Die Katze springt mit einem Satz auf den Tisch und bringt<br />
die Tasse ins Schwanken. Die Journalistin kann in letzter<br />
Sekunde einen Kaffee-Tsunami über ihren Laptop verhindern<br />
und hat kaum Zeit zu fauchen oder zu schimpfen, da<br />
wird ihr schon liebevoll um die Arme gestrichen, zwängt<br />
sich jemand zwischen Tischkante und Bauch, rollt sich<br />
ein auf ihrem Schoß. An Weiterschreiben ist jetzt nicht zu<br />
denken. Also Pause zum Nachrichten schauen … Frontex-<br />
Leute haben wieder einmal Leute aus dem Meer gefischt<br />
… und ein Grenzzaun versperrt den Landweg zwischen<br />
der Türkei und Griechenland mit NATO-Stacheldraht, ein<br />
Familienvater meint, dass man ihn und alle anderen auf<br />
diese Weise aufs Meer treibt, dass sie ihr Leben riskieren<br />
müssen um weiterzukommen. Wo ein Wille ist, ist auch<br />
ein Weg.<br />
Der Kommissar ist vorübergehend am Ende seiner – eben<br />
auch nicht unbegrenzten – Weisheit angelangt und macht<br />
Feierabend. Nun schlendert er über den Markusplatz,<br />
gleichgültig an der Schriftstellerin vorbei, die mit einem<br />
Buch im Schatten sitzt und ihn ebenfalls nicht beachtet.<br />
Wie es weitergeht? Das wird sich weisen. Che sarà – sarà.<br />
nach nassem Holz und Fisch. So riecht Land. Du hast es<br />
geschafft. Wenn du wieder untertauchst, siehst du grüne<br />
Algen schwingen, hin und her, hin und her, ganz sachte,<br />
uninteressiert an dir und potentiellen anderen. Deine<br />
Haare sind auch wie Algen, sie haben sich angepasst an<br />
das neue Element, schweben und schwimmen, wechseln<br />
die Richtung in fließendem Übergang und wie in Zeitlupe.<br />
Du lässt dich an die Mauer gleiten, befühlst die grünen Algen<br />
auf dem grauen Stein. Je länger du darüberstreichst,<br />
desto kälter und glatter wird das Grau, es sind gar keine<br />
Algen dran, es ist ein Schiff … ||| ein militärgraues Schiff<br />
||| … lass dich fallen … ||| che sarà? ||| es hat keinen<br />
Namen, nur eine Nummer … ||| della mia vita? ||| …<br />
bald bist du auch eine Nummer … auf einem Formular mit<br />
Fingerabdrücken … ||| che sarà della mia vita? ||| lass<br />
dich fallen … Das kann ein Ende sein oder ein Anfang.<br />
Qué será, será. – – – – – ¡hola! verschwinde! – – ¡du bist<br />
Però … che sarà questa sera? Die Welt schwankt. ||| che<br />
sarà della mia vita? ||| Deine Zukunft versinkt in dichtem<br />
Nebel. Alles verschwommen, wie durch Glas oder Wasser.<br />
Alles ist gedämpft, die Geräusche, das Licht, die Gedanken.<br />
Stimmen, viele Stimmen, weit weg. Es ist nass und<br />
kalt. Jede äußere Bewegung dehnt sich wie in Zeitlupe –<br />
rasend schnell und laut klopft nur dein Herz, eine Antwort<br />
auf die Angst, die dir die Luft abschnürt. Aber wenn du<br />
untertauchst, spürst du sie weniger. Du wirst unsichtbar,<br />
eins mit der Welt, die dich umgibt. Und du lässt dich fallen<br />
… … … einfach fallen … … … in alles, was da kommen mag.<br />
Sabine Dengscherz<br />
Geb.1973 in Grieskirchen, OÖ. Studium der Germanistik, Publizistik<br />
und Hungarologie in Wien. Promotion 2005. Universitätslektorin,<br />
Schreib- und Mehrsprachigkeitsforscherin, Präsidentin<br />
des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremdsprache/<br />
Deutsch als Zweitsprache (ÖDaF). Literarische Publikationen seit<br />
2003. Lebt in Wien und Dénesfa (Ungarn). www.dengscherz.at<br />
Prosa
54 VENEDIG|Dezember2016<br />
Renate Katzer<br />
Venedig überbrückt<br />
Venezia<br />
Venezia<br />
Geliebte<br />
nie<br />
sind wir allein<br />
bei Tag nicht<br />
und in der Nacht<br />
nimm<br />
deine pompösen schuhe<br />
in die hand<br />
du sinkst<br />
nie<br />
selbst im sanften<br />
Nebel reißen sie dir<br />
die Kleider vom<br />
Leib<br />
unter gebauschten röcken<br />
moder<br />
schminke und puder<br />
halten<br />
die fassade nicht<br />
ratten nagen<br />
an den knospen<br />
deiner brüste<br />
Lyrik<br />
Venezia<br />
auf dem Gesims<br />
spiegelt alter Glanz im<br />
Facettenschliff<br />
die Signora tafelt<br />
silbern<br />
von der Decke fällt<br />
lüstern<br />
das Licht<br />
sie hebt den Kopf<br />
lächelt<br />
aus barockem Rahmen<br />
streift Ringe und<br />
Ketten ab<br />
verwahrt<br />
unsinkbar<br />
gleitet einer Gondel gleich<br />
ins Wasserbett und<br />
bricht<br />
die Ehe<br />
reiß<br />
die maske vom gesicht<br />
du bist<br />
durchschaut<br />
schwankende<br />
Venezia<br />
Schiffe<br />
fallen dir<br />
in den Rücken<br />
sehen dir über<br />
die Schulter werfen<br />
ihr Leben aus<br />
hunderten Fenstern<br />
Bräute seufzen<br />
nach<br />
versunkenem Zauber und<br />
ihre Füße schmerzen<br />
erst zur Stunde
VENEDIG|Dezember2016<br />
55<br />
der Nacht in der<br />
Schemen schwinden<br />
ohne Ruderschlag<br />
Friedhöfe schlafen<br />
fällt<br />
etwas Milde<br />
auf die Spiegel deiner Seele<br />
Renate Katzer<br />
Geb. 1945 in Vorarlberg, lebt in Salzburg. Lyrik, Kurzprosa.<br />
Ihre Werke erscheinen in diversen Anthologien. Zahlreiche<br />
Lesungen, u.a. beim Tegebuchtag der LitGes 2015.<br />
Lyrikband: „Ins Wort fallen“(2011, Edition Weinviertel)<br />
Lyrik
56 VENEDIG|Dezember2016<br />
Thomas Ballhausen<br />
Hic sunt dracones.<br />
Prosa<br />
This is the room, the start of it all<br />
No portrait so fine, only sheets on the wall<br />
Joy Divison: Days of the Lords<br />
Habe ich Dir geschrieben, habe ich dazu angesetzt, innegehalten.<br />
Habe ich Dir also geschrieben, die Seite umgeblättert,<br />
geschrieben und weitergeschrieben.<br />
Durstig auf neue Räume zuhaltend, auf Schwellen, dabei die<br />
Zeit für eine kurze Spanne unterbrechend. Das ist der umfehdete<br />
Augenblick, jetzt.<br />
Hier sollten nun also Hinweise der Warnung und des Verständnisses<br />
kommen, vermessene Überlegungen über Absichten<br />
und alles, was sich als unvermeidlich herausgestellt<br />
hat. Aber stattdessen trete ich entwaffnet hinzu wie ein Dritter,<br />
ringend um den Ausdruck einer bis zuletzt gemachten Erfahrung.<br />
Ich tue das Offensichtliche, was immer Du darunter<br />
verstehen kannst.<br />
Das ist das Kommende, der Auftakt zum Ungeschriebenen.<br />
Ein Aufblitzen, strahlend wie Papier. Wenn ich loslasse, entfaltet<br />
es sich im Dunkel, abseits aller Geometrie, als neuer<br />
Zugang.<br />
Habe ich Dir also geschrieben, in den Seiten geblättert, habe<br />
ich ausgesetzt.<br />
Diese Zeilen sind nicht mehr als bloß mein Einsatz, gerichtet<br />
auf den Raum hin, sind, was vor dem eigentlichen Text<br />
kommt. Sind, wie könnte es auch anders sein, immer schon<br />
Deine gewesen.<br />
Ich bin nur das Vorwort, durch das Du, willst Du Dich an die<br />
Regeln und Konventionen halten, hindurchmusst. Du musst<br />
mich überwinden. Aber wann haben Dich Vorschriften nicht<br />
gelangweilt.<br />
Habe ich Dir also geschrieben, die Seiten umgeblättert, weitergeschrieben<br />
und so getan, als hätten wir das nicht schon<br />
gehabt.<br />
Habe ich Dir also geschrieben, als hätte ich nicht immer<br />
schon für Dich geschrieben. Das ist nur die halbe Wahrheit.<br />
Als hätten wir auch das nicht schon gehabt. Aber wer nicht<br />
vermisst wird, kann überall sein. Ein Unbehauster, gehetzt<br />
und unstet.<br />
Was also die Gerade verwehrt, bevor Du beginnst. Bevor meine<br />
Zeilen zu einer Gabe, einer Zugabe geworden sind.<br />
Diese Seiten sind ein umkämpfter Vorort, hier wird geräumt<br />
und so getan, als wären sie tatsächlich unbeschriftet. Das<br />
Weiß gibt die Körper frei, nach und nach. Wege tun sich auf,<br />
Möglichkeiten.<br />
Orientieren wir uns im Feld, am Verlauf der Linien und Brüche.<br />
Satzzeichen bieten mir Deckung und Richtung zugleich.<br />
Ja, ich kann mich auch noch kleiner machen.<br />
Springen wir weiter, heften wir Aufzeichnungen auf hervortretende<br />
Wände, Markierungen einer Bewegung und der<br />
Ort verwandelt sich tatsächlich. Warum die Mauern nicht<br />
beschriften, sich verlagern und das Ungeschützte lesbar machen,<br />
vorlesen.<br />
Worte passieren vermeintlich wie von selbst, aber unter jedem<br />
Schritt gestaltet sich der Raum, immer schon ein Neuland.<br />
Die sich ausbreitende Leere verlangt nach Aufzeichnungen,<br />
nach dem Anlegen von Skizzen, dem Verschwimmen zwischen<br />
Schrift und Zeichnung. Wir bündeln uns im Kommenden,<br />
vernähen uns Lage für Lage.<br />
Die Boten der Geschichte, erlegt und ausgestopft wie Trophäen,<br />
füllen die neu angelegten Regale. Hier stapelt sich<br />
Sinn, bietet vernünftige Maßstäbe für eine Ära des Verrats<br />
und des Gerümpels.<br />
Stellen werden abgeklebt. Das Reisen folgt diktierten Bewegungen,<br />
verfestigt sich. Fiktionen bleiben zuletzt doch gerne<br />
unter sich.<br />
Wer achtet noch auf die Laufrichtung der lahmgelegten Zeit.<br />
Im Raum siedelt das Ungeschriebene. Was sich erneut vor<br />
mir entblättert, ist eine unversperrte Leere, letztlich, Aussicht<br />
auf unsichere Heimat. Ein endendes Privileg, gewiss, doch diese<br />
Maschine läuft aus Wut und Enttäuschung einfach weiter.<br />
Wie dieses Vorwort nicht davon handelt, wovon ich dachte,<br />
dass es handeln wird.<br />
Zirkeln wir uns ab, streuen wir Salz. Glauben wir für einen verzweifelten<br />
Moment, dass all das keine Lüge ist. Eine Phrase<br />
füllt die Leere, noch ein Zauber der Abwehr.<br />
Wie sich erfundene Körper dazwischenschieben, die Wirklichkeit<br />
scheint überschätzt, bis sie uns trifft, unvermittelt und<br />
ungeschönt. Karten und Platzhalter verweisen, was bislang<br />
unsichtbar geblieben ist.<br />
Eine gewonnene Bewegung, nicht direkt, diagonal zwischen<br />
Punkten ziehend, die mir nichts bedeuten. Die Verbindungen
VENEDIG|Dezember2016<br />
57<br />
wiegen schwerer, solange sie dauern. Es ist ein Spiel der Entsprechungen,<br />
verheißungsvoll.<br />
In Halbsätzen agiert sich Versuchung und Schönheit aus,<br />
ganz verwöhnter Schrecken. Unmögliche Tage folgen auf<br />
fragwürdige Nächte. Erwarten wir besser keine Ritterlichkeit,<br />
das hat sich noch nie bewährt.<br />
Vertraue vielmehr auf den perfekten Muskel, auf den Ansatz<br />
zum Gleichklang, zu einem bebenden Gegenüber. Aber es<br />
schlägt zu schnell, diesen Hasenherz. Heutzutage haben ja<br />
selbst die Tiere neue Sorgen.<br />
In meinen Bewegungen treten die Hilfslinien der Wirklichkeit<br />
hervor, Deine bieten Orientierung auf der unvermeidlichen<br />
Fläche.<br />
Habe ich Dir also geschrieben, habe ich Dir vorgeschrieben,<br />
bin ich Dir voraus. Schlage ich mich auf, lesend, den<br />
Text bevorzugend.<br />
Habe ich Dir also vorgelesen, wieder und immer wieder.<br />
Niederschrift und Lektüre fallen in sich zusammen, fließen<br />
wie Körper zeitweise ineinander, bis die Berührung einfach<br />
aufhört. Geborgene Teile, das ist keine Übung mehr. Es<br />
ist bloß eine Wahl. Ich verhalte mich, ohne so zu tun, als<br />
könnte ich umfassend darüber Auskunft geben, was nun<br />
folgt.<br />
Die Zeit ist eine kantige Grenze. Das ist, soweit ich gekommen<br />
bin, bis jetzt und hierher.<br />
Mit diesen Zonen ist mir meine Vorstellung voraus, das war<br />
so nicht zu erhoffen, nicht zu erwarten. Setze ich aus, halte<br />
ich inne. Es geht mit mir durch, dieses Buch.<br />
Das also ist die Zukunft. Hier gibt es Drachen.<br />
Thomas Ballhausen<br />
Geb. 1975 in Wien. Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler.<br />
Lehrbeauftragter der Universität Wien und der Universität Mozarteum<br />
Salzburg. Internationale Tätigkeit als Herausgeber, Vortragender<br />
und Kurator. Hg. der Buchreihe „Bibliothek der Nacht“<br />
(Edition Atelier, Wien). Mehrere literarische und wissenschaftliche<br />
Veröffentlichungen, u.a. „Lob der Brandstifterin“ (Wien, 2013), „In<br />
dunklen Gegenden“ (Wien, 2014), „Signaturen der Erinnerung“<br />
(Wien, 2015) und „Gespenstersprache“ (Wien, 2016).<br />
Prosa
58 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
Peter Paul Wiplinger<br />
Venezianische Notizen<br />
der himmel die mauer das fenster die blumen der stein<br />
das wasser die boote das ufer die brücke die türme die<br />
kuppeln das bild der madonna das ewige licht überall<br />
stimmen ein stimmengewirr dazwischen ein wort laut<br />
oder leise hörbar verstehbar oder auch nicht dein gesicht<br />
in der menge der menschen die füße vor mir auf dem<br />
boden ein lächeln als antwort wer könnte das sein einmal<br />
im leben gesehen für einen augenblick für kurze zeit für<br />
den bruchteil einer sekunde fotoapparat in der hand in<br />
die höhe gehalten auf das display geschaut ein knopfdruck<br />
gespeichert das bild eines von vielen bildern von<br />
hunderten bildern von tausenden bildern unverwechselbar<br />
oder austauschbar einmal und nie wieder so ist das<br />
leben eine abfolge von bildern das denkst du während du<br />
fotografierst alles ist einmalig aber doch flüchtig plötzlich<br />
bist du mitten im nachdenken über das leben über dein<br />
leben gehst weiter fährst weiter weißt nicht wohin<br />
kommst nirgendwo an am morgen der schrei einer möwe<br />
dann uhrenschlagen und glockengeläute jemand ruft einen<br />
namen abgedunkelt das zimmer die fensterläden geschlossen<br />
der weiße bestickte vorhang davor das geräusch<br />
deiner schritte eine tür fällt ins schloß dann<br />
fließendes wasser der duft von kaffee die fensterläden<br />
geöffnet die frische luft einen guten morgen gewünscht<br />
der erste schluck tee dann noch kaffee marmelade aufs<br />
brot was wollen wir heute zu mittag denn essen fisch<br />
oder fleisch die tasche genommen das licht abgedreht<br />
die tür fällt ins schloß der helle lichtstrahl durch den<br />
spalt der geschlossenen grünen fensterläden die beiden<br />
feinen schmalen langen lichtlinien von oben nach unten<br />
an den kanten herab der bunt gesprenkelte terrazzoboden<br />
angenehm das gefühl meiner füße darauf die beiden<br />
eisernen betten im raum das doppelbett das einzelbett<br />
der schöne alte braune kasten die braune kommode das<br />
eiserne nachtkästchen mit häkeldeckchen und mit einer<br />
lampe darauf der schein des lichtes am abend vor dem<br />
schlafengehen oder mitten in der nacht wenn man aufwacht<br />
diese friedliche stille drinnen die kühle die stille<br />
draußen der helle strahlende tag drinnen die bücher die<br />
bibliothek aufgezeichnetes dargestelltes gedachtes erfundenes<br />
eigenes sowie fremdes leben draußen die menschen<br />
das lebendige leben gelebtes vergangenes vergessenes<br />
leben erwachsenenleben und kinderleben leben<br />
von männern frauen burschen buben mädchen gesunden<br />
kranken verzweifelten hoffnungslosen verängstigten sich<br />
am leben aber auch erfreuenden menschen lebensgeschichten<br />
lebensgefahren lebensenttäuschungen bekanntes<br />
und unbekanntes begreifbares und unbegreifbares<br />
leben von bekannten und unbekannten von<br />
fremden hier aber in diesen räumen sind wir sind nur wir<br />
beide mit unseren lebensgeschichten mit der lebensgeschichte<br />
von uns beiden hier in dieser kühle und stille in<br />
einer uns eigentlich fremden stadt mit einer uns bekannten<br />
mit millionen von menschen bekannten kulisse<br />
mit markanten manchmal schon vertrauten sehorten hier<br />
wo wir sind da sind nur wir beide mit unserer vertrautheit<br />
in unserer vertrautheit aber doch immer wieder auch mit<br />
und in unserem fremdsein hier in dieser stille die jedes<br />
gesprochene wort bricht hier umgeben von uns schon<br />
vertrauten gegenständen wie betten und büchern hier<br />
sind wir hier bist du hier bin ich das gelb der zitrone die<br />
rote birne der grüne salat die schwarze lampe der braune<br />
schreibtisch die bücherregale die verschiedenfarbigen<br />
bücherrücken das grau des gezeichneten bildes das<br />
eines uralten knorrigen apfelbaumes im herbst und in<br />
einem rahmen die fotografie einer schönen attraktiven<br />
jungen frau die schon längst verstorben die lange schon<br />
tot ist es wird ein heißer sommertag werden heute hier in<br />
venedig wir werden mit schiffen die wasserstraßen<br />
durchfahren wir werden kirchen und paläste deren fassaden<br />
erblicken erstaunend bewundern wir werden eingekeilt<br />
zwischen den menschen stehen alle wollen irgendwohin<br />
haben ein ziel oder auch nicht alle kommen von<br />
irgendwo her nur wenige menschen leben für immer noch<br />
hier die einen kommen hierher die anderen gehen jedoch<br />
von hier weg wunderschön ist diese stadt sagen die einen<br />
nicht mehr zum leben hier sagen empfinden die andern<br />
und sie werden vertrieben aus der eigenen stadt<br />
von den fremden von den touristen von den besuchern<br />
die sich aufführen als gehörte diese stadt ihnen diese<br />
märchenstadt diese traumstadt diese jahrhundertealte<br />
schönheit diese vergangenheit die geschichte dieser<br />
stadt die relikte aus der vergangenheit aus einem längst<br />
verschwundenen leben spuren suchen spuren hinterlassen<br />
in bildern in der musik buchstaben noten farben architektur<br />
malerei das lächeln einer madonna der gekreuzigte<br />
jesus der mißachtete erniedrigte gesteinigte<br />
mensch in der stille der kirche sitzen wir im dämmrigen
VENEDIG|Dezember2016<br />
59<br />
dunkel leise schöne musik vivaldi albinoni musik von<br />
einem venezianischen meister musik erfüllt den raum vor<br />
dem altar brennt das rote ewige licht ich bin dort gewesen<br />
könnte ich sagen ich bin des öfteren dort gewesen<br />
ich bin einige male dort gewesen in meinem bisherigen<br />
leben in dieser wunderbaren eigenartigen untergehenden<br />
stadt immer wieder bin ich dorthin gekommen habe dort<br />
die mir schon bekannten plätze und sehenswürdigkeiten<br />
aufgesucht habe mich diesen erlebnissen und meinen gefühlen<br />
dabei hingegeben so wie ich dies auch bei begegnungen<br />
mit menschen getan habe etwas auf sich einwirken<br />
lassen und sich dem hingeben mit seinem ganzen ich<br />
das ist es was ich stets gesucht und getan habe damals<br />
als ich geboren wurde damals als du mich geboren hast<br />
damals als ich als zehntes kind als euer zehntes kind hinein<br />
geboren wurde in diese große familie damals als ihr<br />
mich in eure obhut aufgenommen habt damals als der<br />
krieg war damals als eure beiden ältesten söhne im krieg<br />
und dann in gefangenschaft waren damals als die russen<br />
da waren in unserem haus in unserem ort in unserem<br />
land damals als man den einen sohn meinen bruder<br />
heimbrachte in einem schwarzen sarg sein kopf auf<br />
frisches reisig und almrausch gebettet mit edelweißblüten<br />
rundherum damals als der vater aufschrie bei der<br />
nachricht vom tod des zweiten sohnes damals als er völlig<br />
verwirrt und wie geistig zerrüttet war als man den dritten<br />
sohn begrub damals als du in der nacht und stundenlang<br />
am tag immer wieder vor vaters sarg knietest in<br />
unserem haus weinend im gebet verzweifelt und doch<br />
gottergeben damals als du dann selber in deinem sterbebett<br />
lagst mit wächsernem weißen gesicht und bitterem<br />
todesschweiß damals als ich dir das totenkleid anzog damals<br />
als du dann vor mir lagst im sarg wie etwas fremdes<br />
und rundum die blumen der kränze ihren duft zu einem<br />
unbeschreiblichen todesblumenduft mischten damals als<br />
ich dann mitten in der nacht aus der totenkammer auf<br />
unserem friedhof hinaustrat und zu dem für dich vorbereiteten<br />
offenen grab ging damals als die kälte der nacht<br />
und die kälte des todes mir ans herz griffen und es zusammendrückten<br />
in trauer und schmerz da warst du<br />
schon vorher in dieser stadt gewesen in der ich jetzt bin<br />
mit meinen 72 jahren da ich im letzten lebensjahrzehnt<br />
mich befinde da warst du schon hier gewesen wo ich<br />
jetzt bin „wenn die gondeln trauer tragen“ so der titel<br />
eines filmes den ich einmal gesehen aber nicht verstanden<br />
habe der mich aber sehr beeindruckt hat noch immer<br />
sind bilder und bildsequenzen aus meinem gedächtnis<br />
abrufbar kann ich sie in mein mich-erinnern<br />
hereinholen ebenso wie jene aus dem wunderbaren film<br />
„tod in venedig“ ich sehe den herrn aschenbach vor mir<br />
wie er am lido draußen zusammenbricht währenddessen<br />
im film das traumhaft schöne adagietto aus gustav mahlers<br />
5. symphonie erklingt bilder wie in träumen sind diese<br />
bilder aus filmen diese bilder in meiner erinnerung<br />
bilder die so intensiv sind daß sie einem fast wehtun bilder<br />
die mich völlig gefangengenommen in sich aufsaugen<br />
bis ich mich selbst vergessend im erleben dieser bilder<br />
aufgehe so als wäre ich nicht mehr da in wirklichkeit<br />
nicht mehr lebendig so als wäre ich zu einem teil dieser<br />
bilderwelt geworden so denke ich so kommt es mir vor<br />
während ich vorne am bug des vaporettos sitze und die<br />
gleißenden strahlen der späten abendsonne mich blenden<br />
wie bis zum erblinden wir fahren mit dem schiff auf<br />
dem dunklen wasser mitten hinein in die untergehende<br />
sonne jetzt am tagesende ich schließe die augen und<br />
höre gustav mahlers musik die schwarz-weiß-fotos die<br />
ich damals bei meinem ersten besuch in venedig mit meiner<br />
kamera einem mir von meinen eltern zu weihnachten<br />
geschenkten fotoapparat gemacht habe so viele ja die<br />
meisten bilder sind verwackelt unscharf und doch habe<br />
ich schon damals alles fotografiert was mir auch später<br />
etwas bedeutete freilich nur jene objekte und szenerien<br />
im tageslicht aber doch schon den campanile den markusdom<br />
den dogenpalast die rialtobrücke einige palazzi<br />
an den ufern des canal grande die mächtige kirche santa<br />
maria della salute die uferwege die ich jetzt gehe in meiner<br />
erinnerung an damals und hier in der ärgsten mittagshitze<br />
die fondamenta zattere entlang den canale della<br />
giudecca entlang gehen niemand geht um diese zeit<br />
diesen weg außer mir in dieser hitze den langen weg zur<br />
eigenen grenze gehen in diesem alter und nicht mehr<br />
ganz gesund immer diese verrücktheiten die du machst<br />
würde mein vater jetzt sagen immer diese verrücktheiten<br />
sage ich jetzt selber zu mir bei dir ist nichts normal füge<br />
ich als ausdruck meiner selbsterkenntnis hinzu aber so<br />
war es immer von anfang an schon als ich noch ein kind<br />
war die eigenen grenzen erreichen und darüber hinaus<br />
vorstoßen auf ein unbekanntes terrain in ein dir selber<br />
noch unbekanntes ich als er so dalag in seinen letzten<br />
tagen und nächten mit seinem magenkrebs als er so dalag<br />
so armselig und bemitleidenswert als er so dalag hilflos<br />
und arm als er so dalag so gottergeben und sich sei-<br />
Prosa
60 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
nes bevorstehenden todes bewußt als die mutter selbst<br />
schon sehr alt so dasaß neben seinem bett und sich beide<br />
an den händen hielten so wie sie sich beide ein langes<br />
leben aneinander gehalten und jeder dem anderen halt<br />
gegeben und jeder am anderen halt gefunden hatte als<br />
die mutter so dasaß neben dem so daliegenden vater und<br />
weinte und er sie zu trösten versuchte und als er dann zu<br />
mir sagte schau auf die mutter sei ihr dann hilfe und halt<br />
manchmal das leben spüren wie einen festen griff auf<br />
dem arm dann wiederum sanft wie einen windhauch<br />
wenn du zwischen offenen türen stehst du kannst dir<br />
nicht vorstellen daß das leben daß dein leben oder das<br />
leben eines von dir geliebten menschen jemals endet obwohl<br />
du weißt daß es nichts gibt daß es überhaupt nichts<br />
gibt auf der welt und in deinem leben dein leben und das<br />
leben anderer betreffend das von einer solchen gewißheit<br />
ja man könnte da sogar sagen das von einer solch<br />
unerbittlichen gewißheit ist wie jene unumstößliche tatsache<br />
wie jene existentielle wahrheit daß dein und jedes<br />
leben endet daß jedes leben endet im tod eine sprache<br />
nicht sprechen können eine sprache nicht verstehen<br />
können überhaupt nicht sprechen können überhaupt<br />
nichts verstehen können sprachlos sein gehörlos sein<br />
verständnislos sein sich anderen nicht mitteilen können<br />
mit anderen nichts teilen können einmal gesprochen haben<br />
einmal gehört haben dann die sprache das sprechenkönnen<br />
verloren haben oder sich der sprache dem sprechen<br />
entzogen verweigert haben sich ganz in sich<br />
zurückgezogen haben teilnahmslos geworden sein übrig<br />
geblieben sein als ein nicht mehr sprechendes nicht<br />
mehr verstehendes etwas aber doch noch mensch sein<br />
sich auch dem entziehen sprachlos sein verstummen aufwachen<br />
mitten in der nacht oder schon im frühen morgengrauen<br />
aufwachen aus dem leichten schlaf und aus<br />
dem gewirr von schweren vergangenheitsbelasteten<br />
angstvollen träumen aufwachen dann einfach nur daliegen<br />
mit seinen gedanken ohne irgendwelche bestimmte<br />
gedanken sich forttreiben lassen in einem strom von bildern<br />
irgendwohin die strömung die dich mitnimmt spüren<br />
ebenso wie die ungewißheit die ziellosigkeit aufwachen<br />
und dann einfach nur daliegen zum lichtspalt hinsehen<br />
zum licht von einer lampe die noch brennt und licht gibt<br />
in einem gegenüber liegenden haus in einem raum in<br />
dem vielleicht auch soeben jemand aufgewacht ist eine<br />
zufällige gemeinsamkeit ja fast eine gemeinschaft in der<br />
schlaflosigkeit zweier einander unbekannter menschen<br />
die sich fremd und doch zugleich nahe sind eine schicksalsgemeinschaft<br />
in und durch schlaflosigkeit aufgewacht<br />
sein und einfach nur daliegen in die dunkelheit des<br />
raumes hineinsehen dabei auch in die dunkelheit des eigenen<br />
lebens nichts wahrnehmen nur daliegen und wach<br />
sein ohne schlaf dein gesicht in der menge der menschen<br />
deine mir bekannte gestalt du winkst mir zu und lächelst<br />
du winkst und winkst und bedeutest mir ich soll hinüberkommen<br />
zu dir ans andere ufer wo du schon bist ich steige<br />
ein ins traghetto fahre stehend im schaukelnden boot<br />
in der schwarzen gondel hinüber zu dir ans andere ufer<br />
wo du schon wartest auf mich dieses winken bei begegnungen<br />
dieses winken bei abschieden dieses winken<br />
über entfernungen und grenzen hinweg bei einem der<br />
vielen abschiede im leben bei einem abschied für immer<br />
dieses winken zum letzten mal ohne dabei zu wissen daß<br />
dieses winken ein winken zum letzten mal ist lachend<br />
winkst du draußen am bahnsteig vor oder schon bei abfahrt<br />
des zuges schlägst von außen die autotür zu und<br />
winkst noch einmal du winkst aus dem fenster bevor du<br />
es schließt du winkst zurück bevor du in den bus steigst<br />
der dich über das rollfeld zum wartenden flugzeug bringt<br />
du winkst bei ankunft und abschied du winkst nachdem<br />
wir uns voneinander verabschiedet haben du winkst noch<br />
einmal nach der umarmung dann verschwindest du vielleicht<br />
auch für immer ankunft und abschied liegen so nah<br />
beieinander jedenfalls manchmal so ist es im leben im<br />
tod du bist angekommen oft von weither um einander<br />
wiederzusehen um ein wiedersehen zu feiern bist gekommen<br />
um frau oder mann und die kinder zu sehen vielleicht<br />
ein gerade geborenes ein neugeborenes kind bist<br />
angekommen bist noch einmal zurückgekommen bist<br />
hierhergekommen um ihn oder sie noch einmal zu sehen<br />
noch einmal bevor sie oder er oder das kind stirbt bist<br />
noch einmal gekommen um dich zu verabschieden alles<br />
so vieles liegt oft so nah beieinander im leben wie im tod<br />
die häuser die kirchen die paläste die mauern die balkone<br />
die gesimse die dächer die fenster die gärten das<br />
grün der himmel heute bewölkt das wasser hellgrau die<br />
gondeln wie immer in schwarz am abend die lichter aus<br />
palästen und häusern im wasser sich spiegeln menschen<br />
auf den balkonen an fenstern an ufern beim dinner in<br />
teuren restaurants oder mit broten und einem getränk in<br />
den händen menschen mit taschen und koffern mit fotoapparaten<br />
neuen kameras die millionen von bildern von<br />
augenblicken speichern gespeicherte blicke gespeicher-
VENEDIG|Dezember2016<br />
61<br />
tes leben doch auslöschbar und oft ausgelöscht mit<br />
einem einzigen klick als sei nie etwas gewesen in der<br />
nacht das gewitter das zucken der blitze für einen kurzen<br />
augenblick wie gespenstisch erleuchtet das blickfeld<br />
dann das dumpfe donnergrollen die angst damals als<br />
kind einmal das einschlagen des blitzes gleich darauf ja<br />
eigentlich sogar gleichzeitig ein lautes infernalisches krachen<br />
der gemeinsame aufschrei der menschen und dann<br />
das feuer auf dem strohgedeckten dach schnell das vieh<br />
aus dem stall auch dieses angstvoll und in panik verwirrt<br />
später zu spät die feuerwehrmänner der brennende<br />
dachstuhl die brennenden möbel und anderes gerät aus<br />
dem brennenden haus nicht mehr herausgeschafft am<br />
ende nur asche ruinen vom haus wann können wir endlich<br />
reisen wann können wir endlich verreisen in andere<br />
länder und städte so die oft wiederholte frage des kindes<br />
so das ständige fragen von mir als ich ein kind war und<br />
jedesmal darauf dieselbe antwort der mutter reisen können<br />
wir erst wieder wenn endlich dieser krieg aus ist und<br />
wenn nicht mehr krieg ist sondern frieden erst dann können<br />
wir reisen vielleicht dahin wohin wir dann wollen<br />
doch jetzt ist noch krieg aber irgendwann wird er aus<br />
sein dieser entsetzliche krieg dann werden wir reisen dahin<br />
und dorthin wohin du nur willst und der zweitälteste<br />
bruder zeigte mir als der krieg aus und er wieder daheim<br />
war auf den landkarten im großen weltatlas ferne fremde<br />
länder mit ihren grenzen rundherum er zeigte mir kontinente<br />
gebirge und meere große ströme den nordpol und<br />
südpol alaska und grönland mit dem ewigen eis er zeigte<br />
mir die höchsten gebirge die wälder steppen und wüsten<br />
sibirien und die sahara er erzählte mir von diesen ganz<br />
anderen ländern er zeigte mir auch wo er und der älteste<br />
bruder gewesen waren im krieg und in der gefangenschaft<br />
in der normandie in der kamtschatka im nördlichen<br />
eismeer in den kohlengruben in belgien und frankreich<br />
er nannte mir städte gebirge und täler von all diesen<br />
ländern die er mir zeigte beim namen er sagte die worte<br />
hiroshima und nagasaki er sagte brasilien und amerika er<br />
sagte peking hongkong paris london und rom er sagte los<br />
angeles und er sagte new york er zeigte auf inseln mitten<br />
im meer auf große und kleine er zeigte auf australien und<br />
afrika er sagte zu mir du mußt wissen unsere welt ist eine<br />
große sich drehende kugel im unendlichen kosmos und<br />
rund um sie gibt es eine schichte von luft und weit entfernt<br />
sind sonne und mond die sonne leuchtet und wärmt<br />
dich am tag den mond siehst du nachts wenn der himmel<br />
wolkenfrei ist und dann siehst du die sterne die gestirne<br />
die milchstraße und millionen von sternen sind lichtjahre<br />
entfernt von der erde und ihr licht erreicht uns selbst<br />
dann noch wenn es die sterne in wirklichkeit gar nicht<br />
mehr gibt eine weiße magnolienblüte eine rote blüte des<br />
rhododendronstrauches ein dachziegel von den vielen<br />
rotgebrannten dachziegeln mit denen häuser kirchen paläste<br />
bedeckt sind ein einziges goldenes mosaiksteinchen<br />
aus einem der mosaike über den eingangstoren der<br />
basilica di san marco ein farbtupfer aus einem bild des<br />
meisters tintoretto ein pinselstrich aus einem gemälde<br />
tizians aus seinem bild „das letzte abendmahl“ jesus<br />
christus mit seinen aposteln bevor sie aufbrechen nach<br />
gethsemane eine marmorplatte vom fußboden der kirche<br />
santa maria dei miracoli ein goldenes teilchen aus der<br />
monstranz mit der ein priester dich segnet alles nur teilchen<br />
aber ohne diese teilchen gäbe es kein ganzes so<br />
bist auch du so bin auch ich so sind wir alle eben nur<br />
teilchen aber ohne teile gäbe es kein ganzes kein lebensganzes<br />
auf dieser erde in unserem kosmos teil sein von<br />
allem vom ganzen das man schöpfung nennt oder als ergebnis<br />
als ein zwischenergebnis der evolution begreift<br />
grenzen begrenzung endlichkeit grenzenlosigkeit ewigkeit<br />
diese jedoch eigentlich undenkbar weil man mit seinem<br />
denken stets an grenzen stößt weil unser denken<br />
unser denkvermögen begrenzt ist weil es nur angelegt ist<br />
für uns und unsere welt und nicht für die unendlichkeit<br />
liebst du mich fragst du und ich kann dir keine antwort<br />
darauf geben auch nach so vielen jahren nicht nach jahrzehnten<br />
nicht und du weißt das aber immer wieder mit<br />
den jahren immer seltener aber doch manchmal fragst<br />
du mich liebst du mich du sagst das nicht du sprichst den<br />
satz diese worte nicht aus aber deine augen fragen mich<br />
deine augen stellen mir diese fragen etwas in dir fragt<br />
mich das und ich kann dir keine antwort geben außer die<br />
eine ausweichende antwort mit immer denselben worten<br />
die da lauten aber das weißt du doch eine floskel mehr<br />
nicht es ist wie es ist das wäre das ist die wahrheit fallschirmseide<br />
breitetest du aus und wir bestaunten sie<br />
wunderten uns über ihre leichtigkeit bei gleichzeitiger festigkeit<br />
des feinen gewebes transparent wie seide war<br />
dieser stoff so etwas hatten wir zuvor noch nie gesehen<br />
so etwas schönes so etwas eigenartiges so etwas anmutiges<br />
so etwas inmitten des schrecklichen krieges graue<br />
braune und schwarze uniformen stiefel kappen gewehre<br />
kannten wir das eßgeschirrscheppern aber nicht das<br />
Prosa
62 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
lautlose niedergleiten dieses schwerelose niederschweben<br />
des großen tuches von oben herab zu unseren füßen<br />
eine kostbarkeit hattest du mitgebracht ein erlebnis die<br />
schwestern machten sich kleider daraus wie war es damals<br />
als ihr hier gewesen seid in venedig auf einen abstecher<br />
auf der heimreise von eurer romfahrt auf eurer pilgerreise<br />
nach rom mit einem alten autobus in den frühen<br />
dreißigerjahren eine fromme gebetsgemeinschaft bescheiden<br />
mit übernachtungen in klöstern mit euren jausenbroten<br />
die mutter am morgen zurechtmachte während<br />
vater im reiseführer las sicher war er stolz auf sein<br />
gutes italienisch er war ja stets der musterschüler gewesen<br />
auch wenn das seinen vater meinen großvater den<br />
vielleicht etwas einfachen ja sogar groben fuhrwerker gar<br />
nicht interessierte auf bildung gab er nicht viel ja lesen<br />
und schreiben aber vor allem einfaches rechnen das<br />
mußte man können das brauchte man für das geschäft<br />
deine mutter meine großmutter war da ganz anders die<br />
war sicher stolz auf ihren sohn maxl und darauf was er<br />
alles wußte und daß er so gescheit war und daß er neben<br />
latein und altgriechisch auch noch italienisch konnte eine<br />
sprache die man in rom spricht eine sprache die dort der<br />
papst spricht eine sprache die deshalb auch etwas besonderes<br />
für sie war eine sprache welche aber auch die<br />
sprache des damaligen feindes war im weltkrieg zuvor in<br />
einer zeit als es noch den kaiser gab also wie war das<br />
damals als du in venedig nach dem weg zu einer kirche<br />
fragtest den reiseleiter für die reisegruppe machtest als<br />
du gemeinsam mit dem priesterlichen begleiter lateinische<br />
inschriften übersetztest ins deutsche und dabei<br />
auch deine frau meine mutter stolz war auf dich wie war<br />
es damals für euch in venedig wo habt ihr alle geschlafen<br />
wo habt ihr gegessen was habt ihr gesehen im markusdom<br />
seid ihr sicher gekniet und habt gebetet für eure<br />
lieben daheim habt der tante dem onkel karl oder sonst<br />
noch wem vielleicht kartengrüße geschickt schöne<br />
schwarz-weiß-foto-karten mit dem bild vom markusplatz<br />
mit dem markusdom und dem campanile mit den tauben<br />
rundum vielleicht auch eine karte mit einer ansicht vom<br />
canal grande mit der rialtobrücke im hintergrund und den<br />
wunderschönen palazzi beidseits an den ufern seid ihr in<br />
der von mir geliebten kirche santa maria gloriosa dei frari<br />
gewesen seid ihr über den campo san polo gegangen<br />
so wie ich diesen weg schon so oft bei meinem hiersein<br />
gegangen bin und jetzt wiederum gehen werde sobald ich<br />
mein zimmer hier in der wohnung am campiello del sol in<br />
der nähe des campo san silvestro verlassen haben werde<br />
sobald ich damit fertig bin mit dem niederschreiben dessen<br />
was mir so in den sinn kommt da ich daran denke<br />
und mir vorstelle wie es für euch hier in venedig gerwesen<br />
sein mag damals vor etwa 80 jahren bei trübem wetter<br />
und zeitweiligem regen ins jüdische viertel gegangen<br />
ins ehemalige jüdische ghetto wie eine insel auf einer insel<br />
mitten im meer denke ich wenn es so etwas gäbe ein<br />
großer campo darauf brunnen und bäume an zwei wänden<br />
bronzene gedenktafeln reliefs die wesentliches zeigen<br />
bilder und inschriften zum gedenken an die vertriebenen<br />
von hier weggebrachten an die später ermordeten<br />
menschen ns-rassenideologie abgrund des menschen<br />
holocaust shoa unermeßliches leid unbegreifbare unmenschlichkeit<br />
auschwitz bergen-belsen maydanek treblinka<br />
sobibor mauthausen hier und jetzt in venedig lese<br />
ich die namen von männern frauen und kindern von<br />
ganzen familien ich sehe auf den bronzereliefs wie diese<br />
menschen zu den güterwaggons getrieben und in sie hineingepfercht<br />
werden zur fahrt in den tod von den handlangern<br />
der mörder mit den gewehren im anschlag ich<br />
sehe menschen im elektrisch geladenen stacheldraht<br />
hängen an galgen christen katholiken taten überzeugt<br />
und gewissenlos ihren mörderdienst heinrich himmler<br />
adolf eichmann der katholik adolf hitler getauft und nie<br />
exkommuniziert ich suche den weg zur sephardischen<br />
syngoge trete ein in die stille des raumes gedenke der<br />
opfer sprachlos und stumm von hohen mauern umgeben<br />
das große reich der toten auf der isola di san michele<br />
gräberfeld um gräberfeld grabreihe um grabreihe abgegangen<br />
tausende gräber begrabenes leben ausgelöscht<br />
im tod was für eine weile noch bleibt sind gesichter sind<br />
namen sind die geburts und sterbedaten der verstorbenen<br />
sind die erinnerungen der noch lebenden der<br />
nachkommen an ihre lieben an ihre bekannten eine totenstadt<br />
aus aufgemauerten und aneinandergereihten zu<br />
blöcken zusammengefügten gräbermauern fotografien<br />
und blumen grabsteine mit goldfarbenen inschriften<br />
graue und weiße kreuze die kleinen gräber für kinder früh<br />
ausgelöscht aus der freude der eltern wurde bittere trauer<br />
am grab von igor strawinsky gestanden töne und melodien<br />
von sacre du printemps in mir gehört am grab des<br />
mir bekannten malers emilio vedova gestanden mich erinnert<br />
an seine erscheinung an sein gesicht an seine gestik<br />
an seine lebendigkeit bei unserer begegnung vor<br />
etwa 40 jahren mich erinnert an seine bilder viele in
VENEDIG|Dezember2016<br />
63<br />
schwarz-weiß am grab von joseph brodsky gestanden an<br />
dem des großen dichters ezra pound sein gesicht gesehen<br />
vor mir bruchstücke und stil seiner poesie in erinnerung<br />
eine frische rose auf seinem grabstein ein zettel mit<br />
einem ihm gewidmeten gedicht der hohe alles überschattende<br />
baum und die dunkelgrünen schlanken zypressen<br />
wie mahnende zeigefinger der toten hinauf in den himmel<br />
venedig am morgen venedig zu mittag venedig am abend<br />
venedig auch nachts venedig im winter venedig im frühling<br />
venedig im sommer venedig im herbst venedig im<br />
herbst meines lebens venedig vor mehr als 55 jahren<br />
zum ersten mal venedig im regen venedig in der hitze zu<br />
mittag venedig in morgendlicher oder abendlicher kühle<br />
venedig bei ankunft venedig bei abreise venedig in wirklichkeit<br />
venedig im film venedig in der literatur in einer<br />
reiseführerbeschreibung in einer erzählung in einem gedicht<br />
venedig allein venedig wie jetzt in begleitung venedig<br />
an den touristenzentren venedig der einsamen gassen<br />
venedig erlebt bei der biennale gewesen stundenlang<br />
viel kunst gesehen und das was man als kunst ausgibt<br />
weil man meint und daran glaubt daß das kunst ist was<br />
man als kunst bezeichnet als kunst deklariert und seien<br />
es auch nur banale und ganz gewöhnliche alltagsgegenstände<br />
die man aus dem alltagskontext herausnimmt<br />
dann isoliert und unter umständen begründet oder auch<br />
nicht begründet weil begründbar oder auch nicht begründbar<br />
in einen anderen neuen räumlichen zusammenhang<br />
transponiert und dort eingefügt und daß dadurch<br />
ein alltagsgegenstand zu einem kunstgegenstand wird<br />
und dadurch kunst entsteht und irgendein kunstkurator<br />
oder eine kunstkuratorin ein kunstspezialist schreibt<br />
dann in einem katalog oder in einer kunstzeitschrift einen<br />
langen unverständlichen essay er oder sie spricht bei<br />
der eröffnung der ausstellung bedeutsame worte und<br />
sätze stellt zusammenhänge her von zusammenhängendem<br />
oder unzusammenhängendem und alle anwesenden<br />
nicken und klatschen am ende der rede dann<br />
beifall und der angereiste minister oder die ministerin für<br />
kunst und kultur im beruflichen leben eigentlich bankbeamtin<br />
oder handarbeitslehrerin oder zahnarztassistentin<br />
spricht in der eröffnungsrede von einem bedeutenden<br />
beitrag eines exzellenten künstlers und daß wir stolz sein<br />
dürfen auf diesen unseren künstler es fallen noch worte<br />
wie beispielgebend vorbildhaft und repräsentativ und das<br />
bekenntnis daß der staat die politik stets partner bzw.<br />
partnerin der kunst sind denn diese sei unsere kulturbotschaft<br />
nach außen hin und das sei wichtig ja ganz besonders<br />
wichtig im neuen europa und selbstverständlich<br />
auch darüber hinaus denn wir alle wollen doch eine friedliche<br />
welt und weiter geht es mit dem bla-bla und wiederum<br />
klatschen alle zustimmend in die hände und nicken<br />
einander devot und alles bejahend zu nein it needs a<br />
clear and important massage sage ich im russischen pavillon<br />
zur freundlichen russischen dame und hier ist eine<br />
klare und wichtige botschaft zu finden zu sehen aufgebaut<br />
sind die braunen dreistöckigen schlafgestelle der<br />
häftlinge in den sowjetischen gulags ähnlich jenen die<br />
ich in auschwitz gesehen habe und ebenso dokumente in<br />
vitrinen alles zu entdecken in einer weißen konstruktion<br />
in einem weißen raum gleich einem labyrinth aus dem es<br />
für den menschen kein entkommen gibt in dem der<br />
mensch gefangen ist bis zu seinem tod von zeit zu zeit in<br />
eine kirche eintreten und dort eine längere zeit verweilen<br />
sich niedersetzen in eine bankreihe vielleicht hinten auf<br />
einen platz nichts denken nichts reden nichts wollen nirgendwohin<br />
weiterstreben nein einfach nur dasein nur<br />
schauen oder dann auch einmal die augen schließen vielleicht<br />
gibt es leise musik oder eben nichts außer stille<br />
sich dieser stille hingeben sich hineinversenken in sie<br />
versinken in dieser stille abkommen in dieser stille länger<br />
als nur für einen augenblick verweilen in einer stille in dir<br />
die botschaft der stille hören aufnehmen in dich diese<br />
wortlose sprachlose lautlose botschaft bereitwillig aufnehmen<br />
in dich wortlose doch nicht sprachlose bilder auf<br />
denen sich nichts bewegt die aber mich bewegen ohne<br />
daß ich mich frage wohin bilder die mich berühren ohne<br />
daß sie mich anfassen mit händen mit fingern bilder so<br />
anders als in illustrierten in zeitungen im fernsehen im<br />
alltagsgeschehen bilder die ich oft lange und stumm betrachte<br />
bilder mit denen ich manchmal rede ich rede zu<br />
ihnen manchmal beantworten sie meine fragen gestern<br />
das bild „die bergung des leichnams des hl. markus“ betrachtet<br />
von jacopo tintoretto 1562 gemalt der leblose<br />
leichnam zur bestattung getragen so wird man mich einmal<br />
tragen ins feuer oder ins grab das boot gleitet am<br />
abend ruhiger durch das wasser als am morgen oder zu<br />
mittag wenn die taxis und lastenkähne die kanäle durchkreuzen<br />
gerne sitze ich vorne am bug genieße die kühle<br />
des fahrtwindes und die freie sicht auf die prächtigen<br />
bauten an den beiden ufern ich genieße das sanfte licht<br />
das anders ist als zu mittag da alles grell leuchtet und<br />
blinkt jetzt am abend schimmert das glas in den fenstern<br />
Prosa
64 VENEDIG|Dezember2016<br />
Prosa<br />
und die farben rundum erscheinen in dunkleren tönen sodaß<br />
es den augen wohltut und es ist stiller geworden<br />
überall wo man jetzt ist der tag bereitet sich langsam vor<br />
auf die nacht noch einmal bin ich hin zur biennale gegangen<br />
zu einem pavillon den ich noch nicht gesehen ein<br />
mensch hängt am kreuz nein nicht jesus von nazareth<br />
nicht christus nein ein kind mit einer dornenkrone auf<br />
dem kopf und mit dicken brillen vor den augen ein gequältes<br />
gemartertes kind dieses kind schreit es schreit aus<br />
schmerz und angst und andere kinder stehen rund um<br />
das aufgerichtete kreuz ein langer eiserner speer sticht<br />
in den weißen körper des gekreuzigten mädchens und es<br />
tritt schwarzes blut aus der wunde das schwarze blut<br />
rinnt in einem langen schmalen rinnsal der körper hinunter<br />
das mädchen stirbt wird abgenommen vom kreuz ein<br />
grausiges kindliches spiel nein das ist als metapher für<br />
bittere wahrheit klage und anklage zugleich ein kleiner<br />
junge legt ein gewehr an ein anderer junge steht an einer<br />
mauer der junge mit dem gewehr zielt auf den an der<br />
mauer der junge mit dem gewehr drückt ab der an der<br />
mauer stehende junge fällt getroffen tot um ein spiel vielleicht<br />
ein grausiges ein grausames ein unbedachtes spiel<br />
aber in seiner bedeutung nachbildung eine erinnerung an<br />
tausendfaches geschehen nicht nur damals sondern<br />
auch heute und überall auf der ganzen welt auf unserer<br />
erde und wir mitten drinnen als opfer und täter zugleich<br />
das und so ist der mensch videobilder fragmentarisch immer<br />
wieder dieselben in einer endlosschleife scheinbar<br />
absurdes surreales geschehen festhalten von in szene<br />
gesetzten ideen zu artistischen handlungen kombiniert<br />
blütenblätter in einen teich gestreut als poetische handlung<br />
still und lange in diesem sakralen totengedenkraum<br />
sitzen von und zum gedenken an den so früh verstorbenen<br />
christoph schlingensief den großen provokateur<br />
den radikalen denker und radikal handelnden den leidenden<br />
todkranken menschen abschied nehmen von seinen<br />
freunden von der geliebten von der welt vom eigenen<br />
leben mein gott warum hast du mich verlassen kyrie eleison<br />
musik zeig mir dein innerstes wesen zeig mir dein<br />
wahres gesicht der traum vom besseren menschen von<br />
einer guten von einer besseren welt von wahrheit gerechtigkeit<br />
und würde von frieden und freiheit doch überall<br />
die menschen geknechtet entwürdigt mißbraucht geschändet<br />
getötet überall krieg und gewalt auch jene gegen<br />
das eigene volk der kampf um die macht fast aussichtslos<br />
die rebellion gegen potentaten diktatoren<br />
geheimdienst und immer wieder die bereitwilligen helfer<br />
auf seiten der unterdrücker die folterknechte die mörder<br />
die attentäter im namen gottes oder von sonst irgendwem<br />
oder von irgendwas der heilige unvermeidbare krieg<br />
die flucht übers meer in überladenen booten viele von<br />
ihnen versinken menschen treiben hilflos ertrinkend im<br />
wasser stranden irgendwo in europa zu anderen kontinenten<br />
ist es zu weit europa ist jetzt das rettende land so<br />
glauben sie so hoffen sie doch europa tut nichts andere<br />
staaten tun auch nichts die welt schaut gleichgültig zu<br />
denn die zivilisierte welt braucht das erdöl ohne das erdöl<br />
ohne diesel ohne benzin ohne atomkraft geht gar<br />
nichts mehr ohne rohstoffe bricht alles zusammen die<br />
börsenkurse brechen ein länder sind pleite andere länder<br />
bewahren sie vor dem bankrott im eigenen interesse wie<br />
die regierungen sagen europa ist eine währungsunion mit<br />
offenen märkten und grenzen doch jene die in einem der<br />
südlicheren länder vis-à-vis von afrika nach gefahrvoller<br />
fahrt übers meer an den küsten dort stranden die gehören<br />
nicht zu uns die gehören nicht nach europa die gehören<br />
zurückgeschickt ins elend aus dem sie kommen und<br />
überhaupt wichtig ist einzig und allein die stabilität selbst<br />
wenn nur grausame diktatoren eine solche garantieren<br />
das ist europa und auch die roma sollen gefälligst dort<br />
bleiben wo sie schon immer und bisher waren im elend<br />
im dreck konferenzen jetzt weltweit eine konferenz nach<br />
der anderen abgesichert das terrain alles besprochen alles<br />
versprochen vieles geregelt maßnahmen ergriffen wir<br />
sind auf dem richtigen weg sagen sie die glocken läuten<br />
so schön jetzt am morgen hier in venedig heute am<br />
pfingstsonntag wir sind jetzt 30 jahre zusammen weißt<br />
du noch sagst du und ich nicke kann mich jedoch nicht<br />
mehr erinnern morgen der todestag der sterbetag meines<br />
bruders meines lieblingsbruders abgestürzt in den lienzer<br />
dolomiten wieder einmal war er im alleingang unterwegs<br />
dieses mal in den tod mehr als ein halbes menschenleben<br />
ist das nun her mehr als 60 jahre er war erst<br />
22 jahre alt hatte den krieg überlebt aber dann hat es ihn<br />
doch noch erwischt tragisch sagten die leute begreifen<br />
was zeit ist die glocken sind verklungen wieder ist stille<br />
rundum auch hier im raum ich sitze am schreibtisch in<br />
der wohnung am campiello del sol nahe der vaporettostation<br />
san silvestro im sestiere san polo nahe der rialtobrücke<br />
einem touristenzentrum in dieser stadt noch ist es<br />
relativ früh am morgen aber bald schon werden die besucher<br />
von venedig etwa 25.000 personen pro tag fast so-
VENEDIG|Dezember2016<br />
65<br />
viel wie die hälfte der einheimischen bevölkerung ausschwärmen<br />
mit ihren tausenden fotoapparaten und<br />
wasserflaschen und werden die vaporetti überfüllen und<br />
erobern die stadt bald schon werde ich abreisen aus dieser<br />
stadt ob ich noch einmal wiederkommen werde ich<br />
weiß es nicht meine wiederkehrstadt ist nicht venedig die<br />
ist für mich rom das ist die stadt die ich liebe die mir<br />
vertraut ist und mich gleichzeitig erregt so als hätte ich<br />
über das erlebnis der stadt eine geheimnisvolle beziehung<br />
zu ihr venedig ist schön ist wie eine märchenstadt<br />
etwas unglaublich wunderbares doch vieles in dieser<br />
stadt ist bleibt für mich im gesamten nur eine eindrucksvolle<br />
kulisse soviel zuviel ist für mich und wirkt auf mich<br />
nur wie ein künstliches bühnenbild in einem theater<br />
prächtige vergangenheit ja vielleicht auch untergehende<br />
pracht venedig wird durch den massentourismus zerstört<br />
in venedig sind wir alle nicht fremd wir haben diese stadt<br />
und alle ihre sehenswürdigkeiten usurpiert wir haben venedig<br />
sein für-sich-sein geraubt wir sind als eroberer eingefallen<br />
in diese stadt und tun es immer noch vielleicht<br />
sollte und müßte man diesem ort dieser stadt diesem<br />
märchenwunder das leben sein ich-sein zurückgeben indem<br />
man nicht mehr hierherkommt ich weiß es nicht ich<br />
weiß keine lösung jedenfalls bilden vergangenheit gegenwart<br />
und zukunft in venedig keine einheit alles hier wesentliche<br />
liegt nur mehr in der vergangenheit ist etwas<br />
das längst vergangen ist zwar noch erlebbar spurenhaft<br />
und wie ein abglanz des lebens von einst alles hier ist nur<br />
mehr relikt die lebenswirklichkeit dieser stadt kenne ich<br />
nicht ich habe sie nie erlebt nicht erreicht und wenn ich<br />
noch einmal wiederkommen sollte in meinem leben wird<br />
alles nur mehr erinnerung sein erinnerungen projiziert<br />
auf den schauplatz einer gegenwart pfingstmontag ist<br />
heute es ist noch früh am morgen draußen schreien die<br />
möwen der himmel ist bewölkt und grau ein neuer tag<br />
Peter Paul Wiplinger<br />
Geb. 1939 in Haslach, Oberösterreich. Schriftsteller und künstlerischer<br />
Fotograf. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft,<br />
Germanistik und Philosophie. Vorwiegend Lyriker,<br />
aber auch Kulturpublizist und Prosa-Schriftsteller. Bisher 46 Buchpublikationen<br />
in 20 Sprachen und hunderte Beiträge in Zeitungen,<br />
Zeitschriften und Anthologien sowie Rundfunksendungen im<br />
In- und Ausland. Weitere Informationen unter www.wiplinger.eu<br />
Prosa
<strong>66</strong> VENEDIG|Dezember2016 Vereinsleben<br />
PRÄSENTATION<br />
<strong>etcetera</strong> 65 Holz<br />
im Stadtmuseum am 12.10.2016 mit Lesung der Heftautorinnen<br />
Gertraud Artner, Christine Korntner, Wolfg. Maier-König<br />
und Ernst Punz sowie mit einem Künstlergespräch mit dem<br />
Tage der offenen Galerien<br />
Am 15. und 16. 10. 2016 wurde der Bildhauer und Heftkünstler<br />
des Heftes „<strong>etcetera</strong>“ Holz ein weiteres Mal vorgestellt<br />
und mit seinen 25 Objekten gefeiert und bewundert.<br />
Im Künstlergespräch mit Eva Riebler-Übleis erläuterte er<br />
seine Intentionen und Lebens- und Vorgehensweisen. Er<br />
spielte selbst zur Einstimmung auf seiner Blasbalg-Harmonika<br />
seine bei seinen Yoga-SchülerInnen beliebten Lieder.<br />
Die Schupfengalerie Herzogenburg bot einen gebührlichen,<br />
gemütlichen Rahmen für die Holzobjekte und die Lesenden<br />
der LitGes: Christine Huber aus Herzogenburg, Doris Kloimstein,<br />
Elfriede Starkl und Romana Maria Jäger aus St.P.<br />
Kunsttischler Andreas Priesching und dem Holzkünstler Gotthard<br />
Obholzer, der aus dem Stubaital angereist ist. Mit drei<br />
großen Holzskulpturen gab er einen Vorgeschmack auf seine<br />
Ausstellung in der Auslage der Schupfengalerie Herzogenburg,<br />
die noch bis zum 24.11. zu sehen war. Sehr spannend<br />
und psychedelisch klang die Knochenflöte Bernadette Käfers<br />
aus St.P., die mit dieser Österreich 2011 auf der Biennale Kassel<br />
vertreten hatte. Sie hatte zusammen mit Harald Rehak,<br />
dem ehemaligen Schlagzeuger der Gruppe Cosanostra eigene<br />
Stücke entwickelt. Dieser brachte seine Holzinstrumente<br />
mit. Das Cajon-Schlagwerk, das einst die Sklaven z.B. in Peru<br />
aus Mangel an echten Instrumenten aus Holzkisten entwickelt<br />
hatten, und das Yambu.<br />
Foto©Hans Kopitz<br />
5. TAGEBUCHTAG der<br />
Litges am 19.10.2016<br />
In der Buchhandlung Schubert, Wienerstr. 6<br />
Holz wurde somit nicht nur in Form von Skulpturen & Gedankenstoff<br />
für Texte, sondern auch als Grundmaterial für ansprechende,<br />
mitreißende Rhythmen angeboten! Außer am holzigen<br />
Barique wurde beim anschließenden Buffet in geselliger<br />
Diskussionsrunde nicht gespart.<br />
Das Tagebuchschreiben ist allen Schreibens Anfang! Die<br />
Konzentration auf eigene Gedanken und das Festhalten dieser,<br />
schult das Denkvermögen und die Schreibleistung wie<br />
–qualität.<br />
Es las Brigitte Pokornik, nicht aus ihren Aufzeichnungen,<br />
sondern aus dem Tagebuch der „Schönen“, die für ihren<br />
Vater zu einem hässlichen, riesigen Tier auf dessen Schloss<br />
gesendet wurde, um die Schuld ihres Vaters zu begleichen.<br />
Man merkt schon die märchenhaften Züge, die bis zum Ende
Vereinsleben VENEDIG|Dezember2016<br />
67<br />
der Erzählung durchgehalten wurden und das Publikum in<br />
einen richtigen Sog zog. Textauszug: „Auch ein Tier hat eine<br />
Mutter.“, sagte das Tier. Ja – aber eine Mutter, die Harfe<br />
aus St.P. war hervorragend und dem Trio, das seinen ersten<br />
öffentlichen Auftritt hatte, kann man nur eine weitere große<br />
Plattform und zahlreiche Engagements wünschen.<br />
Romana Maria Jäger ist eine Neueinsteigerin bei der LitGes.<br />
Sie ist Sozial-Trainerin und Lebensberaterin und hatte bereits<br />
in der Schupfengalerie Herzogenburg bei Renate Minarz<br />
ihr Yogabuch Mach mich nicht nass! vorgestellt. Dieses Mal<br />
las sie ihre persönlichen, kurzen Tagebucheintragungen des<br />
spielt? „Dann war deine Mutter ein Mensch?“ Es nickte. Die<br />
Erzählung war so spannend, dass das Publikum die jazzigen<br />
Musikstücke des Trios Schwan fast als unangebrachte Unterbrechung<br />
betrachtete. Die Gesangstimme von Shirin Bajalan<br />
letzten Monats. Sie hatte assoziationsartig und resümierend<br />
ihre Gedanken am Ende jeden Tages festgehalten. Befindlichkeitsprosa<br />
wäre wohl ein neuer möglicher Ausdruck für<br />
diese Tagebuchgattung im Vergleich zu den Reisetagebuch-<br />
Einträgen, die das Publikum voriges und vorvoriges Jahr in<br />
der Buchhandlung Schubert vorgetragen bekommen hatte.<br />
Jedenfalls ein wirklich gelungene Mischung aus Textvortrag<br />
und Musik, wie das Publikum in der zum Bersten vollen<br />
Buchhandlung beteuerte!
68 VENEDIG|Dezember2016 Rezensionen<br />
Venedig<br />
Mit Cityplan Venedig.<br />
Ostfildern: DuMont, 2015<br />
120 Seiten<br />
ISBN: 9-783-770-196-142<br />
AuserLesen<br />
25 J. Weigel Litersturstip.:<br />
B. Neuwirth/HG<br />
St. Pölten: Literaturedition<br />
NÖ, 2016, 288 S.<br />
ISBN 978-3-902717-35-1<br />
Judith Gruber-Rizy:<br />
Der Mann im Goldrahmen<br />
Roman<br />
Verlag Wortreich, Wien<br />
2016, 288 Seiten<br />
ISBN 978-3-903091-06-1<br />
Venedig- Zentum jüdischer Literatur und jüdischen<br />
Buchdrucks blickt heuer auf eine 500jähige<br />
Geschichte zurück. Am 15.März 1516 beschloss der<br />
Senat der Seerepublik, dass Juden in einem separaten<br />
Stadtteil leben sollten. „Geto“ wurde dieses Viertel genannt<br />
und seine Bewohner lebten auf engstem Raum.<br />
Erst mit Ende der Seerepublik fand auch das Ghetto sein<br />
Ende. Erst danach begann die Zeit, in der Juden anderen<br />
Bewohnern Venedigs rechtlich gleichgestellt waren.<br />
(Tagesspiegel, 29.03.2016).<br />
Der vorliegende Reiseführer von DuMont widmet mit<br />
„Juden in Venedig - im Ghetto“ der damaligen Zeit ein<br />
eigenes Kapitel und erinnert somit an die 500 Jahre alte<br />
Geschichte und den Beginn des Ghettos 1516. Wir erfahren,<br />
dass heute zirka 600 Juden in Venedig wohnen, allerdings<br />
nicht auf das ehemalige Viertel begrenzt, sondern<br />
in der gesamten Stadt verteilt. An die Zeit damals<br />
erinnern die Synagogen, von denen die Levantinische<br />
und die Spanische Synagoge wohl am eindrucksvollsten<br />
erscheinen, im Gegensatz zur schlicht anmutenden<br />
Deutschen, Italienischen Synagoge und Sinagoga Canton,<br />
die man jeweils auf einem geführten Rundgang in<br />
englischer oder italienischer Sprache besichtigen kann.<br />
Kultgegenstände wie Pessah- und Purimteller sowie<br />
einen Hochzeitsvertrag aus dem 18. Jahrhundert kann<br />
der Besucher im Museo d´Arte Ebraica bewundern.<br />
Moderne Kunst gibt es am Canal Grande, die Collezione<br />
Guggenheim-Museum, ist für Kunstliebhaber ein Muss.<br />
Am Ende des Tages belohnt der schönste Blick auf die<br />
Stadt - San Giogio Maggiore. Ihn sollte man nicht verpassen,<br />
bevor Venedig endgültig versinkt (bei gleichzeitig<br />
ansteigendem Meeresspiegel), denn schließlich<br />
gehörte die prachtvolle Stadt, wie im Wiener Kongress<br />
1815 beschlossen wurde, einst dem Habsburgerreich.<br />
Venedig ist eine Reise wert!<br />
Den Überblick dabei behält man am besten beim Mitführen<br />
des inliegenden Cityplanes.<br />
Cornelia Stahl<br />
Literaten bedürfen der Förderung! Die Kulturabteilung<br />
des Landes NÖ hat dies immer schon gewusst und<br />
seit 25 J. dient der Hans Weigel Literaturpreis dazu, meist<br />
junge AutorInnen zu betreuen und mit einem Stipendium<br />
zu stützen. Aus allen drei Gattungen – Lyrik, Dramatik<br />
und Prosa – werden Talente von einer unabhängigen Jury<br />
bewertet. Diese setzen ihren Weg, ihr Schaffen auch meist<br />
sehr erfolgreich fort. Z.B. Georg Bydlinsky, Erwin Riess<br />
oder Paulus Hochgatterer. Diese Vertreter der ersten Jahre<br />
fanden Eingang in den ersten Sammelband „Am Weg<br />
…“ 2004. In dieser Anthologie sind ebenfalls klingende<br />
Namen wie Hahn, Hirth, Unterrader, Travnicek, Widhalm,<br />
Seisenbacher, Becker, Woitzuck, Klemm, Wurmitzer, Feimer,<br />
Schuberth, Tiwald, Bayer, Eisenkirchner, Hilber oder<br />
Hülmbauer aus dem Lyrik / Prosabereich, sowie Lind und<br />
Prinz aus der Sparte Film oder Lale Rodgarkia-Dara , Niklas<br />
oder Dürr aus der Sparte interdisziplinärer Medien<br />
(Hörstücke, Tonfragmente, Performative Lesung …).<br />
Da das Werk „AuserLesen“ betitelt ist, habe ich als Beispiel<br />
Gertraud Klemm (Autorin von „Aberland“, 2015 bei<br />
Droschl; „Muttergehäuse“, 2016 bei Kremayr & Scheriau):<br />
Ballgefühl auserlesen: Es ist ein Romanauszug, der tiefen<br />
Einblick in die kalkulierende Gedankenwelt einer äußerst<br />
jugendlichen Freundin eines eher pensionsreifen Autors,<br />
der aufs Land gezogen ist, bietet. So richtig offen und<br />
ehrlich werden die lakonischen und opportunistischen<br />
Verhaltensstrategien der jungen Dame dargelegt. Einfach<br />
köstlich zu lesen!<br />
Dank Gabriele Ecker hat der Leser ein qualitativ hochwertiges<br />
Buch vor sich, in dem es stets interessant ist,<br />
zu erkunden, was diese Literaturschaffenden Niederösterreichs,<br />
die fast alle bereits in Rezensionen im „<strong>etcetera</strong>“<br />
beleuchtet worden sind, diesmal an Exempeln der<br />
Veröffentlichung anvertrauten. Stöbern sie in dem Band,<br />
der durch die angehängten Autorenportraits informativ<br />
aufbereitet wurde! Die Texte sind wirklich faszinierend,<br />
abwechslungsreich und spannend!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Fotos zum Nachdenken. »Jeden Tag um halb 10 mache<br />
ich mein Foto.« Einstieg in einen neuen Tag, in ein<br />
neues Kapitel, der Satz in stets abgewandelter Form. Die<br />
Ich-Erzählerin hat sich in ein Bergdorf zurückgezogen,<br />
und aus dem Fenster sieht sie einen Kirschbaum, den sie<br />
jeden Tag mit Fotoapparat und Stativ knipst. Das Foto<br />
ist ein Angelpunkt in ihrem Aufenthalt, den sie für ein<br />
Jahr angelegt hat.<br />
Das wiederkehrende Ritual der Fotografie setzt eine<br />
Struktur fest, in der sich auch weitere wiederkehrende<br />
Aktivitäten befinden, die allerdings als Basis zur Selbstreflexion<br />
dient. Ebenfalls täglich sind die Telefonate mit<br />
dem Sohn David. Für ihn war sie immer da, ihre Identität<br />
teilen sich die Künstlerin und die Mutter.<br />
Im Zentrum des Romans steht eine Beziehung zu einem<br />
um zwanzig Jahre jüngeren Mann, Stephan. Diese Liebschaft<br />
dauerte nur vier Wochen, jene Zeit, die ihr Sohn<br />
auf einer Sprachreise zubrachte. Kurz vor Davids Rückkehr<br />
brach sie die Beziehung zu Stephan ab.<br />
David wird im Laufe des Romans als Grund für die Beendigung<br />
der Beziehung mit Stephan genannt – allerdings<br />
scheint er von dieser Liebschaft überhaupt nichts<br />
zu wissen. Als Stephan ein einziges Mal Davids Zimmer<br />
besichtigte, empfand die Erzählerin dies fast als Verrat.<br />
In keiner Weise ließ sie die beiden zusammenkommen.<br />
Natürlich zweifelt die Ich-Erzählerin an ihrer Entscheidung,<br />
mit Stephan vor Jahren gebrochen zu haben. Mit<br />
der Zeit stellt sich das Gefühl ein, sie könnte noch länger<br />
in den Bergen bleiben, vielleicht sogar für immer. Doch<br />
ein Bekenntnis dazu öffnete auch den Weg für einen<br />
Neubeginn mit Stephan.<br />
Der Mann im Goldrahmen ist ein sehr stilles und doch<br />
beredtes Buch. Die Gedanken der Fotografin schreiten<br />
ruhig voran, und der Anhaltspunkt des täglichen Fotos<br />
gibt in gewisser Weise einen sicheren Pfad vor. Den die<br />
Erzählerin, wie die letzten Seiten des Buches enthüllen,<br />
auch braucht.<br />
Klaus Ebner
Rezensionen VENEDIG|Dezember2016<br />
69<br />
Wann Worte wichtig sind:<br />
Georg Bydlinski und sein<br />
Werk f. Kinder u. Erw.<br />
Inge Ceveka/HG<br />
St. Pölten: Literaturedition.<br />
NÖ, 2016, 340 S.<br />
978-3-902717-33-7<br />
Simone Hirth:<br />
Lied über die geeignete Stelle<br />
für eine Notunterkunft.<br />
Wien:Kremayr&Scheriau,<br />
2016, 188 S.<br />
ISBN 978-3-218-01045-0<br />
Gerald Grassl:<br />
Rebekkas Kraft.<br />
Jüdische Frauen aus Wien-<br />
Band II.<br />
Wien: edition tarantel.<br />
220 Seiten.<br />
ISBN: 978-3-9503673-6-2<br />
Worte und Werke. 2016 feierte der Kinder- und Jugendbuchautor<br />
Georg Bydlinski (geb. in Graz, in NÖ seit<br />
1967 lebend) seinen 60. Geburtstag, daher wird sein<br />
literarischer Vorlass aus dem Literaturarchiv NÖ aufgearbeitet<br />
und in der Reihe der Archiv-Autoren herausgegeben.<br />
Beiträge von Malte Blümke, Inge Cevela, Gabriele<br />
Ecker, Reinhard Ehgartner, Gerhard Falschlehner, Hubert<br />
Hladej, Eva Maria Kohl, Heidi Lexe, Silke Rabus, Arno<br />
Russegger, Gerhard Ruiss, Wilfried Satke und Christian<br />
Teissl runden Werk, Bedeutung und Aus- wie Eindruck<br />
ab. Zahlreiche Gedichte, Erzählungen, Lieder und Übersetzungen,<br />
insgesamt über 80 Bücher, die er oft selbst<br />
illustrierte, liegen vor. Er arbeitete gerne mit Kindern, las<br />
bereits in den 80er Jahren in Volksschulen und begleitete<br />
seine Lesungen (eigene Lieder, gespielt auf der Gitarre),<br />
daher liegt eine von und mit Kindern gestaltete CD dem<br />
Band bei.<br />
Im Gespräch mit Gerhard Falschlehner, das im Band zu<br />
finden ist, meinte er, dass „das Eigene respektiert wird, ist<br />
eine sehr wichtige Grundhaltung im religiösen Bereich“.<br />
Als Autor werfe er gerne Fragen auf und wies auf Wurzeln<br />
hin, indem er z. B. indianische Texte übersetzte. Es ging<br />
ihm darum, die eigene Identität anzunehmen und „nicht<br />
die eine Kultur oder Weltanschauung über die andere<br />
zu stellen“ S. 223. Bei den Indianern begeisterte ihn die<br />
Lebenseinstellung gegenüber der „Mutter Erde“. Einen<br />
indianischen Ausspruch führte er an: Niemand verletzt,<br />
was er schätzt und liebt. Schreiben ist für Bydlinski „eine<br />
unverzichtbare Lebensbegleitung.“, so S. 225.<br />
Und so ist diese Aufarbeitung seines Vorlasses mit den<br />
Werken von 1975 bis 2007 ebenfalls eine unverzichtbare<br />
Lebensbegleitung und Würdigung des Kulturschaffenden.<br />
Und da die Aufarbeitung mitsamt den handschriftlich<br />
vorhandenen Fassungen und Überarbeitungen gut<br />
aufbereitet und dokumentiert wurde, ist es ein spannender<br />
und keinesfalls trockener Band!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Kleinere Räumungs- und Aufbauarbeiten.<br />
Simone Hirth, geb. 1985, studierte Deutsche Literatur<br />
in Leibzig, hat einen höchst interessanten Debütroman<br />
vorgelegt. Der Untergang ist Programm, jedoch durch<br />
persönlichen Einsatz und Raffinesse vermeidbar.<br />
Das Haus der Protagonistin wird geschliffen und sie<br />
muss ihr Kellerloch verlassen. Die triste Situation wird<br />
durch einen abwesenden oder gar nur erdachten Bruder<br />
und die Aussage „Alle Männer sind gefallen oder im<br />
Krieg“ spürbar. Die einsame junge Frau leidet bittere<br />
Not, verzehrt Meisenknödel oder kleine Igel und wird<br />
vom Trinkwasser krank. Dass sie im Kaufhaus stiehlt, ist<br />
logische Konsequenz – die Leser sind trotzdem auf ihrer<br />
Seite – denn Not macht erfinderisch. Außerdem rettet<br />
sie sich selber durch ihren Fleiß und Aufbauwillen. Mit<br />
200 Ziegeln aus ihrem Elternhaus schafft sie sich eine<br />
Notunterkunft und träumt vom Radieschenziehen in<br />
einer gefundenen alten Regenrinne, vom Tomaten- und<br />
Erbsenpflanzen in Eimer und Autoreifen. Ihre Einsamkeit<br />
ist so groß, dass sie die Ameisen um ihre Geborgenheit<br />
im Nest beneidet. „und wünsche, sie trügen auch mich,<br />
gleich ihren Kameraden, irgendwann in ihr Nest…. Wer<br />
keine Sozialversicherung mehr hat, sollte sich frühzeitig<br />
mit den Insekten anfreunden.“<br />
Die Autorin verflicht die Gedanken der Frau außerhalb<br />
der satten Gesellschaft mit den Zitaten aus einem Wirtschaftsratgeber<br />
und einem Botanikbuch, was den Kontrast<br />
zwischen realem Erleben und papierener Weisheit<br />
auf die Spitze treibt. Ebenfalls gelungen sind die Ideen,<br />
sich selber Gebote und Ratschläge aufzustellen, die<br />
eigentlich wie Tagebuchnotizen daherkommen. S. 177<br />
§2 Manchmal finde ich alte Fenster … Jedes hat einen<br />
Namen: das Baumfenster, das Hollerfenster, das Himmelfenster<br />
.. je nach dem, was davor zu sehen sein wird …<br />
Niemals wird Jammern zum Programm sondern sprühender<br />
Galgenhumor und Erfindungsgeist!<br />
Eine wunderbare Gedanken- und Erlebniswelt mit guten<br />
und skurrilen Wendungen. Einfach köstlich! E. Rie-Ü<br />
Der Name ist Programm. Parallel zur Ausstellung<br />
„Lebenswege großartiger Frauen aus der Leopoldstadt“<br />
im Bezirksmuseum Leopoldstadt des 2.Wiener<br />
Gemeindebezirks ist das Buch „Rebekkas Kraft“ von<br />
Gerald Grassl erschienen. Schon der Titel des Buches<br />
ist Programm: Rebekkas Kraft. Dahinter steckt die gebündelte<br />
Kraft von über zwanzig jüdischen Frauen der<br />
Vergangenheit, die Wiens Geschichte prägten. Bekannte<br />
Frauen wie die Pädagogin und Politikerin Stella Klein-<br />
Löw, die am privaten jüdischen Gymnasium in Wien-<br />
Leopoldstadt lehrte sowie Lisl Goldarbeiter, Fotomodell,<br />
welche 1929 als bisher einzige Österreicherin zur Miss<br />
Universum gewählt wurde. Andere Künstlerinnen wie<br />
die austroamerikanische Fotografin Trude Fleischmann,<br />
die Musikerin und Schriftstellerin Vicki Baum werden in<br />
dem umfangreichen Werk vorgestellt. Auch unbekannte<br />
Frauen wie Paula Fürth, Gründerin einer Gartenbauschule<br />
in der Zeit der Ersten Republik sowie Schauspielerin<br />
und Schriftstellerin Lili Grün werden gewürdigt.<br />
Bei der Architektur gehen nach wie vor die Meinungen<br />
auseinander, denn Ella Briggs (1880-1977), wird hier als<br />
erste österreichische Architektin vorgestellt und konkurriert<br />
mit Margarethe Schütte-Lihotzky, bekannt geworden<br />
mit ihrem Modell der „Frankfurter Küche“. Der<br />
Diskurs darüber wird im Buch nur am Rande gestreift,<br />
erzeugt Spannung, und fordert neue Überlegungen.<br />
Der Wiener Autor Gerald Grassl bietet dem Leser ein<br />
breites Spektrum bekannten und unbekannten Persönlichkeiten.<br />
Erfreulich kommen Frauen endlich ins<br />
Rampenlicht, die bisher nur in der zweiten oder dritten<br />
Reihe standen. Eine Kurzbiographie zur jeweils<br />
vorgestellten Frau wäre hilfreich gewesen, beeinflusst<br />
den Lesefluss jedoch nur am Rande. Alle Texte werden<br />
durch schwarz-weiß- Fotografien sowie Archivmaterial<br />
ergänzt. Für an Zeitgeschichte und vor allen Dingen<br />
Frauengeschichte interessierte Leser ist dieses 220<br />
Seiten umfassenden Werk unbedingt zu empfehlen!<br />
Cornelia Stahl
70 Rezensionen<br />
70 VENEDIG|Dezember2016<br />
Michael Köhlmeier:<br />
Das Mädchen<br />
mit dem Fingerhut<br />
Roman, Hanser<br />
2016, 140 Seiten<br />
ISBN: 978-3-446-25055-0<br />
C. Busch, S.Hördler,<br />
R. Jan van Pelt / Hg.:<br />
Auschwitz<br />
durch die Linse der SS<br />
Philipp von Zabern Verlag<br />
2016, 340 S.<br />
ISBN 978-3-8053-4958-1<br />
Francesco Del Romano:<br />
Der Blumenwolf<br />
Norderstedt, BoD<br />
2016, 48 S.<br />
ISBN 978-3-7412-5617-2<br />
Eine Weihnachtsgeschichte. Einmal mehr vermag<br />
es Michael Köhlmeier als erstklassiger Erzähler zu beeindrucken.<br />
Mit dem vorliegenden Roman hat er das<br />
Buch der Stunde zum Thema Flüchtlinge geschrieben.<br />
Denn bekanntlich sind es immer häufiger Kinder, die<br />
völlig alleine aus den Krisenregionen nach Europa<br />
flüchten. Laut Statistik erreichten 2015 fast 10.000<br />
dieser unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge Österreich.<br />
Der Roman spielt in einer großen Stadt irgendwo in<br />
Westeuropa. Ein kleines Mädchen hat alles verloren –<br />
nicht einmal sein Name ist bekannt. Es versteht kein<br />
Wort der Sprache, die man hier spricht, aber wenn<br />
jemand „Polizei“ sagt, beginnt es zu schreien. In einem<br />
Heim lernt es zwei kaum ältere Buben kennen, auch<br />
deren Sprache ist ihm fremd. Aber sie sind genauso<br />
allein wie das Mädchen und gemeinsam begeben sie<br />
sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. Damit beginnt<br />
ein dramatischer Überlebenskampf gegen Hunger<br />
und Kälte, ein Leben am Rande der Gesellschaft,<br />
das der Autor atmosphärisch dicht, voll archaischer<br />
Wucht beschreibt, ohne jemals ins allzu Pathetische<br />
abzugleiten.<br />
Köhlmeier erzählt eine ganz leise Geschichte voller<br />
Poesie – fast wie ein Märchen. Manche mögen sie<br />
berührend wie eine Weihnachtsgeschichte von Charles<br />
Dickens finden.<br />
Ein Happy End sollte sich der Leser, die Leserin allerdings<br />
nicht erwarten. Köhlmeier bleibt der Realität<br />
verbunden und das ist gut so. Es lässt sich auch gar<br />
nicht mit Sicherheit sagen, worin genau ein solches<br />
Happy End bestehen würde.<br />
Ein kurzer Roman von knapp 140 Seiten, der aber lange<br />
zu denken gibt.<br />
Gertraud Artner<br />
Die Banalität des Bösen. Die Täter führten nicht nur<br />
gewissenhaft Buch über die Organisation in den Konzentrations-<br />
und Vernichtungslagern, es gab daneben<br />
auch noch die privaten Fotoalben der SS, in denen sie<br />
- quasi zur Erinnerung - ihre „Arbeit“ und Freizeitgestaltung<br />
liebevoll ausgeschmückt dokumentierten. In<br />
diese Kategorie fällt das „Höcker-Album“. Als Adjutant<br />
des letzten Kommandanten von Auschwitz-Birkenau<br />
genoss Karl Höcker eine einzigartige Perspektive auf<br />
diejenigen, die den Lagerbetrieb organisierten. Wir<br />
sehen die „Belegschaft“ beim gemütlichen Beisammensein,<br />
beim Betriebsausflug, beim Entzünden der „Jultanne“<br />
zu Weihnachten...ganz harmlos und trivial. Aber<br />
Höckers Bilder entstanden zwischen Juni und Dezember<br />
1944 in Auschwitz, während die Tötungsmaschinerie<br />
auf Hochtouren lief, zu dieser Zeit etwa die berüchtigte<br />
Auschwitzer „Ungarn-Aktion“, in der mehr als 300 000<br />
ungarische Juden vergast wurden.<br />
Die Bilder verstören zutiefst, man fühlt sich an Hannah<br />
Arendts Bezeichnung „Banalität des Bösen“ erinnert,<br />
mit der sie ihre Eindrücke vom Eichmann-Prozess in<br />
Jerusalem 1961 zusammenfasste. Und dann hört man<br />
immer wieder, dass irgendwann Schluss sein müsse<br />
mit der „Vergangenheitsbewältigung“. Demgegenüber<br />
betont Sara J. Bloomfield (Leiterin des United States<br />
Holocaust Memorial Museum) in ihrem Vorwort die<br />
aktuelle Bedeutung des Höcker-Albums, da es uns „die<br />
beängstigende wie elementare Wahrheit aufs Neue bewusst<br />
macht: Das Unvorstellbare ist immer vorstellbar<br />
– und das zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jedem Volk“.<br />
Im Band werden die 116 Fotos mit knappen aufschlussreichen<br />
Kommentaren versehen. Acht begleitende<br />
Aufsätze liefern vertiefende Informationen zu den Personen,<br />
zu Auschwitz und zum Stellenwert des Höcker-<br />
Albums für die wissenschaftliche Forschung.<br />
Gertraud Artner<br />
Ein Debütwerk der romantischen Sehnsucht.<br />
Geboren wurde der Autor in Steyr, maturierte in Wels und<br />
studierte Italienisch und Geschichte an der Universität<br />
Salzburg. Aufgrund des einjährigen Studienaufenthaltes<br />
in Perugia liegen diesem Lyrikband viele Gedanken an<br />
den und aus dem Süden sowie das Pseudonym Franceso<br />
Del Romano zugrunde. Italienaffin, mit einem Hang zu<br />
Schwermut und romantisierender Liebe oder Natur gibt<br />
er sein Innerstes preis. Der Kampf mit der Erinnerung an<br />
vergebliche Liebe - Motto: „Die Liebe ist ein freudvolles<br />
und gefährliches Spiel“ S. 31 oder Schicksalsschläge -<br />
Motto: … die „Irrfahrt, die mein Leben bedeutet“ S. 20<br />
klingen resignierend, sind es aber letztendlich nicht. Denn<br />
Hoffnung lauert überall: Der Schlussakkord S. 46 lautet<br />
nämlich: „In jenen Tagen waren meine Gedanken bei einer<br />
reichen Blüte, mein Herz erfüllt von Blumenduft.“<br />
So ist auch das titelgebende Gedicht „der Blumenwolf“<br />
mit den Assoziationen versehen, dass Blumen Positives<br />
bringen. Der Blumenwolf ist das Tier – alias ein Dichter<br />
- , das dräuende Gedanken genauso wie sehnsüchtige im<br />
Gemüt hat. Allerdings versteckt er sich feige im Wald und<br />
ist sich selbst Wolf genug.<br />
Dem Autor und Dichter wünschen wir natürlich, dass er<br />
aus dem Wald flieht und stark seine Worte in die Welt<br />
fetzt!<br />
Ernst Jandl wäre voriges Jahr 90 Jahre gewesen, und aus<br />
diesem Grunde gab sein Verleger und Verlagslektor, Klaus<br />
Siblewski, 2016 eine neue Anthologie und 2015 die Liebesgedichte<br />
Jandls als Taschenbuch (als billiges Taschenbuch,<br />
denn Jandl wollte stets ein breites Leserspektrum<br />
haben) im Inselverlag heraus. Hier findet der Leser natürlich<br />
das starke Kontrastprogramm. Er kann intelligent<br />
schmunzeln! Findet jedoch auch in dieser Liebeslyrik die<br />
sachliche Betrachtung, dass Liebe sogar für den Sprachkünstler<br />
und -witzler Jandl Zuflucht und Halt sei.<br />
Bei der Lyrik Francesco Del Romanos findet er genauso<br />
Beistand, tröstende Worte, kann sich laben und gesunden!<br />
Eva Riebler-Übleis
Rezensionen VENEDIG|Dezember2016<br />
71<br />
Lilly Lindner:<br />
Die Autobiographie der Zeit.<br />
Roman, Mü:Droemer: 2016,<br />
236 S.<br />
ISBN 978-3-426-30540-9<br />
Dine Petrik:<br />
Funken.Klagen. gedichte<br />
weitra, Bibliothek der<br />
Provinz.<br />
2016, 86 S.<br />
ISBN 978-3-99028-542-8<br />
Friederike Gösweiner:<br />
Traurige Freiheit. Roman.<br />
Graz: Droschl.<br />
2016, 148 Seiten.<br />
ISBN: 978-3-85420-976-8<br />
Zwei Welten überschneiden sich. Das Leben spricht<br />
mit dem Tod! Wieso auch nicht – beinhaltet doch ab der<br />
Geburt jedes Lebewesen bereits sein Ablaufdatum.<br />
Wie in ihren vorigen Romanen ist es wieder ein ungeheuerlicher<br />
Inhalt, der dem Leser Denkstoff bietet. In<br />
Winterwassertief, 2015 und Splitterfasernackt, 2011<br />
war es das „Aus dem Körper treten“ und nicht wieder<br />
in diesen geschundenen hineinzufinden, diesen, seinen<br />
einzigen Leib akzeptieren zu können sowie das „Aus den<br />
Schlaglöchern treten“, die einem das Leben zugefügt hat.<br />
In diesem Band sind die Gedanken der Autorin gereift, es<br />
gibt auch angesichts des Fehlverhaltens der Menschheit<br />
keine Vorwürfe. Es gibt nur eine zeitlose Zirkusarena, in<br />
der alle Zeit der Welt und aller Raum vergehen. Das Hinterfragen<br />
und Wissen wird wie die Angst unnötig, da es<br />
keine Dauer gibt.<br />
Der symbolische Aufbau zeigt vier Jugendliche, die die<br />
Zeit/Ewigkeit (Ich-Erzähler), den unermesslichen Raum<br />
(Kevin), die Beständigkeit, zu der auch Liebe zählt (David)<br />
und den zerstörerischen, tötenden, zerfleischenden<br />
Abgrund (Shay) darstellen. Diese vier Mächte regeln<br />
allumfassend die Welt. Verzauberung tritt in diese durch<br />
die bedingungslose Liebe zweier Menschen. Das brutale<br />
Töten von Menschen durch Shay bekommt angesichts<br />
der sonst herrschenden Überbevölkerung Sinn und erst<br />
als diese Vier nicht mehr regieren, bricht die Welt zusammen.<br />
Allerdings lässt die Autorin den positiven Gedanken<br />
einer sich entwickelnden „neuen Zeit“ in ihrem Epilog zu.<br />
Falls der Leser dies und anderes nicht versteht, glt das<br />
tröstende Motto: Im Universum gibt es nur eine Grenze –<br />
die im Gehirn eines Menschen. Und somit kann der Leser<br />
ungestört genießen.<br />
Wie alle Bücher von Lilly Lindner ein Muss! Diesmal<br />
inhaltlich weniger breit im Alltag verankert, sondern<br />
fragmentarisch in knappen komprimierten Abläufen<br />
und Gedankenführungen poetisch weise aufbereitet.<br />
Äußerst reich an Lebens- und Todesphilosophie!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Motive für ein Andante. Zum Heftthema Venedig<br />
passend vereint dieser Lyrikband der im Burgenland<br />
geborenen, in Wien lebenden Autorin Gedichte mit mal<br />
bedächtig vorwärts schreitendem und dann wieder<br />
übermütig springendem, überspringendem Inhalt.<br />
Das Vorwort von Flaubert weist schon darauf hin, dass<br />
der Dichter nie genau angeben kann, was ihn schmerzt,<br />
und die Überfülle der Seele manchmal in die leersten<br />
Bilder überfließt. Dies charakterisiert wahrlich ihre lyrischen<br />
Ausarbeitungen. Weit ausholend, großflächig<br />
und von innen wie von außen besehen, trägt sie doch<br />
immer wieder zum Thema etwas bei und findet zurück<br />
zur Überschrift und nagt mit spitzer Feder an den Gedanken.<br />
Nebel durchziehen ihre Schauplätze – S. 13 (annebeln)<br />
schon wird der tag/ mit spitzer feder abgenagt/ der abend<br />
schwelt im kochtopf/ nebel hängt im fenster wie gardinen/<br />
geifernd nach emotionen - …<br />
Oft weiß die Autorin ein Thema mit Augenzwinkern zu<br />
behandeln oder zu beenden, wie z.b. Themen über das<br />
Alter (über ich), das Schamgefühl (logen fassen) oder<br />
den Verlust der Jungfräulichkeit (hymenlos) usw.,. und<br />
zeigt auch Witz bei ihren Fudschijama-Gedichten, bei<br />
denen man förmlich in der Gondel sich sitzend fühlt und<br />
die vorbei pendelnde Landschaft samt heißen Quellen<br />
und Dampf so sichtbar bzw. unsichtbar wird, wie das<br />
eigene Spiegelbild im Kratersee.<br />
Ein tolles Werk in der Komposition und sorgfältig in der<br />
Ausarbeitung!<br />
Eigenständig und höchsteigenwillig und meist angenehm<br />
skurril in der Sprache und Wortwahl. Ideenreich<br />
und intelligent in der Wahl und Verarbeitung von Inhalten<br />
und nie provozierend oder mit pädagogisch wertvollem<br />
Zeigefinger die Hand erhebend!<br />
Den Gedankenblitzen geht weder das Feuer noch die<br />
Luft aus.<br />
Fazit: Ein außergewöhnlicher Gedichtband mit starker<br />
Anziehungskraft!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Wo bitte geht's hier zum Glück? Hannah wird<br />
das Gefühl nicht los, irgendetwas verpasst zu haben in<br />
ihrem Leben. Trotz erfolgreich abgeschlossenem Studium,<br />
einer erfüllten Partnerschaft, einer gemeinsamen<br />
Wohnung fehlt das für sie entscheidende Puzzleteil:<br />
der perfekte Job! Damit wäre ihr Leben komplett. Sie<br />
schreibt sich die Finger wund, strengt sich an, um bei<br />
Castings einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch<br />
alles scheint vergebens. Bis eines Tages die Zusage für's<br />
Volontariat in Berlin eintrifft. Perfekt! Doch der Hakren<br />
daran: die Entfernung zwischen beiden Städten, die Distanz<br />
schafft und am Lack der bereits angeschlagenen<br />
Beziehung kratzt. Hannah hält fest an ihrer Chance,<br />
springt ins kalte Wasser und zieht zu Miriam nach Berlin.<br />
Klingt wunderbar. Der Leser ahnt bereits, dass es<br />
anders kommen wird, als die Protagonistin plant.<br />
Auf das Volontariat folgt kein Automatismus, kein<br />
Stellenangebot, wie Hannah erhofft. Not macht erfinderisch!<br />
Also greift Hannah auf ihren Studentenjob als<br />
Kellnerin zurück. Vorübergehende Selbstzweifel verfliegen,<br />
jedoch schmecken Übergangslösungen irgendwann<br />
bitter.<br />
Eigentlich wäre sie jetzt lieber bei Jacob, den sie verlassen<br />
hatte, wegen des erhofften Aufstiegs in Berlin, aber<br />
Schwäche zeigen, wäre jetzt fehl am Platz. Ängste und<br />
Atemnot plagen zunehmend Hannahs Alltag. Auswegslosigkeit<br />
macht sich breit. Kommt für sie ein Rückzug ins<br />
Kinderzimmer infrage?<br />
Friederike Gösweiner skizziert eindringlich die Isolation<br />
eines Menschen in einer karriereorientierten Zeit. Protagonistin<br />
Hannah hat sich bemüht, jedoch vergebens. Sie<br />
erlebt sich als Verliererin im Kampf um Arbeit und Erfolg,<br />
im Vergleich mit Gleichaltrigen, die es „geschafft“<br />
haben einen Traumjob zu ergattern.<br />
Ein Debüt, das den Klassiker „Haben und Sein“ (Erich<br />
Fromm) erneut ins Spiel bringt.<br />
Unbedingt lesen !<br />
Cornelia Stahl
www.litges.at