Ein sonniger Wintermorgen in Venedig, der Campo del Ghetto Nuovo wirkt friedlich und aufgeräumt. Sorgfältig renovierte Wohnhäuser mit pastellgelben und kirschroten Fassaden umrahmen den Platz, nur das sechseckige Wachhäuschen der Carabinieri weist darauf hin, dass sich hier ein besonderer Ort befindet: Die Militärpolizei steht vor der Casa Israelitica di Riposo, dem jüdischen Altenheim, einem lang gestreckten Ziegelbau.

Hier wohnen nur noch drei sehr betagte Frauen, die fast das gesamte vergangene Jahrhundert erlebt haben – und damit auch die schlimmste Zeit für die Jüdische Gemeinde von Venedig. Bronzereliefs des litauischen Bildhauers Arbit Blatas erinnern daran, wie die deutschen Besatzer mithilfe italienischer Faschisten zwischen Ende 1943 und Anfang 1945 die Jüdische Gemeinde zerschlugen und 246 Mitglieder in die Vernichtungslager deportierten. Heute leben wieder rund 400 Juden in Venedig, aber die wenigsten von ihnen auf dieser Insel im Stadtteil Cannaregio, die über drei Brücken mit dem Rest der Stadt verbunden ist, im Bewusstsein der Venezianer aber über Jahrhunderte eine eigene Welt bildete: die Welt der Fremden, Ausgegrenzten und Eingeschlossenen, in der Shakespeare seinen jüdischen Kaufmann Shylock agieren ließ. Bis heute ist diese literarische Figur die größte Berühmtheit des Ghettos von Venedig.