Auf den ersten Blick schien alles wie immer, als Imane Anys, besser bekannt als Pokimane, gestern Abend ihren Livestream startete. Ihr helles Zimmer ist aufgeräumt, ihre rot-weiß gefleckte Katze liegt auf einem kleinen Kratzbaum, Pokimane hat Kopfhörer auf und spricht in ein großes Mikrofon zu ihren Zuschauern.

Die 27-Jährige ist die erfolgreichste Streamerin der Welt. Sie spielt Spiele wie Fortnite, Valorant oder Among Us und unterhält sich dabei mit ihren Zuschauern oder Streamerkollegen. Pokimane gilt als nahbar, so hat sie in über zehn Jahren Streaming allein auf Twitch rund 9,3 Millionen Follower gesammelt. So routiniert sie ist, so aufgeregt wirkte sie gestern. "Ist es online? Habe ich es gestartet? Hiiii, aaaaah!", quietscht Pokimane breit grinsend ins Mikrofon – für sie ist es ein ganz besonderer Stream, denn er findet in einer neuen digitalen Heimat statt, nämlich auf YouTube.

Die marokkanisch-kanadische Streamerin galt als "Königin von Twitch" und war so etwas wie das Gesicht der Plattform. Sie war eine der Streamerinnen mit lukrativen Exklusivdeals auf der Plattform. In ihrem Podcast erklärte sie in dieser Woche, warum sie künftig auch auf anderen Plattformen streamen will – es war so etwas wie eine einstündige Abrechnung mit allem, was ihr auf Twitch nicht mehr passt. Ihre Vorwürfe sind hart und treffen die Plattform in einer ohnehin schwierigen Phase. Pokimanes Schritt auf andere Plattformen könnte so etwas wie eine neue Ära des Livestreamings einläuten, nicht nur für sie persönlich.

Eine langjährige, aber toxische Beziehung

Angefangen hat das mit einem kryptischen Post auf X. "Das Ende einer Ära", schrieb sie. "Twitch ist seit einem Jahrzehnt mein Zuhause", aber es sei an der Zeit, Danke zu sagen "für all die Erinnerungen und die Liebe" während ihrer Tage in League of Legends, Fortnite und Among Us, führte sie fort – darunter ein Screenshot aus dem App Store, auf dem Twitch mit einem Bild von ihr wirbt.

Das wirkt alles noch nett, Twitch kommentiert den Post auch mit "Du wirst immer ein Zuhause auf Twitch haben, Poki" – doch einen Tag später erscheint Pokimanes Podcast, die Folge trägt den Titel "Warum ich Twitch verlasse". In 58 Minuten zeichnet sie ein düsteres Bild, das sie mittlerweile von ihrem geliebten Twitch hat.

"Ich fühle mich manchmal, als wäre ich in einer langjährigen, engagierten, aber toxischen Beziehung gewesen", sagt sie. "Ich sehe einfach nicht, dass sich die Twitch-Szene weiterentwickelt oder zumindest in die Richtung, die ich mir wünschen würde."

Keine Lust mehr auf die Misogynie und Verschwörungsideologien auf Twitch

Pokimane hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wenn ihr Trends auf Twitch nicht gefielen. Und die Plattform, die vor zehn Jahren von Amazon gekauft wurde, hat im Laufe der Zeit so manche umstrittene Schmuddelecke angesammelt. Sei es der Umgang mit Nacktheit, zum Beispiel in einer eigenen Kategorie "Pools, Whirlpools und Strände", in der sich meist leicht bekleidete Frauen im Wasser räkeln, oder das Streaming von Glücksspielen in Onlinecasinos – auf einer Plattform, die von vielen Kindern und Jugendlichen als Unterhaltungsmedium genutzt wird.

Immer wieder ringt Twitch mit den eigenen Richtlinien, stellt neue Regelungen auf, zieht sie bei Kritik kurze Zeit später wieder zurück. So etwa kürzlich, als die Plattform "künstlerische Nacktheit" erlaubte und dann wieder verbot, weil die Richtlinie als Schlupfloch – oder eher als riesiges Einfallstor – für noch mehr nackte Haut ausgenutzt wurde. In ihrem Podcast fasst Pokimane das Management so zusammen: "Twitch als Unternehmen ist – bei allem Respekt – wirklich chaotisch", sagt sie und lacht. Seit Jahren meldet sie der Plattform immer wieder Nutzer, die sich laut Pokimane Tausende Accounts erstellt haben sollen und damit Streamer belästigen oder stalken – doch Twitch habe nichts unternommen, sagt sie.