"Völlig überbelegt", die medizinische Versorgung "unzureichend", die Situation für Kinder und Jugendliche "besonders prekär": Mitarbeiter von Amnesty International (AI) haben sich die Zustände im österreichischen Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Traiskirchen angesehen – und kommen zu einem vernichtenden Urteil.

Einen Tag lang besuchten die Mitarbeiter der Organisation die südlich von Wien gelegene "Bundesbetreuungsstelle", um sich von der Situation der etwa 4.300 Bewohner einen Eindruck zu machen. "Traiskirchen ist das zentrale Symptom für ein weitreichendes strukturelles Versagen des föderalen Österreich im Umgang mit Asylwerbern", fasst Heinz Patzelt, Generalsekretär von AI in Österreich, die Lage zur Vorstellung des daraus entstandenen Berichts zusammen.

Nach Einschätzung von Amnesty werden in dem Erstaufnahmelager "grundlegende Menschenrechtsstandards" bei der Unterbringung von Asylbewerbern verletzt. "Österreich ist weder in einer finanziellen Misere noch in einer ressourcenknappen Situation", sagte Patzelt laut Pressemitteilung. Das "Versagen" bei der Versorgung der Flüchtlinge sei daher leicht vermeidbar. Ursächlich seien vor allem administrative Fehler, die sich "ohne wesentlichen Kostenaufwand" vermeiden ließen.  

Katastrophale Zustände

Amnesty-Mitarbeiterin Daniela Pichler, die als Leiterin der Untersuchung vor Ort war, berichtete etwa von fehlenden Unterkünften und langen Wartezeiten. Rund 1.500 Menschen hätten zum Zeitpunkt des Besuchs im Freien schlafen müssen. Hinzu kämen Menschen, die außerhalb des Geländes übernachteten. Vielfach müssten selbst Schwangere und Frauen mit Babys stundenlang in sengender Hitze anstehen, um ihre Identitätskarten zu erhalten, sagte Pichler. Dabei ließe sich dies mit einem einfachen Nummernsystem vermeiden. Besonders schlimm sei die Situation für Kinder und Jugendliche. "Es gibt für sie keine adäquate Betreuung. Viele von ihnen sind noch immer obdachlos." Die Zustände seien unhaltbar.    

Siroos Mirzaei, als medizinischer Experte für Amnesty vor Ort, berichtete von den katastrophalen medizinischen Bedingungen. Insgesamt gebe es nur vier Ärzte, die den Großteil ihrer Zeit mit Kontrolluntersuchungen und der Registrierung verbringen müssten. "Die Menschen müssen oft lange, manchmal sogar tagelang warten, bis sie behandelt werden. Dadurch können ernsthafte medizinische Probleme entstehen", sagte Mirzaei. Die Sanitäranlagen seien in "fürchterlichem hygienischen Zustand".

Zeltstadt Dresden - 38 Grad, zu wenig Toiletten, Schatten und medizinische Versorgung Die Zustände im Dresdener Flüchtlingscamp sind jenseits der Mindeststandards der WHO für Flüchtlingscamps, sagen dort ehrenamtlich arbeitende Ärzte.

Das Dresden von Österreich

Vor diesem Hintergrund fordert Amnesty eine zügige Verbesserung der Gesamtsituation. Das "Unterbringungssystem" müsse zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit rasch überarbeitet werden. Außerdem müsse eine "ausreichende, menschenrechtskonforme" medizinische Versorgung sichergestellt werden. "Besonders schutzbedürftige Gruppen, darunter Überlebende von Folter, gesundheitlich schwer beeinträchtigte Personen, Schwangere, ältere Menschen sowie unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge sollen verstärkt in den Blickpunkt rücken", heißt es in der Mitteilung der Organisation.

Die Flüchtlingssituation in Österreich ist mit der in Deutschland vergleichbar. Die Quartiere sind überfüllt, die meisten Bundesländer und Gemeinden sträuben sich mit allen Mitteln dagegen, Unterkünfte in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung zu stellen. Traiskirchen ist in diesem Kontext in Österreich das, was die "Zeltstadt Dresden" in Deutschland ist: ein Symbol für die schlimmsten Folgen der Problematik. Über Dresden hatten sich in der vergangenen Woche zwei Mediziner ganz ähnlich geäußert wie Amnesty nun über Traiskirchen. "Im Camp wird unser Grundgesetz nicht eingehalten", hatten die Ärzte im Interview mit ZEIT ONLINE gesagt.