Das sieht man auch nicht alle Tage: ein Regierungschef, der sich bereits vor seiner Auslandsreise rechtfertigen muss. Normalerweise löst erst eine gut sichtbare Ungeschicklichkeit oder ein falsch formulierter Satz in Richtung Gastgeberland so viel Kritik aus, dass Stellungnahmen unvermeidbar werden. Im Fall Olaf Scholz lagen die Dinge anders. Schon nach der bloßen Ankündigung, sich Anfang November im Alleingang in China vorzustellen und damit das Angebot Emmanuel Macrons einer gemeinsamen Doppelvisite auszuschlagen, erntete er genügend Gegenwind, um sich zu einer Verteidigungsrede in der Presse gezwungen zu sehen. Doch woher kommt die Brisanz eines bloßen Antrittsbesuchs, einer diplomatischen Gepflogenheit, die – im Nachhinein betrachtet – wenig Kontroverses bereithielt

Ausnahmsweise geht es in der China-Frage um mehr als Investitionsvereinbarungen, das vorsichtige Anmahnen von Menschenrechtsanliegen und die allgemeine Freundschaftspflege. Jetzt, das heißt nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, steht eine Entscheidung von womöglich weltpolitischer Tragweite an – eine Entscheidung darüber, wie es Deutschland mit der Globalisierung hält. Vor allem wenn es um jene Handelspartner geht, die auf längere Sicht mindestens als weltpolitische Rivalen, wenn nicht als Gegner betrachtet werden müssen. Frankreich, das schon lange auf "strategische Autonomie" drängt, und die Vereinigten Staaten, die offensiv eine Entflechtung von China anstrengen, haben ihre Entscheidung bereits getroffen. Der Bundeskanzler aber scheint sich gegen den Gedanken der Entkoppelung wirtschaftlicher Großräume strikt zu wehren. Die Bundesrepublik, so sein von den westlichen Bemühungen abweichender Grundsatz, bleibt Welthandelsnation. 

Zwar gebe es "neue Machtzentren einer multipolaren Welt", doch man müsse mit ihnen "Partnerschaften eingehen und ausbauen", so der zweite von Scholz' "fünf Gedanken zu meinem Peking-Besuch" aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Gerade "Deutschland, das die Teilung im Kalten Krieg auf besonders schmerzhafte Weise erfahren hat", habe "kein Interesse an einer neuen Blockbildung in der Welt". Selbst die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA bekräftige "das Ziel, eine neue Blockkonfrontation zu verhindern". All das ist aber nur die halbe Wahrheit. Während sich die Demokraten und Republikaner immer und überall streiten, ist man sich immerhin einig, ökonomisch von China unabhängiger zu werden. Die Biden-Regierung hat erst kürzlich strenge Exportkontrollen für die eigene Halbleiterbranche beschlossen, die jederzeit auf andere Sektoren ausgeweitet werden können. Gleichzeitig beschränkt sie milliardenschwere Subventionen streng auf die heimische Elektroautoindustrie, um – "Buy American!" – eine Reindustrialisierung des Landes einzuleiten. Eine militärische Konfrontation politischer Blöcke soll natürlich verhindert werden – aber die Blockbildung selbst wird von Washington aktiv betrieben. 

Die USA waren in den letzten Jahrzehnten unter dem Vorzeichen der Globalisierung zwar bereit, die "Zerstörung ihrer industriellen Basis zu tolerieren", schreibt der Bloomberg-Journalist Noah Smith, aber nicht ihren "Abstieg zu einer zweitrangigen Weltmacht." Während die US-Amerikaner früher mit Blick auf Peking beiderseitige wirtschaftliche Vorteile erhofften, "setzen sie jetzt auf ein militärisches und geopolitisches Nullsummenspiel, bei dem die Wirtschaft Mittel, aber nicht mehr Ziel des Spiels ist". 

Es ist genau dieser Logikwechsel, vor dem Scholz zurückschreckt. Dazu passt, dass pünktlich vor seiner China-Reise dem Anliegen des chinesischen Konzerns Cosco stattgegeben wurde, Anteile an einem Terminal des Hamburger Hafens zu erwerben – trotz allen Widerstands der Ministerien. Der Bundeskanzler selbst hat sich in mehrmaligen Reden, zuletzt vor dem Verband deutscher Maschinenbauer, ausdrücklich zur Globalisierung bekannt: "Die Globalisierung war ein Erfolg. Sie hat Wohlstand für viele ermöglicht. Wir müssen sie verteidigen. Decoupling ist die falsche Antwort."

Verpasste Lektion

Was bleibt da noch übrig von der angekündigten Zeitenwende? Jetzt scheint es eher so, als würden sich die Zeiten ändern, während die Bundesrepublik sich an ihren alten Kurs klammert. Der Ungleichheitsforscher Branko Milanović prognostizierte kürzlich, dass die Formierung von Handelsblöcken zu den deutlichsten Kennzeichen der nächsten Jahrzehnte gehören dürfte, so wie es sie nach dem Ersten Weltkrieg gab – eng verbunden mit den jeweiligen imperialen Ansprüchen Großbritanniens, Deutschlands, Japans und der Sowjetunion. In dieselbe Kerbe schlug erst vor wenigen Tagen auch der Cambridge-Historiker Brendan Simms: Seine Berliner Carl-Schmitt-Vorlesung prophezeite die "Rückkehr des Großraums" – anknüpfend an den politischen Theoretiker und NS-Staatsrechtler Carl Schmitt, der 1939 den Internationalismus durch die Bildung technisch-industriell-politischer Großräume abgelöst sah. Russland, das die Ukraine als seine Einflusszone betrachte, ist für Simms nur das offensichtlichste Beispiel. Auch China selbst, dessen "Strategie der zwei Kreisläufe" auf ökonomische Unabhängigkeit und Nichteinmischung von außerhalb ziele, habe sich von der Vorstellung ungehemmten Welthandels verabschiedet und seine politischen Interessen den ökonomischen vorgeordnet. 

Hinter diesen Entwicklungen steht die Einsicht, die vor über zweihundert Jahren schon der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seiner Konzeption eines "geschlossenen Handelsstaats" festhielt: In einer multipolaren Welt, die auch aus Rivalen und Gegnern besteht, lähmt wirtschaftliche Verflechtung das politische Handeln, ja macht Kriege sogar wahrscheinlicher. Wer außenpolitisch handlungsfähig bleiben will, muss dagegen Handelsbeziehungen zuallererst strategisch betrachten, Abhängigkeiten verringern und Sektoren mit Schlüsselrollen von äußerem Einfluss abschirmen. Insbesondere Deutschland hätte diese Lektion aus dem Ukraine-Krieg lernen können. Denn wenn sich China eines Tages entschließt, Taiwan anzugreifen, wird das Problem noch viel größer sein als im Falle Russlands: Die großen Dax-Konzerne investieren weiterhin hohe Summen in den chinesischen Markt und die riesigen Importmengen sind ebenfalls nicht kleiner geworden. Ob sich eine Bundesregierung unter diesen Umständen dazu durchringen könnte, sich an harschen Sanktionen zu beteiligen? 

Simms blieb in Anbetracht dessen unsicher, ob die Europäische Union das Potenzial zum abgeschirmten politisch-ökonomischen Großraum hat. Seine Zweifel sind berechtigt. Denn selbst wenn die Bundesrepublik sich irgendwann von der Globalisierung lossagt, ist der Weg ausgesprochen weit, der zurückgelegt werden müsste. Die USA verbinden mit ihrem protektionistischen Projekt die Hoffnung auf eine Schwemme gut bezahlter Industriejobs. In China verspricht man sich von der Abschirmung des heimischen Markts eine gerechtere Einkommensverteilung sowie eine konsum- statt investitionsgetriebene Wirtschaft.

Und in Deutschland? Sich vom weltweiten und insbesondere dem chinesischen Markt abzuwenden, hieße, die gesamte Exportindustrie herunterzufahren oder zumindest zu transformieren, dem eigenen Geschäftsmodell eine Absage zu erteilen und eine Reform der Schuldenbremse anzustrengen, um in Europa und hierzulande die überschüssige Produktion aufzufangen. Was das Ausland nicht mehr konsumieren soll, muss nämlich durch Binnennachfrage kompensiert werden. Damit aber steht, so der Wirtschaftshistoriker Nicholas Mulder, die seit vierzig Jahren etablierte politische Ökonomie der Bundesrepublik auf dem Spiel, in der verteilbare Exportgewinne durch Lohnzurückhaltung erkauft wurden. 

Es ist verständlich, dass die Bundesregierung diese große Aufgabe nicht in Angriff nehmen will. Für ein solches Reformprojekt bräuchte man starke Verbündete im In- und Ausland – und bei einigen Punkten, man denke an die Schuldenbremse, dürften sich die Koalitionäre nicht mal selbst einig sein. Dass Scholz auch weiterhin auf eine enge Partnerschaft mit China setzt, die auch von allzu großen Bedenken der nationalen Sicherheit nicht belastet werden soll, ist insofern nur konsequent. Solange das deutsche Exportmodell nicht wankt, ist Entkoppelung keine reale Option. Die Zeichen der Zeit mögen also noch so auf Abschottung stehen: Man wird hierzulande auch den nächsten großen Staatenkrieg mit den Augen eines Kaufmanns verfolgen müssen.