Hans-Christian Schmid ist wahrscheinlich einer der besten Heimatfilmer, den die deutsche Filmbranche derzeit hat. Kaum einer misst dem Ort, an dem er dreht, so viel Bedeutung bei, ja, macht diesen Ort selbst zum Hauptdarsteller in seinen Werken. In Schmids erster Fernsehserie Das Verschwinden, die jetzt in der ARD-Mediathek zu sehen ist und ab 22. Oktober sonntagabends nach dem Tatort im Ersten läuft, ist eine ostbayerische Kleinstadt die Hauptprotagonistin. 

Dieser Ort kurz vor der tschechischen Grenze ist so verwunschen wie trostlos, so geheimnisvoll wie bieder, so fassadenschön wie heruntergekommen. Die Erwachsenen gehen in den Wäldern des Nachbarlands illegal auf die Jagd, die Jungen schießen sich mit Crystal Meth ab. Dann verschwindet die 19-jährige Janine. Der Abgrund, den sie hinterlässt, wird einige ihrer Mitmenschen verschlingen.

Vier Jahre lang haben Schmid und sein erfahrener Drehbuchautor Bernd Lange an dem Stoff gearbeitet, die Umsetzung scheiterte immer wieder Zeit daran, dass es fürs serielle Erzählen keine Sendeplätze im Ersten gab. Erst die Tochter-Firma Degeto hatte dem Projekt zu seinem hochklassigen Sendeplatz nach dem Sonntagabendkrimi verholfen – und damit auch ein realistisches Budget freigemacht. Das Verschwinden spielt also in der Liga der dort bisher üblichen Scandi-Noir-Krimis, und man kann sich vorstellen, dass die Erwartungen an Regie und Drehbuch nicht gerade gering waren. Spannung, Düsternis und vor allem: kein Tatort.

Am Anfang steht auch bei Schmid eine klassische Krimiidee, ein junges Mädchen verschwindet unauffindbar. Ihre alleinerziehende Mutter (Julia Jentsch) und ihre beiden Freundinnen Manu (Johanna Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl) versuchen herauszufinden, was passiert ist. Ist Janine (Elisa Schlott) einfach abgehauen aus ihrem zu engen Leben? Hat sie sich umgebracht? Oder wurde sie Opfer eines Verbrechens?

Die Frage des whodunit verschwimmt zunächst hinter dem Gesellschaftspanorama, das der Regisseur in seiner Kleinstadt aufzieht. Die Provinz, das ist Schmids Thema, seit er selbst ihr entflohen ist. Der 52-jährige Regisseur kommt aus Altötting, dem Inbegriff des konservativen, bigotten Bayerns. Während seines Studiums an der Münchner Filmhochschule drehte er den Dokumentarfilm Die Mechanik des Wunders über den kommerzialisierten Wallfahrtsbetrieb seiner Heimatstadt.

Was macht die Provinz für ihn so interessant? Schmid lehnt sich zurück in seinem Schreibtischstuhl und denkt nach. "Dass es noch unentdeckte Winkel dort gibt und Zusammenhänge, die einem in der Großstadt vielleicht nicht so deutlich sind." Ihm sei es wichtig gewesen, die Gegend nicht nur von ihrer düsteren, hässlichen Seite zu zeigen, sondern auch ihre Schönheit zu beleuchten. "Während der Recherchen stand ich vor einer Abiturklasse in Cham und habe die Schüler gefragt, wie sie ihre Heimat finden", sagt Schmid. "Die eine Hälfte sagte: Es ist wunderschön bei uns, ich komme nach dem Studium wieder. Die andere Hälfte sagte: Nichts wie weg!"

Flucht, Verdrängung, Täuschung

Der Konflikt zwischen den Generationen ist Schmids zweites großes Thema. Viele seiner Filme kann man als Coming-of-Age-Geschichten lesen: Nach fünf im Urwald (1995), Crazy (2000), Requiem (2006). Doch während die Jugendlichen in seinen früheren Filmen noch aktiv rebelliert hatten, abhauten, expressiv waren, stecken die drei Mädchen in Das Verschwinden fest. Sie leben direkt an der Grenze, kommen aber nicht weiter, so als ob sie an einer unsichtbaren Lähmung litten. Schmids Serie hat ihre stärksten Momente immer dann, wenn es um die Freundschaft dieser drei jungen Frauen geht, die gerade volljährig geworden sind und an der Schwelle zu einem eigenen Leben, eigener Verantwortung stehen. Doch alle drei scheitern in ihren Versuchen. 

Es geht viel um Flucht, um Verdrängung, um Täuschung in Das Verschwinden und um das gestörte Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern. Schon die erste Szene zeigt, dass etwas nicht stimmt mit Michelle Grabowski und ihrer Tochter. Da läuft die Mutter mit einer Geburtstagstorte voller brennender Kerzen ins Büro, in dem sie ihre Tochter Janine vermutet. Die Kolleginnen gucken sie merkwürdig an, dann sagt eine: "Die arbeitet doch gar nicht mehr hier." Michelle lacht nervös und schüttelt den Kopf: "Das kann doch gar nicht sein, das hätte sie mir doch gesagt."

Nicht nur Janine führt ein Doppelleben, auch Laura beklaut ihre schwer kranke Mutter und eine Seniorin aus der Nachbarschaft, um ihre Crystal-Meth-Sucht zu finanzieren. Süchtig ist auch Manu, deren reiche Eltern sie immer wieder zum Zwangsentzug in die Schweiz schicken. In einer erschütternden Szene schließt Manus Mutter (Nina Kunzendorf) ihre Tochter mit einem Fahrradschloss am Küchenstuhl fest. Manu haut trotzdem ab, sie hat eine große Menge Crystal Meth besorgt, die sie mit ihren Freundinnen zu Geld machen will. Allerdings sind die Drogen gemeinsam mit Janine verschwunden.