Lässt man die feministische Kritik beiseite, bleiben vor allem: Zitate. Die sind zum einen die Stärke dieses Essays. Sein Referenzrahmen reicht von Eva und Adam, Hera und Zeus, Eva Illouz und Niklas Luhmann, Marcel Proust und Roland Barthes, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Laurie Penny und Charles Fourier, Gottfried Benn und Arthur Schopenhauer bis hin zu Pretty Woman, Sex and the City, Bridget Jones und The Lobster. Theo, Bio, Sozio, Mytho, Psycho, Historio – was mit "-logie" eine wissenschaftliche Disziplin ergibt, wird mit ein paar popkulturellen Verweisen vermengt und teils brachial fragmentarisch zitiert. Was dabei jedoch untergeht, ist Friedemann Karigs Stimme selbst.

Die kommt zum Glück, und das sind die angenehmen, weil nicht bemüht unterfütterten Passagen dieses Buchs, in Kurzerzählungen zum Ausdruck: Paul & Jelena, Mara & Patricia oder Louise heißen diese Kapitel, Menschen, mit denen sich Karig getroffen, mit denen er Wein getrunken und über ihre gemeinsame Geschichte gesprochen hat. Mal war ein Kind, mal nur noch ein Teil eines Paares dabei.

Mit dem Langzeitlover in den Urlaub

Zwar scheint das Milieu, aus dem diese Protagonisten stammen, recht homogen zu sein. "Auf Bali hat er was mit einer Fremden", heißt es über eine Begegnung, oder "Sie lernen sich in einer Klasse der Choreographin Sasha Waltz kennen": urbane Mittelschichtler, deren Existenzgrundlage es erlaubt, sich mit amourösen Gedankenspielen zu befassen. Dennoch kommt hier die Pluralität der Liebe zum Ausdruck, um die es Karig geht. Eine Frau ist die Geliebte zweier verheirateter Männer und damit sehr glücklich. Ein Ehepaar fährt mit dem Langzeitlover der Frau in den Urlaub, ein anderes lädt die gemeinsame Affäre zur Hochzeit ein. Die Liebe mancher Beziehungen ist zerbrochen, weil aus einer Liaison Verliebtheit wurde. Aber eins haben alle Protagonisten gemein: Sie haben über die Begegnung mit Dritten gesprochen und einen Konsens ausgehandelt. "Fremdgehen" und "Seitensprung" sind für sie keine Kategorien.

Diese Passagen sind die überzeugendsten Momente dieses Essays, weil sie die Transferleistung dem Leser selbst und nicht der sonst etwas diffusen Argumentation überlassen. Die "postmoderne Omnipräsenz von Sex", heißt es so beispielsweise im Kapitel zur Eifersucht, sei für die ständige Versuchung verantwortlich. "Filme, Werbung, Musik, Fernsehen, Theater, Zeitung. Überall wird von der Liebe und ihrer praktischen Umsetzung gesungen. Das Thema ist wie Luft: Immer da. In jedem. Überall." War das früher etwa nicht so?   

Wenn die Allgegenwärtigkeit amouröser Themen ein Phänomen der Gegenwart ist, hieße das, dass es in den Renaissancedarstellungen nackter Venus-, Amor- und Adoniskörper vermutlich doch ausschließlich um die römische Mythologie (oder vielleicht auch um body issues?) ging, dass Walther von der Vogelweide sich wohl doch nicht an die jeweilige Angebetete, sondern an imaginierte Gymnasialklassen wandte und dass Ovid in seiner Ars amatoria wohl einfach Lust hatte, was Hübsches zu dichten.

Rio Reiser ist verstummt

So ist man des Loblieds aufs Heute, dieses appellierenden Gegenwartsfetischismus' schnell ein wenig müde. Wir sind sexuell so frei wie noch nie, wir könnten doch, aber wir hindern uns, wir müssen uns nur losmachen von all den Normen. Das hat man irgendwann begriffen. Und fragt sich, Rio Reiser im Ohr ist schon verstummt: Was ist an Monogamie eigentlich so schlecht? Sollten wir sie ablegen, weil die Wühlmäuse ja auch in quasi offenen Langzeitbeziehungen leben? Haben sich die Lebensbedingungen seit der Steinzeit nicht ein wenig verändert?

Es wird bis Seite 212 dauern, bis Karig darauf zu sprechen kommt, dass die Monogamie auch Vorteile hat. Zwar führt er sie nicht aus, aber leitet galant zu einer der Lieblingsvokabeln der Gegenwart über: Das "Narrativ" der exklusiven Zweierbeziehung sei so omnipräsent um uns herum vertreten, dass wir natürlich danach streben würden, "vielleicht stärker als je zuvor". Und das berge die Gefahr, Schwierigkeiten mit diesem Modell als ein individuelles Versagen zu verstehen. Dem Modell innewohnende Konflikte kämen so nicht zur Sprache.

Dieser beinahe kritisch-psychologischen Argumentation kann man nicht viel entgegensetzen. Auch ist ja grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, das Konzept der monogamen Liebe zu hinterfragen. Nur den Exkurs in den Paleo-Paradiesgarten hätte es dafür nicht gebraucht.

Friedemann Karig: Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Sachbuch; Blumenbar Verlag, Berlin 2017; 304 S., 20,- €