Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit Covid-Symptomen ins Krankenhaus. Ihre Lage ist ernst. Sie brauchen ein Intensivbett und Medikamente. Doch die diensthabende Ärztin weist Sie ab: Ihre politische Haltung zum Rechtsstaat, zu Flüchtlingen, zum religiösen und politischen Pluralismus lässt zu wünschen übrig; es heißt, Sie seien korrupt; und auch mit Kritik an diesem Krankenhaus haben Sie nicht gespart. Die Nächste, bitte! So ähnlich handeln diejenigen, die dafür sind, die Vergabe von Mitteln aus dem EU-Corona-Hilfsprogramm an die Einhaltung rechtsstaatlicher Vorgaben durch die Regierungen der Empfängerländer zu binden.

Zugegeben: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Die Europäische Union ist kein Krankenhaus. Für Rat und Kommission gilt auch kein hippokratischer Eid. Viktor Orbán und seine osteuropäischen Kompagnons werden nicht sterben, wenn sie die Hilfsgelder nicht erhalten. Und doch möchte ich am Gedankenspiel festhalten. Denn das vom Europäischen Rat – also auch von den Regierungschefs etwa von Bulgarien, Polen und Ungarn – beschlossene European Recovery Instrument (ERI) soll gezielt die Folgen einer Virusepidemie bekämpfen. Es ist nicht gedacht als Mittel gegen das Gift des Populismus und die Erscheinungsformen der illiberalen Demokratie.

Wenn ab dem 14. September das Plenum des Europäischen Parlaments (EP) tagt, dürfte die Konditionalität der Corona-Hilfen auf der Tagesordnung stehen. Zwar ist das Parlament gemäß Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union für das Hilfspaket nicht zuständig. Dort steht nämlich: "Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen …"

Doch gerade gegen diesen Gummipassus begehrt das Parlament auf. Und da kommt ihm die Tatsache gerade recht, dass sich der Rat nur unverbindlich zur Frage der Rechtsstaatlichkeit geäußert hat. Die Sozialdemokratin Katarina Barley, Vizepräsidentin des EP, kritisierte: "Dank der schwammigen Formulierung brüstet sich Viktor Orbán damit, eine Bindung von europäischem Geld an Einhaltung von Rechtsstaat und Demokratie verhindert zu haben." Und die Freidemokratin Nicola Beer, ebenfalls Vizepräsidentin des EP, klagte: "Das Rechtsstaatsinstrument bleibt bedauerlicherweise weiterhin in den Händen der Mitgliedsstaaten. Die Gefahr politischen Geschachers im Rat bleibt fort." Abgesehen davon, dass im Jahr 2020 das antijüdische Wort "Geschacher" nicht zum politischen Vokabular einer deutschen Politikerin gehören sollte, geht es bei den "harten Nachverhandlungen" zum europäischen Haushalt, die beide Frauen angekündigt haben, ja nicht anders als im Rat um Macht und Einfluss. Das ist auch legitim. Nur ist das Corona-Hilfspaket ERI das falsche Objekt für solche Machtkämpfe.

In Polen steht der Rechtsstaat Kopf

Das Ausmaß des Problems der Rechtsstaatlichkeit darf keinesfalls kleingeredet werden. 2020 will die Europäische Kommission erstmalig einen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU vorlegen, der künftig jährlich erscheinen soll. Dass ein solcher Bericht in einer Union nötig ist, die sich als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts definiert, ist beschämend.

Nehmen wir Bulgarien: Im Oktober 2019 befand die Europäische Kommission unter Jean-Claude Juncker, das Land erfülle hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption weitgehend die beim Beitritt zur EU eingegangenen Verpflichtungen. Die Bulgaren selbst sehen das anders. Seit Monaten demonstrieren in Sofia – von den deutschen Medien weitgehend unbeachtet – Zehntausende gegen das mafiose Regime des Premierministers Bojko Borissow. Nach Einschätzung des US-Außenministeriums fungieren Justiz und Medien als verlängerter Arm der bulgarischen Regierung und der sie stützenden Oligarchen. Bulgarische Regierungsbeamte würden sich im großen Stil bestechen lassen und die Staatskasse plündern. Der weitgehend machtlose Staatspräsident Rumen Radew wirft der Regierung im Umgang mit der Opposition Provokation und Brutalität vor. Dass Juncker von alledem nichts sehen konnte, hängt vielleicht damit zusammen, dass Borissows Partei GERB wie Junckers Christlich-Soziale Volkspartei – und Ursula von der Leyens CDU – Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist.