Unten ziehen die letzten Wahlkampf-Trosse durch die Straßen der Hauptstadt Taipeh, es geht um viel: Zum ersten Mal könnte in Taiwan die demokratische Fortschrittspartei DPP mit ihrer Spitzenkandidatin Tsai Ing-wen die Parlamentsmehrheit übernehmen, nach 65 Regierungsjahren der Kuomintang (KMT). Ein paar Etagen höher, wo die Welt der Unsichtbaren beginnt, setzen sie große Hoffnungen in den Wandel. Es sind die Bewohner provisorischer Dachapartments, oft maroder Miniwohnungen in Einfachbauweise, die auf die Flachdächer gesetzt sind – illegal.

Einer von ihnen ist der Geschichtslehrer Chu Wei-lin. In dem kleinen Raum des 33-Jährigen hat alles seinen Platz. Ein Doppelstockbett, falls Besuch kommt. Der Fahrradtrainer in der Ecke. Daneben ein kleiner Schrein, an dem sein Vater jeden Morgen betet. Der wohnt mit dem Großvater eine Etage tiefer, also offiziell schon in der obersten. Vor mehr als 25 Jahren setzte die Familie das Apartment aufs Dach, zu sechst müssten sie sich sonst heute eine Vierraumwohnung teilen. Andere, die auf die Dächer ausweichen, sind Studenten, Alte, Geringverdiener – also alle, die sich die Stadt nicht mehr leisten können.

"Es ist unmöglich geworden, sich in Taipeh eine kleine Wohnung zu kaufen. Und auch die Mietpreise ziehen immer stärker an", sagt Chu Wei-lin. In der Tat: Die Preise für Wohneigentum haben sich in Taiwan in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht, während das Durchschnittseinkommen mehr oder weniger stagnierte. Im Sommer hält man es ganz oben kaum aus, aber für viele ist es die einzige Chance: Konservativ geschätzt soll es in ganz Taiwan mehr als 600.000 Dachapartments geben, allein 84.000 in Taipeh. "Wenn der Taifun über das Apartment weht, ist es hier sehr abenteuerlich", sagt Chu Wei-lin. "Da wackelt alles. Einmal hat es sogar das Dach abgedeckt." Dennoch muss er während des Sturms in seinen kleinen vier Wänden ausharren, alles wetterfest abdichten und aufpassen, dass das Regenwasser nicht durchs gesamte Haus läuft.

"Keine Genehmigungen, keine Nachweise, nichts"

Für Chan Chun-chieh hat der Staat auf diesem Feld versagt. Der 29-Jährige engagiert sich in der Organisation Schnecken ohne Gehäuse, die bereits seit 1989 gegen die steigenden Wohnungspreise kämpft. Die Aktivisten verstehen sich als Sprachrohr der Stadtbewohner ohne Stimme und fordern Reformen für die urbane Politik. Wohnen sei viel zu lange als rein persönliche Angelegenheit betrachtet worden, sagt Chan Chun-chieh: "So wurden staatliche Wohnungsbauprogramme nahezu auf Null zurückgefahren, während der Mietmarkt quasi unreglementiert blieb." Die Folge: ein Mietschwarzmarkt ohne Garantien für die Mieter. "Der Erwerb von überteuertem Eigentum war damit eigentlich der einzige Weg, vergleichsweise sorgenfrei zu leben."

Alles andere als sorgenfrei lebt es sich auf den Dächern. "Die illegalen Apartments machen das Stadtbild diverser, aber sie sind auch ein enormes Sicherheitsrisiko. Allein aus diesem Grund müssen sie eigentlich abgerissen werden – aber nicht auf diese Art und Weise", sagt Chan Chun-chieh. Er meint die Behörden, die darauf hinarbeiten, dass die Dachapartments aus dem Stadtbild verschwinden: In einer ersten Welle wurden im vergangenen Jahr 262 illegale Wohneinheiten in Taipeh geräumt und abgerissen, also nur ein sehr kleiner Teil, aber das Signal ist unmissverständlich. Passanten sollen nun illegale Apartments im gesamten Stadtgebiet melden. Die Angst, denunziert und geräumt zu werden, ist allgegenwärtig. "Die Verantwortlichen haben viel zu lange einfach zugeschaut, wie die Leute ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen", sagt Chan Chun-chieh. Was jetzt passiere, sei planloser Aktionismus.

Um das Problem zumindest auf den ersten Blick etwas übersichtlicher zu machen, wurde ein Moratorium erlassen, dass alle Dachapartments legalisiert, die vor 1990 errichtet wurden. Der Rest soll verschwinden, ohne Kompensation für Räumung und Abriss. Weniger Sorgen macht sich Chu Wei-lin deshalb nicht. Sein Dachaufbau ist alt genug, aber das heißt nicht viel: "Wenn sie wirklich kommen sollten, kann ich ihnen nichts beweisen. Es gibt für die Appartements keine Baugenehmigungen, keine Nachweise, nichts."

Ohne Wohnung keine Heirat

Trotz hoher Kauf- und Mietpreise muss man in Taipeh im Durchschnitt noch immer nur ungefähr ein Drittel seines Monatseinkommens für die Miete einrechnen. Doch Taiwans Gesellschaft ist sehr traditionell und familienorientiert. Hochzeits- und Kinderplanungen werden erst dann gemacht, wenn man sich eine eigene Wohnung oder ein Haus gekauft hat. Das hat neben anderen Faktoren Auswirkungen auf die Demografie des kleinen Inselstaates. Das durchschnittliche Hochzeitsalter liegt inzwischen bei knapp 31 Jahren und damit mehr als sechs Jahre über dem Durchschnitt der Elterngeneration. Taiwan hat mittlerweile eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt. Der Anteil der unter 14-Jährigen hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als halbiert.

Die Wahl an diesem Samstag ist deshalb auch eine Abstimmung über die gesellschaftspolitische Zukunft, obwohl westliche Beobachter die politische Landschaft oft auf die Beziehungen zu China reduzieren. Vor allem hoffen viele, dass sich die DPP verstärkt für den sozialen Wohnungsbau einsetzen wird, um all denen wieder eine Chance zu geben, die sich das Leben in der Stadt immer weniger leisten  können. Aktuell liegt der Anteil an Sozialmietwohnungen bei minimalen 0,08 Prozent. "Ob sich nach der Wahl etwas ändert, bezweifele ich – egal wer danach das Land regiert", sagt Chan Chun-chieh. "Alle Apartments räumen und abreißen werden sie sowieso nicht können. Ich hoffe aber, dass die DPP und Tsai Ing-wen die Sache in die Hand nehmen, wenn sie die Wahl gewinnen; schließlich sind die illegalen Dachapartments ja kein lokales, sondern ein nationales Problem geworden."

Darauf will Chu Wei-lin nicht warten. Vor Kurzem hat er mit seiner Freundin über Kontakte der Familie eine kleine Mietwohnung gefunden, die gerade noch im Budget liegt. Der Umzug steht bald an. Dann wollen sie vielleicht auch heiraten.