Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich auch die Spannungen zwischen den USA und China verschärft. Odd Arne Westad ist Professor für moderne internationale Geschichte in Yale. In seiner Forschung hat er sich mit der Geschichte des Kalten Kriegs, den Beziehungen zwischen China und Russland und ostasiatischer Geschichte befasst. Er stammt aus Norwegen.

Odd Arne Westad auf der Terrasse der American Academy am Berliner Wannsee, wo das Gespräch stattfand © Viola Koegst/​ZEIT ONLINE

ZEIT ONLINE: Herr Westad, die aktuelle Beziehung zwischen den beiden Großmächten USA und China wird oft mit der Blocksituation im Kalten Krieg verglichen. Sie sind da aber anderer Meinung. Warum? 

Odd Arne Westad: Der Vergleich mit dem Kalten Krieg hinkt, weil die USA und China auf dem gleichen wirtschaftlichen Spielfeld spielen. Es geht China nicht darum, die kapitalistische Weltordnung zu stürzen, sondern um internationalen Einfluss. Chinas Situation ähnelt viel eher der Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg. Das Land hat sich wahnsinnig schnell gewandelt, China war in den Siebzigerjahren noch sehr arm. Nun ist es eigentlich zu mächtig für unser internationales System, muss aber trotzdem darin eingebunden werden.

ZEIT ONLINE: Aber in Bezug auf Taiwan herrscht doch Abschreckungsdenken wie im Kalten Krieg?

Westad: Ich hoffe, dass Abschreckung hier funktioniert. China will Taiwan, aber ohne einen Krieg mit den USA. Alle Parteien wissen, wie katastrophal ein Krieg für ihre eigenen Ziele wäre. Es gibt nur eine Lösung für diese verfahrene Situation, und das ist der Status quo. Keine andere Option würde den Frieden wahren. Die Leute in Taiwan brauchen Raum, um ihre Demokratie zu entwickeln, ihre Gesellschaft und Wirtschaft aufzubauen. 

ZEIT ONLINE: Und wenn man den Status quo nicht halten kann? Wie würden die USA reagieren, wenn China in Taiwan einmarschieren würde?

Westad: Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass die Vereinigten Staaten Taiwan mit militärischen Mitteln verteidigen würden. In China sind manche unsicher, ob die USA den Willen und das Geld dafür hätten. Das ist ein gefährlicher Fehlschluss. Aus dieser Annahme heraus könnten Dinge geschehen, die ungewollt zu einem Krieg führen. Ich mache mir Sorgen wegen eines möglichen Embargos oder einer Blockade in taiwanesischen Gewässern. Von dort wäre es nur ein sehr kleiner Schritt zum Krieg. Wahrscheinlich würden sich dann auch andere ostasiatische Länder einmischen.

ZEIT ONLINE: Was würden die USA von Deutschland und anderen europäischen Ländern erwarten?

Westad: Die USA würden die Unterstützung ihrer europäischen Verbündeten suchen, auch in militärischer Hinsicht. Auch ohne nukleare Bedrohung und auch wenn sie das selbst nicht wollten, wäre es für sie schwierig, nicht in diesen Krieg hineingezogen zu werden. 

ZEIT ONLINE: Wie könnte ein alternatives Szenario für Taiwan aussehen?

Westad: Auf sehr lange Sicht könnte eine Art Konföderation eine Möglichkeit sein. Mit übergreifenden Strukturen, aber jeweils eigenen politischen Systemen. Natürlich ist das schwer vorstellbar und unmöglich, bevor sich China in eine pluralistische Richtung bewegt, aber es wäre eine viel bessere Lösung als Krieg. Das ist eine der großen Lehren, die die Welt aus dem Kalten Krieg gezogen hat: Zwei Seiten müssen miteinander reden und es wird problematisch, wenn man nicht in Kontakt steht.

ZEIT ONLINE: Wo liegen die Unterschiede zur Situation mit der Ukraine?

Westad: Die USA legen mehr Wert auf ihre Beziehung zu Taiwan, weil sie über lange Zeit gereift ist. Aber wenn die USA und ihre europäischen Partner in Bezug auf die Ukraine so bestimmt reagiert haben, können Sie sich vorstellen, wie sie sich bei einer Invasion Taiwans verhalten würden. Das ist auch eine Botschaft an die chinesischen Behörden. Selbst wenn ein chinesischer Angriff besser geplant wäre als der Einmarsch in die Ukraine, wären die Chancen auf Erfolg relativ gering. So ein Vorhaben könnte nie nur eine Operation gegen Taiwan sein. Ganz China würde plötzlich zum Kriegsgebiet.

ZEIT ONLINE: Gibt es auch Parallelen? 

Westad: Die Vorstellung in Putins Kopf, dass die Ukraine irgendwie russisch sei, ist zu einem gewissen Grad der Vorstellung der chinesischen Führung ähnlich, dass Taiwan zu China gehört. Aber die Ukrainer haben sich noch nie als Russen gesehen, während sich manche Taiwanesen als chinesisch sehen.