Jeden Morgen fasst Oleh Synjehubow, Gouverneur der ostukrainischen Region Charkiw, die Folgen der russischen Angriffe des Vortags zusammen. Fast jeden Morgen muss er über Tote berichten.

So geht es schon seit Wochen. Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine mit einer Bevölkerung von fast 1,5 Millionen, ist zwar nie von russischen Truppen besetzt worden. Doch die Stadt hat das Pech, nur 20 Kilometer entfernt von der russischen Grenze zu liegen und damit ein leichtes Ziel für russische Luftangriffe zu sein.

Zu Kriegsbeginn scheiterte Russland daran, Charkiw einzunehmen. Beschossen werden die Stadt und die gleichnamige Region jedoch regelmäßig, seit Mitte März täglich. In 47 Ortschaften leitete die Ukraine am Donnerstag eine Zwangsevakuierung ein, in anderen Grenzdörfern schon davor. Stand Montag wurden Gouverneur Synjehubow zufolge 25.000 Menschen aus dem Grenzgebiet in Sicherheit gebracht.

Wladimir Putin setzt sein ganzes konventionelles Arsenal gegen Charkiw und umliegende Orte ein: Raketen, Marschflugkörper, Artillerie. Und Gleitbomben. Die Freifallbomben aus sowjetischen Beständen, teils mehr als eine Tonne schwer, hat Russland inzwischen modernisiert. Flugzeuge können sie jetzt aus Dutzenden Kilometern Distanz abwerfen, von dort aus gleiten die Bomben ins Ziel. Eine einzige solche Bombe reicht, um ein Wohnhochhaus komplett zu zerstören.

Will Putin die Stadt erobern? Auf Telegram-Kanälen werden Gerüchte über eine neue Charkiw-Offensive gestreut. Militärexperten geben vorerst Entwarnung: Russland müsste eine Streitmacht aus Hunderttausenden Soldaten zusammenziehen, um Charkiw einzunehmen, absehbar sei das nicht. Auch das ukrainische Militärkommando sieht auf russischer Seite nicht die entsprechenden Ressourcen. Eine russische Offensive wird zwar erwartet, aber in anderen Teilen des Landes. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Charkiw am Dienstag besuchte, zeigte sich sicher: Die Stadt sei durch neu errichtete Verteidigungsanlagen gut geschützt.

Geschützt, das bezieht sich jedoch nur auf Bodenangriffe. Gegen den Beschuss kann die Ukraine hingegen nur wenig unternehmen. Die russischen Fliegerbomben können nicht abgeschossen werden. Die Flugzeuge, die sie abwerfen, schon – doch dafür hat das Land nicht genug Luftverteidigungssysteme. Die Zerstörung eines Kraftwerks bei Kiew in der Nacht zum Donnerstag lässt vermuten, dass auch die Flugabwehrraketen rar geworden sind: Keinen anderen Ort verteidigt die Ukraine eigentlich so entschlossen wie die Hauptstadt.

Russische Befestigungsanlagen
Russische Kontrolle
Vortag
seit Kriegsbeginn
vor Kriegsbeginn
Zurückerobert
Vortag
Gegenoffensive
Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Charkiw ist besonders stark durch die ständigen russischen Luftangriffe auf das Energienetz bedroht. Hunderttausende Menschen erleben immer wieder Blackouts, die Stromversorgung der Stadt wurde Ende März laut Bürgermeister Ihor Terechow fast vollständig zerstört. Versorgt wird Charkiw nun aus anderen Regionen. Doch auch im benachbarten Sumy griff Russland am Donnerstag ein Stromkraftwerk an.

Er wolle eine "Pufferzone" auf ukrainischem Gebiet einrichten, sagte Putin Mitte März mit Blick auf die Region Charkiw. Wie tief sie ins Landesinnere hineingehen solle, präzisierte er nicht – legte aber nahe, dass die Regionalhauptstadt Teil davon sein müsse. Andere Regimevertreter äußerten sich weit deutlicher. "Charkiw muss derartig vom Strom abgetrennt werden, dass es unbewohnbar wird", forderte im Staatsfernsehen der Dumaabgeordnete Andrej Lugowoj. "Und dasselbe (sollte man) mit anderen Städten machen, darunter Kiew." Wladimir Solowjow, der prominenteste russische Staatspropagandist, sagte Ende März: "Charkiw muss vom Antlitz der Erde getilgt werden." 

Die Scharfmacher in den Propagandashows haben keine reale Macht. Doch die Einrichtung einer entvölkerten grauen Zone im Grenzgebiet ist nichts anderes, als das, was entlang der 800 Kilometer langen Frontlinie ohnehin seit zwei Jahren passiert.

Selbst einzelne Gleitbomben, wie Russland sie jetzt auch gegen Städte einsetzt, können ganze Gebäude zerstören. © Ivan Samoilov/​Gwara Media/​Global Images Ukraine/​Getty Images

Was in Charkiw geschieht, warnt die ukrainische Regierung, sei beispielhaft für das, was der Ukraine drohe, wenn die westlichen Militärhilfen keinen Qualitäts- und Quantitätssprung machten. Nicht alle Gebiete liegen gleich nah an Russland, nicht alle sind gleichermaßen gefährdet. Doch die jüngsten Angriffe ließen landesweit 80 Prozent der Kohlestrom- und 40 Prozent der Wasserstromproduktion ausfallen. Reparaturen könnten sich über Monate, teils über Jahre hinziehen. 

Und Raketen hat Putin noch viele. Selbst falls die Ukraine mehr Luftverteidigungswaffen erhält, in Charkiw können die wertvollsten Systeme nur unter hohem Risiko stationiert werden. Um die Stadt wirklich effizient zu schützen, müsste die Ukraine in der Lage sein, die Abschussrampen für russische Boden-Boden-Raketen zu treffen. Und russische Militärflugplätze mit eigenen Raketen attackieren.

Doch damit würde sie gegen Absprachen mit ihren Partnerländern verstoßen. Angriffe auf russisches Gebiet mit westlichen Waffen, selbst auf eindeutig militärische Ziele, sind für die Unterstützer der Ukraine eine rote Linie, da sie keine weiteren Eskalationen riskieren wollen. Die Lage in Charkiw lässt befürchten, dass diese rote Linie zur Kontur von Putins grauer Zone wird.


Die wichtigste Meldung: Mobilmachung und jüngere Soldaten

Das ukrainische Mobilmachungsgesetz, seit Monaten schwer umstritten, hat das Parlament passiert. Am Donnerstag billigten die Abgeordneten das Gesetz, das die Einberufung ins Militär bedeutend erleichtern soll. Anders als häufig berichtet wird, sieht es nicht die Aufstockung der Armee um bis zu 500.000 Soldaten vor – derartige Vorstellungen waren Ende vergangenen Jahres geäußert worden –, sondern soll laut Beobachtern wie dem ukrainischen Journalisten und ZEIT-ONLINE-Autor Denis Trubetskoy vor allem die Effizienz der Einberufungen erhöhen.

Das wird auch bei Betrachtung der vorgesehenen Neuerungen sichtbar. Mobilisierungspflichtige müssen künftig nicht mehr zum Rekrutierungsamt, um ihre Daten anzugeben, sondern können sie elektronisch erfassen lassen. Das soll Ängsten entgegenwirken, aus dem Amt direkt an die Front beordert zu werden.

Strafen für Verweigerer werden erhöht, etwa Geldstrafen und ein Entzug des Führerscheins. Sie wurden aber im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf nach lauter Kritik deutlich abgeschwächt, so fielen etwa ursprünglich vorgesehene Kontosperren weg. Wer bislang als "beschränkt tauglich" eingestuft war, muss seine Tauglichkeit nochmals prüfen lassen. Boni für Soldatinnen und Soldaten werden zudem erhöht.

Rekrutierungswerbung des ukrainischen Militärs in Kiew am 9. April © Sergei Supinsky/​AFP/​Getty Images

Schon zuvor hatte die Ukraine das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Berichten zufolge klagten Kommandeure zuletzt über das hohe Durchschnittsalter der Soldaten, das jenseits der 40 sei. Wer jünger ist als 25, muss zwar ein neu eingeführtes mehrmonatiges Militärtraining absolvieren, das die bisherige Wehrpflicht ersetzen soll, geht aber nicht in den Kampfeinsatz.

Eine geplante Regelung, wonach Mobilisierte nach drei Jahren Einsatz entlassen werden können, wurde auf Betreiben des Militärs gestrichen. Die Regierung kündigte an, die Entlassung aus dem Militärdienst in einem Sondergesetz regeln zu wollen. Das neue Mobilmachungsgesetz tritt einen Monat nach der Unterschrift Selenskyjs in Kraft.


Das Zitat: Patriot, Kopf, Wand

Die westlichen Partnerländer der Ukraine verfügen nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell über 100 Luftverteidigungssysteme des Typs Patriot. Das System gilt als eines der leistungsfähigsten weltweit, in der Ukraine hat es bereits modernste russische Raketen abgeschossen, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegen. Erhalten hat das Land bisher drei Patriots. 

Um den Luftraum zu schützen, ist das viel zu wenig. Die Ukraine bittet ihre Unterstützer wegen der schweren russischen Luftangriffe der vergangenen Wochen um sieben weitere Systeme. Doch Zusagen gibt es bisher keine – und offenbar herrscht in der Ukraine darüber Pessimismus. Zum Stand der Verhandlungen über weitere Patriot-Lieferungen sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba der Washington Post:

Ich habe das Gefühl, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen.
Dmytro Kuleba

Den Mangel an Flugabwehrsystemen verdeutlichte am Donnerstag der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja. Seit Jahresbeginn habe Russland fast 1.000 Raketen, 2.800 Kamikazedrohnen und nahezu 7.000 Gleitbomben gegen die Ukraine abgefeuert, sagte er bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Kombiniert hätten sie eine Sprengkraft von neun Kilotonnen, dem Äquivalent einer kleinen taktischen Atombombe. 97 Prozent der Angriffe hätten zivile Ziele getroffen.

Lager mit Fragmenten russischer Raketen in Charkiw am 18. März © Efrem Lukatsky/​AP/​dpa

Weitere Nachrichten: Luftangriffe, Waffen auf Kredit und bedrohtes Atomkraftwerk

  • Angesichts des monatelangen Stopps von Waffenlieferungen aus den USA wegen des Widerstands der Republikaner im Kongress hat sich die Ukraine bereit erklärt, Waffen auch auf Kredit zu beziehen. "Wir werden jede Option akzeptieren", sagte Präsident Selenskyj in einem Fernsehinterview. Sich für die benötigten Waffen zu verschulden, sei besser, als sie nicht zu erhalten.
  • Am Donnerstag hat Russland die Ukraine erneut einem großflächigen Luftangriff ausgesetzt. Neben 40 Drohnen setzte das russische Militär 42 Raketen und Marschflugkörper ein, von denen nach ukrainischen Angaben nur 18 abgeschossen werden konnten. Der Angriff galt der Strominfrastruktur, ein Heizkraftwerk bei Kiew wurde dabei vollständig zerstört, auch weitere Kraftwerke angegriffen.
  • Am Mittwoch schoss Russland laut mehreren Berichten mutmaßlich einen eigenen Militärhubschrauber über dem Schwarzen Meer ab. Nach einer Berechnung des exilrussischen Investigativmediums The Insider hat die russische Armee seit Kriegsbeginn 13 eigene Militärflugzeuge oder -hubschrauber abgeschossen. Das sind mehr als fünf Prozent der bestätigten Gesamtverluste an russischem bemannten Fluggerät.
  • Ein ukrainischer Drohnenangriff auf mehrere russische Militärflugplätze war offenbar nicht erfolgreich. Zahlreiche Medien hatten unter Verweis auf Geheimdienstkreise berichtet, bei dem Angriff vom vergangenen Freitag seien sechs Kampfjets zerstört worden. Satellitenbilder, die am Wochenende veröffentlicht wurden, zeigten jedoch keine sichtbaren Schäden an den Jets.
  • Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hat vor einem "signifikant" erhöhten Risiko für das russisch besetzte AKW Saporischschja in der Südukraine gewarnt. Grund dafür waren mehrere mutmaßlichen Drohnenangriffe, die auch von IAEA-Mitarbeitern vor Ort registriert worden sind. Russland wirft der Ukraine vor, das AKW zu attackieren. Die wiederum weist die Schuld von sich und spricht von einem Versuch Russlands, ukrainische Angriffe auf das AKW zu imitieren.
  • Die Ukraine und Lettland haben ein bilaterales Sicherheitsabkommen über langfristige Militärhilfen geschlossen. Das Abkommen gelte für zehn Jahre und sehe jährliche Hilfen von 0,25 Prozent des lettischen Bruttoinlandsprodukts vor, teilte Selenskyj am Donnerstag auf der Plattform X mit.

Waffenlieferungen und Militärhilfen: Kleinwaffen und Munition

  • Darüber hinaus stimmte das US-Außenministerium Waffenlieferungen anderer Länder im Wert von 138 Millionen Dollar zu. Dabei geht es um Ersatzteile für die Flugabwehrsysteme vom Typ Hawk aus US-Produktion, die von der Ukraine genutzt werden.
  • Deutschland hat der Ukraine nach Angaben der Bundesregierung 45 weitere Aufklärungsdrohnen, 6.000 Artilleriegranaten und eine Million Schuss Handwaffenmunition geliefert. Das jüngste Hilfspaket umfasste demnach auch mehrere Geräte zur Räumung von Minen.

Der Ostcast - : Warum Putin-Witze schwer fallen und in der Ukraine der Humor blüht


Der Ausblick: G7 sucht nach Flugabwehr

Von Mittwoch bis Freitag richtet Italien auf Capri das G7-Außenministertreffen aus. Dort soll es laut einer Ankündigung von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auch um die Verstärkung der ukrainischen Flugabwehr gehen. Mit Blick auf die Lage in Charkiw hat sie angekündigt, die G7-Staaten würden nach Möglichkeiten suchen, der Ukraine weitere Patriot-Luftverteidigungssysteme zu liefern – auch wenn die eigenen Bestände "erschöpft" seien. Sie hoffe, nach dem Gipfel eine Lösung bieten zu können.


Die besten Texte: Furcht in Washington und Dichter an die Front

Zum Schluss präsentieren wir an dieser Stelle die besten ZEIT- und ZEIT-ONLINE-Artikel zum Krieg in der Ukraine aus der vergangenen Woche. 

  • "Ausweitung der Kampfzone": Die USA rufen die Ukraine dazu auf, russische Ölraffinerien nicht mehr anzugreifen. Die Regierung in Washington befürchtet nach eigenen Worten steigende Ölpreise. Die jedoch hätten andere Gründe, schreibt der außenpolitische Korrespondent der ZEIT, Michael Thumann. Der Grund für die Irritation in Washington sei womöglich eher, "dass sich die Ukraine nicht einfach per Telefonanruf fernsteuern lässt" und in ihren Strategien unabhängiger wird.
  • "Russland muss dafür bezahlen": Auf fast 500 Milliarden Dollar werden die Zerstörungen in der Ukraine geschätzt. Hunderte Milliarden an russischen Reserven sind seit zwei Jahren im Westen eingefroren. Doch die EU zögert, sie der Ukraine zu übergeben. Der schwedische Ökonom Anders Åslund hat dafür kein Verständnis. Kriegsreparationen seien nie freiwillig, sagt er dem ZEIT-ONLINE-Redakteur Jurik Caspar Iser: "Man muss sie in Anspruch nehmen."

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