Die letzten prägenden Politiker der Bonner Republik treten ab. Im vergangenen Jahr Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Helmut Schmidt. Nun Hans-Dietrich Genscher. Sie haben uns über Jahrzehnte begleitet. Es war eine verlässliche und ziemlich vernünftige Generation. Alles in allem ist die Republik mit ihr gut gefahren.

Neben aller Tagespolitik war diese Generation, die noch der Krieg geprägt hatte, vor eine überragende Aufgabe gestellt: in dem vom Kalten Krieg zerrissenen Europa den Frieden zu wahren und zugleich die Spaltung Deutschlands und des Kontinents zu überwinden.

Es war eine Generation, die ganz selbstverständlich sowohl europäisch als auch transatlantisch dachte. Die für alle Zeit gegen deutschnationales Denken immunisiert war. Für die es immer zwei engste Verbündete gab, Frankreich und die Vereinigten Staaten. Und die wusste, dass es zur Aussöhnung mit Russland – damals noch der Sowjetunion – keine Alternative gab.

Als die deutsche Einheit unerwartet näher rückte, da stand für diese Generation fest – und Hans-Dietrich Genscher hat es mit wünschenswerter Klarheit ein ums andere Mal wiederholt: Das Ziel ist ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa. Deutsche Großsprecherei wäre ihnen peinlich gewesen.

Genscher war ein Mann des Ausgleichs

Genscher wusste um die Sorgen der Nachbarn vor dem größer werdenden Deutschland, nicht nur in Paris und London. Typisch die Reise Ende September 1990 zu den Vereinten Nationen in New York. Von Köln/Bonn ging es erst einmal nach Kopenhagen, zum Parteitag der dänischen Liberalen. Genscher wollte seinen Freund Uffe Ellemann-Jensen vor den Wahlen unterstützen, aber ebenso wollte er den Dänen mögliche Bedenken gegen das neue, stärkere Deutschland nehmen. So viel Zeit musste sein.

In New York unterschrieben die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs am 1. Oktober eine Erklärung, in der die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs auf ihre Rechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes verzichteten. Damit erhielt das bald wiedervereinigte Deutschland seine volle Souveränität zurück.

Auf dem Rückflug herrschte an Bord der Maschine eine gelöste und zugleich ernste Stimmung. Allen war klar, dass auf Deutschland künftig mehr Verantwortung zukommen werde. Gleich nach der Landung in Köln/Bonn reiste Hans-Dietrich Genscher in seine Heimatstadt Halle an der Saale weiter; bis zur Feier der Einheit war es nur noch ein Tag. Am 3. Oktober 1990 stand er dann neben Willy Brandt, Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker auf den Stufen des Reichstags in Berlin, glücklich und dankbar.

Genscher blieb zeitlebens ein Mann des Ausgleichs. Wollte er es allen Recht machen, wie das Wort des "Genscherismus" insinuierte – ein Etikett, das ihm vor allem argwöhnische Amerikaner und Briten anklebten? Eher war es bei ihm der Wille, mit allen im Gespräch zu bleiben, mochte es noch so unbequem und noch so unpopulär sein. Im Gespräch vor allem mit der Führung in Moskau.

Niemals den Dialog mit Russland abreißen lassen! Auch nicht nach der Aggression Putins gegen die Ukraine. Das blieb für ihn ein Gebot kluger Außenpolitik. Als das Auswärtige Amt im vergangenen Herbst den 25. Jahrestag der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages feierte, hat Genscher bei einer Podiumsdiskussion dies noch einmal bekräftigt. Er saß damals schon im Rollstuhl, aber er sprach kraftvoll, voller Weisheit und Witz.

"Menschenrechte kennen keine Obergrenzen"

Vor vier Monaten, am ersten Advent 2015, haben wir Hans-Dietrich Genscher im Hamburger Schauspielhaus den Marion-Dönhoff-Preis verliehen. Er war schon im Jahr davor mit dem Preis ausgezeichnet worden, konnte aber aus Krankheitsgründen nicht reisen. Ein Jahr später jedoch erlaubte es ihm seine Gesundheit, nach Hamburg zu kommen und den Preis persönlich entgegenzunehmen. Sein Körper war schwach geworden, aber seine politische Leidenschaft war ungebrochen.

In der ersten Reihe sitzend, das Mikrofon in der Hand, hielt er aus dem Stegreif eine Rede, die das Publikum zutiefst berührte. Ein Appell an die Humanität seiner Landsleute. Eindrücklich stellte Genscher sich hinter die Flüchtlingspolitik Angela Merkels: "Menschenrechte kennen keine Grenzen, auch keine Obergrenzen!"

Es war eine bewegende letzte Begegnung mit Hans-Dietrich Genscher. Mit einem europäischen Staatsmann, bei dem dieses Land und seine Außenpolitik in guten Händen lagen.