März 1986, ein Oberligaspiel des 1. FC Lok Leipzig gegen den BFC Dynamo. In der Nachspielzeit führt Lok mit 1:0, spielt aber mit einem Mann weniger. Die Berliner drängen auf den Ausgleich. 13.000 Zuschauer sehnen im Bruno-Plache-Stadion den Schlusspfiff herbei, als plötzlich ein anderer Pfiff ertönt. Loks Hans Richter und Berlins Bernd Schulz sind im Strafraum zu Boden gestürzt, der wenige Meter entfernt stehende Schiedsrichter Stumpf entscheidet auf Strafstoß. Aufruhr im Stadion, Tumulte, das Spiel muss unterbrochen werden. Doch dann wird der Elfmeter ausgeführt, Frank Pastor trifft in der 94. Minute zum 1:1, anschließend pfeift Stumpf ab. Später wird der Unparteiische auf Lebenszeit gesperrt und das Geschehene als "Schand-Elfmeter von Leipzig" in die Fußballgeschichte der DDR eingehen. Bis auf Weiteres zumindest.

Eine Entscheidung, die wieder einmal den Ruf des Schiebermeisters bestärkte. Zehnmal in Folge wurde der BFC Dynamo DDR-Meister, die Bayern sind also nicht der erste deutsche Club, dem das in diesem Jahr gelang. Von 1979 bis 1988 gingen sämtliche Oberligatitel an die Männer aus Hohenschönhausen. Damit sind die Berliner zugleich Rekordmeister der Oberliga, einer Liga, die ebenso wie die DDR nach der Wiedervereinigung abgewickelt wurde.

Die Fans in der DDR glaubten nicht, dass der Hauptstadt- und "Stasi-Club" eine Meisterschaft nach der anderen allein der eigenen Stärke wegen gewann. Sie vermuteten, dass nachgeholfen wurde. Und auch heute noch stellen sich diese Fragen: Was ist dran am Mythos des Schiebermeisters? Oder wie konnte der BFC Dynamo sonst den ostdeutschen Fußball derart dominieren?

Im Gegensatz zu DDR-Traditionsclubs, die sich bis heute auf einen Vorgängerverein berufen konnten (wie zum Beispiel Lok Leipzig auf den ersten deutschen Meister überhaupt, den VfB Leipzig) ist der BFC Dynamo ein Kind der DDR. Ein verhätscheltes Kind, welches noch immer darunter zu leiden hat, dass sich der SED-Staat – und nicht zuletzt der Stasi-Chef Erich Mielke – so ausgiebig um es bemühten.

Mielke war oberster Fan und zugleich Protegé des Clubs. Das machte den BFC zum Hassobjekt in der gesamten DDR. 1977 sagte Mielke auf der Meisterfeier der SG Dynamo Dresden: "Ihr wart jetzt genug Meister, jetzt ist der BFC dran, und daran werde ich alles setzen." Das tat er, viele Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurden genötigt, Mitglied des BFC zu werden, Journalisten und Schiedsrichter mindestens beeinflusst. "Man durfte in den Medien den BFC auch nicht mit der harmlosesten Kritik angreifen ... Ich glaube, sechs Leute haben sich mit nichts anderem als dem BFC beschäftigt. Die haben sich aber weniger den Sicherheitsaufgaben zugewendet, als solchen Blödsinn zu machen, sich über den DFV in die Schiedsrichterauswahl zu mischen. Das hat uns berechtigt viel Ärger eingebracht", wird der ehemalige Stasi-Oberstleutnant Wolfgang Schmidt im Buch Stadionpartisanen zitiert.

Aber hatte der BFC derlei Hilfe überhaupt nötig? "26 Meisterschaftsspiele kann man nicht verpfeifen. Wir hatten doch immer die stärkste Mannschaft", sagte Jürgen Bogs, der die Berliner während sämtlicher Meistersaisons trainierte, einmal. Inzwischen ist zum Beispiel auch widerlegt, dass der "Schand-Elfmeter von Leipzig" nicht berechtigt gewesen sei. Der MDR strahlte 1999 einen zu Trainingszwecken aufgenommen Spielmitschnitt des BFC aus, in dem aus anderer und neuer Perspektive zu sehen ist, wie Richter seinen Gegner Schulz mit beiden Händen im Strafraum stößt.

Stark machte den BFC etwas anderes. Er war Teil der Dynamo-Struktur, einer Sportvereinigung von Polizei, MfS und Zoll, die Zugriff auf die besten Fußballer hatte. Dynamo betrieb in der DDR flächendeckend Trainingszentren, die je nach Einzugsgebiet dem BFC oder der SG Dynamo Dresden zugeordnet waren. Das Einzugsgebiet für den BFC umfasste die Dynamo-Gemeinschaften Rostock-Mitte, Neustrelitz, Fürstenwalde, Schwerin und Berlin. In diesen Trainingszentren wurden die besten Talente zusammengefasst, die bei einem zentralen, mehrtägigen Sichtungslehrgang ausgewählt wurden. 

In der DDR war es üblich, dass die besten Spieler zu den großen Clubs delegiert wurden. Sprich: Sie mussten wechseln. SED-Bezirksfürsten und Funktionäre mischten munter bei der Verteilung mit, um ihre Lieblingsvereine zu stärken. Der Elfmeterschütze von Leipzig beispielsweise, Frank Pastor, ein DDR-Nationalspieler, wurde 1984 nach dem Abstieg seines Halleschen FC zum BFC Dynamo delegiert und spielte dort bis 1989. Er macht 114 Spiele und schoss 61 Tore. Aber Delegation gab es auch bei den BFC-Konkurrenten. Fünf der zehn Top-Delegierungen betrafen in der Oberligazeit den FC Carl Zeiss Jena, errechnete Steffen Karas in seinem Statistikbuch 66 Jahre BFC Dynamo. "Wäre der Mythos [des Schiebemeisters] Realität, wären Spieler wie Streich, Häfner, Pilz, Kurbjuweit, Schnuphase, Irmscher oder Vogel beim BFC gelandet", heißt es dort.