ZEIT ONLINE: Frau Freeland, Anfang der Woche hat die SPD für das deutsch-kanadische Handelsabkommen Ceta gestimmt – kurz nachdem Sie auf deren Konvent geredet haben. Wie haben Sie denn die Sozialdemokraten so bezirzt?

Chrystia Freeland: Habe ich das? Ich habe den Delegierten einfach von unserer neuen Regierung erzählt. Wir wurden vor gut einem Jahr gewählt, nachdem wir im Wahlkampf ein Thema aufgegriffen haben, das auch in Deutschland heute eine wichtige Rolle spielen: die schrumpfende Mittelschicht. Kanada ist ein reiches Industrieland und trotzdem gibt es eine wachsende Zahl von Menschen, die sich von der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts abgehängt fühlen. Mich hat dieses Problem dazu gebracht, in die Politik einzusteigen.

ZEIT ONLINE: Sie waren vorher Journalistin.

Freeland: Ja, ich habe den heutigen Premierminister bei der Vorstellung meines Buches über die Superreichen getroffen. In dem geht es auch um die wachsende Ungleichheit. Er sagte mir, dass meine Analyse völlig richtig sei und auch er das für ein großes Thema halte. Und dann fragte er, ob ich in sein Team kommen wolle. Das war ein ziemlich verrückter Vorschlag, er war ja noch nicht einmal Parteichef und viele Kommentatoren gingen davon aus, dass sich die Partei bald auflösen würde. Und sie fanden Ungleichheit als politisches Thema ziemlich abseitig. Aber Trudeau war überzeugt: Die Leute haben Angst.

ZEIT ONLINE: Warum? Kanada geht es doch nicht so schlecht.

Freeland: Selbst wenn die Menschen einen Job haben, fürchten sie, ihn zu verlieren. Sie sorgen sich um ihre Rente. Um die Zukunft ihrer Kinder. Sie fürchten die Globalisierung. Wir haben dann, als wir an die Regierung kamen, dies zu unserem zentralen Thema gemacht. Wir erhöhten die Steuern für das obere eine Prozent, senkten die für die Mittelklasse. Wir schufen eine Art jährliches Grundeinkommen für Kinder und haben die Rechte für Arbeitnehmer ausgebaut. Immer geht es uns dabei darum, die Sicherheit der Kanadier zu erhöhen. Davon hab ich den Sozialdemokraten erzählt.

ZEIT ONLINE: Das haben die vermutlich gern gehört. Aber was hat das alles mit Ceta zu tun? Der Vertrag stammt noch von Ihrer Vorgängerregierung und die war ziemlich marktradikal.

Freeland: Deswegen haben wir ja auch einiges am Vertrag reformiert.

ZEIT ONLINE: Bisher doch nur beim Investitionsschutz, der es Unternehmen ermöglicht, gegen Staaten vor internationalen Schiedsgerichten zu klagen.

Freeland: Sowie ich ins Amt gekommen bin, habe ich ein Team untersuchen lassen, wie wir unsere Handelspolitik fortschrittlicher machen können. Bei Ceta ist es schnell fündig geworden, deswegen haben wir gemeinsam mit der EU tatsächlich den Investitionsschutz reformiert. Unterschätzen Sie das bitte nicht! Wir nutzen diese Ideen übrigens bereits in Gesprächen mit anderen fortschrittlichen Partnern wie den Chilenen.

ZEIT ONLINE: Vielen Kritikern gehen die Reformen der Schiedsgerichte nicht weit genug, es fehlt ihnen beispielsweise die Unabhängigkeit der Richter.

Freeland: Bei diesem Punkt bin ich sehr entspannt. Die Richter, die auf der Basis von Ceta entscheiden, werden nicht die Interessenkonflikte haben, die es bei den alten Schiedsgerichten gab. Sie werden nicht als private Anwälte arbeiten können.