Eine Parkbank in Berlin, 1945: Nach Hitlers Machtübernahme radikalisierte sich die Ausgrenzung jüdischer Menschen aus dem Alltagsleben zusehends. © Hulton-Deutsch Collection/​CORBIS/​Getty Images

"Jetzt ist es gleich 3 Uhr. Völlig angekleidet sitze ich in meiner, ach so leeren Wohnung. Sie sind nicht wiedergekommen. Aus dem Nebenzimmer höre ich die regelmäßigen Atemzüge meines Kindes. Und wo mag sein Vater sein? Ich will mich legen, das Licht löschen, wie heute in mir ein heilig glühend Licht ausgelöscht wurde, mein Glauben, daß der Mensch doch gut sei."

Diese Zeilen notiert die Berliner Ärztin Hertha Nathorff in der Nacht auf den 10. November 1938 in ihrem Tagebuch. Die Schergen des NS-Regimes haben zuvor in ganz Deutschland Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Männer verhaftet, darunter den Ehemann von Hertha Nathorff. Auch der Historiker, deutsche Patriot und fromme Jude Willy Cohn hält die Ereignisse des 9. und 10. November 1938 in seinem Tagebuch fest. Er erkennt, dass dies ein Wendepunkt ist: "An einen Neuaufbau der jüdischen Existenzen in Deutschland glaube ich nicht mehr; ich halte sie auch nicht für wünschenswert."

Von 1933 an werden die deutschen Juden isoliert, entrechtet und enteignet. Das geschieht zunächst tastend, als Ausprobieren, wie weit man gehen kann. Nur eines ist für die Opfer dabei sicher: Eine einmal erreichte Stufe der Ausgrenzung und Ächtung wird nicht wieder rückgängig gemacht. Unter diesen Umständen ist es für Jüdinnen und Juden ein Akt des Widerstandes, Tagebuch zu schreiben. Wer es dennoch tut, muss ständig damit rechnen, entdeckt zu werden. Umso klarer dokumentieren die Aufzeichnungen derjenigen, die es dennoch wagen, wie sich die Verfolgung von 1933 an immer weiter radikalisiert.

In unserem neuen Podcast machen wir die Stimmen von Hertha Nathorff und Willy Cohn wieder hörbar und begleiten sie durch die schweren Jahre von 1933 bis 1941. Wir haben Auszüge aus ihren Tagebüchern ausgewählt und einlesen lassen, die eindrücklich zeigen, wie sich Angst und Verzweiflung in ihr Leben schleichen, wie aber auch immer wieder Trotz und Hoffnung aufkeimt. Frank Werner, Chefredakteur von ZEIT Geschichte und Kenner der NS-Geschichte, ordnet die Auszüge im Gespräch mit Judith Scholter in ihren zeithistorischen Kontext ein, Markus Flohr führt durch die Sendung. Zu einschneidenden Ereignissen haben wir Originaltöne eingebunden, darunter eine Rede Hitlers aus dem Jahr 1935 und eine Rundfunkreportage zur Pogromnacht 1938.

Mehr zum Thema lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe des Magazins ZEIT Geschichte. Unter diesem Link können Sie eine Gratis-Ausgabe von ZEIT Geschichte zum Testen bestellen.

Alle Folgen von "Wie war das noch mal?" hören Sie hier. Die Redaktion erreichen Sie per Mail unter zeitgeschichte@zeit.de.

Die Tagebuchauszüge sind folgenden Editionen entnommen:

  • Willy Cohn: "Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums", herausgegeben von Norbert Conrads, Böhlau Verlag, Köln 2007
  • "Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York, Aufzeichnungen 1933 bis 1945", herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz, R. Oldenbourg Verlag, München 1987 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Band 54)

Die historischen Aufnahmen, die in dieser Folge zu hören sind, hat das Deutsche Historische Museum zusammen mit dem Deutschen Rundfunkarchiv auf zwei CDs herausgebracht: Die erste trägt den Namen "Stimmen des 20. Jahrhunderts. 1933 – Der Weg in die Katastrophe" und ist im Jahr 2000 herausgekommen. Außerdem: "Stimmen des 20. Jahrhunderts. Das Verbrechen hinter den Worten" aus dem Jahr 2001. Bis auf eine Ausnahme: Die Sequenz vom Reichsparteitag am 15. April 1935 zur Verkündigung der Nürnberger Gesetze stammt von der Archivseite archive.org