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Der Schock sitzt tief. Wurst und Fleisch, die höchsten Genüsse deutscher Esskultur: Böse! Nicht genug, dass für deren Verzehr Tiere unter übelsten Bedingungen sterben müssen – ethisch sensible Esser wissen längst: Vegetarismus ist der einzige Ausweg. Nun erhöht zu viel Fleischkonsum, vor allem verarbeiteter Wurstwaren, auch noch das Krebsrisiko. 

Unversöhnlich stehen sich zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite die Weber-Grill-Beef-Leser-Fraktion, die sich auf Traditionen beruft, den Urmenschen als Präzedenzfall für den Fleischesser als Evolutionsgewinner heranzieht  (Paläo-Diät-Fans muss man getrennt davon betrachten) und sich von einer Gesundheitsdiktatur, agiere sie auch noch so evidenzbasiert, nicht den Genuss am saftigen Steak – plus Bier, versteht sich – vermiesen lässt.

Auf der anderen Seite die Gruppe der tierlieben Vegetarier und Veganer, die in Tateinheit mit Nur-Bio-Glutenfrei-Essern jetzt bestätigt sieht, was sie schon lange postuliert: Fleischverzicht rettet Leben. Das von Tieren und das eigene.

Ratlos irgendwo dazwischen fragen sich jene, die sich in keiner dieser Schubladen ablegen lassen: Wer hat recht? Ich sage: keiner. Denn die einen sitzen der Utopie auf, den Tod verhindern zu können. Die anderen verdrängen einfach. 

"Ein Steak hat noch keinen getötet"

Wie tief die Angst bei allen sitzt, zeigen die Reaktionen auf die "Krebsfleischstudie", die sich grob so zusammenfassen lässt:

"Ein Steak hat noch keinen getötet", wettern die einen. "Was uns nicht umbringt, macht uns härter." Siehe Urmensch. Vertreter dieser Gruppe fühlen sich unsterblich, wenn sie gesellig ums Lagerfeuer (Feinstaub!) sitzen, die Kronkorken zischen lassen (Alkohol!), gesellig schmauchend (Tabak!), während das Fleisch (Übergewicht! Herzinfarkt! Krebs!) im Schein der Flammen brutzelt. Stoisch trotzen sie der Bedrohung, indem sie Nachrichten über Gesundheitsstudien gar nicht erst trauen. Es gilt doch eh alle paar Wochen was anderes: Neulich war Cholesterin noch böse, jetzt ist es wieder halb so schlimm, mal wird der Zucker verteufelt, mal der Süßstoff. Die Forscher können ja Bescheid sagen, wenn sie fertig sind. Bis dahin: Prost – und weiterbrutzeln.

"Wer ungesund lebt, hat selber Schuld", meint die andere Abteilung, die etwas heterogener erscheint als die carnivore. Rauchen, trinken, zu wenig Sport, fettes Essen – dass das alles schädlich ist: Weiß man doch! Die Gegenseite ist aus ihrer Sicht zu dumm, und vor allem zu faul zum Überleben. Sie selbst kämpfen mit Disziplin und Kontrolle. Sie lesen akribisch Sechs-Punkt-Schrift-Inhaltsstofflisten (Farbstoffe!) auf Lebensmitteln, kaufen aus ethischer Überzeugung "bio", manch einer ist sogar überzeugt, dass ökologische Landwirtschaft zwangsläufig gesünderes Essen produziert (DIE ZEIT, 30/2014: Endlich bewiesen. Bio ist besser! Oder?). Zu diesen Kämpfern gegen das eigene Ableben zählen auch alle, die sich zum Sport zwingen, sich Süchte abgewöhnen und Essen nicht mehr in Plastik einwickeln (Weichmacher!). Sie sind sich sicher: Ich lebe das bestmögliche Leben (Leseempfehlung dazu: Juli Zeh: Corpus delicti, 2009). Und wenn ich trotzdem krank werde, kann das nur noch Schicksal sein.

Die einen verdrängen, die andern kämpfen. Das Tragische: Sie alle müssen sterben. Denn: Wer einer Gefahr entgeht, den trifft mit Sicherheit die nächste. Der Tod kriegt jeden von uns. Die Frage ist nur, wann und wie. 

Wer mit 50 noch nicht vor's Auto gelaufen ist, dem drohen Herzinfarkt und Schlaganfall. Und diejenigen, die es infarktfrei bis 60 oder 70 schaffen, können nahezu sicher sein: Sie werden Krebs bekommen (DIE ZEIT 35/2015: "Krebs lehrt mich Bescheidenheit"). Wer selbst diesem Schicksal noch entgeht, dem bleibt ein langer Leidensweg – die Demenz scheint unausweichlich.

Außerdem schert sich das Schicksal eh nicht um die Evidenz von Studien: Weiterhin wird manch qualmender Wurst-Vielfraß 120 Jahre alt werden, während Nichtraucher, die immer Sport trieben, Lungenkrebs bekommen (ZEIT ONLINE, 2015: Krebs – einfach nur Pech?). Wahrscheinlichkeiten sprechen hier zwar eine andere Sprache. Aber der einzelne kann sich eben nicht darauf verlassen, dass sich sein Leben der statistischen Norm anpasst.

Gäbe es einen gerechten Gott – er wäre kein Wissenschaftler

Man könnte also an dieser Stelle enden und sagen: Nichts ist sicherer als der Tod. Gesund leben bringt also nichts. Schlauer sind jedoch diejenigen, die den Tod gar nicht erst austricksen wollen, sondern nach einem erfüllten Leben im Hier und Jetzt streben. Was das bedeutet, ist sagenhaft individuell. Wem beim Anblick eines saftigen Steaks das Herz aufgeht, soll zubeißen; wen die Endorphine beim Marathon berauschen, soll rennen. Glücksforscher meinen aber auch: Gesundheit sei ein Hauptfaktor für Glück. Ja, man könne sich sogar glücklich essen (ZEIT Wissen, 5/2010: Iss dich glücklich!).

Wie bewiesen etwas ist, interessiert uns kaum

Sich nach der Wissenschaft zu richten, könnte das Leben besser machen. Fatal nur, dass der Mensch die Wahrheit oft gar nicht zu verarbeiten weiß. Wie sehr wir auf all das hören, was die Forschung uns lehrt, hängt nämlich kaum davon ab, wie stichhaltig Studien sind oder mit welcher realen Wahrscheinlichkeit eine Gefahr uns bedroht. Vielmehr – auch das haben natürlich Forscher festgestellt (DIE ZEIT 16/2014: Das Fürchten lernen) – schützen wir uns angestrengt vor dem, was uns am meisten Angst macht. Kein Wunder also, dass manch ein Vegetarier seine Kinder nicht gegen Masern impfen lässt, während Täglich-Fleischesser ihre Carports mit Biofarben ohne chemische Lösungsmittel lackieren. Wissenschaftlich betrachtet ist das so irrational, dass es wehtut.

Am Ende sind vielleicht diejenigen am glücklichsten, die in der Stunde der Wahrheit einfache Antworten finden. So wie Grünen-Politiker Winfried Kretschmann, der sich als Schwabe und Ministerpräsident Baden-Württembergs genötigt sah, angesichts der bedrohlichen "Krebsfleischstudie" den Schinken seiner Heimatregion zu verteidigen. Er sagt: "Wenn man einen Sack Kartoffeln isst, dann ist man auch tot."