Wo Gefahren allgegenwärtig sind, haben Menschen oft wenig Furcht. Wer normalerweise in Sicherheit lebt, gerät dagegen schneller in Panik. Bedrohungen rational einzuschätzen, liege zudem nicht unbedingt in der Natur des Menschen, sagt Ortwin Renn. Der Risikoforscher über unsere Haltung zu Corona und wie sie sich mit der Zeit verändert.

Ortwin Renn ist Soziologe und leitet das Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Er hat zwei Bücher über die Wahrnehmung von Risiken geschrieben, zuletzt: "Das Risikoparadox: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten".

ZEIT ONLINE: Bisher ist Deutschland im weltweiten Vergleich relativ glimpflich durch die Corona-Zeit gekommen. Global steigt die Zahl der Infizierten und Toten jedoch weiter dramatisch – ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Wie nehmen Sie die Stimmung hierzulande gerade wahr?

Ortwin Renn: Umfragen zeigen, dass die Menschen zwar weiterhin alarmiert sind, aber nicht mehr so sehr wie noch im Frühjahr. Als die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland abnahm, sank auch die Zustimmung zu einschneidenden Schutzmaßnahmen. 

ZEIT ONLINE: Können Sie das konkreter machen?

Renn: In einer Umfrage der Uni Mannheim sagten beispielsweise noch Ende März etwa 90 Prozent der Befragten, sie fänden es gut und richtig, dass öffentliche Einrichtungen und Grenzen wegen der Infektionsgefahr geschlossen und Veranstaltungen mit mehr als 100 Menschen verboten wurden (Mannheimer Corona-Studie: Blom et al. 2020, PDF). Lediglich zwei Prozent waren gegen jede Art von Maßnahmen. Anfang Juli waren schon mehr als 22 Prozent der Ansicht, keine der Maßnahmen sei akzeptabel. Die Einstellung der Menschen verändert sich also mit der Entwicklung der registrierten Fallzahlen.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Renn: Zu Beginn dieser Pandemie wusste niemand, was mit dem neuen Coronavirus auf die Welt zukommt – und Ungewissheit ist ein großer Trigger für Angst. Das wissen wir aus vielen Jahren der Forschung zur Risikowahrnehmung.

ZEIT ONLINE: Inzwischen ist viel mehr bekannt über das Virus. Macht das die Menschen leichtsinniger?

Renn: Generell kann man sagen: Je vertrauter uns eine Gefahr wird, desto mehr lässt die anfängliche Angst nach. Bereits in den Achtzigerjahren haben Studien gezeigt, dass wir uns am meisten vor Bedrohungen fürchten, die unbekannt sind, sich rasant ausbreiten, katastrophale Ausmaße annehmen können und potenziell für jeden tödlich sind (Science: "Perception of risk", Slovic, 1987). All diese Parameter trafen zu Beginn der Pandemie auf das neue Coronavirus zu. In diese Kategorie fallen auch Nuklearkatastrophen. Sobald Ursachen, Ausmaß und Folgen klarer werden, stellt sich eine gewisse Vertrautheit, die "familiarity", ein (Asia Pacific Advances in Consumer Research: Fischer et al., 2015) und die Menschen werden unvorsichtiger.

ZEIT ONLINE: Heißt das, dort wo bestimmte Risiken gegenwärtiger sind, wirken sie vertrauter und die Angst davor ist geringer?

Renn: Das Angstgefühl verändert sich durch das, was wir täglich erleben. Wer in einem Staat lebt, in dem Terroranschläge relativ alltäglich sind, geht trotzdem raus ins Café. Seit wir Autos und Flugzeuge haben, leben wir auch mit dem Risiko, dass es mal Unfälle geben kann. Und wir fahren und fliegen dennoch. Auch in unserem Alltag hier in Deutschland ist jetzt wieder eine Art Normalität eingetreten – obwohl Forscher und Forscherinnen angesichts steigender Corona-Fallzahlen vor einer möglichen zweiten Welle im Herbst warnen. Aber wenn sich eine Gesellschaft an ein neues Risiko erst einmal gewöhnt hat, nimmt die Furcht davor ab.