Auch ich hatte das auflagenstärkste deutsche Printprodukt bisher unterschätzt. Zu Unrecht, wie ich heute zugeben muss. Wenn etwas mit 25 bis 30 Millionen Exemplaren pro Ausgabe gedruckt wird (Bild-Auflage mal 25 bis 30), dann kommt man irgendwann einfach nicht mehr daran vorbei. Dann ist die Diskursmacht zu groß. Dann ist das mit einer nahezu vollständigen Haushaltsabdeckung auch einfach zu nah bei den Leuten, als dass man das als politisch interessierter Publizist ignorieren könnte. Dann verliert, wer das nicht liest, das Gefühl dafür, was gerade los ist im Land.   

Ich werfe also dieses Mal die Werbeprospekte von Lidl, Aldi, Edeka und Co. nicht gleich weg, die irgendwie in meinem Briefkasten gelandet sind, sondern breite sie fein säuberlich auf dem Boden im Wohnzimmer aus und hocke mich in der Mitte auf mein Yogakissen. Jetzt wird nicht in Prospekten gestöbert, jetzt werden sie ernsthaft studiert.   

Nach ein paar Stunden Lektüre habe ich Schmerzen im unteren Rücken und eine erste Erkenntnis gewonnen: Hier lebt das Hackfleisch noch! Zumindest bei Hit und Edeka, deren Prospekte Angebote in den Filialen in meiner Nähe, am Münchner Stadtrand bewerben. Als hätten sie sich abgesprochen, bewerben sie die Mischung aus Rind und Schwein Ende Juli zeitgleich auf den Titelseiten. Bei Hit mit dem Aktionspreis 0,89 Euro pro 100 g, bei Edeka sogar als "Super-Knüller" für 0,79. Auch das Franziskaner Weißbier war zuletzt auffällig oft im Angebot. Genau wie "Bayerische Schinkenwurst", "Bayerischer Leberkäs" und "Bayerische Edelsalami". Bayern first!  

Das ist kein Zufall, denke ich, im Freistaat stehen demnächst Landtagswahlen an. Natürlich kann Markus Söder Planwirtschaft kategorisch ablehnen, wenn die Supermärkte von ganz allein Errungenschaften wie traditionell bayerisches Metzgerhandwerk und die bajuwarische Braukunst hochhalten. Und noch mit "Bayerischer Bio-Petersilie" für 1,29 garnieren.  

Ich lege Hit und Edeka lieber schnell beiseite und schnappe mir die Hefte von Netto. Klammerheftung, matt schimmerndes Papier, 40 Seiten oder mehr – hier hält man richtig etwas in der Hand. 

Auch der bayernweit erscheinende Netto-Prospekt liest sich wie das Mitgliedermagazin der Christsozialen. Netto hinterlegt sein Titelblatt-Logo mit blau-weißen Rauten und gibt sich als "Dein bayerischer Discounter" aus. Die Rubrik "VO BAYERN, FIA BAYERN" (ins Deutsche übersetzt und gegendert: Von Bayer:innen, für Bayer:innen) zieht sich durch die Hefte. Auf der Gemüse-Doppelseite locken "bayerische Mini Gurken", bei den Milchprodukten reimt sich "Berchtesgadener Land Schmand" und zwischen den Teigprodukten grüßt herrlich der "Original Bernbacher Nockerlgries". Nichts davon kostet mehr als einen Euro. Söder hat pfeilgrad recht, wenn er twittert: "Unsere Landwirte verdienen große Wertschätzung."  

Etwas über die Bedürfnisse und Zustände des ganzen Landes lernt dagegen, wer die Hefte von Lidl und, in meinem Falle, Aldi Süd zur Hand nimmt. Falls sich an der Stelle übrigens jemand wundert, wie mich all diese Druckerzeugnisse erreichen, obwohl doch an meinem Briefkasten groß "Keine Werbung" steht: Gewundert hat mich das anfangs auch, aber dann hat es mir ein alter Bekannter erklärt, der ein großes Druckhaus am Rande des Schwarzwaldes führt. Die "unadressierte Angebotswerbung", wie er die Prospekte der Discounter fachmännisch nennt, komme als Beilage von Gratiszeitungen – die Zeitungen seien quasi "trojanische Pferde". So landeten die Prospekte auch in Briefkästen wie meinem, auf denen "Keine Werbung" steht. Ha! 

Die Prospekte der beiden führenden Discounter sind noch hochwertiger als der von Netto, sie gleichen einander wie stern und Focus. Der Anspruch ist unverkennbar, die ganze Nation zu erreichen. Wurden bei Aldi neulich Himbeeren unter der Zeile "Bestes aus der Region" angepriesen, dann bedeutete das: "Ursprung: Deutschland". Das kann man als Augenwischerei abtun. Oder begreifen: Wer ganz Deutschland als Region versteht, lebt den europäischen Gedanken im Sinne Helmut Kohls.