Vollkommener Markt – praxisfern

Derzeitige Aktualisierung: November 2022
Erste Fassung: Juli 2017

Die Annahmen neo-liberaler / monetaristischer Wirtschaftswissenschaften beruhen auf der Idee des sogenannten „vollkommenen Marktes“. Darunter verstehen ihre Anhänger einen idealen Markt auf dem sich alle Marktteilnehmer ausschließlich am (Gleichgewichts-)Preis orientieren. In Folge dessen bildet sich ein stabiles Marktgleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, das bis auf Ausnahmen (z.B. natürliche Monopole) dem volkswirtschaftlichen Optimum entspricht. Die „perfekten“ Märkte schaffen also angeblich das höchste Maß volkswirtschaftlicher Wohlfahrt. Hinterfragen wir dieses Konstrukt.

Léon Walras: Theorie des Perfekten Marktes

Dieses Denkgebäude geht zurück auf die neoklassischen Theorien des 19. Jahrhunderts. Insbesondere das Bild des nach Léon Walras benannten (neutralen) walras´schen Auktionators, setzte sich durch. Walras und andere Theoretiker der Grenznutzenschule begründeten damit zentrale Instrumente und Ansichten der heutigen ökonometrischen Volkswirtschaftslehre. Im Rahmen dieser Traditionslinie begründen sich volkswirtschaftliche Prozesse vor allem mikro-ökonomisch. Das heißt, die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft wird mathematisch aus dem (mikro)-Verhalten der einzelnen Wirtschaftssubjekte hergeleitet. Da alle Akteure den gleichen „rationalen“ Annahmen folgen, genügt es dabei, das Verhalten nur einiger weniger zu berechnen.

Denkschulen der Volkswirtschaftslehre

Ein vollkommener Markt muss dabei mehrere Kriterien idealtypisch erfüllen. Je stärker der betrachtete Markt davon abweicht, umso mehr ist er laut Theorie als „unvollkommen“ anzusehen. Der Markt ist dann durch Instabilitäten (Schocks, Spekulationsblasen…) bzw. Ungleichgewichte (Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Überproduktion…) gekennzeichnet. Das Ergebnis gilt dann als volkswirtschaftlich nicht-optimal.

Modell des Vollkommenen Marktes

Je nach Theorie und Wissenschaftler variieren die Merkmale eines vollkommenen Marktes. Am gebräuchlichsten sind:

1. Vollständige Transparenz

Alle Marktteilnehmer besitzen absolute vollständige Informationen über das gesamte Marktgeschehen – auch über die anderen Akteure im Markt. Dieses Wissen erstreckt sich nicht nur auf die Gegenwart. Auch die Entwicklung der Zukunft muss bekannt sein. Ansonsten würden sich bei den einzelnen Marktteilnehmern unterschiedliche Zukunftserwartungen herausbilden. Das daraus resultierende verschiedenartige Verhalten beendet die Gleichartigkeit der Marktteilnehmer. Ein stabiler Gleichgewichtspreis könnte sich nicht mehr bilden.

2. Keine (zeitlichen, örtlichen, personellen…) Präferenzen

Die Marktteilnehmer behandeln sich gegenseitig als auch die gehandelten Güter gleich. Es existieren also keine Argumente bei dem einem oder dem anderen zu (ver-)kaufen. Der einzige eventuelle „Vorteil“ den ein Marktteilnehmer hat ist der (Ver-)Kaufspreis. Dieser bestimmt alleine die Entscheidungen. Grundlage dafür ist auch, dass alle Marktteilnehmer gleich „ticken“. Sie unterschieden sich nicht anhand ihrer Vorlieben, Erwartungen, Fähigkeiten … und orientieren sich alleine am Preis. Ein Markt voller gleichartiger auf Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung ausgerichteter Menschen als homo oeconomicus.

Beispiel zeitliche Präferenz: In Berlin und anderen deutschen Großstädten fand 2018 eine Auseinandersetzung um die Ladenöffnungszeiten von „Spätis“ statt. Die Spätkaufstellen wollen auch am Sonntag öffnen. Die Politik versucht die gesetzlich vorgeschriebene Schließung durchzusetzen. Hassen (Betreiber eine Spätis) sagt dazu: „Am Sonntag machen wir den größten Umsatz.“

Diese Feststellung überrascht nicht. Am Sonntag haben per Gesetz (fast) nur noch Tankstellen und Bahnhofsläden geöffnet. Eine deutliche Reduzierung des Angebotes. Die zeitliche Präferenz – sprich das temporäre Monopol – für bestimmte Anbieter steigert deren Umsätze / Gewinne. Zumal zu ihnen nicht nur mehr Kunden kommen, sondern auch die Preise erhöht werden können.

Die Schutz-Behauptung, in den 2.000 berliner Spätkaufstellen würden viele am Arbeitsmarkt schwer Vermittelbare beschäftigt, muss kritisch betrachtet werden. Einerseits gibt es dazu keine belastbaren Studien. Andererseits unterstreicht das Argument womöglich den Ausbeutungscharakter dieser Läden. Sie finden bzw. suchen abgehängte Menschen, denen sie fragwürdige Arbeitsbedingungen aufdrücken. Das sie wenigstens angemessenes Gehalt, Überstundenvergütung etc. offerieren, darf bezweifelt werden. 12 bis 15 Stunden-Schichten sind normal. (Brehmer 2022) Die meisten dieser kleinen Läden entziehen sich der Arbeitszeiterfassungen als auch gesetzlichen Vergütungen. Ein Verhalten, dass ihre Profite auf Kosten regulärer Vertriebsstrukturen weiter erhöhen dürfte.[2]

In der Corona-Krise von 2020 bis 2021 zeigt sich deutlich, wie sehr die Spätis vom Tourismus und Party-Volk abhängen. Aus Sicht der Politik war das Argument wohl andersrum, die Spätis waren ein Instrument um solches Publikum zu fördern bzw. anzuziehen. Aber ohne diese Kunden gingen die Einnahmen – obwohl die Läden auch während des Locks-Downs aufblieben – stellenweise um bis zu 80 Prozent zurück.[3] Dabei häufen sich Fälle, bei denen entlassene Beschäftigte direkt in die Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich Hartz IV) fielen. Die (offiziellen) Löhne waren für reguläres Arbeitslosengeld zu niedrig. 2022 spricht die Statistik nur noch von 1.200 Spätis – ein Rückgang von 40 Prozent. (Brehmer 2022) Aktuell fordert auch die Inflation zunehmend ihren Tribut. Es zeigt sich, dass die Präferenzen nicht ausreichen, um dauerhafte Erfolge zu sichern

3. Homogenität (und beliebige Teilbarkeit) der Güter

Um die ersten beiden Merkmale zu erfüllen, müssen alle gehandelten Güter völlig identisch sind – bis auf den Preis. Entsprechend liegt der Informationsbedarf niedrig. Die geforderte beliebige Teilbarkeit bedeutet einen konstanten Stückpreis. Es gibt keine Mengenrabatte etc. Akteure die genug Ressourcen besitzen um größere Mengen auf einen Schlag umzusetzen, erhalten keinen strukturellen Vorteil. Diese Möglichkeit entspräche einer Präferenz auf Grund der Größe. Auch dürfen Güter nicht so groß bzw. teuer sein, dass eine bedeutende Anzahl von Marktteilnehmern nicht mehr mit ihnen handeln könnte.

Um die auftretenen Widersprüche zur Realität zu überbrücken, unterteilt die mathematische Volkswirtschaftslehre die Wirtschaft in winzig kleine Einzelmärkte oder konzentrieren sich einseitig auf Teilbereiche des Finanzmarktes. Auf diesen funktionieren die beschriebenen Merkmale eher als auf komplexen Märkten wie den Arbeitsmarkt – zumal wenn die nationale oder gar internatinonale Ebene betrachtet wird. Hieraus erklärt sich wesentlich die umfassende mikro-ökonomische Ausrichtung der modernen Volkswirtschaftslehre bzw. -theorie. Außerhalb der Mikroebene reduziert sich die Leistungskraft mathematischer Instrumente deutlich und sinkt in Umbruchsphasen auf null.

4. Unverzügliche Reaktion aller Wirtschaftssubjekte

Die Marktteilnehmer reagieren sofort auf jede Veränderung – vor allem auf Preisschwankungen. Durch die Annahme der vollständigen Transparenz ist jeder Akteur über die Veränderung (im Voraus) informiert. Ebenfalls hat niemand gebundene Ressourcen bzw. versunkende Kosten die verhindern, dass Pläne umgestellt werden können. Vertragliche, emotionale … Bindungen an vergangene Entscheidungen existieren ebenfalls nicht. Es zählt nur der gegenwärtige Preis. Dieser wird damit zu einem „Datum“. Zu einer bestimmten Zeit gilt ein bestimmter Preis.

Ein „Punktmarkt“ impliziert, dass alle Entscheidungen an einem „Ort“ getroffen werden. Nur so lässt sich verhindern das einzelne Akteure Vorteile (Präferenzen) erlangen. In der Vorstellung des vollkommenden Marktes finden alle relevanten Transaktionen gleichzeitig statt. Gesteuert durch eine neutrale Institution. Die Theorie bemüht hier die Vorstellung einer Auktion bzw. das Bild des neutralen Auktionators. Man kommt zusammen, allen sind die verkauften Gegenstände bekannt, es wird geboten, einer erhält den Zuschlag, der Markt ist beendet. Woher dieser Auktionator kommt, seine Ressourcen nimmt oder warum er keine eigenen Interessen hat – beantwortet die Theorie nicht. Es wird axiomatisch postuliert.

5. Polypol – keine Marktmacht – keine Ausbeutung

Kein Marktteilnehmer darf in der Lage sein den Preis zu seinen Gunsten zu beeinflussen – zum Beispiel auf Grund seiner Größe. Alle Beteiligten sind entsprechend nur Preisnehmer. Erst die Gesamtheit der Entscheidungen beeinflusst den Preis. Der einzelne Akteur passt sich dem „Datums-Preis“ an, in dem er die produzierten bzw. nachgefragten Mengen ändert (Mengenanpasser).

Einer der wichtigste Theoriker der Österreichischen Schule – Ludwig von Mises – fasste es pointiert zusammen: „Die Preise entstehen als das Ergebnis der Wertung aller am Marktverkehr teilnehmenden Wirte. Jeder Einzelne wirkt an der Bildung aller Preise mit, doch sein Einfluss auf die Gestaltung jedes einzelnen Preises ist in der Regel außerordentlich gering. So erscheinen die Marktpreise dem Einzelnen als eine Tatsache der Außenwelt, die er als gegeben hinzunehmen und der er sein eigenes Handeln anzupassen hat.“[1]

Marktformen

Damit besitzt auf einem vollkommenen Markt kein Akteur dominante Marktmacht bzw. die Fähigkeit andere Teilnehmer auszubeuten. Unter Ausbeutung versteht die Volkswirtschaftslehre die Durchsetzung von „Renteneinkommen“ – also Einkommen ohne entsprechende Leistung. Am Markt bedeutet die Durchsetzung von Renteneinkommen ein überhöhtes Preisniveau, das oberhalb der realen Produktionskosten liegt. Das Markteinkommen wird zugunsten der Rentenbezieher umverteilt. Im Rahmen des vollkommenen Marktes gibt es solches Einkommen nicht. Die langfristigen Gewinne entsprechen einem kalkulatorischen Unternehmerlohn. Diese Form des Marktes wird als Polypol bezeichnet. Viele kleine Anbieter stehen vielen kleinen Nachfragern gegenüber.

6. Keine Eingriffe des Staates

Da der Markt sich selbstständig reguliert ist im Rahmen dieser Theorie ein Eingriff des Staates nicht nur nicht notwendig sondern abzulehnen. Die Selbststeuerung erzeugt das beste Ergebnis von selbst. Durch einen Eingriff kann es nur genauso werden – niemals besser.

Fußnoten

[1] Vgl. Mises, Ludwig von: Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaften; Genf: Editions Union 1940, S. 289.

[2] Walther, Yannic: Spätkaufbetreiber wollen am Sonntag öffnen; neues deutschland 17.06.2019, S. 10.

[3] Frank, Marie: Der leise Tod der Spätis; neues deutschland 11.01.2021, S. 10.

Literaturverzeichnis

Brehmer, Marten (2022): »Klar kaufen die Leute weniger«. In: neues deutschland, 12.11.2022. Online


Kunstwerk des Eintrages

Jan Victors (1619 1679) – Quacksalber auf dem Markt
von http://www.zeno.org – Contumax GmbH & Co.KG

Jan Victors - Quacksalber auf dem Markt

This painting was painted about 1650 but the style and manner of presentation are those of an earlier period. This was the beginning of the great period of middle-class genre painting when artists were developing a style quite different from Victor’s over-familiar anecdotical approach.

The market-place is in fact limited to the quack’s table with an awning over it, and the group of simple people crowding round the stall. The church and houses round the market-square are outlined behind the group of onlookers and the village street with figures can be seen in the distance. The peasant sitting barefooted, one of his shoes discarded beside him, the charlatan in his finery, and the colourful company of villagers around them are characters in an anecdotical story which is indeed worthy of the painter’s brush. Victors was a pupil of Rembrandt, and his figures are clearly derivative but they are smooth and superficial compared with the character studies of the great master.
Emil Krén and Daniel Marx – Web Galary of Arts

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