Ausgesperrt: Karabach-Armenier, die wegen der Blockade des Lachin-Korridors nicht in ihre Dörfer zurückkönnen. Goris, 19.3.2023. Foto: Lisa-Martina Klein
Ausgesperrt: Karabach-Armenier, die wegen der Blockade des Lachin-Korridors nicht in ihre Dörfer zurückkönnen. Goris, 19.3.2023. Foto: Lisa-Martina KleinLuftkurort Jermuk. Auf den Höhenzügen aserbaidschanische Stellungen, von denen der Ort im Dezember 2022 beschossen wurde. 18.3.2023. Foto: Lisa-Martina Klein
Luftkurort Jermuk. Auf den Höhenzügen aserbaidschanische Stellungen, von denen der Ort im Dezember 2022 beschossen wurde. 18.3.2023. Foto: Lisa-Martina KleinBürgermeister des halbseitig von aserbaidschanischen Truppen besetzten armenischen Dorfes Shurnuk. 19.3.2023. Foto: Lisa-Martina Klein
Bürgermeister des halbseitig von aserbaidschanischen Truppen besetzten armenischen Dorfes Shurnuk. 19.3.2023. Foto: Lisa-Martina Klein

"Wer Appeasement betreibt, füttert ein Krokodil"

Armenien in der Klemme

Ein Gespräch mit Narek Sukiasyan, 31.3.2023

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat geopolitische Verschiebungen im gesamten postsowjetischen Raum ausgelöst. Kein anderes Land ist davon so sehr betroffen wie Armenien. Aserbaidschan setzt die in Karabach verbliebenen Armenier und die Republik Armenien massiv unter Druck. Armeniens Sicherheitsgarant Russland ist geschwächt und sucht starke Verbündete wie die Türkei und Aserbaidschan. Die Europäische Union hat eine Beobachtungsmission entsandt, die jedoch eingeschränkte Kompetenzen hat. Der Westen alleine kann die Menschen in Bergkarabach nicht vor der Vertreibung und Armenien nicht vor einem Überfall schützen. Brüssel und Moskau müssen das Thema Armenien aus ihrer Konfrontation ausklammern. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Narek Sukiasyan.

Osteuropa: Herr Sukiasyan, im September 2022 griff Aserbaidschan an zwei Tagen Armenien an mehreren Stellen der gemeinsamen Grenze an. Die Angst in Armenien vor einem neuen Angriff, der noch weitaus massiver ausfallen könnte, ist groß. Besonders prekär ist die Lage der Armenier in Bergkarabach. Nach dem 44-Tage-Krieg vom Herbst 2020, der mit einer Niederlage der armenischen Seite und einer in Moskau unterzeichneten Waffenstillstandserklärung endete, setzte Aserbaidschan sie nun unter massiven Druck. Wie bewerten Sie die Waffenstillstandserklärung heute?

Narek Sukiasyan: Die unter Moskauer Vermittlung zustande gekommene Erklärung kam einer Kapitulation Armeniens sehr nahe. Aserbaidschan hat in dem Krieg Gebiete erobert, die seit 1992 unter armenischer Kontrolle gestanden hatten und über deren Rückgabe 26 Jahre lang verhandelt worden war. Weitere Gebiete rund um Bergkarabach wurden Aserbaidschan gemäß der Erklärung übergeben. Aber die aserbaidschanischen Streitkräfte haben überdies auch Teile der ehemaligen Autonomen Sowjetrepublik Berg-Karabach erobert, die nie Gegenstand von Friedensverhandlungen gewesen waren.

Osteuropa: Was sagt die Erklärung zum sogenannten Lachin-Korridor?

Sukiasyan: Aserbaidschan garantiert in der Erklärung eine freie Passage zwischen Armenien und Bergkarabach durch ebendiesen Korridor, die von russländischen Friedenstruppen überwacht wird. Aserbaidschan – angebliche Umweltaktivisten – blockiert jedoch seit Dezember 2022 den Korridor. Nur einige Fahrzeuge des Internationalen Roten Kreuzes und der russländischen Armee können die Blockade passieren. Selbst ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom Februar 2022 hat Baku nicht dazu bringen können, die Blockade aufzugeben.[1] Stattdessen erklärt Aserbaidschan, bei der Blockade handele es sich nicht um eine Blockade. Dabei ist offensichtlich, dass die humanitäre Lage der 120 000 Armenier in Bergkarabach immer katastrophaler wird. Da Aserbaidschan die gesamte Infrastruktur kontrolliert, die Bergkarabach mit der Außenwelt verbindet, nutzt Baku auch dies, um Druck auszuüben. Im Sommer 2022 wurde während einer Hitzeperiode die Wasserversorgung zeitweise unterbrochen. Im Winter 2022/2023 die Strom- und Gasversorgung.

Hinzu kommt, dass die Sperrung des Lachin-Korridors nicht die einzige Straßenblockade ist, unter der Armenien leidet. Aserbaidschan und die Türkei halten seit 1994 alle Grenzen zu Armenien geschlossen, Armenien hat Verkehrsverbindungen ausschließlich nach Süden zum Iran und nach Norden über Georgien nach Russland. Dies macht die Anbindung an den Weltmarkt extrem schwierig. Die Erklärung vom November 2020 sieht eine Öffnung aller Verkehrsverbindungen vor. Dies verweigern Ankara und Baku weiter. Stattdessen fordert nun Aserbaidschan unter Verweis auf das Abkommen einen durch Südarmenien führenden exterritorialen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan. Armenien bietet die Öffnung von drei Straßen an, aber keinen Korridor unter aserbaidschanischer Kontrolle, der armenisches Staatsgebiet durchtrennt oder Armenien von seinem südlichen Nachbarn Iran abschneidet. Von einem solchen Korridor, den Aserbaidschan als „Zangezur-Korridor“ bezeichnet, ist in der Moskauer Erklärung auch keine Rede. Nur Aserbaidschan und die Türkei verwenden dieses Wort. Und während es im Abkommen „Lachin-Korridor“ heißt, sprechen Vertreter Aserbaidschans ausschließlich von der „Lachin-Straße“. Das Ziel ist offensichtlich.

Osteuropa: Was ist von der Aussage zu halten, es handele sich um Umweltaktivisten, die den Korridor blockieren, um einen zivilgesellschaftlichen Protest?

Sukiasyan: Freedom House bewertet die politischen Rechte auf einer Skala von 0–40 mit 2 und die bürgerlichen Freiheiten auf einer Skala von 0–60 mit 7. Konkret bei der Versammlungsfreiheit lautet das Ergebnis: 0 von 4. Bei Reporter ohne Grenzen rangiert Aserbaidschan im Index der Pressefreiheit auf Platz 167 von 180 Staaten. Jede Form von zivilem Protest wird augenblicklich unterbunden. Dies ist ja auch einer der zentralen Gründe, warum die Karabach-Armenier die von Aserbaidschan verlangte Integration „unter Wahrung der individuellen Bürgerrechte“ ablehnen.

Unabhängige armenische Journalisten und Menschenrechtler haben auch konkret zeigen können, dass die Organisatoren der Straßensperre dem aserbaidschanischen Geheimdienst angehören, und die Teilnehmer überwiegend Studenten von Universitäten sind, die aus dem Haushalt des aserbaidschanischen Präsidenten finanziert werden. Einige echte Umweltschützer aus Aserbaidschan kritisieren die Inszenierung, die sie in Verruf bringt, ebenfalls.

Osteuropa: Angeblich geht es auch um Schürfrechte?

Sukiasyan: Ja. Aserbaidschan hat die Rechte für die Ausbeutung einer Kupfer-Gold-Mine und einer Kupfer-Molybdän-Mine in Karabach an eine Gesellschaft mit dem Namen Anglo Asian Mining vergeben.[2] Baku spricht nun davon, die Karabach-Armenier würden aserbaidschanische Ressourcen stehlen. Tatsächlich geht es aber um viel mehr: um die Vertreibung der Armenier aus Karabach und die Schaffung des erwähnten „Zangezur-Korridors“.

Osteuropa: Wie sieht es mit den russländischen Friedenstruppen aus, welche die Erklärung vorsieht?

Sukiasyan: Gemäß der Erklärung ist für fünf Jahre ein Kontingent von 1960 Mann in Karabach statio­niert, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um weitere fünf Jahre. Aserbaidschan verlangt nun strikt, dass die Truppen 2025 abgezogen werden. Dabei ist klar, dass sie nahezu der einzige Faktor sind, der die Armenier in Karabach vor der Vertreibung schützt. Hinzu kommt, dass Baku das Stationierungsmandat für die Friedenstruppen nicht unterzeichnet hat. Armenien war auf Verlangen Aserbaidschans ohnehin nicht an der Aushandlung des Mandats beteiligt. Aber Baku hat auch mit Moskau nichts unterzeichnet. Es gibt somit keine rechtliche Grundlage für das konkrete Vorgehen der Truppen, alles wird politisch entschieden. Schreiten sie gegen irgendein Vorgehen Aserbaidschans, wie etwa die Blockade des Lachin-Korridors, ein, wird Baku sie zum Verlassen des Landes auffordern. Es versteht sich, dass die Rückkehr der armenischen Binnenflüchtlinge aus dem Jahr 2020 auf das Gebiet von Bergkarabach und in das umliegende aserbaidschanische Territorium, die laut Punkt 7 der Erklärung unter Aufsicht des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen stattfinden soll, nicht umgesetzt wurde. Vielmehr zerstört Aserbaidschan jeglichen Hinweis auf armenische Besiedlung und armenisches Kulturerbe in den Gebieten, die es seit Ende 2020 kontrolliert.

Osteuropa: Was ist aus der Minsk-Gruppe der OSZE geworden, die im Karabach-Konflikt vermittelte?

Sukiasyan: Baku erklärt, der Konflikt sei beendet. Unmittelbar nach dem Krieg von 2020 sagte der aserbaidschanische Präsident Alijew bei einer Sitzung der Gruppe in Baku zu den Vertretern der USA und Frankreichs, die gemeinsam mit Russland den Vorsitz hatten: „Ich kann es Ihnen noch einmal vor laufender Kamera sagen, ich habe sie nicht hierher eingeladen. Aber als ich gehört habe, dass die Minsk-Gruppe kommen möchte, habe ich gesagt: Okay, vielleicht haben sie mir etwas zu sagen.“[3] Die USA setzen sich gegenwärtig für ein international sichtbares Dialogformat zwischen Baku und den De-facto-Behörden von Karabach ein. Armenien unterstützt den Vorschlag, Aserbaidschan lehnt ihn ab: Es handele sich um eine innere Angelegenheit Aserbaidschans.

Alijew warnt sogar immer wieder Politiker anderer Staaten und internationaler Organisationen davor, den Begriff „Bergkarabach-Konflikt“ zu verwenden, so zuletzt auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Wie gesagt: Er betrachtet die Frage der Rechte der Karabach-Armenier als innere Angelegenheit Aserbaidschans. Was jedoch passiert, wenn Aserbaidschan die Kontrolle über Berg-Karabach übernimmt, sieht man in den Gebieten außerhalb der verbliebenen Schutzzone, die Aserbaidschan im Jahr 2020 zurückerobert hat. Von 30 000 Menschen lebt dort heute keiner mehr. Um sich klar zu machen, was mit den Armeniern in Karabach passiert, wenn Aserbaidschan dort die Kontrolle übernimmt, muss man sich die Videos anschauen, die das aserbaidschanische Staatsfernsehen im Jahr 2020 veröffentlicht hat und die Reden Alijews lesen, in denen er von „Hunden“ spricht, die wir vertreiben.[4] Leider haben dies nicht alle westlichen Politiker verstanden und lassen sich auf die Rede von den „individuellen Rechten“ der Karabach-Armenier ein, die Baku angeblich garantieren will, und verschließen angesichts des Interesses an Öl und Gas aus Aserbaidschan die Augen vor der katastrophalen Menschenrechtslage.

Osteuropa: Neben den Geschehnissen in und um Bergkarabach ist es in den vergangenen Jahren zu mehreren Gefechten an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze gekommen.

Sukiasyan: So ist es. Die größten Angriffe Aserbaidschans fanden im Mai und November 2021 sowie vor allem im September 2022 statt. Insgesamt hält Aserbaidschan seitdem an mehreren Stellen insgesamt 150 Quadratkilometer armenischen Territoriums besetzt und hat dort Militärstellungen errichtet. Bei dem Angriff im September 2022 gab es über 300 Tote auf armenischer Seite, darunter einige Zivilisten. Betroffen sind heute alle Landstriche entlang der gesamten Grenze. Die Dörfer und Siedlungen liegen in direkter Schusslinie der aserbaidschanischen Stellungen auf den Höhenzügen, landwirtschaftliche Flächen sind besetzt oder wegen der Gefahr unzugänglich, gelegentlich kommt es sogar zu Beschuss. Und das gleiche geschieht rund um Karabach. Unter klarer Verletzung der Waffenstillstandserklärung von 2020 hat Aserbaidschan mehrere Dörfer und strategische Anhöhen besetzt. Es ist eine Salamitaktik, eine schleichende Besetzung.

Baku schnürt Armenien auch dadurch ab, dass es wichtige Straßenverbindungen stört. Die Route in den Iran, mit dem Armenien immerhin 30 Prozent seines Außenhandels abwickelt, führt in einem Abschnitt nahe der Grenze zu Aserbaidschan vorbei. Die Sicherheitslage ist so prekär, dass die Straße gesperrt ist und der Schwerlastverkehr nun über schlecht ausgebaute, unter winterlichen Verhältnissen unpassierbare Bergrouten geführt werden muss. Ähnliches droht im Nordosten mit der wichtigsten Straßenverbindung in die georgische Hauptstadt Tbilissi zu geschehen.

Osteuropa: Wie interpretieren Sie das Vorgehen Bakus? Geht es nur darum, Druck in Sachen Berg-Karabach auszuüben oder tatsächlich um mehr?

Sukiasyan: Armenien ist seit dem Krieg 2020 militärisch stark geschwächt. Alijew sieht eine historische Gelegenheit, mit Druck an allen möglichen Stellen mindestens seine Forderungen in Bezug auf Karabach durchzusetzen. In den Verhandlungen seit Ende 2020 haben leider alle Versuche des Appeasements durch Erfüllung von Forderungen nur zu neuen Forderungen geführt, die Aserbaidschan bei der nächsten Runde als unhintergehbar präsentiert hat.

Die Sorge, dass es um mehr geht, ist auch in der innenpolitischen Lage in Aserbaidschan begründet. Der Alijew-Dynastie, die in Baku an der Macht ist, mangelt es an jeglicher demokratischen Legitimität. Ilham Alijew hat vor zwei Jahrzehnten seinen Vater beerbt, der nicht nur in den 1990er Jahren Präsident von Aserbaidschan gewesen war, sondern bereits in den 1970er Jahren Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Aserbaidschanischen SSR. Wahlen gewinnt Ilham Alijew, indem er alle Gegner zuvor ausschaltet, und auf den Posten des stellvertretenden Präsidenten hat er seine Frau gehievt. Die zentrale Idee, die seine Herrschaft legitimieren soll, ist die „Heimholung Karabachs“.

Eine solche Herrschaft benötigt Feindbilder. Alijews Propagandaapparate schüren einen unvorstellbaren Hass auf alles Armenische. Dies zieht sich bis in die Schulbücher für die untersten Klassen. Ist Karabach erst „heimgeholt“, benötigt das Regime neue Ziele und Erfolge. Dies ist es, was die armenische Sorge begründet. Und Alijew gibt allen Anlass dazu. Nach Karabach kamen die Angriffe auf armenisches Gebiet mit der Besetzung kleiner Gebietstaschen und der faktischen Sperrung der Hauptverkehrsroute nach Süden. Dann der Anspruch auf winzige aserbaidschanische Exklaven im Nordosten Armeniens, der die wichtigste Straße in Richtung Georgien gefährdet. Dann der Anspruch auf den sogenannten „Zangezur-Korridor“. Jetzt nennen Alijew und seine Untergebenen die armenische Provinz Syunik „West-Zangezur“ und reklamieren damit ihren Anspruch auf den gesamten Süden des Landes. Und jüngst nannte Alijew Armenien sogar „West-Aserbaidschan“.

Osteuropa: Wie reagiert Russland auf all das? Schließlich ist Russland nicht nur mit den Friedenstruppen in Karabach und im Lachin-Korridor präsent, sondern die Grenzschutztruppen des russländischen Sicherheitsdiensts FSB kontrollieren gemäß einem Abkommen mit Armenien im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten seit 1992 auch die armenische Außengrenze zur Türkei und nun auch stellenweise zu Aserbaidschan. Mehr noch, nach Artikel 4 des Vertrags über kollektive Sicherheit sind Russland und die anderen Staaten der Vertragsorganisation (OVKS) dazu verpflichtet, Armenien im Falle einer Aggression zu schützen!

Sukiasyan: Die Friedenstruppen haben einige Berichte über Waffenstillstandsverletzungen an den Grenzen zu Karabach erstellt, in manchen wird auch dargelegt, dass Aserbaidschan die Verletzung begangen hat. Bei den Angriffen auf armenisches Territorium hielt sich Russland mit Kommentaren sehr zurück. Dies hat große Irritation bei der armenischen Regierung wie bei der Bevölkerung ausgelöst. Russland hat vorgeschlagen, bei der Demarkation der Grenze als Vermittler aufzutreten. Damit sind die armenischen Sicherheitsbedenken jedoch nicht wirklich beseitigt. Es ist offensichtlich, dass Russland fürchtet, dass es mit einer klareren Position seine Rolle als Vermittler zwischen den beiden Staaten gefährdet, anders gesagt: dass Aserbaidschan noch weiter dem Moskauer Einfluss entgleitet.

Die Präsenz der russländischen Friedenstruppen in Karabach wie der Grenztruppen in Armenien hat zwar vermutlich in einigen Fällen ein weiteres Vordringen der aserbaidschanischen Kräfte verhindert. Eine Rückkehr auf die ursprünglichen Positionen vor dem jeweiligen Gefecht haben sie aber nicht erwirkt.

Was die OVKS betrifft, so ist die Lage für Armenien noch schlechter, denn Staaten wie Belarus und Kasachstan haben deutlich engere Beziehungen mit Baku als mit Erevan. Sie legen gegen jede kollektive Reaktion, die Aserbaidschan Schranken aufzeigen würde, Veto ein. Der belarussische Präsident Lukašenko nannte Alijew auf einer Sitzung der OVKS sogar „unseren Mann“, als es nach der Aggression vom September 2022 darum ging zu erklären, warum die Organisation sich nicht an die Seite ihres Mitglieds Armenien stellt, das von einem Nicht-Mitglied angegriffen wird.[5]

Osteuropa: Wie erklären Sie die Position Russlands?

Sukiasyan: Russland hat in den vergangenen 30 Jahren stets darauf geachtet, nicht eindeutig für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Das Ziel war klar: Weder Baku noch Erevan sollten sich von Moskau abwenden. Armenien war jedoch viel abhängiger von Russland als Aserbaidschan, das mit seinen im Westen begehrten Öl- und Gasvorkommen und den engen Beziehungen zur Türkei Russland viel mehr entgegensetzen konnte. Dies führte dazu, dass Russland sich seiner Dominanz im Verhältnis zu Armenien sicher war, umgekehrt aber Aserbaidschan etwas bieten musste, um in der Konkurrenz mit dem Westen die Loyalität Bakus zu erkaufen.

In den 1990er Jahren war die Situation noch ein wenig anders. Damals spielten neben den institutionellen Faktoren und der übergeordneten globalen Lage auch persönliche Faktoren noch eine wichtige Rolle. Einige armenische und russländische Generäle standen sich sehr nahe, Russlands Präsident Boris El’cin und der aserbaidschanische Präsident Heydar Alijew hatten ein sehr schlechtes persönliches Verhältnis. Heute hält Russland sich schon deswegen mit Druck auf Baku zurück, weil die Stationierung der Friedenstruppen über das Jahr 2025 hinaus von Alijews Zustimmung abhängt. Aber natürlich auch, weil Aserbaidschan und die Türkei Russland einen Zugang zu internationalen Märkten verschaffen, den es in vielen Bereichen wegen der westlichen Sanktionen verloren hat. Es geht sowohl um den Import von Waren, die auf Sanktionslisten stehen oder nur noch als Parallelimport nach Russland gelangen können, als auch um den Export von Erdgas. Nicht zufällig beliefert Gazprom seit November 2022 den aserbaidschanischen staatlichen Gaskonzern SOCAR über eine aus Dagestan kommende, zuvor nicht genutzte Pipeline mit Erdgas. Ganz allgemein gesprochen kann man sagen, dass Russland bei seinem Streben nach einer multipolaren Weltordnung Baku in seinem Lager haben möchte.

Osteuropa: Die Europäische Union hat angesichts des mangelnden Willens oder der mangelnden Fähigkeit Russlands, Armenien ausreichend Schutz zu gewähren, auf Bitten der armenischen Regierung Ende Februar 2023 eine zivile Mission zur Beobachtung der armenisch-aserbaidschanischen Grenze nach Armenien geschickt. Welche Kompetenzen hat die EUMA?

Sukiasyan: Das Mandat ist beschränkt. Es handelt sich um 100 unbewaffnete Beobachter aus nahezu allen EU-Staaten unter Leitung eines deutschen Beamten, die ihr Hauptquartier in Yeghegnadzor haben. Sie sind lediglich mit Ferngläsern und Kameras ausgestattet und haben nicht zu allen Abschnitten der Grenze Zugang. Aserbaidschan lässt auf seiner Seite der Grenze überhaupt keine Beobachter zu. Die Berichte der Mission werden auch nicht veröffentlicht, sondern lediglich nach Brüssel gesendet. Exekutive Kompetenzen hat sie keine, sie kann und darf im Falle gewaltsamer Auseinandersetzungen nicht einschreiten. Sie muss sich in einem solchen Fall sogar zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit sofort zurückziehen. Und dennoch trägt die EU-Fahne auf den Jeeps der Beobachter vielleicht ein klein wenig dazu bei, Aserbaidschan von weiteren Aggressionen abzuhalten, was für das mit wenig Sicherheitsgarantien und Selbstverteidigungskapazitäten ausgestattete Armenien durchaus von Bedeutung ist.

Osteuropa: Russlands offizielle Reaktion auf die EU-Mission ist eindeutig von der Konfrontation mit dem Westen und der EU wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine geprägt. Hat Armenien die EU tatsächlich gegen den Willen Moskaus um Entsendung einer Mission gebeten oder handelt es sich um einen erfolgreichen Versuch, die mit dem eigenen Land verbundenen Fragen aus dem übergeordneten Konflikt zwischen Russland und dem Westen auszuklammern?

Sukiasyan: Armenien versucht seit jeher, gute Beziehungen zu allen wichtigen internationalen Akteuren aufrecht zu erhalten. In einer so prekären Sicherheitslage kann man sich nicht erlauben, in eine geopolitische Auseinandersetzung gezogen zu werden. Armenien braucht Russland für seine Sicherheit und den Westen für die wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen. Die Konfrontation zwischen Russland und der EU schadet Armenien enorm.

Russland ist in der aktuellen Situation natürlich nicht glücklich mit einer EU-Mission in einem verbündeten Land. Die Sprecherin des Moskauer Außenministeriums Maria Zacharova warf der EU Heuchelei vor, die Mission sei im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entsendet, und somit mitnichten zivil.[6] Gleichzeitig haben Moskau und Brüssel im Grunde ein wichtiges gemeinsames Interesse: Sie wollen beide eine weitere Zunahme der Aggressionen gegen Armenien vermeiden.

Eigentlich sollte Russland sich auch eher Sorgen um die sicherheitspolitische Kooperation Aserbaidschans mit dem NATO-Mitglied Türkei machen. In Armenien sind 100 zivile Beobachter mit einem auf zwei Jahre begrenzten Mandat, in Aserbaidschan befinden sich seit 2020 eine signifikante Anzahl türkischer Militärangehöriger samt Gerätschaft. Vor kurzem wurde sogar ein General der türkischen Armee zum Berater des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums ernannt. Früher hieß es zum türkisch-aserbaidschanischen Verhältnis immer „Zwei Länder, eine Nation“, heute heißt es „Eine Nation, eine Armee“.[7] Aber die Türkei hat natürlich eine besondere Position in der NATO und die Beziehungen Moskaus zu Ankara folgen nicht der Logik der Ost-West-Konfrontation.

Osteuropa: Wie steht Aserbaidschan zu der EU-Mission?

Sukiasyan: Baku positioniert sich eindeutig dagegen. Dabei hatte Alijew bei einem Treffen mit dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und dem französischen Präsidenten Emanuel Macron in Prag im Oktober 2022 sogar noch eine Stationierung von Beobachtern auf der aserbaidschanischen Seite zugesagt. Doch bald wollte Baku nichts mehr davon wissen. Im Januar bezeichnete Alijew die Mission als „Betrug“, sie würde sich negativ auf die Sicherheit im Südkaukasus und die von der EU begleiteten Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan auswirken.[8]

Osteuropa: Welche weiteren Vorschläge hat Armenien, um seine prekäre Sicherheitslage zu verbessern?

Sukiasyan: Die Entsendung einer EU-Mission – etwas, was noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre – zeigt, wie verzweifelt die Lage Armeniens ist. Die eigenen militärischen Fähigkeiten sind schwach, und Russland ist auf die Ukraine konzentriert. Es gibt natürlich noch die Minsk-Gruppe der OSZE, die grundsätzlich weiter das Mandat zur Vermittlung zwischen Baku und Erevan hat. Vor dem Februar 2022 war diese vermutlich das einzige Format auf der Welt, in dem Russland, die USA und Frankreich an einem Strang zogen. Washington und Paris hatten sogar Moskau die Führungsrolle übergeben, da sie Russland in der besten Position für Vermittlungen sahen. Das war essentiell für die Sicherheitsarchitektur in der Region. Doch dies ist nun auch vorbei.

Für Baku ist das nur zum Vorteil. Je tiefer die Risse zwischen diesen Staaten, desto leichter kann Aserbaidschan sie gegeneinander ausspielen. In Moskau versucht Alijew die Vorstellung zu verbreiten, Armenien drifte nach Westen ab, in Brüssel behauptet er, Armenien sei ein Satellit Russlands und plane einen Angriff auf Aserbaidschan. Was Armenien braucht, ist eine internationale Koalition, die sich den Expansionsplänen Aserbaidschans entgegenstellt.

Osteuropa: Ist der Versuch der Regierung von Nikol Paschinjan, mit der EU einen zusätzlichen Sicherheitsgaranten zu gewinnen, in Armenien unumstritten?

Sukiasyan: Es gibt prorussländische Stimmen, die sich eindeutig dagegen positionieren. Wie groß deren Einfluss ist, lässt sich nicht genau abschätzen. Wichtiger ist aber die Fraktion derjenigen, die keine direkte Kritik üben, aber vor den Folgen warnen. Die Politik Paschinjans führe zu einer Entfremdung von Moskau und dies werde Konsequenzen haben. Die wichtigste Oppositionspartei, das vom vormaligen armenischen Präsidenten der Jahre 1998–2008 Robert Kotscharjan angeführte Bündnis Armenien (Hajastan Daschink) vertritt diese Position. Es gibt aber auch laute Stimmen, die die Bedeutung der Mission überschätzen und die Regierung zu einem Austritt aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit aufrufen, weil der Westen Armenien alle benötigten Sicherheitsgarantien gebe. Es ist leider offensichtlich, dass dies nicht der Fall ist.

Osteuropa: Was kann denn Armenien jenseits von Garantien anderer Staaten selbst für seine Sicherheit tun?

Sukiasyan: Armenien ist dabei, seine Armee neu aufzustellen. Aber die Schwierigkeiten sind riesig. Die aserbaidschanischen Truppen stehen seit Ende 2020 im gesamten Abschnitt von Nord nach Süd an der armenischen Grenze. Das bedeutet, dass es viel mehr Truppen bedarf als zuvor und diese ausgerüstet werden müssen. Missmanagement macht die Sache nur schlimmer. Zudem schickt Russland alles verfügbare Gerät an die ukrainische Front, so kann Armenien die Verluste, die es 2020 erlitten hat, nicht kompensieren. Die westlichen Staaten sind nicht bereit, Armenien Waffen zu verkaufen. Davon abgesehen könnte Armenien sich diese ohnehin nicht leisten. Kostenlose Waffenlieferungen sind noch illusionärer. Armenien hat daher nach dem Krieg versucht, seine Beziehungen zu Indien zu verbessern, und das hat auch auf militärischem Gebiet zu einigen kleinen Erfolgen geführt. Aber substantielle Veränderungen bringt auch dies nicht.

Die Regierung versucht aber ohnehin, einen anderen Weg zu gehen und Aserbaidschan mit Zugeständnissen von einer Aggression abzuhalten, der es wenig entgegenzusetzen hat. Paschinjan hat im April 2022 erklärt, dass Armenien seine Erwartungen in Bezug auf Karabach zurückschraubt. Es geht um Sicherheit und Schutz der Rechte der Karabach-Armenier. Armenien bringt in den Verhandlungen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein grundsätzlich international anerkanntes völkerrechtliches Prinzip, nicht auf. Armenien hat alle Punkte der Waffenstillstandserklärung strikt eingehalten, also alle dort erwähnten Gebiete fristgerecht an Aserbaidschan übergeben, bietet die Öffnung von Straßenverbindungen nach Nachitschewan an und hat alle Kriegsgefangenen freigelassen. Aserbaidschan aber blockiert die Freilassung von Kriegsgefangenen, indem es Strafprozesse gegen sie fabriziert und sie, wie Human Rights Watch dokumentiert, schwerer Folter und Misshandlungen aussetzt.[9] Hinzu kommen die neuen Gebietsforderungen und die gezielt herbeigeführte Notlage der Menschen in Karabach, mit der Armenien dazu gezwungen werden soll, den erwähnten exterritorialen „Zangezur-Korridor“ über sein Staatsgebiet zu akzeptieren. Man sieht: Appeasement funktioniert nicht. Churchill sagte den wahren Satz: „Wer Appeasement betreibt, füttert ein Krokodil, in der Hoffnung, dass er als letzter gefressen wird.“

Osteuropa: Wir haben fast ausschließlich über Sicherheit gesprochen. Dies ist natürlich der Situation geschuldet. Wie wirkt sich diese Lage auf die demokratischen Reformen aus, die mit der Revolution von 2018 begannen?

Sukiasyan: Die permanente existentielle Bedrohung führt dazu, dass weite Teile der Bevölkerung in einem dauerhaften Angstzustand leben. Apathie und Gleichgültigkeit sind die Folge. Warum soll man am Aufbau einer besseren Zukunft arbeiten, wenn diese derart bedroht ist? Nach der Revolution 2018 gab es unglaublich viel Hoffnung. Einige Reformen wurden sehr rasch umgesetzt, andere jedoch auch nicht, aus Mangel an politischer Unterstützung oder wegen Inkompetenz. Gleichwohl herrschte bis zu dem Krieg 2020 großer Optimismus. Seitdem ist vieles anders. Ein großes Problem ist, dass viele Menschen die demokratische Revolution 2018 und die Niederlage im Krieg in einen kausalen Zusammenhang bringen. Das ist falsch, aber es gibt dieses Gefühl.

Osteuropa: Sie würden also nicht sagen, dass Russland Armenien für die demokratische Revolution bestraft, indem es nicht mehr als Sicherheitsgarant auftritt? Oder dass das Putin-Regime demokratische Aufbrüche in Russlands Nachbarschaft nicht duldet, weil es seine eigene Herrschaft gefährdet sieht?

Sukiasyan: Dies ist ein gängiges Interpretationsmuster für Georgien und die Ukraine. Für Armenien passt es nicht wirklich. Der Krieg im Jahr 2020 wurde Aserbaidschan vor allem von der Türkei ermöglicht. Jede neue Eskalation wird Russlands Stellung in der Region weiter schwächen und die Türkei sowie Aserbaidschan auf Kosten Russlands stärken. Und natürlich spielt die Frage der inneren politischen Ordnung eine Rolle. Aber es ist ein Fehler, Sicherheit und Demokratie als Alternativen zu denken. Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles nichts.

Gespräch und Übersetzung aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

Narek Sukiasyan, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der staatlichen Universität Erevan, Lektor an der American University of Erevan und Projektkoordinator bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Armenien, Erevan


[1] Application of the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Armenia v. Azerbaijan), <www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/180/ 180-20230222-ORD-01-00-EN.pdf>.

[2] <www.angloasianmining.com/operations/kyzlbulag-contract-area/>.

[3] Ilham Aliyev received OSCE Minsk Group co-chairs from France and U.S., <https://president.az/ en/articles/view/48908/videos>.

[4] President Ilham Aliyev: „We have destroyed their army, equipment“, <https://aztv.az/en/ resmi/prezident-i-lham-liyev-onlarin-ordusunu-texnikasini-dem-k-olar-ki-m-hv-etmisik>. – Ilham Aliyev addressed the nation, 17.10.2020, <https://president.az/en/articles/view/43334>.

[5] „Aliev – naš čelovek“: Lukašenko na zasedanii ODKB, <www.youtube.com/watch?v=gNfaPRn6z0k>.

[6] Maria Zakharova comments on the deployment of EU civilian observation mission in the border regions of Armenia. Armenpress, 20.2.2023.

[7] Azerbaijan-Türkiye military cooperation: One nation, one army. Daily Sabah, 23.12.2022.

[8] Azerbaijan criticizes EU’s decision to establish mission in Armenia. mediamax.am, 24.1.2023.

[9] Azerbaijan: Armenian POWs Abused in Custody, <www.hrw.org/news/2021/03/19/azerbaijan- armenian-pows-abused-custody>.